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Düstere Geheimnisse In Seattle wurde eine Nonne grausam ermordet. Mordermittler Jason Wade setzt sich auf die Spur des Killers. Sehr bald muss er feststellen, dass ihn dieser Fall auch persönlich betrifft. Denn die Ermittlungen führen ihn in das Umfeld einer rätselhaften Einsiedlerin und ihrer Gefolgsleute – und mitten in ein düsteres Geheimnis. Und damit in die bösen Erinnerungen seines Vaters, der ebenfalls Ermittler gewesen ist. Gemeinsam stellen sich Vater und Sohn einer schrecklichen Wahrheit und einem tödlichen Wettlauf gegen die Zeit … --- "Mofina weiß wirklich, wie man spannende Geschichten erzählt." - Tess Gerritsen "Alles, was ein großartiger Thriller braucht!" - Lee Child "Ein absolutes Muss für Thriller-Fans!" - Library Journal
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Seitenzahl: 405
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Rick Mofina
Blutiges Schweigen
Titel der Originalausgabe: A Perfect Grave
Copyright der Originalausgabe © 2007 by Rick Mofina
Copyright © Skinnbok ehf, 2024
ISBN 978-9979-64-647-1
Der Kanadier Rick Mofina hat schon als Fünfzehnjähriger seine erste Kurzgeschichte an eine Zeitschrift verkauft. Nach seinem Studium (Journalismus und Englische Geschichte) berichtete er jahrelang als Reporter aus Kriegs- und Krisengebieten. Heute lebt und arbeitet er als Kommunikationsberater in Ottawa und schreibt „nebenbei“ seine erfolgreichen Thriller.
Dieses Buch widme ich meiner Lieblingsschwägerin.
Du weißt, wer gemeint ist.
Ihre vielen Sünden sind ihr vergeben, denn sie hat viel geliebt
Lukas 7,47
Für Schwester Anne war der Tod immer nahe.
Heute Abend jedoch fühlte er sich noch näher an, und sie wusste nicht, warum.
Es war ein Abend wie jeder andere im Compassionate Heart of Mercy Shelter am Rande von Seattles Pioneer Square District, wo sie Tomatensuppe an jene verteilte, die alle Hoffnung verloren hatten. Deren Vergangenheit sich in ihre furchtsamen Gesichter gegraben und deren Schmerz ihre Körper mit Läsionen, Injektionsnarben und Gefängnistattoos gezeichnet hatte.
Während sie die Reihen der plastikverhüllten Bingotische abschritt, sah Schwester Anne gelegentlich einen ihrer „Gäste“ von seinem Essen zu den Fingerfarben-Malereien an den Wänden des Untergeschosses aufschauen. Sie waren von den Kindern dort aufgehängt worden, für die dieser Raum tagsüber als Hort fungierte. Porträts von glücklichen Familien, die sich unter sonnigen Himmeln und bunten Regenbögen an den Händen hielten.
Keine dunklen Wolken. Keine finsteren Mienen. Keine Tränen.
Eindrücke aus dem Paradies.
Schwester Anne berührte der Kontrast zwischen den verträumten Bildern und der kalten Wirklichkeit dieser unglücklichen Seelen.
Diese Leute waren gefesselt von Fehlern, Tragödien und Abhängigkeiten, und sie suchten in der Kinderkunst nach Antworten.
Stumme Hilfeschreie.
Hilfe anzubieten, war Schwester Annes Job. Es war ihre Berufung, die Gebrochenen zu retten, ihnen warme Mahlzeiten, Hoffnung und den Mut zu geben, sich selbst zu heilen.
„Möchten Sie mehr Suppe, Willie?“
Ein raspelndes Flüstern drang aus dem von Krümeln gesprenkelten Bart des früheren Flugzeugmechanikers. Er hatte seinen Job, sein Haus und schließlich seine Familie an das Glücksspiel verloren.
„Ich möchte niemandem Umstände machen, Schwester.“
„Das tun Sie nicht, mein Lieber. Schwester Violet hat mir erzählt, dass Sie sich gut in der Gruppe machen.“
„Ich habe in den zwei Monaten kein Treffen verpasst.“
„Weiter so, mein Lieber. Sie sind mein Held.“
Schwester Anne legte eine Hand auf seine Schulter und zog ihn näher zu sich. Der Geruch nach Alkohol, Zigaretten, ungewaschenem Körper und Verzweiflung, der hier so allgegenwärtig war, machte ihr nichts aus.
Die anderen Schwestern im Orden stellten sich ihrer Aufgabe tapfer, doch Schwester Anne ging sie mit einer wahren Begeisterung an.
Ob sie Sandwiches an Obdachlose verteilte, weggelaufene Teenager und misshandelte Frauen tröstete oder ins Gefängnis ging, um die Insassen zu beraten, sie war eine unermüdliche Kämpferin für das Gute.
Wobei sie niemals predigte oder belehrte. Sie diente in Demut, denn auch sie hatte Fehler gemacht. Indes kannte keine der übrigen Schwestern ihre Geschichte oder wie es zu ihrem „Gottesmoment“ gekommen war, der zu ihrem Glaubensbekenntnis führte. Was ihr Vorleben betraf, hielt Schwester Anne sich sehr bedeckt.
Überhaupt wären auf den ersten Blick die wenigsten Leute auf die Idee gekommen, dass Anne Braxton eine Nonne war. Seit der Vatikan in den 1960ern die Kirche modernisiert hatte, mussten Ordensschwestern nicht mehr hinter Klostermauern leben oder Habit mit Schleier tragen.
Heute Abend war Schwester Anne in einer ausgeblichenen Jeans und einem Seattle-Seahawks-Sweatshirt, auf dem Soßenflecken waren und das nach Thunfischauflauf roch. Mit ihrem ungeschminkten Gesicht und dem kurzen, grau melierten Haar konnte man leicht glauben, sie wäre eine etwas über vierzigjährige Ehrenamtliche aus einem Mittelklasse-Vorort. Das kleine Silberkreuz an der schwarzen Schnur um ihren Hals und der schlichte silberne Ring verrieten nichts von dem lodernden inneren Feuer, das sie mit ihrer Ordensgemeinschaft verband.
Denn sie schulterte die Angst jener, denen sie sich so sehr zu helfen bemühte. Neben Willie war Beatrice, die Lehrerin in Ravenna gewesen war, als sie bei einem Schulausflug in ihrem Minivan zurücksetzte und versehentlich eine Sechsjährige überfuhr. Das Mädchen starb noch am Unfallort. Beatrice verfiel in eine Depression und stürzte immer weiter ab, bis die Polizei eines nachts zur Aurora Avenue Bridge gerufen wurde und ihr ausreden musste, in den Lake Union zu springen. Seitdem half Schwester Anne ihr, sich selbst zu vergeben.
Dasselbe tat sie für Cooper, einen gequälten Soldaten, dessen Panzer von einer Granate getroffen wurde. Alle in der Crew starben. „Lebendig gekocht.“
Einzig Cooper kam heraus.
Schwester Anne betete täglich für Cooper, Beatrice und Willie. Sie weigerte sich zu glauben, dass sie wertlos, ungeliebt und schuldig waren wegen dem, was geschehen war. Niemand ist schuldig, sagte sie ihnen und den neuen Leuten, die jeden Tag mit ähnlichen Tragödien in die Einrichtung kamen. Jeder von ihnen zählte, und sie wollte, dass sie es wussten, vor allem am Ende des Abends, bevor sie in die Nacht entschwanden.
„Danke fürs Kommen. Gott segne Sie und viel Glück.“ Mit diesen Worten umarmte sie jeden zum Abschied.
Später, als sie die Teller einsammelte, wandten sich ihre Gedanken nach innen, und sie dachte an ihre Vergangenheit. Die Schuld zerriss sie innerlich, bis Schwester Anne sie verdrängte.
Aber sie kam immer wieder.
Heute Abend war sie die Letzte, denn sie blieb noch, um den Speiseplan für den nächsten Tag zu prüfen. Abermals stellte sich dieses komische Gefühl ein und zog sie zurück durch die Jahre zu jener Zeit, als sich alles änderte. In den letzten Wochen geschah es häufiger, als würde sich irgendein Ereignis ankündigen.
Teilte Gott ihr etwas mit?
Als sie die Tür abschloss, blieb sie stehen und betrachtete die Gebetszeile des keiligen Franziskus von Assisi, die dort hing.
„Im Sterben werden wir zum ewigen Leben geboren.“
Sie dachte einen Moment darüber nach, bevor sie zur Straße ging. Im Bus schaute sie zu den Banneranzeigen für ungewollte Schwangerschaften, Kondome, Telefonseelsorge und die Polizeinummern mit der dringenden Bitte, verdächtiges Verhalten zu melden. Wir leben in einer Welt des Schmerzes, und wir alle haben unser Kreuz zu tragen.
Schwester Anne schloss die Augen.
Ihr Bus fuhr die Hügel zwischen First Hill und Yesler Terrace hinauf zu der kleinen Siedlung gepflegter, schlichter Häuser am Ostrand von zwei Vierteln. Zum Glück war es eine kurze Fahrt.
Beim Aussteigen hörte sie ferne Sirenen und weiter weg eine Autoalarmanlage, die sie an die jüngste Zunahme von Autodiebstählen und Einbrüchen in ihrer Gegend erinnerten.
Vom regennassen Gehweg aus konnte sie die hohen Luxusapartmentbauten von First Hill über den Sozialbauten von Yesler Terrace aufragen sehen. Hinter ihnen, jenseits der I-5, glitzerte die Skyline von Seattle in der Nacht. Nach Norden hin war die Space Needle, nach Süden waren die Stadien zu sehen, in denen die Mariners und ihre geliebten Seahawks spielten.
Schwester Annes Zuhause war nur wenige kurze Blocks weiter in einer Reihe von hübschen Stadthäusern. Ein großzügiges Gemeindemitglied hatte eines von ihnen der Erzdiözese gespendet. Schwester Annes war das mittlere Haus. Sie erreichte die Haustür und erstarrte.
Die Tür stand einen Spalt weit offen.
Ach du Schreck.
Ihre Sorge wich Verärgerung. Das Schloss taugte nicht allzu viel. Als sie hineinging, roch sie gebratene Zwiebeln, Peperoni, Paprika und Käse und seufzte. Ihre neuen Nachbarn, die jungen Nonnen aus Kanada, mochten hin und wieder gerne Pizza, hatten jedoch immer noch nicht raus, dass sie die Haustür fest andrücken mussten, damit sie richtig zu war. Immerhin ersparte es ihr, nach ihren Schlüsseln zu kramen. Drinnen war alles still, als Schwester Anne die Treppe zu ihrer Wohnung im zweiten Stock hinaufging, in der sie allein lebte.
Abendgebet, eine Tasse Tee und ein wenig Ruhe für ihre müden Knochen. Sie schaltete das Licht in ihrer kleinen Wohnung an und empfand ein vages Unbehagen. Etwas stimmte nicht. Sie konnte nicht sagen, was es war, doch etwas fühlte sich falsch an.
Ach, es ist nichts.
Vor Erschöpfung war sie albern. Doch als sie ihre Jacke aufhängte, konnte sie das Gefühl einer Präsenz nicht abschütteln.
Etwas lag in der Luft.
Sie betrat den Flur zu ihrem Schlafzimmer und blieb wie angewurzelt stehen.
Ihre Sachen aus der Kommode waren verstreut, ihr Schrank durchwühlt worden.
Jemand ist hier gewesen.
Sie blickte zu ihrem Telefon. Ein Dielenbrett knarrte, und bevor sie reagieren konnte, legte sich eine verhüllte Hand von hinten auf ihren Mund. Ein massiger, steinharter Arm klemmte angewinkelt ihren Hals ein, presste auf ihre Luftröhre und hob sie ein Stück an. Ihre Zehen schleiften über den Holzboden, als sie ins Bad geschleppt und dicht vor den Spiegel gedrückt wurde.
Die Augen ihres Angreifers fixierten ihre.
Er hielt sie lange genug so, dass sie ihn erkannte und lange vergrabener Schmerz wieder aufgewühlt wurde. Dann blitzte eine Messerklinge an ihrem Hals.
„Schrei, und du stirbst“, sagte er. „Verstanden?“
Sie nickte, und er lockerte seine Hand an ihrem Mund.
„Du weißt, weshalb ich hier bin.“
Ja, das wusste sie.
„Es ist weg.“ Sie schluckte. „Ich hatte dir gesagt, dass es weg ist.“
„Du lügst! Wo ist es?“
Sein Griff wurde fester, bis sie wimmerte. Die Klinge schabte über ihre Haut, ritzte sie ein. Blut rann über ihren Hals, und Tränen füllten ihre Augen. „Wir können die Sünden unserer Vergangenheit niemals auslöschen“, sagte sie.
Sein Zorn war gewaltig.
„Nein“, bestätigte er. „Aber wir können für sie bezahlen. Und zwar teuer.“
Plötzlich riss sie die Augen weit auf, denn die Klinge drang tiefer in ihre Kehle. Mit den Händen versuchte sie, die Blutung zu stillen.
„Ich vergebe dir“, flüsterte sie.
Er ließ sie sanft zu Boden gleiten, als wäre sie seine Tanzpartnerin. Und er schaute zu, wie sie sich abmühte, etwas aus ihrer Tasche zu holen. Einen Rosenkranz. Den drückte sie mit ihren blutigen Fingern. Eine Zeit lang beobachtete er sie, bis alles Leben aus Schwester Annes Gesicht gewichen war. Danach kehrte er zurück in ihr Schlafzimmer und setzte seine Suche in ihren persönlichen Unterlagen und Fotos fort.
Bei einem neueren Schnappschuss von einem Jungen hielt er inne. Der Mann musterte das Gesicht und die Augen des Kindes eingehend, und schließlich lächelte er beinahe. Nun hatte er eine Verbindung zu dem, was ihm gehörte.
Er musste es sich nur noch nehmen, bevor die Zeit endgültig ablief.
Etwas war da los. Yesler Terrace.
Jason Wade, der allein die Nachtschicht in der Polizeiredaktion des Seattle Mirror machte, konzentrierte sich auf die Reihe von Polizeifunkscannern, über die sie die Hauptfrequenzen der Notrufzentralen in der Stadt empfingen. Zwischen den endlosen Verkehrsmeldungen nahm er einen Anflug von Betroffenheit in der Stimme der Sprecherin wahr.
Doch der Anruf wurde gleich wieder von dem Hin und Her der Polizeicodes übertönt, die andere Notrufe betrafen. Jason fluchte leise und schaltete sich in den Kanal ein. Vielleicht erwischte er ihn noch einmal. Er versuchte es, doch es war zwecklos.
Es klang, als wäre irgendwo im Central District etwas los. Revier Ost. Aber was?
Eine Minute verging. Dann noch eine. Er hörte nichts mehr. Sein Anruf bei dem Revier lief sofort aufs Band. Dennoch sagte ihm sein Gefühl, dass er den Kanal unbedingt weiterhören musste, denn er durfte dieser Tage keine einzige Story verpassen.
Nicht in dieser Schicht.
In dieser Schicht konnte ihn eine verpasste Story den Job kosten. Er beendete die 75-Wörter-Meldung über eine Messerstecherei nahe der Universität — ein kleiner Drogendeal, der schiefgegangen war. Das Opfer würde überleben.
Anschließend aß er sein kaltes Clubsandwich aus der Cafeteria auf und blickte sich in der verlassenen Redaktion um. Die meisten aus der Nachtschicht waren gegangen, nachdem die erste Ausgabe fertig war. Der Redaktionsassistent war oben und verteilte die Ausgaben in den Chefbüros. Die kleine Truppe von der Schlussredaktion, die bleiben musste, falls sich noch irgendwelche Sachen ergaben, die dringend mit ins Blatt mussten, vertrieb sich in der hinteren Ecke die Zeit mit eifrigen Diskussionen über Sportergebnisse und mit Kreuzworträtseln.
Mehrere Etagen tiefer liefen die deutschen Druckerpressen des Mirror und fertigten die erste Ausgabe für morgen. Die großen Maschinen brachten das gesamte Gebäude zum Vibrieren. Allein vor dem Polizeifunk, betrachtete Jason seinen Schreibtisch und zog Bilanz. Dies war sein Leben, inmitten leerer Fast-Food-Verpackungen, abgestandener Essensreste, alter Nachrichtenmeldungen, alter Dateien, vollgeschriebener Notizblocks und Exklusivstorys für die Titelseite, die er sich für den Mirror sichern konnte.
Er war Polizeireporter bei einer großen Tageszeitung.
Das hatte er sich immer gewünscht.
Und jetzt hing alles an einem seidenen Faden.
In den zwei Jahren, seit er seinen Job über einen Praktikantenwettbewerb des Mirror ergattern konnte, hatte er dem Blatt viele der größten Artikel über Verbrechen beschert — „mit Pulitzer-würdiger Journalistenarbeit“, wie seine früheren Redakteure in seine Akte geschrieben hatten. Sicher, seine Art, eine Story zu bekommen, war nicht immer ganz lupenrein, weil er gern bis zum Äußersten ging. Und er hatte einige „schwierige persönliche Umstände“. Doch seine Leidenschaft stellte die der meisten Alteingesessenen in den Schatten, und auch wenn er nach wie vor als Anfänger galt, wurde bereits von einer Beförderung geredet.
Also, wie konnte es so weit kommen?
Wie war er zum Außenseiter in der meistgehassten Schicht überhaupt geworden — zum nächtlichen Polizeireporter? Die Antwort lag unter dem Müllhaufen auf seinem Schreibtisch vergraben, in den Briefen von den Rechtsanwälten, deren ernste Worte nichts von ihrer üblen Ätzkraft verloren hatten.
„... möglicher Beweis von Böswilligkeit ... falsche Berichte, die Schuld implizieren ... unwahre Aussagen ... Verleumdungsklage ...“
Angst und Wut bewirkten, dass sich sein Magen heftig verkrampfte.
Hör auf damit und vergiss es. Es ist vorbei, Mann, lass es einfach gut sein.
Er drehte die Scanner lauter, stand von seinem Schreibtisch auf und dachte an andere Dinge. Der Mirror befand sich wenige Blocks nördlich vom Stadtzentrum, an der Ecke Harrison und 4th. Die Redaktion war im sechsten Stock, und von den durchgehenden Fenstern an der Wand hinten blickte man nach Westen.
Jason beobachtete die Lichter der Schiffe in der Elliott Bay und sagte sich zum millionsten Mal, dass die Sache mit Brian Pillar nie hätte passieren dürfen.
Zwei Monate war es her.
Pillar hatte sich verfahren und seinen Van angehalten, um zwei Frauen, die an einer Straßenecke standen, nach dem Weg zu fragen. Zu der Zeit führte die Polizei von Seattle eine Undercover-Ermittlung gegen Prostitution durch. Jason hatte geholfen, Cassie Appleton, einer neuen Reporterin, und Joe Freel, einem Fotografen des Mirror, den Kontakt zur Polizei herzustellen und zu arrangieren, dass sie bei einigen Einsätzen mitfahren durften.
Cassie sollte einen Beitrag über den Verdruss der Anwohner wegen des wachsenden Nuttenproblems und der zunehmenden Kriminalität schreiben.
Es war Cassies Story, hatte Eldon Reep, Redakteur für den Innenstadtbereich, sehr kühl zu Jason gesagt. Abgesehen von einem Polizeikontakt bräuchte sie keine Hilfe mehr von Jason.
Was in Ordnung war, bis die Geschichte eine Wendung nahm, weil Brian Pillar wegen Förderung der Prostitution verhaftet wurde, zusammen mit neun anderen Freiern. Der Mirror brachte exklusive Nachrichtenfotos von „Nutten“, die an ihren Autos lehnten, ebenso wie Aufnahmen von den beschuldigten Männern, wie sie in Handschellen gelegt und in Untersuchungshaft transportiert wurden.
Brian Pillar war Schulleiter.
„Sie haben ihn eben festgenommen! Seine Frau ist querschnittgelähmt oder so. Sie haben drei Töchter“, hatte Cassie atemlos am Telefon berichtet. „Er sollte es wahrlich besser wissen. Den knöpfe ich mir richtig vor und mache ihn zum Aufhänger.“
Jason warnte sie. Bei einer verdeckten Ermittlung voreilige Schlüsse zu ziehen, konnte riskant sein.
„Cassie, du musst vorsichtig mit diesen Geschichten sein. Manchmal werden Typen verhaftet, aber nie angeklagt, aus welchen Gründen auch immer. Warte lieber, bis es bestätigt ist“, sagte er.
„Der ist so was von schuldig. Du hättest sein Gesicht sehen müssen. Ich kenne mich nicht mit diesem Polizeikram aus, Jason. Außerdem vertrauen die Cops dir. Kannst du mir helfen, eine Bestätigung für die Vorwürfe zu bekommen? Ich habe Eldon schon angerufen, und er will die Story morgen auf Seite eins bringen, als echte Nachricht, nicht als Feature nächste Woche. Jetzt brauche ich Hilfe!“
„Ich fasse das auf keinen Fall an. Sie gehört ganz dir. Viel Glück.“
„Jason, hör zu.“ Sie senkte die Stimme. „Ich brauche deine Hilfe. Eldon hat Angst, dass die Times oder P-I Wind von der Verhaftung des Schulleiters bekommen und mir die Story klauen. Ich soll dir von ihm ausrichten, dass du mir helfen sollst. Bitte. Ich brauche dich jetzt.“
Jason hasste es, wie die Sache gehandhabt wurde. Erst wurde er höflich aufgefordert, sich rauszuhalten, dann befahl man ihm zu helfen — und durch eine Reporterin, keinen Redakteur. Das roch nach Ärger.
Doch nachdem er über seine Lage nachgedacht hatte, traf er eine Entscheidung und rief schließlich einige Leute an. Ihm wurde bestätigt, dass neun der zehn Männer wohl angeklagt würden.
Der einzige Mann, gegen den es keine Anklage geben würde, war Brian Pillar, der Schuldirektor. Jason erzählte es Cassie.
„Wie sich herausgestellt hat, war er unterwegs, um irgendein Ersatzteil für den Rollstuhl seiner Frau abzuholen und hatte sich wirklich verfahren. Die anderen waren die üblichen Typen, polizeibekannt und so. Ich schätze, damit wird deine Story etwas weniger spannend“, sagte er.
„Verdammt. Bist du sicher? Denn ein Vorstadtschulleiter ist genau das, was ich brauche, um der Story den nötigen Pepp zu geben.“ Sie war panisch. „Ich rede mit Eldon.“
Lass dich niemals von Fakten ablenken, scherzte Jason ins Nichts vor seinem Schreibtisch. Im Ernst, ohne das große Drama würde Cassies Story garantiert tief im Innenteil der Zeitung verschwinden, sagte er sich. Doch ihm fiel die Kinnlade herunter, als ihm am nächsten Morgen Brian Pillars Gesicht von der Titelseite entgegenstarrte, auf der man ihn als „verdächtigen Freier“ zusammen mit den anderen Verhafteten zeigte.
Schulleiter als einer von 10 „Freiern“ bei Razzia festgenommen.
Cassie zitierte in ihrem Artikel, wie Pillar die Zeitung angefleht hatte, seinen Namen oder sein Bild nicht zu veröffentlichen.
„Ich hatte nichts mit alledem zu tun. Ich bitte Sie, denken Sie an meine Frau, unsere Töchter, meine Schüler und meine Schule. Bitte.“
Doch da war das Foto von Pillar in Handschellen, zusammen mit der nicht vom Tisch zu weisenden Tatsache, dass er verhaftet wurde, auch wenn es nicht dasselbe war wie eine Anklage. Obwohl es zu keiner Anklage kam, sah er auf dem Mirror-Foto und unter dieser Titelzeile schuldig aus. In dem Artikel wurde überdies eine alles andere als mitfühlende Gemeindeaktivistin zitiert. „Mir tut er nicht leid. Wenn diese Männer mit heruntergelassenen Hosen erwischt werden, erzählen sie alles Mögliche, nur nicht die Wahrheit.“
An jenem Morgen erhielt Jason einen Anruf von einem Detective, den er kannte.
„Nette Nummer heute mit dem Direktor, Wade. Wir hatten dir gesagt, dass er aus dem Schneider ist. Es war ein klarer Fall von ›zur falschen Zeit am falschen Ort‹.“
„Es ist nicht meine Story. Ich weiß nicht, warum sie ihn so heftig angeprangert haben, aber ich schätze, Cassie wird das wohl wieder hinbiegen müssen, mit ihm reden und alles klären.“
„Das dürfte schwierig werden, du Ass.“
„Warum?“
„Weil Brian Pillar sich heute Morgen mit einem Verlängerungskabel in seiner Garage aufgehängt hat. Seine älteste Tochter hat ihn gefunden, es geschafft, ihn mit einer Heckenschere runterzuschneiden, und den Notarzt gerufen.“
„Mein Gott, lebt er?“
„Kaum noch.“
Brian Pillar hatte dann doch noch überlebt und sich erholt, und der Mirror zahlte ihm einen „sechsstelligen Betrag“ in einer raschen außergerichtlichen Einigung, die außerdem eine Richtigstellung auf der Titelseite sowie einen Vortrag über journalistische Verantwortung von einem leitenden Redakteur vor Pillars Schulaufsichtsbehörde beinhaltete.
Doch bevor all das geschah, gaben Cassie Appleton und Eldon Reep die Schuld an dem Desaster Jason.
„Wie kannst ihr mir das anhängen? Ich hatte nie etwas mit Cassies Story zu tun.“
„Sie hatte dich um Hilfe gebeten“, erwiderte Reep.
„Und ich habe ihr gesagt, dass er nicht angeklagt würde und sie lieber vorsichtig sein soll.“
„Da erzählt Cassie etwas anderes. Sie hat mich informiert, dass du ihr ganz klar erzählt hast“, Eldon nahm seinen Notizblock auf, „dass alle Verhafteten angeklagt würden. Alle.“
„Das stimmt überhaupt nicht!“
„Nennst du sie eine Lügnerin?“
Jason sah Reeps kalten Blick.
Sei auf der Hut, sagte er sich.
Cassie Appleton war von Reep eingestellt worden. Reep hatte Fritz Spangler wenige Monate zuvor als Innenstadt-Redakteur abgelöst. Er war aus Seattle und hatte für das Konkurrenzblatt Seattle Times gearbeitet, ehe er nach Toronto ging, um dort beim Aufbau einer neuen Tageszeitung zu helfen, dem Canada News Observer. Nach sechzehn Monaten scheiterten das Blatt und Reeps Ehe. Er wollte zurück nach Seattle, machte einige Anrufe und bekam am Ende Spanglers alten Job.
Reep wollte die Redaktion des Mirror neu gestalten. Eine der Ersten, die er anheuerte, war Cassie Appleton gewesen. Sie hatte zuvor bei irgendeiner kleinen, alle drei Wochen erscheinenden Zeitung im mittleren Westen gearbeitet, aber ein paar obskure Preise gewonnen. Sie lächelte nie, war ganz auf ihren Ehrgeiz fixiert, einen sehr guten Draht zum Rathaus zu bekommen, um diesen Job als Sprungbrett zum Hauptbüro in Olympia und schließlich in die Bundesredaktion in Washington D.C., zu nutzen.
Dem Redaktionsklatsch zufolge hatte Cassie keinerlei Hemmungen, Familien zu zerstören, und war aus ihrer Kleinstadt vertrieben worden, nachdem sie eine stürmische Affäre mit ihrem Chefredakteur gehabt hatte.
Und von Reep hieß es, dass er scharf auf sie war.
Also, sei ja vorsichtig, ermahnte Jason sich.
„Antworte mir, Wade. Nennst du Cassie eine Lügnerin?“
„Ja.“
„Und wie kannst du das beweisen?“
Jason konnte es nicht beweisen und begriff sofort, was geschehen würde. Er war als Prügelknabe ausgewählt. Ganz eindeutig.
Und er hatte recht.
Eldon suspendierte ihn für eine Woche und versetzte ihn im Anschluss auf unbestimmte Zeit in den Nachtdienst, während er über sein Schicksal entschied. Gleichzeitig teilte er ihm mit, eine verpasste Story oder ein weiterer Fehler, und seine Zeit beim Mirror wäre vorbei.
„... alle Einheiten ... wir haben Meldung eines ...“
Die Scanner lenkten Jasons Aufmerksamkeit zurück zu den Polizeieinsätzen und seinem Schreibtisch. Er justierte die Einstellungen, doch wieder kamen nur bruchstückhafte, sich überschneidende Meldungen aus dem Bereich Stadtzentrum, nahe First Hill — nein, Moment —, das war näher bei Yesler Terrace.
Was zum Teufel passierte da draußen?
„... Meldung eines zweiten langsam fahrenden Wagens ...“
Langsam fahrender Wagen? Ist das alles? Das ist doch keine Story.
Jason war erleichtert und drauf und dran, den knisternden Funk und seine Sorge abzutun, als er inmitten des Rauschens Fetzen einer Übertragung hörte.
„... Wohnung einer Nonne ... schick sie euch überMDÜ ...“
Die Wohnung einer Nonne? Was war da los? Jason wusste, dass mehrere Häuser der Diözese gehörten. Und jetzt gingen sie über die Mobile Datenübertragung!
Lieber auf dem Revier versuchen, dachte er und griff nach seinem Telefon, das im selben Augenblick auch schon zu läuten begann.
„Seattle Mirror.“
„Ich würde gern Jason Wade sprechen. Erreiche ich ihn unter dieser Nummer?“
„Am Apparat.“
Außer fremden Stimmen war Partylärm zu hören, das Klingeln einer Kasse und das Klimpern von Gläsern.
„Ich rufe wegen Ihres Vaters an.“
„Mein Vater? Was ist mit ihm? Geht es ihm gut?“
„Er hat mich gebeten, Sie anzurufen, und sagt, er braucht Sie sofort hier.“
„Was? Wo ist er? Wer sind Sie? Worum geht es? Ist er verletzt?“
„Hören Sie, ich richte es bloß aus. Er ist hier in der Ice House Bar, und er sagt, Sie wissen, wo das ist, und dass es ein Notfall ist. Ich muss auflegen.“
Eine Bar.
Jason vergrub das Gesicht in den Händen.
Er hockt in einer verfluchten Bar. Ich brauche das nicht, Dad. Nicht jetzt.
Der Scanner knisterte, und noch ein Funkfetzen kam.
Wasging da nahe Yesler Terrace vor?
Jesus Christus zeigte sein blutendes, von Dornen umkränztes Herz auf dem Gemälde über Isabella Martells Couch, während Detective Grace Garner sich deren Lügen über ihren Enkel anhörte.
„Nein, Roberto, er kommt nicht her.“
Grace warf Detective Dominic Perelli, ihrem Partner, einen Blick zu, tippte mit dem Stift auf ihren Notizblock und atmete enttäuscht aus.
„Und Sie haben keine Ahnung, wo er ist?“
Isabella schüttelte den Kopf und blinzelte hinter ihren dicken Brillengläsern, während sie auf ihre Hände starrte, die arthritisch vom jahrelangen Toilettenputzen im Mutual Tower waren. Roberto strahlte von seinem gerahmten Highschool-Foto über ihrem Motorola-Fernseher herab. Nichts an seinem Grinsen prophezeite, dass er zu einem sechsundzwanzigjährigen Drogendealer und Zuhälter mutieren würde, der mit dreiundzwanzig schon zum ersten Mal neun Monate absitzen musste, weil er eines seiner Mädchen verprügelt hatte.
Einem Informanten zufolge war Roberto der Letzte, der Sharia May Forrest lebend gesehen hatte, bevor man ihre Leiche hinter einer Pfandleihe in der Aurora Avenue fand.
Erdrosselt.
Sie war die Teenager-Prostituierte, die vor mehreren Wochen tot aufgefunden wurde, und Grace hatte darüber bisher so gut wie nichts. Keine brauchbaren Zeugen, nichts als Fragmente von Abdrücken oder nur teils erkennbare, nichts Konkretes. Nichts als den Tipp eines konkurrierenden Dealers, der freudig gegenüber der Polizei ausgesagt hatte: „Sharia May war bei Roberto verschuldet, und Leute haben ihn mit ihr gesehen.“
Ob die Spur etwas taugte oder nicht, Grace musste mit Roberto Martell reden. Trotz der Tatsache, dass es eine Beschwerde bei der Polizei über laute Musik aus einem Mustang mit Robertos Kennzeichen vor dieser Adresse auf der Straße gab und ein Mann, auf den Robertos Beschreibung passte, gesehen wurde, wie er in dieses Haus gegangen war, würde Isabella niemals verraten, wo sich ihr Fleisch und Blut aufhielt.
„Verflucht, bevor sie in dieses Land kam, war sie dabei gewesen, wie eine Todesschwadron ihren Vater umbrachte“, sagte Perelli später über einem abgepackten Essen in einem Belltown-Diner, wo Grace über ihren Kaffee und alles andere nachgrübelte.
Der Forrest-Fall wurde allmählich so kalt wie Sharia Mays Grabstein. Anscheinend sollte er genauso ungeklärt bleiben wie die letzten drei Morde, die Grace abbekommen hatte. Den anderen Detectives ging es nicht besser, und die Arbeitsmoral schwächelte. In den letzten zwanzig Monaten waren acht alteingesessene Ermittler entweder in den Ruhestand gegangen oder aus der Mordabteilung versetzt worden.
Und das zeichnete sich in der Aufklärungsquote ab, die von achtzig auf fünfundfünfzig Prozent gefallen war.
„Diese traurigen Statistiken besagen, dass Mörder eine gute Chance haben, in dieser Stadt ungeschoren davonzukommen“, hatte ein Seattle-Mirror-Kolumnist in einer scharfen Attacke auf die Polizei Seattles geschrieben.
Diese Wahrnehmung bereitete der Behörde Sorge, was wiederum dem Chief zu schaffen machte, der Druck auf den Deputy ausübte, den dieser an den Assistent Chief weitergab, worauf Letzterer den Captain rief, der seinerseits die Lieutenants anwies, einen Erlass rauszugeben, den die Sergeants an ihre Detectives zu geben hatten.
„Mir wurde befohlen, Ihnen allen das Offensichtliche mitzuteilen“, hatte Sergeant Stan Boulder seinem Team zu Beginn einer Schicht kürzlich gesagt, wobei er sichtlich seine Wut bezähmen musste. „Wir brauchen einen Erfolg, und den schnell.“
Während seine Leute murrten, knüllte Boulder sein Memo zusammen und zog Grace in sein Büro.
„Wegen dieses Prüfungsmists werden wir von allen Seiten angepinkelt.“
„Eine hübsche Illustration.“
„Die Leute werden abgelenkt, zweifeln an allem, und sie müssen konzentriert bleiben, Grace.“
„Ja, das haben wir kapiert.“
„Sie sind eine meiner Hellsten, deshalb haben wir Sie hergeholt. Wir müssen einen aus dem Feuer holen, schnellstens.“
„Welchen? Ich laufe einfach raus und löse den Fall jetzt gleich.“
„Sie wissen, was ich meine.“
Ja, das tat sie.
Grace ging die Dinge stets mit einem frischen Blick an; dieses Talent hatte sie in ihren Teenagerjahren entwickelt, als ihr schnelles Überlegen half, bei einer Schießerei an ihrer Highschool Leben zu retten. Danach war Grace klar gewesen, dass sie ein Cop würde.
Mit ihrem College-Abschluss war sie unter den besten fünf Prozent gewesen und hatte überlegt, sich beim FBI zu bewerben, bevor sie sich für das Seattle PD entschied. Als Streifenpolizistin war sie ausgezeichnet worden, weil sie einen Raubüberfallverdächtigen zu Boden geworfen und entwaffnet hatte. Sie war bald zum Detective aufgestiegen und hatte in diversen Einheiten gearbeitet, wo sie sich regelmäßig die Anerkennung und das Lob ihrer Vorgesetzten verdiente, bevor sie eine der jüngsten Ermittlerinnen in Seattles Mordkommission wurde.
Sie gab alles in ihrem Job, arbeitete sechzig Stunden die Woche und ließ nichts anderes in ihrem Leben zu. Grace war eine Einzelgängerin, und das schon seit der Schießerei in der Schule. So war es einfach. In den letzten Jahren jedoch hatte sie rund um die Uhr mit dem Tod zu tun, und sie glaubte nicht, dass sie es noch sehr lange allein aushalten würde.
Doch ihre Versuche, etwas dagegen zu unternehmen, waren nicht besonders weit gediehen.
Sie war einige Male mit Jason Wade ausgegangen, dem Mann vom Mirror. In gewisser Weise schien die Chemie zwischen ihnen zu stimmen, war da ein Knistern, aber irgendwie kam immer die Arbeit dazwischen. Oder sie ließen sie dazwischenkommen. So oder so hatte sie es beendet, ehe es ernst wurde, und es schien ihn verletzt zu haben. Das hatte sie ihm angesehen.
War es ein Fehler gewesen?
Sie wusste es nicht.
Dann war da ihr Reinfall mit Drew Wagner, dem FBI-Agenten. Nachdem er von Boston hierher versetzt worden war, hatte er sie verbissen umworben. Gott, er war solch ein gut aussehender Schmeichler, und sie hatte es nicht kommen sehen. Zuerst behauptete er, Single zu sein, und er trug keinen Ring. Doch sie wies auf die helle Hautlinie an seinem Finger, also gestand er, ja, er sei geschieden. Sie glaubte ihm, als er ihr von dem Schmerz erzählte, und das tat er so gut ...
Später hörte sie ihn zufällig mit seiner Frau telefonieren, und da gab er zu, dass er eigentlich getrennt wäre. Wieder kam der Herzschmerz, und vielleicht wollte Grace ihm glauben, dennoch forschte sie ein wenig nach und erfuhr endlich die Wahrheit. Wie sich herausstellte, vertrieb er sich bloß die Zeit mit ihr, bis seine Frau das Haus in Charlestown verkauft hatte und mit ihren Kindern nach Seattle zog.
Was für ein glorreicher Detective sie war!
Wie konnte ich denn nur so blöd sein?, fragte sie ihr Spiegelbild im Fenster des Diners und entließ die Frage hinaus in die Nacht und zurück zu Jason. War es falsch gewesen, nicht an der Beziehung mit Jason zu arbeiten? Er hatte etwas, das ihr gefiel, eine grüblerische, geniale Ehrlichkeit.
Hör auf, Grace! Lass diesen „Ich Arme“-Mist!
Vorbeigleitende Scheinwerfer schalten sie für ihren Egoismus und warfen ihr Fallbilder zu. Von Sharia May Forrest, einer Ausreißerin, die noch beinahe ein Mädchen war, cracksüchtig, aber mit einem Stoffteddy auf ihrem Bett, und die Geburtstagskarten an Freunde mit Smileys unterschrieb. Von Sharia Mays nackter Leiche in einem von Urin, Erbrochenem und Hundekot verdreckten Hinterhof, einen aufgebogenen Metallbügel um den Hals, der mit einem Metallrohrstück hinten so eng gedreht worden war, dass es sie fast enthauptete.
Und von Isabella Martell, die Lügen über Roberto erzählte, während Jesus zuschaute.
Und von Special Verlogener Mistkerl Agent Drew Wagner mit seiner Frau und den Kindern im Einkaufszentrum. Und von Grace Garner, allein mit ihren ungeklärten Mordfällen, die all das in den Griff bekommen wollte, als jemand ihren Namen sagte.
„Grace, Grace.“ Perelli stupste sie an und hielt ihr sein Handy hin. „Es ist Stan. Er sagt, dein Telefon ist ausgeschaltet.“
„Garner.“
„Boulder hier. Wir haben eine neue Leiche, und du übernimmst.“
„Verdammt, Stan, wir haben alle Hände voll mit dem Forrest-Fall zu tun. Können Marty und Stallworth denn da nicht einspringen?“
„Nein, du machst das. Notier dir die Adresse. Ist bei Yesler Terrace.“
Grace schürzte die Lippen und schrieb mit.
„Wer ist das Opfer?“
„Anne Braxton heißt die Frau. Das hier wird Schlagzeilen machen, und wie.“
„Warum?“
„Sie ist eine Nonne. Und sie wurde in ihrer Wohnung ermordet.“
Jason Wade schnappte sich einen tragbaren Scanner und lief die Treppe hinunter zum Parkplatz. Er hasste seine Lage.
Er durfte keine Story verpassen, und er durfte seinen Vater nicht im Stich lassen. Sein alter Herr hatte neuerdings einem Gespenst den Krieg erklärt, das ihn bereits seit Jahren verfolgte und über das zu sprechen er sich weigerte.
Niemals.
Nicht einmal als es die Dinge zerstörte, die er liebte, wollte er sich irgendjemandem öffnen. Nicht einmal als es Jason mit in den Abgrund zu reißen drohte. Wie heute Nacht. Mann, er musste vorsichtig sein. War sein Vater von seinem Dämon gepackt, wandte er sich an Jason, damit er ihn rettete.
Jason war alles, was er hatte.
Von der Bucht hallten der Schrei einer Möwe und das einsame Nebelhorn eines Schiffes herüber, als er auf seinen 1969er Ford Falcon zuging. Er hatte es endlich geschafft, ihn metallic-rot lackieren zu lassen, und nun reflektierte er die Lichter der Stadt, während er durch die Straßen rollte. Einige Blocks östlich ragte die Space Needle in die Nacht auf, und nach Süden dominierten die höchsten Gebäude, Union Square, Washington Mutual und das Columbia Center die Skyline. Pike Place Market war in der Nähe, etwas weiter weg Pioneer Square.
Willkommen in Seattle, Baby.
Jet City. Die Smaragdstadt. Gatesville. Amazonia. Java-Heimat.
Der Ort, an dem Jimi Hendrix Gitarre lernte.
In südliche Richtung nahe den Stadien warf Jason einen Blick hinauf nach First Hill und Yesler Terrace und überlegte, einen Umweg zu machen. Doch wohin? Er hatte keine konkrete Adresse, die er überprüfen könnte. Er war nicht mal sicher, was dort los war. Oder dass dort überhaupt etwas los war. Nichts.
Sichere dich ab, Mann.
Wieder rief er das Revier Ost an. Wieder hörte er die Bandansage. Er hinterließ eine Nachricht.
Dann sagte er dem Redaktionsassistenten bei der Zeitung Bescheid, er solle ihn anrufen, falls er etwas hörte. Er stellte sein Handy auf Vibrieren und schob Layla in den CD-Player. Jason war ein echter Jünger des Classic Rock und liebte es, wie sich Claptons geniales Spiel mit den Scanner-Übertragungen zu einem unheimlichen Mix gegen die Nacht vermengte.
Er wurde schneller, während der Song spielte, und dachte wieder an die Situation seines alten Herrn.
Henry Wade war Privatdetektiv gewesen, vormals Brauereiarbeiter und davor Cop in Seattle. So lange, wie Jason sich erinnern konnte, wollte oder konnte sein Vater sich nie dazu bringen, über den Zwischenfall zu reden, der ihn aus dem Seattle PD und in den Job bei der Brauerei zwang, wo sein Mittagessen in dem Thermobehälter täglich mit Bourbon versetzt war.
Was es auch sein mochte, das er sich zu ertränken bemühte, es kostete ihn letztlich seine Ehe. Jasons Mutter hatte neben seinem Vater an der Abfüllanlage gearbeitet, doch schließlich hatte sie beide verlassen. Sie hielt es nicht mehr aus, hatte sie in ihrem Brief geschrieben. Am Abend, bevor sie ging, hatte sie Jason umarmt und ihn angesehen, als fürchtete sie sich vor dem, was kommen würde. Die Tage danach war Jason auf seinem Fahrrad durch das ganze Viertel gefahren und hatte nach ihr gesucht, bis sein alter Herr ihm sagte, dass sie fort war.
„Aber keine Sorge, Jay, sie kommt wieder. Wirst schon sehen.“
Aus dem Scanner wurde ein Alarm in einem abgelegenen Lagerhaus gemeldet.
Das war nichts. Jason stellte die Kanäle neu ein und sah zur Bucht, als er seinen Falcon nach Süden lenkte, bis die Brauerei vor ihm erschien. Mann, er hasste diesen Ort mit seiner Ansammlung dunkler Backsteinbauten und den Essen, von denen rote Stroboskoplichter die Dunkelheit durchschnitten. Und der Hopfengeruch, der nun das Wageninnere füllte, erinnerte ihn an die schlimmsten Tage seines Lebens.
Seine Mutter war nie zurückgekehrt, und sein Vater hörte nie mehr auf zu trinken.
Mit der Zeit hatte ihn dies alles bis zum Äußersten belastet. Gekippt war es vor zwei Jahren, als sein Dad betrunken in der Redaktion auftauchte und nach ihm suchte. Jener beschämende Abend hätte Jason um ein Haar seine Stelle beim Mirror gekostet.
Einen Job, für den er Blut, Schweiß und Tränen geopfert hatte.
Doch es brachte seinen Vater auch dazu, sein Problem einzugestehen.
Er hörte auf zu trinken und begann eine Therapie. Dem Himmel sei Dank.
Inzwischen war er seit beinahe zwei Jahren trocken und machte sich gut, entstieg seinem selbst geschaufelten Grab als ein stärkerer Mann. Jason hatte ihn daran erinnert, dass er für kurze Zeit ein Cop in Seattle gewesen war, ein guter Cop übrigens, und dass er etwas in die Richtung unternehmen sollte.
Was er auch tat.
Zunächst ging er bei der Brauerei in den Vorruhestand, dann belegte er einige Kurse. Er wurde zu einem zugelassenen Privatermittler in einer Detektei, die ein alter Polizeifreund von ihm leitete. Bei seinen Fällen leistete er gute Arbeit, konnte Jason sogar einige Geschichten zuschustern. Sein alter Herr hatte endlich alles im Griff. Genau, dachte Jason, als er die Brauerei im Rückspiegel verschwinden sah.
Er war überzeugt, dass sie den ganzen Mist hinter sich hatten.
Andererseits fuhr er zu einer weiteren Bar, um seinen Vater zu retten. Riskierte doch wieder alles, was er sich so hart erarbeitet hatte.
Er sah es vor sich, als er in das Arbeiterviertel kam, in dem er aufgewachsen war, zwischen dem Highway 509 und dem Westufer des Duwamish River, unweit der Werften und des Flughafens Boeing Field, der eigentlich King County International Airport hieß. Hier hatte er, seit seine Mutter ihm Gutenachtgeschichten vorlas, davon geträumt, Autor zu werden, und beschlossen, als Reporter säße er bei den täglichen Dramen des Lebens in der ersten Reihe. Jeden Morgen studierte er die bei seinem ersten Job in der Branche: als Zeitungsausträger des Seattle Mirror.
Von den Problemen anderer Leute zu lesen, half Jason, seine eigenen zu vergessen.
Er hatte versucht zu verstehen, wie seine Mutter ihn einfach verlassen konnte. Die Jahre vergingen, seine Noten sackten ab, sein Schriftstellertraum schmolz dahin, und sein Vater besorgte ihm einen Job als Gabelstaplerfahrer in der Pacific Peaks Brewery. Sie standen im Morgengrauen auf, stiegen in den Pick-up seines Dads und fuhren zu den dreckigen Backsteinbauten.
Für Jason waren sie das Tor zur Hölle, und er schwor, sich hier rauszuziehen, bevor er wie sein Vater zu einem Geist wurde.
Also las er klassische Literatur zwischen dem Beladen von Lkw mit Bier, sparte sein Geld, ging zur Abendschule, verbesserte seine Noten, schrieb sich am Community College ein und arbeitete die Wochenenden in der Brauerei. Er besorgte sich auch seine eigene Wohnung, schrieb für die Campuszeitung und freiberuflich für die großen Tageszeitungen in Seattle.
Eine seiner Storys, ein Artikel über Seattles Streifenpolizisten, machte den Herausgeber des Seattle Mirror auf ihn aufmerksam, der Jason den letzten Praktikumsplatz gab, nachdem ein anderer Kandidat abgesprungen war.
Es war Jasons riesengroße Chance, seinen Traum wahr zu machen.
Das Praktikumsprogramm des Mirror war berüchtigt. Jason musste mit fünf anderen jungen Reportern konkurrieren, die alle von den großen Journalistenschmieden kamen. Und jeder von ihnen brachte Praktikumserfahrungen bei Blättern wie der New York Times, Chicago Tribune, Los Angeles Times und dem Wallstreet Journal mit. Sie alle stürzten sich mit Haut und Haaren in einen Beschädigungskampf um den einen Job beim Mirror, der am Ende winkte. Nachdem Jason alles riskiert hatte und eine Exklusiv-Story für die Zeitung sichern konnte, belohnte der Mirror ihn mit einer Vollzeit-Reporterstelle.
All das war jetzt wegen des Brian-Pillar-Mists in Gefahr. Und was immer ihn in den Tiefen der Ice House Bar erwartete, machte die Sache weiß Gott nicht besser.
Jason bog auf dem dreckigen Parkplatz neben einem ausgebrannten Pacer ein, der dort in der hintersten Ecke stand, wo die Drogendeals stattfanden und Blasen entleert wurden.
Wieder machte Jason einige Anrufe, hinterließ Nachrichten und lauschte in den Scanner, bevor er ihn fürs Erste ausschaltete.
Da war nichts zu hören, trotzdem wurde er das nagende Gefühl nicht los, dass irgendwas oben in Yesler Terrace vor sich ging.
In der Bar roch es nach abgestandenem Bier, Zigaretten, Schweiß und Reue. Ein trauriger Honky-Tonk-Song dröhnte aus der Jukebox, und der Boden war übersät mit Erdnussschalen und Getränkedosenlaschen.
Der Laden war voller Loser. Zwei gebrochene Alte saßen an der Bar. Dem einen fehlte ein Arm, und im Schein der Neon-Bierwerbung über der Bar sah Jason, dass der andere eine Augenklappe trug.
Weiter hinten, im dämmrigen Lampenschein, war ein Billardtisch, an dem ein Spiel im Gange war zwischen einer Frau, der einige Zähne fehlten und deren T-Shirt-Aufdruck „Sprich mich nicht an“ sich über ihren Brüsten spannte, und einem großen schmalen Mann, dessen Arme komplett tätowiert waren.
Dahinter waren sechs Sitznischen an der Wand, bei denen die Rückenlehnen der Bänke so hoch waren, dass man sie nicht einsehen konnte.
Sie alle waren leer bis auf die eine, in der Jasons Vater saß.
Allein, bis auf ein volles Bierglas, das auf dem Tisch vor ihm stand.
Es wirkte, als hätte er es nicht angerührt.
Henry Wade blickte von dem Glas zu seinem Sohn auf, der vor ihm stand.
„Hast du heute Abend irgendwas getrunken, Dad?“
Henry schüttelte den Kopf.
Zuversichtlicher setzte sich Jason ihm gegenüber in die Nische und nickte zu dem weißen Verband an der rechten Hand seines Vaters.
„Was ist passiert?“
„Ich habe die Klinge in meinem Teppichmesser gewechselt, um eine Badezimmerfliese auszuwechseln.“
„Und deshalb lässt du mich vom Wirt anrufen? Dad, ich arbeite! Ich hab Nachtschicht!“
Sein Vater rieb sich die Schläfe, als müsse er etwas weit Verstörenderes verarbeiten als einen lächerlichen Haushaltsunfall.
„Jay, du musst mir helfen, mein Junge. Ich weiß nicht, was ich hier tun soll.“
Jason rutschte auf seinem Platz hin und her und reckte einen Finger in die Höhe.
„Warte mal, das ist mein Telefon. Ich muss da rangehen.“ Jason angelte das Handy aus seiner Jeanstasche. „Dad, egal, was bei dir gerade los ist, ich möchte, dass du nach Hause gehst, sobald ich ... Wade ... Seattle Mirror.“
„Ja, Wade, hier ist Grimshaw vom Revier Ost. Ich habe Ihre verdammten Nachrichten bekommen.“
„Was ist oben in Yelser los?“
„Die Meldung eines Mordes.“
„Ein Mord? Ist da irgendwas dran?“
„Irgendwas mit einer Nonne.“
„Eine Nonne? Können Sie mir eine Adresse geben?“
„Mal sehen.“
Jason hörte das Klackern einer Tastatur, dann sagte ihm der Cop die Daten auf, und Jason schrieb sie sofort in sein Notizbuch.
„Hat Sie sonst noch jemand von der Presse deshalb angerufen?“
„Noch nicht. Wir haben eben erst Leute hingeschickt. Ist ja gerade erst passiert.“
„Danke.“ Jason legte auf. „Dad, ich muss sofort weg. Es war gut, dass du mich angerufen hast. Und es war noch besser, dass du nichts getrunken hast. Jetzt schaffe ich dich nach Hause, und wir reden später. Ich muss los.“
Jason setzte seinen alten Herrn in ein Taxi und schickte ihn nach Hause.
Es war gut, dass er angerufen hatte, dass er nichts getrunken hatte und versuchte, sich zu öffnen, doch sie mussten später reden.
Jason war an einer Story dran.
Er gab Gas, als er seinen Falcon weg von der Ice House Bar und dem Viertel lenkte, angetrieben von seiner Furcht. Alles stand auf dem Spiel; was hatte er denn außer seinem Dad und seinem Job beim Mirror sonst im Leben?
Im Ernst.
Nichts.
Nachdem das mit Valerie endete, hatte er eine Beziehung mit Grace Garner angefangen, und alles war prima gelaufen. Bis sie mit dem Argument Schluss machte, ihre Jobs würden die Dinge verkomplizieren.
Das war Blödsinn. Er fand, dass sie gut zusammenpassten, und hatte geglaubt, dass es ernst würde, bis sie — rumms — die Trennung verkündete.
Er begriff es nicht.
Dann hatte er gehört, dass sie mit irgendeinem FBI-Typen zusammen war. Das war Monate her. Seither hatte Jason sie nicht gesehen, und sollte das Schicksal gnädig sein, würde er sie auch heute Nacht nicht sehen. Er kramte in seinen CDs und legte eine Live-Aufnahme von Led Zeppelins „Immigrant Song“ aus den BBC Sessions auf, damit die wummernden Bässe Grace aus seinem Kopf vertrieben und er sich auf den Mord einstellen konnte.
Eine Nonne.
Alle würden darüber berichten, und er musste der Beste sein, sich auf die Story konzentrieren.
Unterwegs rief er den Nachrichten-Nachtdienst an und sagte dem Assistenten, er solle den Fotografen wecken und zum Tatort schicken. Dann versuchte er vergeblich, den Sergeant vom Revier Ost zu erreichen, um neue Informationen zu bekommen, während er dem Scanner lauschte. Doch da war nicht viel zu hören. Er fuhr durch die Ausläufer von Yesler Terrace und schaute hinauf zu den glitzernden Apartments von First Hill, die hoch über den Sozialbauten aufragten.
Hier war kein Tatort.
Er fuhr weiter und gelangte zu einem Durcheinander von Streifenwagen mit knacksenden Funkgeräten, deren Warnlichter eine Reihe gut erhaltener Häuser rot färbten.
Blutrot.
Gelbes Absperrband riegelte den Vorgarten eines Hauses ab. Den Todesort. Vor dem Absperrband standen Leute, reckten ihre Hälse; andere beobachteten alles von ihren Fenstern, Baikonen oder Haustüren aus, als ein Uniformierter Jasons Falcon wegwinkte.
„Hier können Sie nicht halten.“
Jason zeigte ihm seinen Presseausweis.
„Parken Sie weiter hinten.“
Nachdem er seinen Wagen abgestellt hatte, kramte er in den Zeitungen und alten Fast-Food-Verpackungen nach einem neuen Notizblock und einem funktionierenden Kuli. Er kannte die Abläufe bei einer Mordermittlung, wusste, worauf er achten musste, und betrachtete die Szenerie, als er sich der Absperrung näherte. Jason konnte es nicht fassen. Nirgends waren andere Nachrichtenleute zu sehen. Nicht einmal Chet Bonner von Channel 93 war in Sicht, der Kameramann, der nur nachts herauskam.
Wo waren die anderen? Hatte das Presserudel diese Meldung verpasst?
Der Menge der Polizeiwagen nach zu urteilen, hatte diese Party schon vor einer ganzen Weile angefangen. Da standen zivile Malibus, was bedeutete, dass die Mordkommission hier war, die Spurensicherung war ebenfalls da, und sogar die Rechtsmediziner des King County Medical Examiner waren vor Ort.
Jason blickte sich unter den Gaffern um, wer aussah, als könnte er irgendwelche Informationen haben. In dem Moment lenkte ihn ein Blitzen über ihm ab.
Erster Stock. Südwestfenster.
Da war es wieder. Eine kleine Explosion grellen Lichts füllte das Fenster aus. Dann bewegte sich eine Silhouette, bevor sie vollkommen still stehen blieb. Blitz. Die Schatten wechselten ihre Position. Noch ein Blitz. Das mussten die Spurensicherer oder die Mordermittler sein, die Fotos machten.
Die eine tote Nonne knipsten.
Trauer überkam ihn, während er diesen Gedanken sacken ließ und lange genug hielt, dass er sich in stille Wut verwandelte. Was für ein degenerierter Abschaum brachte eine Nonne um? Die Kamerablitze erhellten das Gebäude nebenan und das Fenster direkt gegenüber, an dem eine Gestalt stand und alles mit ansah. Sie sah nach einer Frau aus, älter, die beide Hände an ihre Wangen gelegt hatte.
Na also, dachte Jason. Diese Frau musste doch wohl etwas wissen.
Das Haus stand außerhalb der Absperrung und wurde nicht bewacht. Streifenpolizisten gingen hinein und kamen wieder heraus, teils mit Klemmbrettern, auf denen sich aller Wahrscheinlichkeit Fragebögen für erste Zeugenaussagen befanden, wie Jason nach einem verstohlenen Blick annahm.
„Wir sind hier fertig, Lyle“, sagte ein Officer in das Mikro an seiner Schulter, ehe er Jason an der Tür mit einer Frage bremste. „Wohnen Sie hier, Sir?“
„Nein, ich bin Reporter vom Mirror, und ich habe oben etwas zu tun.“
„Reporter?“
Der Cop musterte ihn, sah den Silberstecker in Jasons linkem Ohr und den einige Tage alten Flaum, der allmählich einen Van-Dyke-Bart andeutete.
„Können Sie mir einen Ausweis zeigen?“
Jason hielt ihm seinen laminierten Presseausweis mitsamt Foto hin. Der Officer prüfte ihn, als sein Funkgerät knisterte.
„Bobby, kannst du ...“ Statisches Rauschen verzerrte den Rest, und der Officer trat einen Schritt auf Abstand, um in sein Mikro zu sprechen. „Das habe ich nicht verstanden. Kannst du es wiederholen?“
„Bob, wir brauchen dich hinten, sofort.“
Hinten? Hatten sie etwas gefunden?
Jason musste sich entscheiden. Nach hinten oder hineingehen und versuchen, eine Zeugin zu erwischen. In dem Moment kam ein anderer Officer, der das Gebäude betrat, und Jason fing die Tür ab, ehe sie ins Schloss fiel. Da der erste Officer abgelenkt war, folgte Jason dem zweiten ins Haus und konnte ungehindert zur Wohnungstür im ersten Stock gelangen, wo er anklopfte.
Mehrere Schlösser klickten, dann öffnete die Frau, die Jason am Fenster gesehen hatte. Dem Aussehen nach war sie Ende sechzig. Sie trug einen langen Pullover und Hausschuhe, und sie sah besorgt aus.
„Ja?“
„Jason Wade vom Mirror.“ Er nahm einen strengen Katzenklogeruch wahr, als er ihr seine Karte reichte. „Entschuldigen Sie die Störung, aber ich hatte gehofft, dass Sie einen Moment Zeit für mich hätten.“
„Die Presse? Du lieber Gott, nein. Ich glaube nicht, dass ich irgendwas sagen sollte.“
„Bitte, Ma’am. Ich müsste nur einige Dinge für meinen Artikel klären.“
„Bedaure, nein.“
„Ma’am, Sie wissen doch, wie die Leute immer sind, wenn wir irgendwas Falsches schreiben oder uns Sachen ausdenken. Ich würde es gern korrekt halten, bitte.“
„Ja, ich weiß, aber ich habe gerade mit den Officers geredet, und sie haben mir gesagt, dass ich mit niemandem sprechen soll, bis die Detectives bei mir waren.“ Sie blickte sich zu dem großen Fenster um, durch das man die Kamerablitze im Nebenhaus sehen konnte. „Ich schätze, dass bei Schwester Anne eingebrochen wurde. Wahrscheinlich diese Drogendealer. Wir haben hier in letzter Zeit einige Einbrüche.“
Einbrüche. Sie weiß nicht, was passiert ist, aber sie hat einen Namen.
„Verzeihung, sagten Sie Schwester Anne? Und sie wohnt in der Wohnung, in der so viel los ist?“
„Ja, sie hat da drüben eine kleine Wohnung. In dem Haus leben noch andere Nonnen. Das sind alles Heilige. Sie tun so viel für das Viertel. Übrigens betreiben sie auch das Compassionate Heart Shelter in der Innenstadt, haben Sie das gewusst?“
Über ihre Schulter hinweg sah Jason, dass unten ein Übertragungswagen von einem Fernsehsender vorfuhr. Ihm blieb keine Zeit mehr, deshalb musste er dieses Gespräch hier beschleunigen.
„Sehen Sie, Ma’arn, das sind die Art von Informationen, die ich brauche. Wäre es okay, wenn ich mir einige Notizen mache?“
„Ich weiß nicht, eigentlich sollte ich ja wohl nicht ... Die Polizei ...“
„Wahrscheinlich erzählen sie uns am Ende sowieso alles, aber dies hier wäre hilfreich.“
„Na ja, das ist wohl in Ordnung. Jeder weiß von unseren Nonnen, aber ich kann Ihnen nicht alles erzählen, was ich der Polizei gesagt habe.“ Jason nickte, während er sich rasch Notizen machte.