Durchs Feuer - Rick Mofina - E-Book + Hörbuch
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Durchs Feuer E-Book und Hörbuch

Rick Mofina

5,0

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Beschreibung

Zwei junge Wanderer finden einen traumatisierten Jungen, der allein in einer abgelegenen Gegend der Adirondack Mountains im Bundesstaat New York umherirrt. Sie folgen seiner Spur bis zu einer Hütte im Wald, wo sie eine erschreckende Entdeckung machen, die eine Ermittlung in Gang setzt, an der auch der Kriminalreporter Ray Wyatt und die FBI-Agentin Jill McDade beteiligt sind.  Wyatt wird mit dem beunruhigenden Fall betraut, während er immer noch von dem Verlust seines Sohnes und seiner Frau verfolgt wird, der inzwischen Jahre zurückliegt.  McDade und Wyatt kämpfen gegen die Zeit, um die Wahrheit über eines der grausamsten Verbrechen in der Geschichte des Staates New York herauszufinden. Gleichzeitig kämpfen sie mit der wachsenden Angst, dass der monströse Fall mit ihnen selbst zu tun haben könnte. --- "Ein Blutpakt, ein monströses Verbrechen und lebenslange Geheimnisse und Lügen verfolgen diesen komplexen und fesselnden Spannungsroman. Ihr letztes Geheimnis ist Rick Mofinas bester Roman, bei dem man einfach nicht aufhören kann zu lesen, während er sich mit tiefgreifenden Fragen der Wahrheit, der Gerechtigkeit und der endgültigen Erlösung beschäftigt. Eine fesselnde, bewegende Lektüre." – Lisa Unger "Rick Mofinas spannender, straffer Schreibstil macht jeden seiner Spannungsromane zu einer adrenalingeladenen Reise." – Tess Gerritsen "Ein starker Start in eine neue Serie... Es ist intelligent geschrieben... und Ray Wyatt wurde als Hauptfigur gut ausgearbeitet. Es gibt einen äußerst interessanten persönlichen Aspekt, der sich in der weiteren Handlung fortsetzen wird und mich bereits jetzt in seinen Bann gezogen hat." – Blue Mood Café "Rick Mofinas Bücher sind auf eine Art und Weise spannend, dass es einem den Atem verschlägt. Geschichten und Charaktere, die einen nicht mehr loslassen." – Louise Penny  "Einer der besten Spannungsromanautoren der Branche." – Library Journal "Spannend, überraschende Wendungen, Geheimnisse. Man will mehr lesen. Rick Mofina lässt einen nicht mehr los. Eine absolute Leseempfehlung." – Amazon-Leserbewertung

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Seitenzahl: 284

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zeit:6 Std. 28 min

Veröffentlichungsjahr: 2025

Sprecher:Frank Stieren

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Durchs Feuer

Rick Mofina

Durchs Feuer

Titel der Originalausgabe: Into the Fire

Copyright der Originalausgabe © 2022 by Rick Mofina

Copyright © Skinnbok ehf, 2025

Übersetzung: Kirsten Evers

ISBN 9789979647508

Published by agreement with Lorella Belli Literary Agency Limited.

Der Autor

Der Kanadier Rick Mofina hat schon als Fünfzehnjähriger seine erste Kurzgeschichte an eine Zeitschrift verkauft. Nach seinem Studium (Journalismus und Englische Geschichte) berichtete er jahrelang als Reporter aus Kriegs- und Krisengebieten. Heute lebt und arbeitet er als Kommunikationsberater in Ottawa und schreibt „nebenbei“ seine erfolgreichen Thriller.

Dieses Buch ist Donna Carrick gewidmet

Der Qual Gefilde! Jammervolle Schatten!

Wo Fried’ und Ruh nicht weilt, nicht Hoffnung naht,

Die Allen naht, nur endelose Pein;

{...}

Ist auch die Schlacht verloren,

Doch Alles nicht: der ungebeugte Wille,

Der Rache Streben; Haß, der nimmer stirbt,

Muth, der sich niemals unterwirft noch weicht.1

John Milton,Das verlorene Paradies

1 Das verlorene Paradies von John Milton, übersetzt von Karl Eitner, 1867

1

Starving Wolf Trail,

Adirondack Mountains, Bundesstaat New York

Da war etwas im Wald.

Jessica Young konzentrierte sich auf das Gebiet vor ihr auf der rechten Seite, aber es war schwierig, durch den dichten Wald richtig zu sehen. Einen Moment lang war sie sich sicher, einen kleinen Farbfleck in der Ferne entdeckt zu haben.

Sie fixierte ihren Blick auf die Umgebung.

Nichts war da. Überhaupt nichts.

Das ist nur meine Fantasie, die mir einen Streich spielt. Oder eine Fata Morgana.

Sie zuckte mit den Schultern und ging weiter.

Außerdem sagt Cody, dass kaum jemand diese abgelegene Ecke in den Bergen kennt. Auf den meisten Landkarten ist sie nicht einmal verzeichnet.

Während sie zu den Sonnenstrahlen hinauf blinzelte, die die Baumkronen streiften, zog Jessica an ihrem Rucksack, um den Schmerz in ihren Schultern zu lindern. Sie griff nach den Riemen und drehte sich zu Cody Marshall um, der ein paar Schritte hinter ihr ging.

„Hast du etwa Probleme, mitzuhalten, Schatz?“, fragte Jessica. „Ist diese Route ein bisschen zu hart für meinen großen, starken Marine?“

Jessica wusste genau, dass er die Wanderung doppelt so schnell schaffen würde, selbst wenn er sie tragen würde. Aber Cody liebte ihre Neckereien und antwortete mit seinem gespielt schüchternen, selbstbewusst schiefen Lächeln, das ihr jedes Mal weiche Knie bereitete.

„Ich geb alles, Jess.“

„Gut so, weitermachen, Kadett.“

Es war Codys Idee gewesen, Philadelphia gemeinsam zu verlassen, um in den Bergen die von Hemingway in der gleichnamigen Kurzgeschichte beschriebene Wanderungzum großen doppelherzigen Strom zu unternehmen. In der Schule war das seine Lieblingsgeschichte gewesen. Als Cody ein Junge war, hatte sein Vater ihn auf Angel-Ausflüge in diese abgelegene Gegend mitgenommen, wo sie tagelang gezeltet hatten. Jessica konnte verstehen, warum Cody genau dies nach seiner Rückkehr von seinem Einsatz in Afghanistan vor drei Monaten nötig hatte.

Seit er nach Hause gekommen war, war er ungewohnt ruhig gewesen und hatte nicht viel über seine Zeit dort gesprochen. Stattdessen sprach er über seinen neuen Job bei einer Sicherheitsfirma und darüber, vielleicht Polizist zu werden. Er lächelte sie mit seinem gewohnten alten Lächeln an, wann immer sie von ihren Plänen sprachen, zu heiraten, sobald sie ihren Abschluss als Krankenschwester gemacht hatte. Doch dann verschwand das Lächeln, und sie wusste, dass er an Afghanistan dachte. Also war ihr sofort klar gewesen, dass Cody hier draußen in den Wäldern sein musste, um vielleicht wieder zu sich selbst zu finden. Wieder der Alte zu werden.

„Hast du Lust, anzuhalten und was zu essen? Oder ist es noch zu früh?“ Sie nickte in Richtung eines einladend flachen Felsens neben einem glucksenden Bach.

Als Cody nicht antwortete, drehte sie sich wieder zu ihm um.

Er war stehen geblieben und starrte in die Bäume vor ihm auf der rechten Seite.

„Was ist?“, fragte sie.

„Ich dachte, ich hätte etwas gesehen.“

„Ich eben auch, aber ich war mir nicht sicher.“

„Rühr dich nicht vom Fleck.“ Cody legte einen Zeigefinger an die Lippen. „Hör mal.“

Sie starrten beide geradeaus und lauschten angestrengt.

Nichts.

Sie warteten noch ein wenig.

Und dann, in der Ferne, knapp über dem Boden, tief im Netz des dichten, dunklen Waldes, sahen sie es – etwas Gelbes blitzte auf.

„Hallo!“, rief Cody.

Als Antwort hörten sie nur Vogelgezwitscher und eine Brise, die den süßen, sauberen Duft von Kiefern mit sich trug und die Bäume um sie herum sanft streichelte. Irgendwo in der Nähe ertönte plötzlich das Schlagen von Flügeln. Dann hörten sie in der Ferne das leise Knacken eines Astes. Cody nahm seinen Rucksack ab, holte sein Fernglas heraus und hob es an seine Augen.

„Gott!“ sagte er. „Das kann nicht sein!“

„Was ist denn?“

„Es ist ein Kind, ein kleines Kind!“ Er reichte ihr das Fernglas.

Als Jessica die Linsen einstellte, erschien ein schwimmendes Bild eines Kindes. „Es sieht aus wie ein kleiner Junge! Was zum ... Wir haben seit drei Tagen keine Menschenseele mehr gesehen! Was macht er hier draußen ganz allein?“

„Schauen wir mal nach.“

Das Gestrüpp knisterte und die Äste griffen und zogen nach ihnen, während sie sich schnell auf den Jungen zubewegten. Sie holten ihn auf einer Lichtung mit einer kleinen Wiese ein.

„Hey, Junge?“, rief Cody.

Der Junge ging weiter, als ob er nichts gehört hätte.

Cody und Jessica stürzten sich vor ihn. Er blieb stehen, und sie knieten sich vor ihm nieder. Er sah aus, als sei er etwa sechs oder sieben Jahre alt. Er trug Schlafkleidung: ein gelbes, kurzärmeliges T-Shirt mit der bunten Aufschrift Schlafmonster und eine lange, gestreifte Pyjamahose.

„Hallo?“ Cody schaute sich um. „Wo sind denn deine Mom und dein Dad?“

Der Junge antwortete nicht.

„Woher kommst du? Bist du mit jemandem unterwegs? Wo ist dein Zelt?“

Er schaute sie nicht an und reagierte auch sonst nicht. Seine Augen waren groß und starrten ins Leere, während Jessica ihn musterte. Er zitterte.

„O mein Gott, wie siehst du denn aus, Kleiner?“

Gesicht, Hals, Arme und Hände des Jungen waren von Insektenstichen übersät und geschwollen. Sein T-Shirt war zerrissen und blutverschmiert. Seine nackten Füße waren blutig und voller Schnitte und Stiche. Sie bemerkte, dass seine rechte Hand etwas umklammert hielt, und als sie ihn sanft dazu brachte, seine Hand zu öffnen, kam eine kleine Spielzeugfigur eines Raumfahrers zum Vorschein.

Jessica studierte seine Augen und überprüfte seinen Puls.

„Er steht unter Schock, Cody.“

Während sie in ihrem Rucksack nach ihrem Erste-Hilfe-Kasten kramte, breitete Cody seinen Schlafsack auf dem Boden aus und setzte sich zu dem Jungen, damit Jessica sich um ihn kümmern konnte – sie säuberte seine Wunden und legte Verbände an, wo sie konnte. Cody ließ ihn Wasser aus seiner Feldflasche trinken und ein paar Apfelspalten und Weintrauben essen. Jessica wickelte ihn in ihren Kapuzenpullover und zog ihm ein Paar Wollsocken über die mit Verbänden umwickelten Füße.

„Er muss die ganze Nacht allein hier draußen gewesen sein“, sagte Cody.

„Wie heißt du denn, Kleiner?“, fragte Jessica.

Der Junge kaute und starrte geradeaus, ohne zu sprechen.

„Es ist fast so, als ob er dich gar nicht hören kann“, sagte Cody und untersuchte die kleine Raumfahrerfigur, bevor er sie dem Jungen wieder in die Hand gab. „Was macht er denn hier ganz allein? Vielleicht hat er das Zelt seiner Eltern mitten in der Nacht verlassen.“

„Ich weiß es nicht. Sieht so aus, als hätte er eine Art Trauma erlitten. Wir müssen ihn in ein Krankenhaus bringen.“

Cody dachte über die Situation nach. „Im besten Fall brauchen wir einen Tag, um zu unserem Ausgangspunkt und dem Auto zurückzukehren. Und das auf dem schnellsten Weg, den ich kenne, mit ein paar Abkürzungen über unwegsames Gelände.“

„Okay.“

„Aber ich denke, wir sollten versuchen, in die Richtung zu gehen, aus der er kam.“

„Warum?“

„Es könnte noch mehr Menschen geben, die Hilfe brauchen. Wir müssen herausfinden, was passiert ist.“

2

Starving Wolf Trail,

Adirondack Mountains, Bundesstaat New York

Als sie sich auf den Weg machten, trug Cody den Jungen, der inzwischen eingeschlafen war, auf der Schulter.

Cody wusste, dass die Idee, seine Spur zurückzuverfolgen, riskant war.

Hier draußen gab es kein Handysignal und kein GPS. Es gab keine Garantie, dass Cody tatsächlich den Weg gewählt hatte, den der Junge genommen hatte.

Das hier würde Codys ganze Fährtenleserkenntnis erfordern, aber Jessica vertraute seinem Instinkt.

Außerdem hatte Cody einen guten Kompass und diverse Karten, sogar einige alte, die er von seinem Vater geerbt hatte. Außerdem konnte er auf seine Ausbildung und Erfahrung als Soldat zurückgreifen.

Cody kannte ihre ungefähre Position und das Gebiet, das sie bereits zurückgelegt hatten. Er hatte eine grobe Vorstellung davon, aus welcher Richtung der Junge gekommen sein könnte. Ab und zu fand er einen kleinen Fußabdruck im Schlamm, einen abgebrochenen Ast oder einen umgeknickten Busch, der ihn in seiner Vermutung bestätigte.

Glücklicherweise war der größte Teil des Geländes flach. Sie überquerten moosbedeckte Flächen und einige rutschige Felsen, während sie sich stetig durch den dichten Wald bewegten.

Nach einer Stunde sah Cody auf seinen Tracker und stellte fest, dass sie fast drei Kilometer zurückgelegt hatten. Sie hatten einen Hügel erreicht, von dem aus sie eine kleine Lichtung und eine Hütte überblicken konnten, vor der ein Geländewagen geparkt war.

Durch die Bäume hindurch konnten sie die Terrasse der Hütte und eine Rasenfläche mit vier Stühlen um eine Feuerstelle herum sehen. Ein Weg schlängelte sich von der Hütte zu einem Nebengebäude, ein anderer führte hinunter zu einem See.

„Das muss es sein.“ Cody setzte den Jungen auf den Boden und nahm seinen Rucksack ab.

Es dauerte einen Moment, bis der Junge begriff, wo er sich befand. Sobald er die Hütte sah, wurde er unruhig, ängstlich. Er schlang seine Arme um Jessicas Beine und warf ihr einen besorgten Blick zu.

„Ich bleibe hier bei ihm“, sagte sie. „Du kannst runtergehen und dir die Hütte ansehen.“

„Okay.“

„Cody?“ Jessica ergriff seine Hand und hielt sie einen Moment lang fest.

Er sah sie an.

Sie nickte dem Jungen zu. „Irgendetwas da unten hat ihn zu Tode erschreckt. Sei vorsichtig.“

„Das bin ich.“ Cody küsste sie auf die Wange.

Er ging den Abhang hinunter und passierte den Geländewagen. Er warf einen Blick hinein. Er war leer.

Er ging zu der Hütte. Die Bretter der Veranda knarrten, als er auf sie trat und sich der Eingangstür näherte. Die Außentür aus behauenen Baumstämmen stand weit offen. Sie war mit einem Haken an der Wand der Hütte befestigt und gab den Blick auf eine leichtere Tür mit Fliegennetz frei.

Aufgrund der tanzenden Schatten und des Lichteinfalls war das Netz schwarz und man konnte nicht hindurchsehen.

Cody klopfte an den Türrahmen. „Hallo?“, rief er laut.

Keine Antwort.

Er klopfte erneut, fester.

„Ist jemand zu Hause?“

Cody wartete zehn Sekunden, dann dreißig, blickte zurück zum Geländewagen und lauschte dem Zwitschern der Vögel und dem Stakkato-Trommeln eines Spechts in der Ferne, bevor er nach dem Türknauf griff. Die Gittertür knarrte, als sie aufschwang und er eintrat.

Er blinzelte, als sich seine Augen an das Licht gewöhnten, und nahm die durchdringende Stille in sich auf. Er wusste nicht, was ihn erwartete, aber im Notfall hatte er das Kampfmesser zur Hand, das er an seinem Gürtel befestigt hatte.

Er befeuchtete seine Lippen und suchte das Innere des Hauses ab.

Die Luft roch nach Holz und etwas Verfaultem – wie verdorbenes Essen.

Zu seiner Linken war die Küche, deren Arbeitsfläche mit leeren Getränkedosen, Wasserflaschen, halb aufgegessenen Kekstüten, überreifen Bananen, Erdnussbutter und Marmelade bedeckt war. In der Spüle, die mit einer altmodischen Handpumpe für Wasser ausgestattet war, stapelte sich schmutziges Geschirr. Auf der linken Seite befand sich ein Holzofen mit einem gusseisernen Backofen, der aussah, als hätte er mehr als ein Jahrhundert überlebt.

Neben der Küche standen Stühle und ein kleiner Tisch aus den 1950er Jahren, der mit einer rot-weiß karierten Wachstuchdecke bestückt war. Auf dem Tisch wachte ein geschmackloses, an den Niagarafällen gekauftes Salz- und Pfefferstreuer-Set in Form eines frischvermählten Paares über offene Kekspackungen und einen Kuchen, über den sich die Fliegen hermachten.

Die Küche öffnete sich zu einem großen Wohnzimmer mit einer Hintertür. An den Wänden hingen selbstgemachte Malen-nach-Zahlen-Gemälde, die Menschen beim Fischen und Campen zeigten. Auf dem Boden zwischen den Sofas konnte Cody mehrere kleine Spielzeugfiguren sehen, wie den Raumfahrer, den der Junge in der Hand gehalten hatte.

Zwei geschlossene Türen füllten die Wand auf der linken Seite.

Das mussten die Schlafzimmer sein.

Cody öffnete die erste Tür und kam in ein Zimmer mit zwei Einzelbetten, die so sauber gemacht waren, als hätte niemand darin geschlafen. Auf dem Boden lag ein kleiner Rucksack mit Kleidung, Büchern und Spielzeug. Er las das daran befestigte Namensschild: Ethan Nelson, 106 Carter Street, Yonkers, NY.

Der kleine Junge musste Ethan sein.

Das Fenster, das mit einem Fliegengitter versehen war, um frische Luft hereinzulassen, war offen.

Die Dielen knarrten, als Cody zur nächsten Tür ging. Er griff nach der Klinke, zögerte aber. Ein leises Summen kam von der anderen Seite. Das Geräusch kannte Cody von seinen Touren nur zu gut. Er atmete tief durch und behielt eine Hand an seinem Messer, als er den Raum betrat.

Sein erster Gedanke war: Wer hat die Farbe an die Wand gespritzt?

Zwischen den Laken des großen Bettes lagen zwei leblose Körper in einer Blutlache, die die Matratze durchtränkte und sich über den Boden ergoss. Das Blut war auf die Wände, die Kommode, das Gepäck, auf alles gespritzt.

Codys Atmung wurde schneller.

In Afghanistan war er Zeuge einiger schrecklicher Todesfälle geworden, aber egal, wie oft er eine Leiche sah, es wurde nie einfacher.

Er riss sich zusammen und ging um das Bett herum, um die Gesichter der Opfer zu sehen.

Dann wurde das Summen lauter.

3

Auf dem Weg nach Saranac Lake,

Bundesstaat New York

„Zwei verdächtige Todesfälle in einer Hütte weit draußen auf dem Starving Wolf Trail. Richtig hässliche Sache.“

Ray Wyatt, ein erfahrener Reporter, hörte dem Anrufer zu, während er vom Newsroom der First Press Alliance im zwanzigsten Stock auf die Skyline von Manhattan blickte. Der Hauptsitz der weltweiten Nachrichtenagentur befand sich in Midtown, nur wenige Blocks vom berühmten Madison Square Garden Stadion und dem Bahnhof Penn Station entfernt.

„Der Tatort liegt also in der Nähe des Saranac Lake?“ Wyatt drückte sich das Handy ans Ohr, während er sich Notizen machte.

„Ja, aber das Gebiet ist nicht so leicht zu erreichen“, sagte Wyatts Quelle, ein Polizeibeamter, den er bei der Arbeit an einer Story über einen spektakulären Gefängnisausbruch im vergangenen Jahr kennengelernt hatte.

Wyatt tätigte eine Reihe von kurzen Anrufen bei der Polizei in der Gegend, während er die regionalen Nachrichtendienste und die sozialen Medien überprüfte. Noch war nichts veröffentlicht worden, aber das war nur eine Frage der Zeit. Er ging hinüber zum Büro des Redakteurs Lou Talbott. Durch die redaktionellen Kürzungen und die knappen Budgets der letzten Jahre hatten sich die Falten in dessen Gesicht vertieft.

Nachdem er Wyatt zugehört hatte, klopfte Talbott, der selten lächelte, mit dem Bügelende seiner Brille gegen seine Zähne. Er tätigte ein paar Anrufe, bevor er eine Entscheidung traf.

„Ich werde dafür bestimmt wieder Ärger bekommen, aber ich möchte, dass du sofort da hochfährst und anfängst zu schreiben“, sagte Talbott, der jetzt an Wyatts Schreibtisch stand. „Nimm dir ein Taxi nach Teterboro. New York 103TVhat einen Flug nach Saranac, und der wird ohne dich abfliegen, wenn du nicht in einer Stunde da bist. Ich habe dir einen Platz besorgt. Die Kosten für den Flug teilen wir uns. Wir werden dir vor Ort einen Mietwagen besorgen.“

Als Wyatt nun die Gebäude am Fenster vorbeiziehen sah, war er erleichtert, dass sein Taxi schnell durch den Verkehr kam, und er war froh, dass er immer eine Tasche unter seinem Schreibtisch bereitstehen hatte. Er rief schnell eine Freundin an, damit sie sich während seiner Abwesenheit um seine Hündin Molly kümmerte.

Das Taxi nahm den Lincoln-Tunnel, fuhr durch New Jersey, rollte durch die Meadowlands, vorbei am Stadion und an der Rennstrecke und erreichte nach fünfundvierzig Minuten den Terminal für Privatjets am Flughafen Teterboro. Nachdem er den Fahrer bezahlt hatte, schnappte sich Wyatt seine Tasche und betrat den Warteraum des Terminals.

Eine blonde Frau blickte von ihrem Telefon auf, um ihn zu begrüßen. „Sie müssen Ray Wyatt von der First Alliance sein?“

„Ja, hallo.“ Als sie sich die Hände schüttelten, nahm er einen Hauch von Parfüm wahr.

„Roxanne Rowe, 103TV.“ Sie hatte ein strahlendes Zahnpasta-Lächeln und nickte zum Fenster hin. Auf der Landebahn sah er einen bärtigen Mann mit verwehtem Haar, der ein T-Shirt und Jeans trug und Taschen und Kameraausrüstung in eine zweimotorige Cessna lud. „Und das ist Kurt Sharp, mein Kameramann. Ihr Redakteur hat Ihren Ausweis gemailt. Sie müssen ihnen noch Ihren Führerschein oder so zeigen, Ray, und dann müssen sie auch noch Ihre Ausrüstung überprüfen. Ansonsten sind wir so gut wie startklar. Sind Sie bereit?“

„Allzeit.“

Kurz nachdem das Flugzeug, ein komfortabler Sechssitzer, abgehoben und Richtung Norden geflogen war, wurden das mächtige Stadtgebiet von New York City und die nordöstliche Ecke von New Jersey durch Flüsse und sanfte Hügel ersetzt. Kurt zog sich die Mütze über die Augen, um ein wenig zu schlafen, während Roxanne, die sich auf einem kleinen Block Notizen gemacht hatte, Wyatt anstupste.

„Und, was haben Sie bis jetzt über diese Geschichte gehört, Ray?“

Wyatt, der stets wachsam war, zuckte mit den Schultern. „Nicht so viel. Sie?“

„Dass es sich um einen Doppelmord handelt. Noch keine Namen, aber wahrscheinlich eine Mutter und ein Vater. Zwei Wanderer fanden ihren kleinen Jungen allein im Wald.“

„So etwas in der Art habe ich auch schon gehört.“

„Aber das ist scheinbar noch nicht alles.“

„Was denn noch?“

„Ich weiß nicht. Aber es ist etwas Beunruhigendes.“

„Ach ja?“ Ray hatte gelernt, einem Konkurrenten nie etwas zu verraten – es sei denn, es galt, ein Geschäft abzuschließen –, und das wollte er auch jetzt nicht tun. „Haben Sie irgendeine Ahnung, was es ist?“

Sie schüttelte den Kopf und widmete sich wieder ihren Notizen.

Als Wyatt durch die dünnen, federleichten Wolken blickte, stellte er fest, dass sie im Begriff waren, die Catskills zu überqueren. Während er die sanften grünen Hügel unter sich betrachtete, dachte er über sein Leben nach.

Wie ist das passiert? Wie bin ich hier gelandet?

* * *

Eines Tages, als er als Kind mit dem Fahrrad durch sein Viertel fuhr, wurde er Zeuge eines dramatischen Vorfalls, der sich nur wenige Blocks von seinem Haus in Queens entfernt ereignete. Polizeiautos mit Blaulicht. Gelbe Absperrbänder blockierten ihm den Weg. Eine Menschenmenge versammelte sich vor einem Haus. Fernsehteams mit ihren Kameras und grellen Lichtern. Nachrichtenreporter, die erst mit der Polizei und dann mit den Bewohnern sprachen. Fotografen, die Bilder machen.

Wyatt hatte einen Kaugummi kauenden Kerl mit einem Notizbuch am Ärmel gezogen. „Was ist hier los?“

„Zwei Menschen wurden getötet.“

„Woher wissen Sie das?“

„Es ist mein Job, das zu wissen, Junge. Kannst es morgen in der Zeitung lesen.“ Der Mann reichte Wyatt seine Visitenkarte: Stan Martinex von der Daily News.

Am nächsten Tag war Wyatt zu Canellis Zeitungsladen geradelt und hatte alle Zeitungen gekauft. Es war sehr beeindruckend gewesen, die Geschichte von Martinex mit Bildern in der Zeitung zu finden. Er hatte gelesen, wie ein eifersüchtiger Liebhaber, der ein Nachbar gewesen war, ein Ehepaar getötet hatte. Es war natürlich eine Tragödie, aber für Wyatt war es auch noch etwas anderes gewesen. Er hatte gesehen, wie Martinex mit der Polizei und den Zeugen gesprochen, sich Notizen gemacht und dann zu ihm gesagt hatte: „Es ist mein Job, das zu wissen.“ Das hatte in Wyatt ein Verlangen geweckt.

Von diesem Moment an wusste er, dass er Journalist werden wollte, wie Martinex. Er wollte für eine große Nachrichtenagentur arbeiten, wo Millionen von Menschen jeden Tag seine Geschichten lesen würden.

Aber Wyatts Vater, Blaine Wyatt – ein LKW-Fahrer ohne festen Job, der trank und so verbittert über das Leben war, dass er einen Streit mit sich selbst anfangen konnte – hatte seinem Sohn gesagt, er solle sich diese fixe Idee ganz schnell wieder aus dem Kopf schlagen.

„Komm mal wieder auf die Erde zu uns Normalsterblichen, kleiner Sonnenschein, und such dir lieber einen richtigen Job, denn ich kann mir das verdammte College nicht leisten.“

Aber Wyatts Mutter, die in der örtlichen Bäckerei arbeitete und immer nach frischem Brot duftete, hatte Wyatt zur Seite genommen.

„Mach dir keine Sorgen, Ray, Schatz. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.“

Und Wyatt hatte sich schlicht geweigert, seinen Traum aufzugeben.

Ihm war klar, dass er nie an einer großen Universität wie der Columbia oder der New York University angenommen werden würde. Also verließ er nach der Highschool sein Zuhause. Er teilte sich eine Wohnung mit einem Freund und tat alles, was er konnte, um zu überleben.

Er arbeitete zermürbende Schichten am Fließband, bis er eine Vollzeitstelle als Gabelstaplerfahrer in einem Lagerhaus in der Nähe des JFK International Airport fand. Seine Pausen und Mittagspausen verbrachte er mit der Lektüre von Klassikern und dem Studium des Lebens von Schriftstellern, die als Journalisten gearbeitet hatten.

Gleichzeitig gelang es ihm, genug Geld zur Seite zu legen, um sich an einer öffentlichen Universität einzuschreiben, wo er Journalismus studierte. Während seines Studiums arbeitete er hart und übernahm Teilzeitschichten als Reporter für ein Wochenmagazin in Queens. Außerdem verkaufte er freiberufliche Artikel, wo immer er konnte.

Wyatt lernte Polizisten kennen, die ihm als gute Quellen dienten, und verkaufte eine Geschichte über einen Autodiebstahlring an die New York Daily News. Am selben Tag, an dem Wyatt seinen College-Abschluss machte, bot der Redakteur, der die Geschichte gekauft hatte, Wyatt eine Vollzeitstelle als fest angestellter Reporter bei der Daily News an. Wyatts Vater war im Jahr zuvor gestorben. Wyatts Mutter starb ein Jahr später, aber er war froh, dass sie noch erlebt hatte, dass er ein erfolgreicher Journalist geworden war.

Während seiner Arbeit bei der News hatte Wyatt Lisa Sullivan kennengelernt, eine Redakteurin, die wie er ein begeisterter Springsteen-Fan war. Ihr drittes Date war ein Konzert im Madison Square Garden. Vor der Bühne verliebten sie sich ineinander. Ein Jahr später waren sie verheiratet. In dieser Zeit erhielt Wyatt seine erste Pulitzer-Nominierung für eine Reportage über Schießereien in der U-Bahn. Dies hatte zu seiner Anstellung bei der First Press Alliance geführt.

Nicht lange nachdem er bei der FPA angefangen hatte, wurde Lisa schwanger. Sie bekamen Danny.

Ray würde den Tag der Geburt seines Sohnes nie vergessen. Er war mit Lisa im Krankenhaus gewesen, die ihm fast die Hand gebrochen hatte, weil sie sie so fest drückte, während er die Geburt ihres Sohnes miterlebte. Er hatte die Nabelschnur durchtrennt und mit Lisa über ihren wunderschönen kleinen Jungen geweint. Als Ray Danny im Arm hielt, hatte es sich angefühlt, als würde er schweben.

Kurz darauf erhielt er seine zweite Pulitzer-Nominierung für seinen Bericht über ein abgestürztes südamerikanisches Verkehrsflugzeug.

Im Laufe der Jahre hatte Ray erkannt, dass sein Leben mit Lisa und Danny perfekt war. Er hatte sich wie der glücklichste Mann der Welt gefühlt. Damals hatten sie ihren Traumurlaub mit der Familie in den kanadischen Rocky Mountains und im wunderschönen Banff, Alberta, geplant.

Und jetzt ist jeder, der in meinem Leben etwas zählt, weg.

* * *

Wyatt wandte den Blick von den Wolken ab, nahm sein Handy heraus und überflog die Fotos von Lisa und Danny in der Gondel, die in Banff den Berg hinauffuhr.

Ihre Gesichter waren von Freude erfüllt.

Es sollte der schönste Urlaub unseres Lebens werden.

Sein Geist wurde von Erinnerungen überflutet.

Der beste Urlaub unseres Lebens.

Als die Flugzeugmotoren aufheulten, schloss Wyatt die Augen und versuchte, die anderen Bilder zu verdrängen – die Schrecken, die alles beendet hatten.

4

Saranac Lake,

Bundesstaat New York

Etwas mehr als eine Stunde später landeten sie auf dem Adirondack Regional Airport in der Nähe des Saranac Lake.

Der Tatort lag mindestens eine Autostunde entfernt in einer bergigen Gegend, und Wyatt machte Roxanne und Kurt klar, dass er sich selbst ein Auto mieten und den Weg finden würde.

„Es ist nichts Persönliches“, sagte er ihnen. „Ich ziehe es vor, die Dinge auf meine Art zu machen.“

„Kein Problem“, sagte Kurt. „Das macht uns nichts, oder Rox?“

„Ja, man muss sich nicht von den Plänen anderer abhängig machen. Wir sehen uns einfach da. Wir rufen Sie auf Ihrem Satellitentelefon an, bevor wir wieder zurückfliegen. Okay?“ Roxanne drückte ihm eine Karte mit ihrer Nummer in die Hand. „Es könnte heute Abend, morgen oder übermorgen sein, je nachdem, wie alles läuft. Wir geben Ihnen Bescheid, wann wir uns hier wieder treffen. Wie klingt das?“

„Das klingt gut. Wir sehen uns da draußen.“

Wyatt nahm seine Taschen und ging zu einer anderen Autovermietung, wo Talbott einen Wagen für ihn reserviert hatte.

„Es war klug von Ihrer Firma, vorher anzurufen“, sagte der Angestellte der Autovermietung, während er den Papierkram für das Auto erledigte.

„Warum?“ Wyatt versuchte, die Stelle auf einer großen Wandkarte der Gegend zu lokalisieren, auf der auch der Starving Wolf Trail verzeichnet war. Er machte sich Notizen auf seiner eigenen, kleineren Faltkarte. Er vertraute nicht darauf, dass sein GPS in diesem abgelegenen Teil des Staates genau genug war.

„Wegen der Morde in Starving Wolf haben die Medien ein Auge auf uns geworfen. In der Gegend ist ziemlich viel los mit Straßensperren und Hubschraubern. Sie bekommen meinen letzten Geländewagen. Den Allradantrieb werden Sie auch brauchen, weil die Straße auf dem letzten Stück ziemlich holprig sein wird.“

Wyatt bedankte sich, sammelte seine Papiere ein und stieg in den Geländewagen. Nachdem er den Sitz und die Spiegel eingestellt und auf seine Karte geschaut hatte, fuhr er los.

Wyatt fuhr auf der asphaltierten Straße durch den großen, rauschenden Wald und war etwa fünfzehn Kilometer vom Flughafen entfernt, als er die Blinklichter eines Streifenwagens sah, der beide Fahrspuren blockierte. Er brachte den Geländewagen zum Stehen, und ein Beamter mit dunkler Fliegerbrille näherte sich seiner Autotür.

„Guten Tag. Woher kommen Sie und wohin wollen Sie, Sir?“

„Vom Flughafen. Ich bin gerade aus Manhattan angekommen. Ich bin Reporter der First Press Alliance und auf dem Weg zum Tatort am Starving Wolf Trail.“

„Führerschein und Zulassungsbescheinigung, bitte.“

Wyatt gab ihm alles, einschließlich seines Presseausweises. „Das ist ein Mietwagen.“

Als der Beamte zu seinem Auto zurückging, um die Daten zu überprüfen, bemerkte Wyatt eine Videokamera auf einem Stativ, die alles aufzeichnete, bis der Beamte zurückkehrte.

„Würden Sie mir erlauben, Ihr Fahrzeug zu durchsuchen, Sir?“

„Natürlich.“ Wyatt stieg aus und öffnete die Türen und die Heckklappe. „Können Sie mir sagen, wonach Sie suchen?“

„Es ist wegen des Vorfalls im Wald.“ Der Beamte leuchtete mit seiner Taschenlampe unter die Sitze. „Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.“

Nachdem er den Geländewagen durchsucht und ihn bis auf Wyatts Taschen – die er ebenfalls durchsuchte – für leer befunden hatte, erlaubte ihm der Beamte mit ein paar Abschiedsworten, weiterzufahren.

„Sie haben noch ein ganzes Stück vor sich, etwa vierzig Kilometer, würde ich sagen.“

„Gibt es viele andere Presseleute, die hier durchgekommen sind?“

„Ein paar aus Plattsburgh und Potsdam. Es gibt noch weitere Sperren, und man muss vorsichtig sein. Das Terrain wird auf dem letzten Stück etwas holprig.“

„Danke.“

Als Wyatt weiterfuhr, war er froh, dass die Straße zunächst asphaltiert blieb, und die nächsten fünfundzwanzig Kilometer kam er gut durch. Dann ging der Asphalt in Schotter über. Der Weg schlängelte sich weitere drei Kilometer durch den duftenden Wald, bevor Wyatt zu einer Kreuzung und einer weiteren Straßensperre kam.

Sie war mit einem Polizeibeamten besetzt, der Wyatt einer Routinekontrolle unterzog, bevor er ihn weiterfahren ließ.

Die Worte seiner Quelle hallten in seinem Kopf nach. Richtig hässliche Sache.

Er war sich nicht sicher, wie es weitergehen würde, aber dankbar, dass ihm bis zum Sonnenuntergang noch reichlich Tageslicht blieb.

Es dauerte nicht lange, bis er bei Walt’s General Store & Gas ankam, einem Fachwerkgebäude mit bunt überquellenden Blumenkästen. Der Laden verfügte über eine einzige Zapfsäule, und vor dem Gebäude parkten ein paar Pick-ups. Einige handgemalte Schilder in den Fenstern warben für Angelzubehör, Outdoor-Ausrüstung und Lebensmittel.

Ein dicker, schläfriger Collie lag auf der Veranda.

Die Bretter der Veranda knarrten, und der Hund zog die Augenbrauen hoch, als Wyatt zur Tür ging. Als Wyatt eintrat, läutete die Glocke über der Tür.

Ein großer Mann mit weißem Haar, Bart und Hosenträgern saß am Tresen und las eine Zeitung. Ein Kunde an der Theke, der um die siebzig Jahre alt zu sein schien, trank Kaffee aus einer Keramiktasse.

„Brauchen Sie Benzin?“, fragte der bärtige Mann.

„Nein, danke. Ich bin nur gekommen, um ein paar Kleinigkeiten einzukaufen.“

Im Laden roch es nach Holz und einem Hauch von Fisch. Wyatt nahm einen kleinen Plastikkorb, füllte ihn mit Lebensmitteln und trug ihn zum Tresen. Dann fiel sein Blick auf den Kaffeeautomaten. „Ich nehme auch einen großen Kaffee, bitte. Schwarz.“

„Ich glaube, ich kenne die Antwort, aber ich frage trotzdem“, sagte der bärtige Mann, während er die Waren scannte und in einen Tüte legte. „Was führt Sie in diese Gegend?“

Wie aufs Stichwort bebten die Schaufenster, als ein Hubschrauber über sie hinwegdonnerte. Als er wieder weg war, antwortete Wyatt.

„Ich bin Journalist bei der First Press Alliance aus Manhattan.“

„Manhattan? Was Sie nicht sagen.“

„Ich bin gekommen, um über die Morde zu berichten.“

Der bärtige Mann nickte. „Ein ziemlicher Schock, was mit der Familie in Starving Wolf passiert ist“, sagte er. „Das letzte Mal, als ich die Mutter sah, war sie hier, um Marshmallows zu kaufen.“

„Wirklich? Wissen Sie, was genau passiert ist?“

Der bärtige Mann und der Mann am Tresen tauschten einige Blicke aus. Der Schweigsame schaute auf den Boden, bevor er endlich sprach. „Es erschüttert einen einfach bis ins Mark“, sagte er.

„Was meinen Sie?“, fragte Wyatt.

Der Mann fuhr sich mit einer faltigen Hand über die Bartstoppeln und blickte aus dem Fenster auf den Wald.

„Ich meine, man erwartet nicht, dass so etwas hier draußen passiert. Das hier ist ein friedlicher Teil der Welt. Starving Wolf ist so abgelegen, und die Hütte liegt am östlichen Rand der Route. Die Familie hatte sie ein wenig renoviert, aber die Hütte wurde ursprünglich von den Männern gebaut, die dort oben vor hundert Jahren Bäume fällten. Die Straße, auf der das Holz transportiert wurde, ist überwuchert und ähnelt jetzt eher einem Pfad, etwas holprig und mit Schlaglöchern übersät, aber man kommt gut durch. Dort oben gibt es einige der schönsten Gegenden, die man je gesehen hat.“

„Das kann ich mir vorstellen“, sagte Wyatt. „Aber was ist passiert, was haben Sie gehört?“

Der alte Mann schluckte ein zweites Mal und kratzte sich am Kinn. „Ich weiß nicht, ob ich es sagen soll. Die Polizei hat die Leute gebeten, zu schweigen.“ Er wandte sich an den Bärtigen. „Was denkst du, Walt? Soll ich es ihm sagen?“

„Die Leute werden es schon früh genug erfahren, Burt.“

Der alte Mann kratzte sich nachdenklich am Kinn und nickte.

„Ja, das ist wohl wahr. Das macht Sinn, und wo Sie den ganzen Weg von Manhattan hergekommen sind ...“

Wyatt sagte nichts. Er wartete.

„Na ja“, begann der alte Mann, „wissen Sie, mein Sohn ist Jagdführer. Er kennt die Gegend wie seine Westentasche. Er arbeitet freiwillig bei der örtlichen Such- und Rettungsorganisation mit. Sie helfen dem Sheriff und der Polizei bei der Suche nach Beweisen, wenn sich Wanderer verirren und wenn Verbrechen geschehen. Solche Sachen halt, wissen Sie, was ich meine?“

„Ich kann es mir vorstellen“, sagte Wyatt und ermutigte den Mann mit einem Nicken, weiterzusprechen.

„Ich habe vor einer Weile mit ihm gesprochen, und er sagte mir, es sei ein großer Fall. Alle Arten von Polizei arbeiten daran, sogar das FBI.“

„Das FBI?“

„Ja. Er sagte, zwei Wanderer hätten ein paar Kilometer von der Hütte entfernt einen kleinen Jungen gefunden, dessen Eltern ermordet worden seien, und dass sie aus Yonkers kämen.“

„Yonkers? Das wusste ich noch nicht.“

Wyatt hätte sich gern Notizen gemacht, wollte den alten Mann aber nicht unterbrechen.

„Ja. Sie haben den Jungen ins Krankenhaus gebracht.“

„Wohin?“

„Saranac.“

„Saranac. Okay.“

Der alte Mann rieb sich heftig das Kinn.

„Aber der schlimmste Teil kommt noch.“

„Was?“

„Die Eltern wurden geköpft und die Köpfe sind verschwunden.“

5

Saranac Lake,

Bundesstaat New York

Der sechsjährige Ethan Nelson saß in einem übergroßen Krankenhaushemd in seinem Bett und starrte ausdruckslos aus dem Fenster.

Dr. Adam Hart untersuchte seine Augen mit einer kleinen Taschenlampe.

Der Schrecken, den dieses Kind erlebt haben muss,dachte FBI-Agentin Jill McDade, als sie den Arzt beobachtete.

„Ich muss den Jungen wirklich befragen, Dr. Hart“, sagte McDade.

„Das weiß ich, aber ich kann Ihnen trotzdem nicht sagen, wann das möglich sein wird.“ Dr. Hart steckte seine Taschenlampe in seine Brusttasche und notierte einige Punkte in Ethans Krankenakte. „Wie ich Ihnen bereits sagte, zeigt er Anzeichen einer dissoziativen Störung.“

„Dissoziative Störung?“, wiederholte McDade.

„Symptome des Nervensystems, die nicht auf eine neurologische Krankheit oder eine körperliche Verletzung zurückzuführen sind, sondern in seinem Fall auf ein äußerst traumatisierendes Ereignis.“

„Und das Ergebnis ist das Schweigen des Jungen?“, fragte McDade.

„Die Störung kann die Muskelbewegungen oder die Sinne beeinträchtigen, etwa die Fähigkeit zu gehen, zu sehen, zu hören oder zu schlucken. Im Fall dieses Kindes hat sie eindeutig seine Fähigkeit zu sprechen beeinträchtigt.

„Er hat also einen Schock?“, fragte McDade.

„Ja. Er leidet außerdem an Unterkühlung, Dehydrierung, den Nachwirkungen der extremen Bedingungen, Wunden an Füßen, Armen und im Gesicht sowie unzähligen Insektenstichen.“

„Aber wann wird er wieder sprechen können?“

„Das ist reine Spekulation.“

„Das hilft uns nicht weiter.“

„Sie können gerne hier warten“, bot Dr. Hart an. „Aber es könnte Stunden, Tage oder Wochen dauern. Wir haben hier auf der Station eine Krankenschwester auf Abruf.“ Der Arzt nickte der Schwester zu, die Ethans Infusion kontrollierte. „Wir haben Ihre Nummer. Wir werden Sie benachrichtigen, sobald sich etwas ändert, Agent McDade.“

* * *

Draußen im Korridor stand McDade an die Wand gelehnt und atmete die nach Desinfektionsmittel riechende Luft ein. Die Zeit arbeitete gegen sie. Bislang hatte sie nichts, was auch nur den Ansatz einer Spur enthielt.

Sie hatte zwei tote Erwachsene – Phil Nelson, achtunddreißig, und Margaret Nelson, siebenunddreißig, die in Yonkers im Staat New York lebten. Beide waren Mordopfer. Sie blinzelte kurz und dachte über die wichtige Tatsache nach, die bisher noch nicht bekannt gegeben worden war.

Beide wurden enthauptet, und wir können die Köpfe nicht finden.

Ihr inzwischen verwaister sechsjähriger Sohn Ethan war der einzige mögliche Zeuge. Aber abgesehen von seinem Zustand nach der Wanderung durch dicht bewachsenes, zerklüftetes Gelände war er so traumatisiert von dem, was passiert war, dass er nicht sprechen konnte.

Wer hat seine Eltern ermordet? Was ist da draußen passiert?