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Daniel hatte das perfekte Leben: eine schöne Freundin, einen tollen Job, eine bezahlbare Wohnung. Doch vor zwanzig Jahren wurde er Zeuge von etwas, das er niemals hätte sehen dürfen. Und jetzt wird er von der Erinnerung an diesen Moment heimgesucht. Der fürchterliche Schrei. Das Platschen von etwas Schwerem, das ins Wasser fällt. Sein Freund, der von seinem Vater ermordet wird. Die Erinnerung kehrt immer wieder zurück und macht ihn langsam, aber sicher verrückt. Und jetzt hat er deswegen auch noch Freundin, Job und Wohnung verloren. Um sein Leben wieder in den Griff zu bekommen, muss er herausfinden, was in jener Nacht wirklich passiert ist. Daniel beschließt, auf den Kanälen Englands nach dem Boot zu suchen, das er gesehen zu haben glaubt. Doch was er dabei herausfindet, bringt die einzige Person, der er vertraut, in Gefahr. --- "Ich war von der Geschichte gefesselt und konnte das Buch von Anfang bis Ende nicht aus der Hand legen. Ich habe es in einer Sitzung durchgelesen – so spannend war es!" – The Book Decoder "Ein fantastischer psychologischer Thriller. Ich habe ihn verschlungen und mir dabei immer wieder gesagt: 'Nur noch ein Kapitel!' Es ist ein Buch, das man nur schwer aus der Hand legen kann ... Ich habe es geliebt." – Booklover Bev "Ich habe dieses Buch wirklich genossen und mag die Art, wie die Autorin schreibt. Ich werde mir auf jeden Fall weitere Romane von ihr zulegen. Ich habe mich mit den Charakteren sehr verbunden gefühlt." – Goodreads-Rezension "Eine großartige Lektüre, die auf jeden Fall die vollen fünf Sterne verdient. Eine fabelhafte Ergänzung zu den anderen Romanen dieser Autorin. Sehr zu empfehlen." – Goodreads-Rezension "Wow, das neue Buch von Susanne war ausgezeichnet und hatte viele spannende Wendungen, die einen von Anfang bis Ende fesseln. Ich empfehle dieses Buch sehr! Ausgezeichnet!" – Goodreads-Rezension
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Seitenzahl: 420
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Susanna Beard
© Susanna Beard 2022
© Deutsch: Jentas A/S 2024
Titel: Der perfekte Zeuge
Originaltitel: The Perfect Witness
Übersetzung: Kirsten Evers, © Jentas A/S
ISBN: 978-87-428-2054-4
Published by arrangement with Joffe Books Ltd. and Lorella Belli Literary Agency Limited
Für Charlie
Das Gesicht eines Jungen, schmerzverzerrt, der Mund weit aufgerissen. Jedes Mal dasselbe, eindringlich, hartnäckig. Das Bild verblasst nicht, der Junge altert nicht. Zu jeder Zeit, Tag oder Nacht, immer wieder und überall taucht er auf.
Manchmal brechen andere Erinnerungen durch. Ein Boot auf trübem Wasser schaukelnd, das sich um den schweren Bug herum kräuselt. Eine Schlange, gelbe, anklagende Augen, ein gewundener Körper, angespannt, bereit zuzubeißen.
Ein schweres Bündel, das im Dunkel versinkt.
Erinnerungen sind wichtig – sie geben uns Halt, sagen uns, wer wir sind. Wir erinnern uns an die guten Zeiten und an die schlechten. Wir erinnern uns an das Datum unseres ersten Kusses oder den Tag, an dem wir unseren Führerschein gemacht haben. Wir erinnern uns an die genaue Uhrzeit, den Tag und das Datum, an dem jemand Wichtiges gestorben ist, und daran, wo wir in diesem Moment waren. Vielleicht sogar an die Kleidung, die wir anhatten, oder an unseren ersten Gedanken, als wir die Nachricht hörten.
Wenn wir uns nicht mehr erinnern können, bekommen wir Angst. Wenn unsere Erinnerungen verschwinden, befürchten wir, dass wir den Verstand verlieren.
Aber nicht Daniel. Was Daniel Angst macht, ist, dass er nicht vergessen kann.
Freitag, der 9. März 2018, begann wie ein ganz normaler Tag. Daniel nahm wie immer die U-Bahn und zwängte sich in den überfüllten Waggon, zusammen mit einem Schwarm dunkler Mäntel und Jacken; Menschen, die ihn ausdruckslos anstarrten und deren Kopfhörer fest in den Ohren steckten. Die Schultern schützend gegen den kalten Wind vorgeschoben, ging er vom Bahnhof zu dem unscheinbaren Gebäude, in dem er seit fast zwei Jahren arbeitete, und zwang seine widerwilligen Füße, ihn durch die Eingangstür in die staubige Lobby und weiter in den knarrenden Aufzug zu tragen. Im dritten Stock setzte ihn der Aufzug in einem düsteren Treppenhaus ab, gegenüber den Doppeltüren, die zu seinem Großraumbüro führten. Wie immer machte er sich auf den Weg zu seinem Schreibtisch am Fenster und vermied den Blickkontakt mit Rachel am Empfang, James am Schreibtisch neben ihm und den Mädchen gegenüber, die ihn immer zu beobachten schienen.
Aber heute war etwas anders. Jemand war bereits hier gewesen. Ein neonpinkfarbener Post-It-Zettel prangte fröhlich auf seinem Computerbildschirm. Als er gestern gegangen war, war er noch nicht da gewesen. Er blickte zu James hinüber, aber sein Kollege runzelte konzentriert die Stirn und tippte mit steifen Fingern auf seiner Tastatur herum.
Daniel riss den Zettel vom Bildschirm ab und studierte ihn in seiner Handfläche. Die Nachricht war zumindest freundlich: Hi D – auf ein Wort? Mein Büro, 17 Uhr. Danke. J. Aber sein Magen schlug trotzdem einen kleinen Purzelbaum, und seine Schultern spannten sich an, als er den Zettel zusammenknüllte und in den Plastikeimer unter seinem Schreibtisch warf. Dort lag er nun, die unanständig knallige Farbe anklagend im Augenwinkel pulsierend, eine stumme Erinnerung.
Während er seinen Computer einschaltete, kam ihm eine Erinnerung von einem anderen Tag in den Sinn, an dem er genau diese Farbe gesehen hatte. Ein Sommerurlaub, als er vierzehn war und Lauren zwölf, am Strand von Lyme Regis. Lauren in ihrem knallpinken Kostüm, das leuchtete wie ein Neonschild, wie sie vorsichtig über die Kieselsteine hinweg zum Meer tapste. Es war ein Donnerstag gewesen – der 24. Juli –, der erste Tag eines zweiwöchigen Campingurlaubs, ihrem üblichen Sommerritual. Es regnete zwar nicht, aber die Wolken am Horizont waren metallisch grau und prall mit Wasser gefüllt. Sie hatten sich trotzdem an den Strand gewagt, denn das war es schließlich, was man in den Sommerferien tat. Daniel war ...
Nein, jetzt nicht abdriften. Seufzend begann er, seine E-Mails durchzuarbeiten, und ließ sich dabei ausgiebig Zeit. Er wusste, dass er mit dem Bericht weitermachen sollte, aber er musste sich mental darauf einstellen, sein widerspenstiges Gehirn darauf vorbereiten, die Zahlen zu studieren, die wichtigsten Punkte herauszufiltern, eine Perspektive zu entwickeln.
Wie war er hier gelandet, in einem Büro, in einem Job, für den er keinerlei Leidenschaft empfand? Obwohl er in Wahrheit natürlich für nichts eine sonderliche Leidenschaft hatte. In seinem Kopf ging zu viel vor sich. Alles war zu schnell, zu unberechenbar, zu ...
Seine Gedanken kehrten zu dem Post-It-Zettel zurück.
Auf ein Wort? Was sollte das bedeuten? Eine weitere Erinnerung daran, dass er auf dem Trockenen saß, eine weitere Motivationsrede? Wenn er nur gut geschlafen hätte. Dann hätte alles ganz anders ausgesehen. So aber brauchte er seine ganze Energie, um sich auf den Bildschirm vor ihm zu konzentrieren.
* * *
„Kommen Sie rein, Daniel, kommen Sie.“ Jeremy erhob sich von seinem Schreibtisch und wies mit einer ausladenden Geste auf einen leeren Stuhl. „Setzen Sie sich, setzen Sie sich.“
Daniel unterdrückte den Drang, zu antworten: Okay, okay, werde ich, werde ich.
Sein Chef war um die vierzig, hatte eine beginnende Glatze, eine Brille mit Drahtbügeln und eine wachsende Wampe. Er bevorzugte Nadelstreifenanzüge mit rosa Hemden und war noch nie ohne Krawatte zur Arbeit gekommen. All dies hätte einen guten Eindruck machen können, aber irgendetwas störte das Gesamtbild, es wirkte unordentlich. Jeremys Körper schien nicht zu ihm zu passen, und das Ergebnis war eine Unbeholfenheit, die allen ein schwer zu beschreibendes, aber eindeutig ungutes Gefühl gab.
Als er sich setzte, rollte sein Stuhl vom Schreibtisch weg, so dass er mit den Füßen wippen und mit den Händen am Schreibtisch zerren musste, um sich wieder aufzurichten. Er räusperte sich und schob ein paar Papiere hin und her. „Wo war es? Ah, ja …“ Er schob sich die Brille an der Nase hoch, eine Angewohnheit, die Daniel zutiefst irritierte.
In der langen Pause, die folgte, sah Daniel sich um. Der Blick aus dem Fenster fiel auf ein weiteres unscheinbares Bürogebäude, das durch die Anwesenheit eines großen Kastanienbaums aufgelockert wurde. Er beobachtete, wie die Blätter im Wind tanzten. Es erinnerte ihn an seine Kindheit, an das Haus auf dem Land, in dem er aufgewachsen war, und an den Baum auf dem Feld des Bauern nebenan, auf den er mit Lauren geklettert war. Eines Tages – ebenfalls ein Freitag – war Lauren gestürzt und hatte sich den Arm gebrochen. Da war sie erst sieben Jahre alt. Daniel war gescholten und bestraft worden, weil er nicht besser auf sie aufgepasst hatte. Er war immer noch wütend, dass man ihm die Schuld gegeben hatte. Er war selbst erst neun Jahre alt gewesen, und Lauren hatte eine Art, stets auf dem zu bestehen, was sie wollte.
„Daniel?“
Nur mit Mühe gelang es ihm, sich der Erinnerung zu entreißen. Jeremy hatte etwas gesagt – oder nicht?
„Tut mir leid“, sagte Daniel. „Ich war abgelenkt.“
Jeremy blickte auf ein Blatt Papier, das er in der Hand hielt, und hob es vor sein Gesicht, als ob er Schwierigkeiten hätte, die Schrift darauf zu entziffern. Das Licht aus dem Fenster schien durch das Blatt hindurch. Daniel versuchte, die schwachen Zeilen von hinten zu lesen, ohne Erfolg.
„Sehen Sie, Daniel, genau das ist das Problem.“ Jeremy nahm seine Brille ab, legte das Blatt in einen Ordner und schloss ihn. Er blickte Daniel in die Augen.
Daniel wich unter dem direkten Blick zurück und zog sich in die Lehne seines Stuhls zurück. „Es tut mir leid, Jeremy, ich weiß nicht recht …“
„Da haben wir’s schon wieder. Was genau wissen Sie nicht so recht?“ Sein Chef lehnte sich frustriert in seinem Stuhl zurück.
Daniel starrte ihn an. Er hatte keine Ahnung, was vor sich ging.
„Wir haben dieses Gespräch schon einmal geführt, vielleicht erinnern Sie sich? Sie sind nicht ... engagiert ... in diesem Job. Sie sind nie ganz bei der Sache, immer ein oder zwei Schritte hinterher. Sie zeigen keinerlei Begeisterung für Ihre Arbeit. Ich weiß, dass die Branche ein wenig trocken sein kann – nein, tun Sie nicht so, als ob Sie sie faszinierend fänden, wir wissen beide, dass das nicht stimmt.“ Jeremy stand auf und ging zum Fenster hinüber. „Ich fürchte, Daniel, es ist an der Zeit, dass Sie sich eine Position suchen, zu der Sie ein bisschen mehr Bezug haben. Ich werde Sie entlassen müssen. Wir werden Ihnen natürlich die volle Kündigungsfrist einräumen – niemand muss wissen, dass nicht Sie gekündigt haben –, aber kurz gesagt, das war’s. Ich habe es lange genug mit Ihnen versucht. Es ist Zeit für Sie zu gehen.“
Einen Moment lang hörte Daniel die Worte in seinem Kopf nachhallen, aber ihre Bedeutung entzog sich ihm. Werde Sie entlassen müssen. Mehr Bezug. Er spürte, wie sich sein Kiefer lockerte.
Jeremy kehrte an seinen Platz zurück und schlug dabei mit dem Oberschenkel gegen die Ecke seines Schreibtischs. Er rieb sich geistesabwesend die Stelle und fuhr fort: „Heute in einem Monat ... Personalabteilung … Urlaub wegen ... der Inhalt Ihres Schreibtischs ... vertrauliche ... Referenzen, natürlich.“
Daniel nickte, lächelte und ließ die Stimme über seinen Kopf gleiten. Das Gesicht des Jungen begann sich zu materialisieren, derselbe Ausdruck, die Angst in seinen Augen ...
„Ehrlich gesagt, ich bin froh, dass Sie es so gut aufnehmen.“ Jeremy schaute ihn mit einem gutmütig-väterlichen Blick an. „Sie müssen selbst gemerkt haben, dass es nicht so richtig passt, oder?“
Der Junge verschwand.
„Nicht so richtig …?“
„Passt. Sie und wir. Die Firma. Der Job.“ Jeremy holte Luft und musterte immer noch intensiv Daniels Gesicht, als ob er etwas tief in seinem Inneren suchte, es aber nicht fand. „Okay. Na ja. Ich wünsche Ihnen jedenfalls viel Glück.“ Er stand hastig auf, wobei sein Stuhl wieder von ihm weg rollte. Als hätte er es eilig, den Raum zu verlassen. Er streckte eine fleischige Pranke aus. „Ich bin mir sicher, dass Sie den perfekten Job finden werden, Daniel. Alles Gute.“
Da Jeremy zu erwarten schien, dass er ebenfalls aufstand, erhob sich Daniel und schüttelte die klamme Hand. Er schloss seinen Mund, nickte in Jeremys Richtung und ging langsam zur Tür.
* * *
Amber saß auf der obersten Stufe, eine prall gefüllte Supermarkttüte neben sich. Sie hatte ihren Kopf regungslos an das Geländer gelehnt, und er bemerkte sie erst, als sie ihren Kopf bewegte. Er hatte sich auf seine Füße konzentriert und ihren schwermütigen Weg die Treppe hinauf beobachtet. Fast wäre er über sie gestolpert.
„Danny!“
„Oh, tut mir leid, Amber, ich war gerade ganz woanders.“ Er fummelte in seiner Tasche nach den Schlüsseln.
„Das bist du immer. Hast du es etwa vergessen?“ Sie schob sich an ihm vorbei, als er die Tür öffnete, wobei die Einkaufstasche gegen seine Schienbeine stieß.
„Was vergessen?“
„Du hast es vergessen.“ Sie spuckte ihm die Worte förmlich entgegen. „Gott, Danny, was ist los mit dir? Wir haben doch erst gestern darüber gesprochen! Wir wollten früher von der Arbeit wegkommen, nett zu Abend essen und einen Film sehen. Ich habe die ganzen Einkäufe auf dem Weg hierher erledigt, habe mich fast umgebracht, als ich sie die Treppe hochgetragen habe, und du hältst es nicht mal für nötig, dich für deine Verspätung zu entschuldigen, oder was!“
Amber stellte die Tüten auf die Arbeitsplatte in der winzigen Pantry-Küche und warf einen finsteren Blick in den Kühlschrank. „Manchmal denke ich, es ist dir völlig egal, ob wir uns sehen oder nicht. Und Wein hast du auch nicht.“ Sie knallte den Kühlschrank zu, stapfte zum Sofa und setzte sich, wobei sie auf seinem Xbox-Controller landete. Sie warf ihn beiseite. „Mist.“
Er spürte, wie seine Schultern nachgaben und sein Kopf zu sinken begann. Er hatte es wieder getan. Sie hatte recht – irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Das war schon immer so gewesen. Er war einfach nicht wie andere Menschen.
„Es tut mir leid, Amber, wirklich. Ich weiß, ich bin hoffnungslos. Es ist mir nicht egal, ehrlich, aber ich lasse mich so leicht ablenken ... Ich kann es nicht erklären …“
Amber schnappte sich ein Kissen und hielt es wie einen Schild vor ihre Brust. Ihr Mund war zu einer grimmigen Linie verzogen. „Das hast du letztes Mal auch gesagt, und das Mal davor. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, warum ich mir die Mühe mache.“
„Entschuldige.“
Sie schüttelte den Kopf, was ihre dunklen Locken wippen ließ. „Eine Entschuldigung ist nicht genug. Du musst mit dir selbst ins Reine kommen. Geh zu einem Arzt – oder einem Psychiater. Lass dich mal richtig durchchecken.“
„Du hast recht.“ Er ließ den Kopf hängen, unfähig, Worte zu finden, um sie zu beruhigen.
„Ist das alles, was du zu sagen hast?“ Sie starrte ihn an. Ihre Augen blitzten.
Aber was sollte er denn sonst noch sagen? Wenn er versuchte, sie zu beschwichtigen, würde er sie nur noch mehr verärgern. Wenn er versuchte, seine Hoffnungslosigkeit zu leugnen, würde sie wissen, dass es eine Lüge war.
Sie wartete einen Moment, ihre Augen abwartend auf sein Gesicht gerichtet, aber noch ehe er den Mund öffnen konnte, sprang sie auf und schleuderte das Kissen nach ihm. „Weißt du was? Ich habe genug. Ich gehe jetzt. Und das hier nehme ich mit.“ Mit einem Schwung packte sie ihren Mantel und die Einkaufstüte und stapfte zur Haustür. Nach einer kurzen Rangelei mit dem Türriegel verschwand sie und ließ Daniel mit einem Rückenwind der Wut zurück, der die Luft elektrisierte.
Daniel war noch nie gut mit Frauen gewesen. Er hatte sich nie anders als fehl am Platz und ungeschickt gefühlt. Selbst jetzt, wo er auf die Dreißig zuging, war er meist einfach nur sprachlos und unbeholfen.
Als Teenager war er nur allmählich in seinen Körper hineingewachsen, und so war es eine große Überraschung für ihn gewesen, als er plötzlich kein Junge mehr war. Er war fast 1,80 m groß, schlank und hatte widerspenstiges dunkles Haar, das schneller zu wachsen schien als das von anderen Menschen. Oder vielleicht war das nur sein Eindruck – er hasste es ganz einfach, zum Friseur zu gehen, und ließ sein Haar lieber wachsen, bis es ihm über die Schultern hing.
Als die Mädchen anfingen, ihn zu beachten, war er viel zu schüchtern, um etwas damit anzufangen, außer sich zu fragen, was in aller Welt sie in ihm sahen. Er hatte sich im Spiegel betrachtet und versucht, sein Gegenüber objektiv zu betrachten, zu sehen, was sie sahen. Zurück starrte ein ernst aussehender Teenager mit pickeliger Stirn und intensivem Blick. Er hatte versucht zu lächeln. Die Person im Spiegel lächelte zurück, und für den Bruchteil einer Sekunde konnte er sehen, dass sein Lächeln einen gewissen Reiz hatte. Aber es half nichts. Er wusste trotzdem nicht, wie er sich in der Nähe des anderen Geschlechts verhalten sollte, und wann immer ein Mädchen deutlich machte, dass es ihn mochte und ihn kennen lernen wollte, wich er zurück und ärgerte sich dann sofort über sich selbst, weil er es wieder einmal versaut hatte.
Deswegen konnte er es auch kaum glauben, als Amber begann, ihm schöne Augen zu machen. Sie waren sich vor einem Jahr in einer überfüllten U-Bahn über den Weg gelaufen. Die Fahrt an diesem Tag war fast unerträglich gewesen. Der Bahnsteig war bereits voll, als Daniel ihn erreichte, die Menschen säumten die Wände von einem Ende zum anderen, und der schmale Raum vor ihnen füllte sich ständig. Obwohl draußen ein frischer Herbsttag war, war die Luft tief unter den Straßen Londons abgestanden und mit einer unangenehmen Mischung aus menschlichem Schweiß, versengtem Metall und altem Staub versetzt.
Als der Zug einfuhr, war Daniel in eine lebhafte Erinnerung vertieft. Die ungeduldigen Menschenmassen, die sich vorwärts drängten, rissen ihn in die Gegenwart zurück, und er wurde in den Zug geschwemmt, wobei er sich nur mühsam auf den Beinen halten konnte. Immer mehr Menschen versuchten, sich in den Zug zu quetschen, und die Insassen wurden in den engen Raum zwischen den Sitzen gezwungen. Aktentaschen stießen schmerzhaft gegen Schienbeine, Handtaschen klemmten zwischen Schultern und Rippen, unglücklichen Menschen mit Koffern wurde heiß bei der Anstrengung, sie in den kleinsten Raum zu verfrachten. Die Türen öffneten und schlossen sich dreimal, bevor sie sicher einrasteten.
Als der Zug schließlich losfuhr, stolperte die gesamte Reihe der stehenden Fahrgäste nach vorne. Daniel verlor das Gleichgewicht, da nur das Gedränge ihn in seiner Position gehalten hatte. Sein Fuß schoss nach vorne und stampfte hart auf, als er versuchte, sich aufzurichten. Ein dumpfer Schrei ertönte, und das Mädchen vor ihm drehte den Kopf, einen Fluch auf den Lippen.
„Das war mein Fuß!“ Ihr Gesicht verzog sich vor Schmerz. Ihr Scheitel erreichte kaum Daniels Schulter.
Daniel, der immer noch darum kämpfte, aufrecht stehen zu bleiben, murmelte: „Es tut mir leid … so leid. Bist du okay?“
Irgendwie schaffte sie es, ihm erst die Schultern und dann den Rest ihres Körpers zuzuwenden. „Alles gut, keine Sorge“, sagte sie. „Ich habe noch einen. Irgendwo hier in der Nähe.“
Trotz seines schlechten Gewissens musste Daniel lächeln. Sie war hübsch. Vielleicht Mitte zwanzig, mit einer ungestümen Lockenmähne und einem rot geschminkten Herzmund. Sie standen unangenehm nahe beieinander, und er versuchte, seinen Kopf von ihrem zu entfernen, aber das Schaukeln des Zuges zwang sie zusammen.
Als der Zug sich endlich leerte, setzten sie sich nebeneinander, und sie rieb sich den geprellten Fuß. Er fühlte sich gezwungen, sich erneut zu entschuldigen, aber sie winkte ab und begann, ihn auszufragen – zumindest kam es ihm so vor. Er war erleichtert, als seine Haltestelle bekannt gegeben wurde, und dann erschrocken, dass sie ebenfalls dort ausstieg.
Er konnte sich allerdings nicht zu sehr zum Idioten gemacht haben, denn sie schlug ihm vor, ihr einen Kaffee zu spendieren, um die verletzten Zehen zu entschädigen. Zwei Stunden später kehrte er in seine Wohnung zurück, ohne zu erwarten, sie jemals wiederzusehen.
Aber sie hatten ihre Nummern ausgetauscht – mehr aus Höflichkeit als aus Interesse ihrerseits, wie er meinte. Er war überrascht, als sie ihm eine SMS schrieb, und nahezu fassungslos, als sie vorschlug, sich mal auf einen Drink zu treffen. Er wollte ablehnen, aber jede Ausrede, die ihm einfiel, klang so lahm, dass er die eilig verfassten Nachrichten sofort wieder löschte. Also stimmte er schließlich zu, sich mit ihr in einer Bar in der Nähe zu treffen.
Es war eine der größten Herausforderungen, die er je bewältigt hatte. Er hatte noch nie ein richtiges Date gehabt. Er hatte zwar schon Freundinnen gehabt, wenn man das denn so nennen konnte, aber bisher war er immer durch die Schule oder die Arbeit in die „traute Zweisamkeit“ geraten. Keine von ihnen war von Dauer gewesen. Und wenn er ganz ehrlich war, konnte er nicht einmal sagen, dass er je eine richtige feste Freundin gehabt hatte.
Allein der Gedanke daran versetzte ihn in Panik – war es wirklich ein Date? Vielleicht war sie einfach nur freundlich. Er versuchte herauszufinden, welche Signale sie ihm gesendet hatte, als sie sich trafen, aber dabei drehte er sich nur im Kreis und fragte sich, welche Art von Signalen ein Mädchen überhaupt senden könnte. Dazu kam die Kleiderfrage: Was sollte er anziehen – sollte er sich schick machen oder nicht? Sollte er sie auf die Wange küssen oder sie umarmen, wenn sie ankam? Sollte er früher da sein, damit sie nicht allein sitzen musste, oder würde das zu übereifrig wirken? Er hatte keine Ahnung, worüber sie reden würden, ob er ihr anbieten sollte, zu bezahlen, oder ob sie das beleidigen würde. Das Ganze war ein einziges Minenfeld.
Wie immer, wenn er in Schwierigkeiten steckte, rief er seine Schwester an. Obwohl Lauren jünger war als er, kannte sie sich mit dem ganz normalen Wahnsinn des echten Lebens viel besser aus. Sie hatte Freunde, seit sie vierzehn war. Er kam sich wie ein Idiot vor, weil er sie anrufen musste, aber er wollte einen guten Eindruck bei Amber hinterlassen und brauchte jede Hilfe, die er bekommen konnte.
Zu seiner Erleichterung nahm Lauren die Situation gelassen hin. Sie lachte ihn nicht aus und machte sich auch nicht darüber lustig, dass er Ratschläge für die Partnersuche brauchte. „Zieh einfach was Sauberes an – etwas, was du magst und worin du dich wohl fühlst, ganz normale, alltägliche Sachen. Gib ihr einen Kuss auf die Wange, wenn du ankommst. Lächle. Gib die ersten Drinks aus, dann lass sie die nächste Runde holen. Sei du selbst, mach dir keine Sorgen und hör ihr zu. Zuhören ist das Beste. Sie wird dich dafür zu schätzen wissen. Wenn dir die Fragen ausgehen, wiederholst du das Letzte, was sie gesagt hat, mit einem verbalen Fragezeichen dahinter. Dann wird sie weiterreden.“ Es entstand eine Pause. „Magst du sie?“
„Ja. Ich glaube schon …“
„Gut. Sie mag dich offensichtlich, also musst du dich nicht zu sehr anstrengen. Nimm es einfach, wie es kommt, sie wird dich noch mehr mögen, wenn du ein bisschen verletzlich bist.“
Irgendwie überstand Daniel die erste Verabredung, und dann die zweite, und schon bald trafen sie sich regelmäßig. Es gab viele Hürden zu überwinden, und jedes Mal litt er unter schrecklichen Selbstzweifeln, aber Lauren begleitete ihn, ohne sich über ihn lustig zu machen, und hörte sich geduldig seine Ängste an, seinen nicht enden wollenden Strom von Zweifeln.
Endlich war er „in einer Beziehung“. Es war ein seltsames, aber irgendwie auch beruhigendes Gefühl, zu wissen, dass ihn jemand mochte. Natürlich machte er sich Sorgen. Die meiste Zeit sogar. War er gut genug für sie? Würde sie seiner überdrüssig werden und ihn kurzerhand abservieren? Was waren ihre Erwartungen?
Amber war ganz anders als er. Sie schien sich über nichts Sorgen zu machen. Vielleicht war das der Grund, warum er sich ihr gegenüber nicht öffnete, obwohl sie ihm näher stand als irgendjemand sonst – außer seiner Schwester. Er brachte es nicht über sich, ihr von seinen innersten Ängsten zu erzählen oder von der Flut an Erinnerungen, mit denen er jeden Tag zu kämpfen hatte. Er wusste nicht, wie sie reagieren würde. Würde sie ihn für seltsam halten, so wie es die Kinder in der Schule getan hatten? Sie hatten ihn zum Schweigen gebracht, und jahrelang hatte er die Dinge, die ihn anders machten, versteckt und sich gezwungen, sich wie andere Menschen zu verhalten. Vielleicht würde sie denken, dass er einfach nur ein großes Theater machte, so wie sein Vater, als er endlich den Mut gefunden hatte, mit ihm zu reden. „Kein Grund zur Sorge, Daniel“, hatte sein Vater gesagt. „Da wächst du schon raus.“
Aber das war er nicht. Im Gegenteil, mit der Zeit war es nur noch schlimmer geworden.
Er hatte nicht gewollt, dass Amber ihn als schwach oder als Opfer ansah. Oder gar als jemanden, der sich ständig Sorgen machte. Er verstand einfach nicht, warum sie sich für ihn interessierte, einen kleinen Verlierer, dem es an Ehrgeiz mangelte und der sich gerade so über Wasser halten konnte. Wenn er darüber nachdachte, was oft der Fall war, konnte er sich keine gemeinsame Zukunft vorstellen. Tief im Herzen wusste er, dass sie nicht zueinander passten. Aber er wollte auch nicht, dass es zu Ende ging.
Er beschloss, sie an diesem Abend nicht anzurufen, damit sie sich beruhigen konnte, aber er wollte sich entschuldigen, es irgendwie wieder gutmachen. Das war schon einmal passiert. Sie hatte die Geduld mit ihm verloren – und dieses Mal kam er sich doppelt dumm vor, weil er es nicht hatte kommen sehen. Aber er hatte seinen Job verloren, und das war doch sicher ein guter Grund, eine Abmachung zu vergessen? Er hatte nicht einmal die Gelegenheit gehabt, es ihr zu sagen.
Mit ungeschickten Fingern schrieb er eine SMS: Es tut mir so leid. Hab heute Nachmittag meinen Job verloren und kann nicht klar denken. X
Dann, da er dachte, dass sie vielleicht nicht darauf reagieren würde, weil es keine Frage gab: Lass es uns morgen Abend nachholen? X
Er wartete ein paar Minuten auf ihre Antwort, aber es kam nichts. Der Bildschirm blieb hartnäckig leer. Seufzend nahm er den Xbox-Controller in die Hand und drückte auf Start.
Es war vier Uhr morgens, ehe er bemerkte, wie spät es war, und als er aufstand, um ins Bett zu gehen, tat ihm der Rücken weh. Die Muskeln in seinen Schultern waren steif und schmerzten.
Das war für Daniel nicht ungewöhnlich. Er hatte sich angewöhnt, sich mit Spielen abzulenken, und jetzt schien es die einzige Möglichkeit zu sein, allem zu entkommen. Dabei wusste er, dass es ihm nicht gut tat. Er befand sich in einem permanenten Zustand des Schlafmangels. Es war nicht verwunderlich, dass er seinen Job verloren hatte: Er arbeitete seit Monaten nur noch mit einem Drittel seiner Leistungsfähigkeit.
Aber die Spiele hielten sein Gehirn auf eine Weise fest, die gegen das manische Abdriften half. Die Erinnerungen blieben für ein paar Stunden aus und verschafften ihm eine Atempause von dem ständigen Strom an Bildern, Geräuschen, Gerüchen und Gefühlen.
Er stellte sich sein Gehirn als eine Art kreisförmige Bibliothek vor, die sich wie eine Muschelschale wölbt und langsam dreht. Regale über Regale mit Büchern, jedes eine Zeitkapsel mit einem Moment aus seiner Vergangenheit. Ereignisse, Details, Farben, Klänge. Daten, Tage und Zeiten. Natürlich auch Dinge, die er gelernt hatte, aber ihre Ecke der Bibliothek war unbedeutend im Vergleich zu den nicht enden wollenden Reihen von Erinnerungen, jede an ihrem Platz, mit Präzision geordnet, aber ohne Vorwarnung und nach dem Zufallsprinzip an die Oberfläche kommend. Ausgelöst durch ein Wort eines Fremden, eine Berührung auf einer glatten Oberfläche, einen verlockenden Geruch. Aber es gab auch einige, die keinen Auslöser brauchten, wie das Gesicht des Jungen.
Irgendetwas in seinem Gehirn war schief gelaufen, da war er sich sicher. Der Schalter, der die Erinnerungen abrief, war in der Position „on“ eingefroren, seine Nachrichten ständig auf „senden“.
Als er ins Bett fiel, erinnerte ihn ein dumpfer Schmerz in der Magengrube daran, dass er gestern seinen Job verloren hatte. Und möglicherweise auch seine Freundin. Mit einem Stöhnen drückte er seinen Kopf ins Kissen und hoffte auf schnelle Erlösung durch den Schlaf.
* * *
Das Licht, das durch den Spalt in den Vorhängen drang, war flach und grau. Das Prasseln des Regens am Fenster trug nicht gerade dazu bei, seine Stimmung zu heben, während er sich mühsam an die Oberfläche des Bewusstsein kämpfte.
Ein Bild von Jeremys Gesicht, seltsamerweise gepaart mit Ambers Abschiedsworten, rüttelte ihn wach. Mit einem Fluch warf er die Decke beiseite. Er musste sich aufraffen, sonst würde ihn das, was gestern passiert war, den ganzen Tag lang platt machen. An der Sache mit dem Job konnte er nicht viel ändern, aber vielleicht konnte er Amber besänftigen.
Er überprüfte sein Handy. Nichts von ihr, nicht einmal eine Bestätigung, dass sie seine Nachricht gesehen hatte. Er sollte sie anrufen und versuchen, es wieder gutzumachen. Vielleicht sollte er sie zum Essen einladen, sich richtig ins Zeug legen. Ihr Blumen kaufen? Nein, das wäre zu viel – er wollte nicht, dass sie über seine erbärmlichen Versöhnungsversuche lachte.
Warum wusste er nie, was zu tun war?
Nach einem Frühstück aus gebuttertem Toast und schwarzem Kaffee fühlte er sich gleich viel besser in der Lage, den Tag anzugehen. Er musste dringend in den Supermarkt gehen. Er hatte nur noch ein paar Scheiben Brot, ein kleines Stück Butter und ein paar schwammige Kartoffeln. Ansonsten war die Küche leer.
Daniel hasste das Einkaufen. Wenn er sich aufraffte und bald ging, bevor es zu voll wurde, konnte er vielleicht mit dem kleinen Sainsbury’s an der Ecke zurechtkommen. Sie würden nicht alles haben, was er brauchte, aber der Gedanke an einen Großeinkauf in einem Megastore war unerträglich. Ohne Auto müsste er etwa eine Meile zurücktaumeln, beschwert mit zerplatzenden Tüten, bevor er die vierundsechzig Stufen zu seiner Wohnung hinaufsteigen könnte. Ganz zu schweigen von der Panikattacke, die er bekommen könnte, wenn er von Samstagseinkäufern und zu viel Auswahl umgeben war.
Er fuhr los, bevor er es sich anders überlegen konnte, und war in Rekordzeit zurück, erleichtert, dass er einer Panikattacke entgangen war. Als er gerade beim Auspacken war, wurde er durch das Summen des Haustelefons aufgeschreckt. Er bekam nie Besuch. Seine wenigen Freunde hatten nicht die Angewohnheit, bei ihm vorbeizuschauen, und seine Eltern würden nicht im Traum daran denken, aus Angst vor dem, was sie vorfinden könnten.
Er nahm den Hörer in die Hand. „Amber? Bist du das?“
„Tut mir leid, dass ich Sie enttäuschen muss“, sagte eine männliche Stimme. „Darf ich raufkommen?“
„Wer ist denn da?“, fragte er und versuchte, die Stimme einzuordnen. Sie kam ihm bekannt vor, aber einen Moment lang war er verwirrt.
„Malcolm. Malcolm Brown.“
Daniel versuchte sich zu erinnern, wer das war.
„Ihr Vermieter?“
Sein Vermieter. Verdammt. „Natürlich, kommen Sie hoch.“ Daniel knallte den Hörer zurück in seine Halterung und sah sich panisch im Zimmer um.
Es war ein Chaos, aber nicht so schlimm, wie es hätte sein können. Er flitzte umher, räumte Teller und Schüsseln aus der Küche und stapelte sie in der Spüle, wischte die Kaffeeflecken mit dem Lappen ab, der selbst mal wieder einen Ausflug in die Waschmaschine vertragen könnte. Er räumte Xbox-Controller und Kabel aus dem Weg, verstaute sie hinter dem Fernsehgerät und bauschte ein paar Kissen auf. Das würde reichen müssen. Er konnte bereits Malcolms schwere Schritte auf der Treppe draußen hören.
Er verzog sein Gesicht zu einem Lächeln und öffnete die Tür. Malcolm stand keuchend da, in seinem üblichen beigen Regenmantel, eine Aktentasche in der pummeligen Hand. Sie hatten sich bisher nur ein paar Mal getroffen – als Daniel sich das erste Mal in der Wohnung umgesehen hatte und dann an dem Tag, als er eingezogen war. Ansonsten hatten sie nur per E-Mail Kontakt gehabt. Daniel fragte sich, was ihn heute die Treppe hinaufgebracht hatte, vor allem, wenn man bedachte, wie unsportlich er zu sein schien.
„Kommen Sie rein.“ Er öffnete die Tür weit. Der Eingangsbereich seiner Wohnung war winzig, und zu zweit fühlte es sich viel zu intim an, also eilte er voraus ins Wohnzimmer.
„Möchten Sie einen Kaffee?“, fragte er, um die Pause zu überbrücken. Malcolm hatte noch nichts gesagt, seine Brust hob sich immer noch von der Anstrengung. Daniel bedauerte sein Angebot sofort – das Letzte, was er wollte, war, dass Malcolm hier herumhing und die nicht ganz so sauberen Ecken seines Anwesens inspizierte.
Doch Malcolm schüttelte den Kopf und fummelte am Schloss seiner Aktentasche herum. „Nein, ich hab nicht lang Zeit.“ Er nahm einen Umschlag heraus und reichte ihn Daniel. „Ich wollte Ihnen nur persönlich mitteilen, dass ich die Wohnung wieder benötige. Ich kündige Ihnen ab heute. Meine Nichte wird im Sommer nach London ziehen, und ich habe ihr die Wohnung versprochen.“
Einfach so. Keine Entschuldigung, kein offensichtliches Mitgefühl für die Person, die er praktisch auf die Straße setzte. Mit ein oder zwei Sätzen entfernte Malcolm das Einzige, was Daniel in seinem Leben hier noch geblieben war.
Daniel öffnete den Umschlag nicht. Er spürte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich. Er schaffte es, seine Lippen zu öffnen, aber es kam nichts heraus. Er wartete darauf, dass Malcolm Augenkontakt herstellte, um etwas Menschlichkeit zu zeigen, aber der Mann schloss nur seine Tasche und wandte sich zum Gehen.
„Ich – warten Sie!“ Seine Stimme war heiser, aber sie funktionierte. „Sie können doch nicht ... Sie können nicht einfach …“
„Lesen Sie Ihren Vertrag.“ Malcolm drehte sich noch einmal halb zu Daniel um. „Steht alles da drin - ein Monat Kündigungsfrist, wie vereinbart. Ich werde jemanden vorbeischicken, der die Übergabe macht, wenn es soweit ist. Auf Wiedersehen.“
Poppy steckte ihren Kopf durch die Tür zum Zimmer ihrer Großmutter. Heute wohnte Gran unten, im ehemaligen Esszimmer, obwohl Poppy sich kaum noch daran erinnern konnte, wie das Zimmer ohne das Einzelbett mit dem rosafarbenen Candlewick-Bezug, dem runden Teppich und die im Raum verteilten Familienfotos ausgesehen hatte. Da Gran die Treppe nicht mehr allein bewältigen konnte, war die Toilette im Erdgeschoss zu einer Dusche umgebaut worden, wobei sie die strikte Anweisung hatte, die Tür nicht abzuschließen. Nur für den Fall der Fälle.
„Gran, das Frühstück ist fertig!“
Die Vorhänge waren geschlossen, aber Gran antwortete sofort. „Okay, Liebes, bin gleich da. Ich bin heute etwas langsam.“
„Geht es dir gut, Gran?“ Poppy ging zum Fenster, zog die Vorhänge auf und ließ einen goldenen Sonnenstrahl hindurch, der durch das Geäst des Apfelbaums im Garten Muster auf den Teppich zeichnete.
„Mir geht es gut, danke, Liebes. Ich genieße nur das Vogelgezwitscher.“
Poppys Vater hatte Futterhäuschen an einer Halterung vor dem Fenster aufgehängt, und die Vögel flogen geschäftig zwischen dem Apfelbaum und dem Fensterbrett hin und zurück. Ein Rotkehlchen schien immer in der Nähe zu sein, Blaumeisen flitzten von Ast zu Ast, Tauben warteten unten auf die fallen gelassenen Leckerbissen. Obwohl Poppys Gran jetzt Mitte achtzig war, sah sie mit Brille noch immer gut, und ihr Gehör war so scharf wie eh und je. Aber sie wurde immer wackliger auf den Beinen, weshalb an der Vorder- und Hintertür Geländer angebracht worden waren, um ihr die Treppen zu erleichtern, und auf der Veranda stand ein Rollstuhl. Auch ihr Gedächtnis verblasste – und das mit rasender Geschwindigkeit.
Poppy liebte ihre Großmutter heiß und innig. Nicht, dass sie nicht auch ihre Mutter und ihren Vater liebte, aber Gran hatte einen besonderen Platz in ihrem Herzen. Das war schon immer so gewesen. Ihre Großmutter hatte oft auf sie aufgepasst, als sie klein war, während ihre Mutter arbeiten musste. Sie lächelte immer, war großzügig und wurde nie böse, aber wenn sie wollte, konnte sie recht streng sein.
Inzwischen arbeitete Poppy nur noch in Teilzeit und verbrachte so viel Zeit wie möglich damit, sich um ihre Großmutter zu kümmern, mit ihr im Rollstuhl spazieren zu gehen, ihr endlose Mengen Tee zu kochen und ihr bei komplizierten Puzzles zu helfen. Und im Gegenzug fand Gran immer einen Weg, sie zum Lachen zu bringen, selbst dann, wenn sie niedergeschlagen war.
Aber Poppy war nur selten niedergeschlagen. Sie tat das, was sie liebte, hatte ihre Arbeit mit Tieren, trotz der miesen Bezahlung. Die Arbeit in der Tierauffangstation gefiel ihr, und sie konnte mehr Zeit zu Hause verbringen. Die Diagnose Alzheimer vor zwei Jahren hatte die ganze Familie schwer getroffen, aber Poppy hatte es die Entscheidung erleichtert, bei ihrer Familie wohnen zu bleiben, anstatt mit Freunden zusammen zu ziehen. So konnte ihre Mutter weiter arbeiten gehen, und ihre Eltern waren dankbar für all die Zeit, die sie in die Pflege ihrer Großmutter investierte.
„Heute ist ein schöner Tag, Gran.“ Poppy drückte ihr einen kurzen Kuss auf die blasse Stirn. „Lass dir ruhig Zeit und genieß es. Wir sehen uns in der Küche!“
„Ich komme sofort, Liebes. Ein paar Minuten noch.“
In der Küche deckte sie den Tisch für zwei. Ihre Eltern hatten längst gefrühstückt und waren zur Arbeit gegangen – ihre Mutter in den örtlichen Lebensmittelladen, ihr Vater zur Sortierstelle der Royal Mail in Banbury. Poppy aß gern mit ihrer Großmutter. Sie hörten Radio, unterhielten sich über die Nachrichten und planten, was sie den Tag über tun würden. Keine von ihnen langweilte sich oder war einsam, solange sie einander hatten. Doch im Hinterkopf wusste Poppy, dass unweigerlich der Tag kommen würde, an dem Gran nicht mehr da sein würde. Der Gedanke war schier unerträglich.
* * *
Als Poppys Mutter von der Arbeit zurückkam, schlief Gran in ihrem Sessel im Wohnzimmer, und ihre weißen Locken umrahmten ihr Gesicht auf dem abgenutzten Stoff der Rückenlehne. Poppy legte ihr sanft eine Decke über die Knie und achtete darauf, sie nicht zu wecken. Sie sah so klein und zerbrechlich aus, die Hände ordentlich im Schoß gefaltet, die dünnen Beine in eine robuste, blickdichte Strumpfhose gehüllt.
„Sieht aus, als hättest du sie heute richtig müde gekriegt, Poppy“, sagte ihre Mutter, als sie in der Küche die Tüte mit den Einkäufen auspackte. Poppy ging ihr zur Hand und stapelte Bohnen- und Tomatendosen in den Eckschrank, während ihre Mutter Pakete mit Fisch und Hühnerbrust ins Gefrierfach schob.
„Ich hoffe nicht. Wir waren nicht weit weg, und es war ein schöner Tag. Sie schien es zu genießen.“
„Das hat sie ganz bestimmt. Aber vielleicht sollten wir sie morgen ausschlafen lassen, oder?“
„Ich muss morgen sowieso arbeiten“, sagte Poppy. „Sie kann sich ausruhen und einen ruhigen Tag ohne mich verbringen.“
„Dann ist ja gut.“ Ihre Mutter senkte die Stimme und blickte zur Wohnzimmertür. „Die Energie geht ihr in letzter Zeit schneller aus. Manchmal scheint sie sogar das Reden zu erschöpfen.“
„Okay. Ich werde aufpassen, dass ich sie nicht überanstrenge.“
Poppy schlich zurück ins Wohnzimmer und warf einen Blick auf ihre Großmutter, während sie schlief. Das liebe, vom Alter gezeichnete Gesicht war so kostbar, die zarten Hände mit den vielen Altersflecken so schön. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, sahen die Ringe an ihren Fingern ziemlich locker aus. Sie war nie besonders kräftig gewesen, aber ihr Körper war eindeutig in sich zusammengeschrumpft. Sie hatte sowohl an Höhe als auch an Umfang verloren, und wenn sie schlief, sah sie zerbrechlich aus, wie ein feines Stück Porzellan. Ihr Ende rückte definitiv näher.
Daniel sank auf dem Sofa in sich zusammen, der Umschlag flatterte auf den Boden. Was hatte er getan, um das zu verdienen? Das Traurige an der Sache war, dass er nichts getan hatte, und genau das war wie immer das Problem. Nichts tun war wahrscheinlich das Einzige, worin er wirklich gut war.
Ein scharfes Zusammenziehen seines Magens brachte ihn abrupt auf die Beine. Wut stieg in ihm auf. Er schritt in dem winzigen Raum auf und ab. Eine grimmige Stimme in seinem Kopf schrie: Du Verlierer! Was kannst du überhaupt? Das ist alles deine Schuld! Neunundzwanzig Jahre alt und was hast du schon großartig erreicht? Nichts! Warum kannst du nicht normal sein? Warum kannst du dich nicht selbst in den Griff kriegen? Du bist ein erwachsener Mann – kein Kind!
Dabei stürmte alles auf ihn ein: Bilder aus der Vergangenheit, Vorfälle, bei denen er etwas falsch gemacht hatte, versagt hatte, seine Eltern enttäuscht hatte, Freunde verloren hatte. Er schlug mit der Stirn gegen den Türpfosten, einmal, zweimal, immer wieder, bis sein Nacken weh tat und Tränen des Schmerzes an seinen Augenlidern kribbelten. Erst dann hörte sein Verstand auf zu wirbeln.
Schwer atmend stolperte er zum Sofa und sackte erneut in sich zusammen, den pochenden Kopf in die Hände gestützt. Blut tropfte über seine Schläfe in Richtung Ohr. Er wischte es mit zitternder Hand ab. Nach einigen Augenblicken beruhigte sich seine Atmung, und das unerträgliche Krachen in seinem Kopf schwand zu einem rhythmischen Pochen. Sein Gehirn wurde klarer, die Erinnerungen zogen sich an ihren Platz in der Bibliothek seines Geistes zurück.
Es kostete ihn einige Mühe, auf die Beine zu kommen. Immer noch mit dem Kopf in der Hand schlurfte er ins Bad, um den Schaden zu begutachten. Es war nicht die wachsende Beule auf seiner Stirn oder die nässende Wunde, die ihn schockierte – es war der gespenstische, schaurige Ausdruck in seinem Gesicht, der ihn zurückschrecken ließ. Dunkle Falten unter seinen Augen schienen seine Lider nach unten zu ziehen und ließen sein Gesicht nahezu monströs herabhängen. Seine Haut war eine fleckige Mischung aus Grau und Weiß, sein Haar hing dünn und fettig herab und klebte ihm stellenweise im Nacken. Er hatte das Aussehen eines verzweifelten Mannes.
Zu seinem Entsetzen drohten Tränen, und dieses Mal waren es keine Tränen des Schmerzes. Das Gesicht im Spiegel verzog sich zu einer Grimasse, eine wütende Röte breitete sich vom Hals bis zu den blassen Wangen hinauf aus. Er beugte sich über das Waschbecken und ließ das kalte Wasser direkt auf sein Gesicht und durch sein Haar laufen. Es war eiskalt, aber er zwang sich, so lange zu verharren, bis sich seine Kopfhaut taub anfühlte und der Kloß in seinem Hals sich auflöste. Er vergrub seinen Kopf in einem Handtuch und kehrte ins Wohnzimmer zurück.
Er saß lange da, das Handtuch über die Schultern gelegt, sein Geist noch immer leer – eine willkommene Erleichterung, obwohl er wusste, dass sie nur von kurzer Dauer sein würde. Er übte, langsam zu atmen, zehn Takte ein, zehn aus, zehn ein ...
Aber schließlich musste er sich dem stellen, was mit ihm geschah, und er spürte sofort einen Stich der Angst. Wie sollte er das in den Griff bekommen? Er hatte nicht nur ein großes Problem, sondern gleich drei, und zwar in den wichtigsten Bereichen seines Lebens – sein Job, seine Freundin, sein Zuhause.
Er griff nach seinem Handy. Es gab nur einen einzigen Menschen auf der Welt, dem er sich anvertrauen konnte.
Sie klang atemlos, der Verkehrslärm im Hintergrund übertönte fast ihre Stimme. „Hallo, du.“
„Wo bist du?“
„Hab gerade meinen Lauf beendet. Bin in einer Minute zu Hause. Ich ruf dich zurück?“
„Kannst du dich beeilen?“
„Bist du okay?“
„Eher nicht. Bitte, ruf mich einfach an, wenn du zu Hause bist.“ Er legte auf.
Als er mit dem noch immer feuchten Kopf in den Händen saß und auf ihren Rückruf wartete, überkam ihn ein neues Gefühl. Zuerst erkannte er es nicht, aber die Schwere, die sich langsam in seinem Nacken, seinen Schultern, seinem Bauch und seinen Beinen ausbreitete, offenbarte seine wahre Natur.
Es war das Gefühl völliger Verzweiflung.
Es kam ihm vor, als hätte ihm jemand eine riesige Last, einen Felsbrocken, auf den Rücken gelegt, und er wusste – zum ersten Mal in seinem Leben wusste er wirklich –, dass er diese schreckliche Situation selbst verschuldet hatte.
Seit er zehn Jahre alt war, hatte er alles verpfuscht. Schule, Arbeit, Beziehungen – alles die reinste Pfuscherei. Es gab keine einzige Sache, die er voller Energie durchgeführt hätte, nichts, was ihm Inspiration, Freude oder Befriedigung verschaffte. Immer die Tatsache – nein, die Ausrede –, dass sein Gehirn anders war, dass die Erinnerungen ihn ablenkten, dass er nichts dafür konnte, wie er war.
Und jetzt war die gefährliche, hauchdünne Struktur seines Lebens endgültig zusammengebrochen. Es war nie real gewesen, nichts davon, nicht wirklich. Er hatte sich durch die Schule gehangelt und irgendwie einen Job ergattert. Wahrscheinlich hatte es keine anderen Bewerber gegeben. Selbst seine Freundin hatte sich schwer getan, eine Beziehung zu ihm aufzubauen, geschweige denn aufrechtzuerhalten.
Und was nun?
Er konnte nicht zu seinen Eltern gehen. Ja, seine Mutter würde freundlich sein, sie würde ihn zu Hause willkommen heißen und versuchen, ihm auf ihre Weise zu helfen. Aber sie hatte ihn nie wirklich verstanden, und sein Vater erst recht nicht. Er war enttäuscht von ihm. Er hatte es nie ausgesprochen, aber der Blick in seinen Augen sagte Daniel alles, was er wissen musste.
Die einzige Person, die er noch hatte, war Lauren.
* * *
Das Klirren der elektronischen Musik aus seinem Handy fühlte sich an wie ein Stich in die Schläfe. Sein Herz begann zu rasen, er fummelte mit dem Gerät herum und ließ es zweimal fallen, bevor er die richtige Taste drücken konnte. „Lauren?“
„Ich bin’s. Du klingst schrecklich – was ist los?“ Ihre Stimme war jetzt ruhig und nah. Er stellte sie sich in ihrer gemütlichen Wohnung vor, die Kissen und Teppiche ihres Wohnzimmers dämpften jeden Lärm von draußen.
„Lauren.“ Selbst für ihn klang er falsch. Seine Stimme irgendwie verschluckt, rau, kehlig. „Ich hab’s versaut. Ich bin total am Arsch.“ Die Anstrengung, nicht zu weinen, war plötzlich zu groß, und die Tränen kullerten unkontrolliert über seine Wangen. „Ich weiß nicht, was ich tun soll.“ Die Worte kamen in einem aufsteigenden Heulen der Verzweiflung heraus.
„Whoa, Daniel. Komm schon, so schlimm kann es nicht sein. Es wird alles gut. Hol dir erstmal etwas Wasser, schon gut, ich kann warten.“
Er wischte sich die Tränen von den Wangen und stolperte in die Küche, wo er sich einen Becher Wasser holte. Ein tiefer Schluck, zwei, drei, und er hielt den Hörer wieder an sein Ohr. „Bist du noch da?“
„Natürlich bin ich das. Komm schon, spuck’s aus. Was ist passiert?“
„Alles ist passiert. Ich bin ein blöder Volltrottel. Platzverschwendung, ein nutzloses Stück Scheiße.“
„Hör sofort auf, so über meinen Bruder zu reden, und sag mir lieber, was passiert ist.“
Er holte tief Luft und erzählte es ihr. Sein Job: die endlose Langeweile, seine Unfähigkeit, Enthusiasmus und Energie aufzubringen, das ständige Bedürfnis, sich zu verstellen. Jeremys Bemühungen, ihn zu ermutigen, ihn in die sozialen Ereignisse des Teams einzubeziehen, sein Selbstvertrauen zu stärken, aber alles vergeblich. Wie sehr es ihn erschöpfte, wenn er einfach nur vorgab, anwesend zu sein. Die Wohnung und die Tatsache, dass er ohne Entschuldigung wie ein zerbrochenes Möbelstück entsorgt würde.
Er tat sein Bestes, um seine Beziehung zu Amber zu beschreiben, um zu erklären, warum sie von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen war. Seine Unfähigkeit, sich zu engagieren – Jeremys Lieblingswort –, sich auf eine Person, einen Job, eine Aufgabe zu konzentrieren. Auf irgendetwas.
Er ertappte sich dabei, wie er über die Erinnerungen sprach. Die unerbittliche Flut von Bildern und Gefühlen, die nicht enden wollende, erschöpfende, lähmende, betäubende Non-Stop-Natur seines Gehirns, das niemals aufhörte, Szenen und Bilder und Sinne und Emotionen abzurufen und zu präsentieren.
Er redete nicht weiter über den Jungen. Das wäre zu weit gegangen.
Sie wusste natürlich von seinen Erinnerungen. Als Kind, bevor sie sich als Teenager in verschiedene Richtungen entwickelt hatten, hatte er einmal versucht, ihr zu beschreiben, wie es war, sich an alles in seinem Leben zu erinnern. An die Zeit, das Datum, den Wochentag jedes einzelnen Ereignisses. Sich nicht nur daran zu erinnern, sondern es immer wieder auftauchen zu lassen. Sein Gehirn war bis an seine Grenzen ausgelastet. Die Auslöser, die Ablenkungen, das Nicht-Dabei-Sein. Aber sie war nur ein Kind gewesen, jünger als er, und obwohl sie es versuchte, war klar, dass sie es nicht verstehen konnte, und er hatte sie nicht weiter belasten wollen. Er hatte es seitdem ein paar Mal erwähnt, sich ihr aber nie wirklich anvertraut.
Im Nachhinein wurde ihm bewusst, wie tief er gesunken sein musste, um sich seiner Schwester gegenüber so vollständig zu öffnen. In diesem Moment schien es, als könne er nicht aufhören zu reden, die Worte überschlugen sich – das Bedürfnis, sie herauszubringen, damit sie ihn verstand.
Sie ließ ihn reden und unterbrach ihn nur, wenn er über seine Worte stolperte oder um Klarheit zu bekommen. Als der Redeschwall abebbte, gab es eine lange Pause, und er begann zu befürchten, dass sie aufgelegt haben könnte. Dann nahm sie einen tiefen, raschen Atemzug und ließ ihn langsam ausströmen. Eine Art emotionaler Ausstoß.
„Lauren?“ Seine Hände zitterten, seine Handflächen waren klamm vor Schweiß.
„Ja, tut mir leid, ich musste das erstmal sacken lassen. Wow, Daniel. Oh, mein Gott! Ich wusste ja, dass du manchmal Probleme hast, aber das? Wow!“
„Ja.“ Ein Gefühl der Erleichterung durchflutete ihn. Auch wenn sie nur einen Bruchteil von dem verstanden hatte, was er gesagt hatte, war die Entlastung kathartisch.
Es gab eine weitere lange Pause. Er schluckte. „Die Sache ist die, Lauren ... Ich glaube, ich kann es nicht länger ertragen.“ Als er es sagte, wusste er, dass es wahr war. „Ich bin neunundzwanzig Jahre alt, und ich bin am Ende. Ich habe versucht, es zu kontrollieren, aber es ist offensichtlich, dass ich es nicht kann. Es ruiniert mein Leben – hat es bereits. Es gibt nichts, was ich dagegen tun kann. Ich habe genug.“
„Denk nicht einmal daran.“ Sie schrie fast in die Leitung. „Daniel, hörst du mich?“
War das ein Schluchzen?
„Oh, Lauren, es tut mir leid. Daran denke ich nicht, nicht wirklich. Aber ich kann es nicht ignorieren. Ich werde nie ein richtiges Leben führen können, wenn ich nicht einen Weg finde, damit umzugehen. Ich habe versucht, es zu kontrollieren, es zu ignorieren, so zu tun, als ob – und sieh nur, wohin mich das gebracht hat. Es hat mich zermürbt, bis ich krank wurde. Und Therapien haben mir nicht gerade viel gebracht.“
„Ich wusste nicht, dass …“
„Oh doch, es gab eine Reihe von Psychologen. Keiner von ihnen hatte einen Anhaltspunkt. Nichts von dem, was sie sagten, hat irgendetwas bewirkt. Ich glaube nicht, dass sie jemals auf jemanden wie mich gestoßen sind. Niemand ist das.“
„Es muss andere Menschen wie dich geben, ich kann nicht glauben, dass es keine gibt. Hast du …“
„Ja, natürlich. Im Internet gibt es Geschichten – anekdotische, glaube ich – über Leute, die ähnliche Erinnerungen wie ich haben. Aber nicht in diesem Ausmaß. Nicht so überwältigend, so erschöpfend, die einem so derartig das Leben zur Hölle machen …“
„Halt. Stopp. Es muss doch etwas geben, was wir tun können.“
Er spürte, wie ihm wieder die Tränen kamen. „Ich glaube nicht mehr daran, wenn ich ehrlich bin.“
„Es gibt immer irgendetwas, was man tun kann.“
Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als ihrer Zuversicht gegenüber Respekt zu empfinden. So hilflos er auch war, spürte er doch eine Welle von Gefühlen für Lauren.
„Hör mal, wir machen Folgendes“, sagte sie. „Ich komm zu dir – keine Widerrede.“
Er hatte kurz Luft geholt, um zu widersprechen. Seine Schwester wohnte am Stadtrand von London, und ohne Auto musste sie erst mit dem Zug und dann mit der U-Bahn fahren und am Ende zu Fuß gehen – eine Reise von mindestens einer Stunde.
„Ich komme, sobald ich geduscht und ein paar Sachen für die Nacht eingepackt habe. Wir fangen mit den praktischen Dingen an und finden einen Weg, den Rest zu regeln. Nein, fang gar nicht erst an, nach Gegenargumenten zu suchen. Dies ist eine Krise, und wir kümmern uns darum.“
* * *
Es war inzwischen Nachmittag. Immer noch keine Antwort von Amber. Er überprüfte erneut sein Handy – keine neuen Nachrichten. Die Realität seiner Situation begann ihm zu dämmern. Viel schlimmer konnte es eigentlich nicht mehr werden.
Es würde noch mindestens ein paar Stunden dauern, bis Lauren eintraf. Er war zu nervös, um fernzusehen oder Computerspiele zu spielen, und außerdem wollte er sich nicht in ein langes Spiel verwickeln lassen und die Zeit aus den Augen verlieren. Es musste doch irgendetwas geben, was er tun konnte, bis seine Schwester kam.
Amber. Sein Finger zitterte über der Kurzwahltaste für ihre Nummer. Sollte er es weiter versuchen? Sie war eindeutig wütend auf ihn, aber da sie seine Situation kannte, würde sie sicher wieder zu sich kommen. Sie war schon einmal wütend auf ihn gewesen und hatte ihm verziehen – aber das war nur ein Grund mehr, ihm ein zweites Mal nicht zu verzeihen.
Er verdrängte die Fragen aus seinem Kopf und zwang sich, den Knopf zu drücken. Er spürte, wie seine Angst wuchs, sein Atem schnell und flach wurde, seine Hände klamm. Das war doch lächerlich – er war lächerlich. Er wollte einfach nur seine Freundin anrufen, und schon schoss sein Stresspegel in die Höhe.
Sie antwortete nicht. Nach ein paar Augenblicken ging der Anruf auf die Mailbox. Er zögerte. Sollte er eine Nachricht hinterlassen? Er hatte sich noch nicht entschieden, als der Piepton in seinem Ohr ertönte und er stammelnd und unvorbereitet keine andere Wahl hatte. „Äh, hi, Amber. Entschuldige, ich hatte gehofft, mit dir zu sprechen ... Ich … hör mal, ich möchte mich für gestern entschuldigen. Ich hatte meinen Job verloren und nicht nachgedacht, und ich weiß, dass ich immer so bin, aber dieses Mal war es aus einem guten Grund, ich hoffe, du verstehst das. Wie auch immer ... es tut mir leid. Bitte – kannst du zurückrufen? Oder mir schreiben. Wie auch immer... tschüss!“