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Ein guter Tag zum Sterben … Nicht weit von Seattle gerät die Studentin Karen Harding in ein fürchterliches Unwetter. Dann gibt auf dem verlassenen nächtlichen Highway auch noch ihr Wagen den Geist auf. Als ein Fremder anhält, um ihr zu helfen, ist die junge Frau sehr erleichtert. Zu spät wird ihr klar, dass der Mann sie offenbar schon länger beobachtet ... Der junge Reporter Jason Wade wittert eine Riesenchance, als er vom Fall einer Studentin hört, die auf einem Highway spurlos verschwunden ist. Doch sein Versuch, mehr über diese verstörende Geschichte zu erfahren, wird zu einer Reise in die Finsternis … --- "Dieser Roman endet so erschreckend, wie er begonnen hat. Man wird süchtig danach." - Sandra Brown "Alles, was ein großartiger Thriller braucht!" - Lee Child "Ein absolutes Muss für Thriller-Fans!" - Library Journal
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Seitenzahl: 390
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Rick Mofina
Glühende Angst
Titel der Originalausgabe: The Dying Hour
Copyright der Originalausgabe © 2005 by Rick Mofina
Copyright © Skinnbok ehf, 2024
ISBN 978-9979-64-645-7
Rick Mofina war viele Jahre lang als Reporter tätig, eher er sich hauptberuflich dem Schreiben zuwandte und mehrere Preise für seine Thriller gewann. Seine Bücher erscheinen in 17 Ländern. Als Reporter hat er aus den Vereinigten Staaten, Kanada, der Karibik, Afrika und Kuwait Bericht erstattet. Seine Romane werden von der Fachpresse zu den besten des Genres gezählt.
Weitere Informationen unter http://www.rickmofina.com.
Wer viel weiß, muss leiden. Selbst im Schlaf bedrängt der Schmerz, der nicht vergessen kann, langsam unser Herz, und in unserer Verzweiflung und gegen unseren Willen wird uns eine Weisheit zuteil, die sich der schrecklichen Güte Gottes verdankt.
– Aischylos
(525-456 v. Chr.)
Agamemnon
Karen Harding musste raus aus Seattle.
Sie war allein, fuhr bei strömendem Regen in nördlicher Richtung auf der Interstate 5 und versuchte zu begreifen, warum ihr Verlobter sie plötzlich zwang, eine Entscheidung zu treffen, die ihr ganzes Leben verändern würde.
Sie wischte sich Tränen ab.
Warum tat er das? Lukes Sinneswandel hatte sie erschüttert. Sie brauchte ein paar Tage, um nachzudenken. Nach dem Gespräch mit Luke hatte sie ein paar Sachen in eine Reisetasche gepackt, sie in ihren Toyota geworfen und war losgefahren, um ihre ältere Schwester Marlene zu besuchen, die in Vancouver lebte. Karen hatte sich nicht die Mühe gemacht, vorher anzurufen. Dies war ein Notfall, und Marlene würde zu Hause sein. Wegen ihrer beiden Kinder und ihrer Arbeit verließen sie und ihr Mann kaum je die Stadt.
Die laute Hupe eines Lastwagens riss sie aus ihren Gedanken, und sie konzentrierte sich ganz aufs Fahren. An der Windschutzscheibe lief das Wasser hinab. Scheinwerfer entgegenkommender Fahrzeuge blendeten sie. Große Laster überholten sie und zogen Fahnen von Spritzwasser hinter sich her.
Zeit für eine Pause.
Sie hielt an einer Raststätte für Trucker außerhalb von Bellingham. Im Vorraum hing eine riesige Karte des Bundesstaats Washington und von British Columbia. Darunter war eine Pinnwand mit Anzeigen für Laster und Fahrerjobs. Daneben Fotos von verschwundenen Kindern, Frauen, durchgebrannten Ehemännern. Neben den Automaten für Getränke und Snacks piepten Videospiele.
Sie war hungrig und betrat das Restaurant.
Countrymusic, Geklapper von Besteck. Es roch nach aufgewärmter Tiefkühlkost und Kaffee. Die Gäste waren überwiegend Trucker mit Baseballkappen, in karierten Hemden und Jeans. Karen sah sich nach einem freien Platz um.
Eine Frau und ein junges Mädchen, die fröhlich ein Eis verputzen, ein weißhaariges Ehepaar, das sich leise unterhielt und Suppe löffelte, ein bärtiger Mann mit dunkler Brille und dem weißen Kragen eines Geistlichen. Ein Reverend. Er saß allein vor einer Tasse Kaffee und las ein Buch. Sie fand einen Platz am Fenster und bestellte ein Chicken-Sandwich.
Der Regen peitschte gegen die Scheibe, Stromschwankungen ließen das Licht flackern in der Raststätte. Karen blickte sich um. Der Reverend beobachtete sie und lächelte ihr zu. Sie wollte das Lächeln erwidern, wandte aber den Blick ab.
Sie sehnte sich danach, mit ihrer Schwester zu reden. Mit irgendjemandem, der Rat spenden konnte. Vielleicht war es ein gutes Zeichen, dass der Geistliche hier war. Eventuell konnte sie mit ihm reden. Konnte sie ihr Problem einem Fremden anvertrauen? Sie blickte in seine Richtung, aber er war verschwunden. Sie sah das neben der Kaffeetasse liegende Trinkgeld.
In dem Lokal wurde es lauter. Gäste informierten über ihre Mobiltelefone andere über Probleme im Zusammenhang mit dem Sturm. An dem Grenzübergang nahe Blaine hatte es einen schweren Unfall gegeben.
„Ein Kühlwagen und ein beladener Tanklaster“, sagte jemand. „Das heißt warten, vermutlich zwei Stunden.“
Das klang nicht gut.
Sie wollte unbedingt noch an diesem Abend bei ihrer Schwester sein. Also holte sie ihre Karte hervor, studierte das Netz von Straßen in der nordwestlichen Ecke des Bundesstaates Washington und suchte nach einem anderen Grenzübergang. Bisher war sie immer bei Blaine nach Kanada eingereist, aber Lynden schien auch okay zu sein. Am nördlichen Ende von Bellingham die Abfahrt zur Route 539 nehmen und dann Richtung Norden direkt zur Grenze. Wenn Lynden verstopft war, würde sie es in Sumas versuchen.
Der Sturm wütete weiter.
Karen konnte kaum etwas sehen, immer wieder wurde ihr Toyota von heftigen Windböen erfasst. Sie umklammerte krampfhaft das Lenkrad und fragte sich, ob sie verrückt war. Vielleicht sollte sie nach Seattle zurückkehren. Oder sich zumindest für die Nacht ein Motel suchen.
Nein.
Auch wenn sie vorsichtig fuhr, glaubte sie es in weniger als zwei Stunden zum Haus ihrer Schwester schaffen zu können.
Aber diese Route war unheimlich. Weniger Orte, Häuser, Lichter. Sie sah weder Flüsse noch Wälder oder die Abhänge der Cascade Mountains. Alles wurde von der Finsternis verschluckt. Sie fühlte sich allein, schutzlos. Um sich etwas zu entspannen, schaltete sie das Radio ein und suchte nach einem Sender, wo Jazz lief.
Ein Warnlämpchen begann zu blinken. Die Benzinuhr, der Treibstoff wurde knapp.
Darauf konnte sie sich keinen Reim machen. Wie war das möglich? Sie hatte an der Raststätte getankt. Vielleicht war die Anzeige defekt? Sie würde an der nächsten Tankstelle halten, um auf Nummer sicher zu gehen. Doch hier gab es nur Wind, Regen und Finsternis, aber keine Tankstelle. Nach ein paar Meilen begannen weitere Warnlämpchen zu blinken. Öl. Der Motor. Der ganze Wagen erzitterte, der Motor stotterte.
Guter Gott.
Sie hielt am Straßenrand, schaltete den Motor ab und atmete tief durch. Bewahre die Ruhe. Warte zehn Minuten, lass den Motor wieder an und fahr zur nächsten Tankstelle. Zehn Minuten verstrichen. Sie drehte den Schlüssel im Zündschloss. Nichts.
Sie versuchte es noch einmal.
Nichts.
Reg dich nicht auf. In ihrer Tasche suchte sie nach dem Mobiltelefon und ihrem Adressbuch. Sie würde den Automobil-Club anrufen. Aber da war kein Handy. Es musste irgendwo sein. Sie kippte den Inhalt ihrer Tasche auf den Beifahrersitz und erstarrte. Sie hatte es so eilig gehabt, Seattle zu verlassen, dass sie ihr Mobiltelefon vergessen hatte. Es lag auf der Anrichte in der Küche, wo sie es aufgeladen hatte.
Sie schloss die Augen und atmete noch einmal tief durch. Der Regen trommelte auf das Wagendach. Sie versuchte erneut, den Motor anzulassen. Wieder nichts. Sie griff nach dem Handbuch und blätterte darin, wusste aber, dass es vergeblich war. Sie hatte absolut keine Ahnung von Autos.
Aber ihr blieb nichts anderes übrig, sie musste sich etwas einfallen lassen. Sie ließ die Motorhaube aufspringen und griff nach einer kleinen Taschenlampe und ihrem Regenschirm. Vielleicht würde sie auf den ersten Blick sehen, was los war. Sie stieg aus und konnte den Schirm kaum festhalten. Eine Sturmbö wölbte den Stoff nach außen und verbog die Stangen.
Sie hob die Motorhaube hoch, schaltete die Taschenlampe ein und starrte auf das Innenleben des Autos, eine fremde Welt. Vielleicht hatte sich irgendetwas gelockert. Woher sollte sie es wissen? Als sie aufs Geratewohl nach einem Kabel griff, sah sie grelles Licht, und kurz darauf donnerte eine Reihe von Lastern vorbei. Das Spritzwasser durchnässte sie bis auf die Haut.
Wütend setzte sie sich wieder ins Auto, wo sie den demolierten Schirm auf die Rückbank warf.
Sie war klatschnass und begann zu zittern. Keine Panik. Leg dir einen Plan zurecht. Bleib im Auto und zieh dir trockene Klamottens an. Vielleicht würde ein Streifenwagen oder irgendein barmherziger Samariter anhalten und für sie den Abschleppdienst anrufen. Wenn nicht, konnte sie die Nacht in ihrem Toyota verbringen. Besonders kalt war es nicht, und sie hatte eine Decke. Am Morgen würde sie dann zu Fuß losziehen. Der nächste Ort konnte nicht weit weg sein.
Als sie nach der Tasche mit ihren Kleidungsstücken griff, sah sie plötzlich im Rückspiegel Scheinwerfer. Ein Fahrzeug hatte ein paar Meter hinter ihr am Straßenrand gehalten. Ein Wohnmobil.
Jemand wollte ihr helfen.
Auf der Beifahrerseite des Wohnmobils öffnete sich die Tür, und ein Mann stieg aus. Er trug einen langen Mantel und eine Kappe. Sie sah ihn im grellen Licht der Scheinwerfer und im strömenden Regen vor der hinteren Stoßstange ihres Autos stehen.
Sie schöpfte Hoffnung und strich sich das nasse Haar glatt, als er um das Auto herumkam.
Als er neben der Tür stand, fiel ihr zuerst der weiße Kragen auf, dann die dunkle Brille und der Bart. Es war der Geistliche aus der Gaststätte. Erleichtert ließ sie die Fensterscheibe herab.
„Haben Sie eine Panne, Miss?“, flüsterte der Mann heiser.
„Ja, der Motor hat den Geist aufgegeben und springt nicht wieder an.“
„Kommt jemand, um Ihnen zu helfen?“
„Nein.“
„Lassen Sie mich mal einen Blick unter die Motorhaube werfen.“
Der Reverend knipste eine Taschenlampe an, ging zu der Haube, die noch offen war, und inspizierte den Motor. Karen glaubte, dass der an Kabeln zog.
„Versuchen Sie noch mal, den Motor anzulassen!“
Sie drehte den Schlüssel im Zündschloss, doch nichts passierte. Er drückte hart auf etwas.
„Noch mal.“
Wieder nichts. Er schloss die Motorhaube und kam zum Seitenfenster zurück.
„Da riecht’s, als wäre etwas angekokelt. Könnte sonst was sein. In meinem Wohnmobil habe ich ein Handy. Wenn Sie wollen, rufe ich den Pannendienst an.“
„Ja, das wäre nett. Moment, ich bin Mitglied im Automobil-Club. Hier ist seine Karte mit der gebührenfreien Nummer.“
„Mein Gott, Sie sind ja klatschnass.“
„Ich habe selber versucht, die Panne zu beheben.“
„Das sehe ich. Sie sollten nicht hier sitzen bleiben und sich eine Erkältung fangen. Warten Sie in meinem Wohnmobil, bis der Pannendienst kommt.“
Karen dachte nach. Der Mann wirkte nett. Er war ein Geistlicher. In der Raststätte hatte sie darüber nachgedacht, ihn anzusprechen.
„Sie sind Christin, stimmt’s, Karen?“
Es verschlug ihr den Atem.
„Woher wissen Sie das, und woher kennen Sie meinen Vornamen?“
„Der steht hier auf der Karte, und mir ist hinten auf ihrem Auto der Ichthys-Aufkleber aufgefallen. Das Fisch-Symbol für Jesus.“
Sie nickte. „Ja natürlich, stimmt.“
„Ich habe Sie in der Raststätte bei Bellingham gesehen. Sie wirkten verwirrt.“
Karen war erstaunt, als sie Revue passieren ließ, was heute alles passiert war. Sie hatte um Hilfe gebetet. War dies ein gutes Omen? Ein Geistlicher, der sie gefunden hatte, verloren in ihrem persönlichen Sturm? War es alles Teil der Vorsehung?
Sie packte die auf dem Beifahrersitz liegenden Sachen wieder in die Tasche und folgte dem Geistlichen zu seinem Wohnmobil. Als er die Tür öffnete, flogen ein paar Zettel nach draußen und wurden vom Wind davongetragen. Sie stieg ein.
Len Tolba, Deputy beim Sawridge County Sheriff’s Department, saß hinter dem Steuer seines Geländewagens und trank einen Schluck Kaffee. Er fuhr auf der Route 539 Richtung Norden und kam gerade an Laurel vorbei. Über den Bergkämmen tauchte soeben die Sonne auf.
Was für ein mörderischer Sturm letzte Nacht.
Er war auf dem Weg nach Lynden, wo Anzeige erstattet worden war, weil ein paar Teenager Obszönitäten auf die Wände des Pioneer Museum gesprayt hatten.
Er war neunundzwanzig und seit fünf Jahren bei der Highway Patrol. Nicht, dass es daran etwas auszusetzen gegeben hätte. Überhaupt nicht. Er mochte seinen Job, glaubte aber, mehr zu bieten zu haben.
Er wollte Detective werden.
Kurse, Seminare, Weiterbildung bis zum Ab winken. Er war bereit. Auf dem Beifahrersitz lag ein abgegriffenes Exemplar des jüngsten Standardwerks über Mordermittlungen. Er hatte es so häufig gelesen, dass er ganze Kapitel halb auswendig kannte. Aber Theorie und Praxis waren eben etwas ganz anderes.
Im Moment kursierten Gerüchte, es solle mehr Geld bereitgestellt werden, um zusätzliche Stellen für Detectives zu schaffen. Tolba glaubte, dass das seine Chance war.
Auch hier gab es schwere Verbrechen, Mord, Sexualdelikte, Brandstiftung. Die Bevölkerungszahl des County lag unter zweihundertfünfzigtausend, aber es kamen viele Auswärtige hier durch. Das Sawridge County lag in der nordwestlichen Ecke des Bundesstaats Washington und umfasste 2120 Quadratmeilen. Es erstreckte sich vom Okanagan County im Osten bis zur Straße von Georgia im Westen, vom Skagit County im Süden bis zur kanadischen Grenze im Norden. Außerdem fanden sich hier einige der abgelegensten Regionen Amerikas.
Tolba trank einen weiteren Schluck Kaffee, und dann begann sein Funkgerät zu knistern.
„Wo bist du, Len?“
„Auf der 539, etwas nördlich von Laurel.“
„Ich habe hier einen Bericht über ein herrenloses Fahrzeug. Ein blauer Toyota, Kennzeichen aus dem Bundesstaat Washington. Kümmerst du dich darum?“
Der Einsatzleiter gab das Kennzeichen durch, und Tolba tippte es in seinen Computer.
„Ein Trucker aus Bellingham sagte, er habe das Auto gestern Abend und heute Morgen gesehen, etwa sieben Meilen nördlich von Laurel.“
„Wahrscheinlich eine Panne infolge des Sturms. Ich müsste da gleich vorbeikommen. Halt, ich sehe den blauen Toyota schon.“
Das Auto stand am Straßenrand, an einer einsamen Stelle der Straße, die sich durch dichte Wälder schlängelte. Zedern, Hemlocktannen, Douglasfichten. Er schaltete das Blaulicht ein, als er sich dem Wagen näherte.
Alles hübsch der Reihe nach.
Er forderte über seinen Computer Informationen über den Wagenhalter an. Die Antwort kam postwendend. Keine Haftbefehle, nichts Außergewöhnliches. Der Wagen war zugelassen auf eine Karen Katherine Harding, wohnhaft in Seattle. Vierundzwanzig Jahre alt. Weiß, braune Haare, blaue Augen. Eins fünfundsechzig groß, Gewicht knapp fünfzig Kilogramm.
Der Computer piepte, und auf dem Bildschirm erschien das Foto von Karens Führerschein. Hübsch, dachte Tolba, bevor er nach seinem Klemmbrett griff und ausstieg.
In einem Baumwipfel stieg eine riesige Krähe auf, die dann so dicht über ihm her flog, dass er das Schlagen der Flügel hörte. Dann ein lautes Krähen, bevor der Vogel über dem Wald verschwand.
Er wandte sich dem Toyota zu. Dann zeig mal, was du draufhast als Detective.
Ihm fiel der Aufkleber mit dem Ichthys-Symbol für Jesus auf. Daneben ein weiterer Aufkleber, die Parkerlaubnis für Studenten eines College in Seattle. Der Wagen wirkte gepflegt und schien in einem guten Zustand zu sein. Kein Platten, kein auslaufendes Benzin oder Öl. Auf der Rückbank lagen eine Reisetasche und ein Regenschirm.
Tolba betrachtete den Schirm genauer. Er war ziemlich demoliert, es musste bei dem Sturm passiert sein. Dann war er auf die Rückbank geworfen worden.
Er blickte auf das Armaturenbrett und sah, dass der Schlüssel im Zündschloss steckte. Seltsam.
Die Tür war nicht abgeschlossen.
Er ging am Straßenrand auf und ab, dreißig bis vierzig Meter in beide Richtungen.
Ihm fiel nichts auf.
Er ging zu seinem Wagen zurück und griff nach dem Funkgerät.
Etwas mehr als hundert Meilen weiter südlich hörte Trudy Moore Geräusche aus dem Apartment über ihrem.
Klingt so, als wäre Karen zurück, dachte sie, während sie auf die Uhr blickte. Sie machte sich fertig für ihre Morgenschicht in einem Coffeeshop, der nur ein paar Straßenecken entfernt war. Am Nachmittag hatte sie dann eine Vorlesung und zwei Seminare.
Nachdem sie das Geschirr vom Frühstück gespült und Ordnung gemacht hatte, ließ sie eine Gießkanne mit Wasser volllaufen und goss ihre Blumen. Dabei musste sie daran denken, was für ein Glück sie hatte, in diesem großartigen Haus in Capitol Hill wohnen zu dürfen.
Erbaut worden war es um 1910, und ihr Apartment im ersten Stock hatte Parkettboden und Erkerfenster, durch die man einen Blick auf die Innenstadt, die „Space Needle“ und die Olympic Mountains im Westen hatte. Über eine Freundin hatte sie es geschafft, hier zur Untermiete wohnen zu können.
Über ihr wurde laut eine Tür zugeknallt.
Merkwürdig.
Trudys Apartment hatte den gleichen Grundriss wie das von Karen Harding einen Stock über ihrem. Sie wohnten beide seit knapp einem Jahr hier und hatten sich an den Lebensrhythmus des jeweils anderen gewöhnt. Karen war so leise wie eine Kirchenmaus, Trudys Spitzname für sie, weil sie jeden Sonntagmorgen zur Kirche ging.
Karen hätte nie eine Tür zugeknallt.
Trudy nahm sich ihre Mitschrift der letzten Vorlesung vor, bis sie schwere Schritte aus ihrer Lektüre rissen. Schwerere Schritte als die von Karen. Sie hörte, wie Türen geöffnet und geschlossen wurden, als würde jemand die gesamte Wohnung inspizieren.
Was war da los? Nach Karen klang das nicht.
Trudy erinnerte sich, dass sie am letzten Abend gehört hatte, wie Karen ihre Wohnung verließ. Durch das Fenster hatte sie gesehen, wie Karen bei strömendem Regen zu ihrem Auto rannte und losfuhr. Später hatte mindestens sechsmal ihr Telefon geklingelt. Und auch heute Morgen wieder, ohne dass jemand drangegangen wäre.
Was soll’s?, dachte sie. Es geht dich nichts an.
Sie schaute auf die Uhr, um zu sehen, wie viel Zeit ihr noch blieb, bevor sie ihre Bücher zusammenpacken und mit dem Fahrrad zu dem Coffeeshop fahren musste.
In dem Apartment über ihr begann Karens Telefon erneut zu klingeln.
Aber diesmal wurde abgenommen, und sie hörte undeutlich jemanden reden. Wieder Schritte. Eine Tür wurde geöffnet und zugeknallt. Dann ächzten die Holzstufen im Treppenhaus, als jemand ins Erdgeschoss eilte.
Trudy hörte die Schritte vor ihrer Tür. Es musste eine schwere Person sein.
Karen ist das definitiv nicht.
Trudy war sich völlig sicher, denn als sie aus dem Fenster blickte, stand Karens Wagen immer noch nicht am gewohnten Platz.
Während des gesamten Vormittags nagte an Marlene Clark immer wieder das vage Gefühl, dass etwas nicht stimmte.
Sein Ursprung war ihr unklar.
Es hatte nichts zu tun mit ihrem Job als Krankenschwester im Vancouver General Hospital. Gerade war einer sechzigjährigen Frau der vergrößerte Blinddarm herausgenommen worden, und die Operation war gut gelaufen. Marlene hatte das unbehagliche Gefühl verdrängt und sich darauf konzentriert, dem Chirurgen im richtigen Moment die richtigen Instrumente anzureichen.
Aber nach der Operation kam das nagende Gefühl der Beunruhigung zurück. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte, denn sie war sich sicher, dass es nichts mit ihrer Arbeit, ihren Kindern oder ihrem Mann zu tun hatte. Es war einfach nur das unbestimmte Gefühl, dass etwas nicht stimmte.
Sie blickte auf die Uhr und rief zu Hause an, um ihre Babysitterin Wanda zu fragen, ob mit Timothy und Rachel alles in Ordnung war.
„Keinerlei Probleme, Marlene. Willst du mit den Kids reden?“
Nachdem sie kurz mit ihren beiden Kindern geplaudert hatte, war sie beruhigt, und sie ging los, um nach der eben operierten Patientin zu sehen. Danach ging sie in den Pausenraum und aß verspätet zu Mittag, wobei sie den Plan für die am nächsten Tag anstehenden Operationen studierte.
Zuerst sollte einer Zwanzigjährigen die Gallenblase herausgenommen werden. Angesichts des Alters der Patientin würde sie sorgfältig nach Piercings Ausschau halten, die vor der Operation entfernt werden mussten.
Anita steckte den Kopf durch die Tür. „Da bist du ja. Ein Anruf für dich, Mar.“
„Kannst du ihn hierher durchstellen?“
„Kein Problem.“
Während sie wartete, dachte sie an Bill, der etwas davon gesagt hatte, sie zum Essen einladen zu wollen. Es klingelte und sie nahm ab.
„Hallo, hier ist Marlene.“
„Hallo, Marlene, ich bin’s, Luke. Luke Terrell, Karens Freund.“
Luke? Warum rief der hier an? War er in Vancouver?
„Hallo, Luke.“
„Entschuldige bitte, dass ich dich störe, aber ...“
Sein Tonfall klang merkwürdig.
„Worum geht’s?“
„Ist Karen zu Besuch bei dir? Oder hat sie angerufen?“
„Nein. Warum? Was ist los?“
„Bitte mach dir nicht vorschnell Sorgen, aber bei mir hat gerade die Polizei angerufen ...“
„Polizei?“
„Sie hat Karens Auto am Straßenrand der 539 gefunden, in der Nähe von Laurel ...“
Viel mehr wusste Luke nicht zu erzählen, aber sie hatte ein verdammt mulmiges Gefühl. Karen hatte ihr Apartment mit einer Reisetasche verlassen ... Ohne ihr Mobiltelefon ... Der Sturm, das herrenloses Auto am Straßenrand ... Ihre Schwester war verschwunden ...
Luke jagte ihr Angst ein und wühlte ihre rätselhafte Angst wieder auf, doch dann war auf einmal alles klar.
Die letzte Nacht.
Sie hatte einen Albtraum gehabt, in dem Karen vorgekommen war.
Ihre Schwester hatte geschrien und geschrien.
„Sie ist gestorben?“
Jason Wade, ein Neuling als Polizeireporter des Seattle Mirror, presste das Telefon fester ans Ohr, um besser hören zu können. In der Redaktion quakten Frequenzscanner, mit denen der Polizeifunk abgehört wurde. Es durfte kein Missverständnis geben. Er musste genau verstehen, was ihm der Cop zu sagen hatte.
„Vor einer Stunde, im Krankenhaus“, sagte der Lieutenant.
Die Deadline für die erste Morgenausgabe stand unmittelbar bevor, und Jason rief den Redaktionsleiter der Nachtschicht an.
„Beale.“
„Neuigkeiten über den Verkehrsunfall auf der Interstate 405 in Belleville. Die Polizei hat gerade bestätigt, dass die Frau soeben ihren Verletzungen erlegen ist.“
„Höchstens hundert.“
Einhundert Wörter. Gladys Chambers hätte mehr verdient, dachte Jason. Die Frau war zweiundsiebzig und auf der Heimfahrt von einem Seniorenclub gewesen, wo sie Orgel gespielt hatte. Ihr war ein Reifen geplatzt, und der Unfall hatte sie das Leben gekostet.
„Ich kann Ihnen ein paar Hintergrundinformationen geben. Vor ihrer Pensionierung hat sie bei Boeing gearbeitet.“
„Wir haben keinen Platz. Höchstens hundert.“
Hundert Wörter, da wurde man nicht mal als Verfasser genannt. Irgendwie wurde Gladys Chambers im Tod betrogen. Jason wollte mehr schreiben über ihr Leben, hielt sich aber an die Anweisungen.
Die Redaktionsleiter der Nachtschicht waren die Herren seiner Welt.
Verbitterte alte Säcke, die ihn mit ihren Befehlen malträtierten. Schalte nie den Polizeifunk ab. Lass nie zu, dass dir die Seattle Times oder der Post-Intelligencer zuvorkommen. Schreib kein Wort mehr, als ich es sage. Nimm Kritik an deinen Artikeln nie persönlich, jeder baut mal Mist.
Pariere und lerne.
Das Schicksal eines jungen, unerfahrenen Polizeireporters in einer Großstadt.
Jason tippte exakt hundert Wörter und schickte den Text an den Redaktionstisch.
Auf seinem Schreibtisch lagen in einem wüsten Durcheinander Zeitungsausschnitte des Mirror, der L.A. Times und von USA Today, vollgekritzelte Notizblöcke, Fast-Food-Verpackungen und alte Pressemitteilungen.
Jason dachte über die Zukunft nach. Er war auf dem besten Weg zu scheitern.
Seit einem Monat hatte er den Job in dem mörderischen halbjährigen Praktikanten-Programm und nicht mehr vorzuweisen als acht Artikel, über denen er als Verfasser genannt worden war. Er musste dafür sorgen, dass sein Name häufiger im Druck erschien. Dies war seine Chance, einen Job bei der besten Zeitung in der Region Pacific Northwest zu bekommen.
Er durfte nicht versagen.
Bei den Nachrichtenagenturen und im Polizeifunk gab es nichts Neues, und so durchsuchte er regionale Websites nach Pressemitteilungen. Dann ging er eine abgegriffene Liste durch. Sie enthielt Telefonnummern von Polizisten, Feuerwehrleuten, Notärzten und Hafenarbeiten aus der ganzen Region SeaTac. Ein Anruf folgte dem anderen, doch es kam nichts dabei heraus.
Von dem Tod der Organistin abgesehen, war in dieser Nacht praktisch nichts los.
Er ging zu Vic Beale, dem Redaktionsleiter der Nachtschicht, der vor einem großen Flachbildschirm auf seiner Tastatur tippte.
„Ich werde weiter herumtelefonieren. Mal sehen, ob ich doch noch was finde.“
Beale, ein hagerer Mann mit strähnigen grauen Haaren, schaute ihn über den Rand seiner Brille hinweg an. Sein Blick blieb erst an Jasons silbernem Ohrring hängen, dann an seinem stoppeligen Kann. Er hatte sich schon tagelang nicht mehr rasiert.
„Wir haben keinen Platz. Wenn du was anzubieten hast, sollte es verdammt gut sein.“
„Ich habe nichts zu verlieren.“
Zurück an seinem Computer, rief Jason die allgemeine Informantenliste des Mirror auf, eine riesige Datei mit Namen, Telefonnummern und sonstigen Kontaktinformationen. Er beschloss mit den Grenzübergängen im Norden zu beginnen und sich dann abwärts nach Süden vorzuarbeiten.
Zuerst rief er beim Übergang Blaine an.
„Hallo, hier ist Jason Wade vom Seattle Mirror. Irgendwas passiert bei Ihnen heute Nacht? Verhaftungen, Beschlagnahmen durch den Zoll? Irgendwelche außergewöhnliche Vorfälle?“
Der diensthabende Beamte wies ihn barsch ab. „Ihr Schreiberlinge wisst genau, dass ihr euch an die Pressestelle wenden sollt.“
„Ja, aber die Typen da wissen nicht so viel wie Sie. Und ich wette, dass sie nicht halb so viel arbeiten.“
„Da haben Sie recht.“
„Also, nur unter uns beiden, ist heute Nacht etwas vorgefallen, dem nachzugehen sich lohnen würde?“
„Nein. Versuchen Sie’s mit Sumas, ich hab gehört, da soll was passiert sein.“
„Danke.“
In Sumas meldete sich eine gut gelaunte Frau. „Hier ist nichts los, Süßer. Versuch’s mal mit Lynden.“
Dort klingelte es ohne Ende, niemand ging dran. Als Jason gerade auflegen wollte, meldete sich doch noch jemand, ein Mann namens Jenkins.
„Nein, hier ist nichts passiert“, antwortete er auf Jasons Frage. „Tut mir leid, aber da hat Ihnen jemand einen schlechten Tipp gegeben.“
„Ich stochere nur ein bisschen im Nebel herum.“
„Diese Geschichte hat nichts mit uns zu tun.“
Diese Geschichte? Was für eine?
„Pardon?“
„Ihr Mann ist der Sheriff des Sawridge County.“
„Warum, was ist geschehen?“
„Wahrscheinlich gar nichts, aber sie haben ein herrenloses Auto gefunden auf der 539, etwa zehn Meilen von hier.“
„Herrenloses Auto? Was ist damit?“
„Vermutlich versuchen sie, die Eigentümerin zu finden, eine junge Frau aus Seattle.“
„Warum? Ist bei ihrem Verschwinden Fremdeinwirkung im Spiel?“
„Keine Ahnung. Rufen Sie beim Sheriff’s Department an, aber von mir haben Sie die Information nicht.“
Jason musste mehrfach anrufen, bis er schließlich Detective Hank Stralla an der Strippe hatte. Der Cop hörte ihm geduldig zu und bestätigte dann, dass sie sich Sorgen machten wegen der Eigentümerin des herrenlosen Autos auf der 539.
„Wir versuchen, sie zu finden, um uns zu vergewissern, dass ihr nichts zugestoßen ist.“
„Warum machen Sie sich Sorgen? Kommt es nicht alle Tage vor, dass ein Auto irgendwo stehen gelassen wird?“
„Wir geben erst morgen eine Pressemitteilung heraus.“
„Das legt nahe, dass Sie etwas haben. Was wird da morgen drinstehen? Vermuten Sie ein Verbrechen?“
Stralla antwortete nicht sofort. „Bis wir die Eigentümerin gefunden haben, kann ich nichts sagen.“
Etwas an Strallas Tonfall machte ihn noch neugieriger, und er hakte nach.
„Könnten Sie nicht jetzt schon ein paar Einzelheiten herausrücken? Ein Artikel im Mirror könnte hilfreich sein. Sie wissen, dass unsere Zeitung im gesamten Bundesstaat vertrieben wird, bis hin zur kanadischen Grenze.“
Stralla dachte über den Vorschlag nach.
„Hören Sie, ich muss erst ein paar Telefonate führen. Danach rufe ich Sie auf jeden Fall zurück. Wie lautet Ihre Nummer?“
Jason gab sie ihm und sagte, bis zur nächsten Deadline bleibe ihm noch etwa eine Stunde.
„Ich melde mich, sobald ich kann“, versicherte Stralla.
Jason legte auf.
Vielleicht war er hier doch noch auf eine Story gestoßen. Sollte er es Beale sagen? Aber was? Bisher hatte er nichts in der Hand. Eine goldene Regel des Journalismus besagte, dass man eine Story nie vorzeitig hochjubeln durfte. Gut möglich, dass sich aus dieser Geschichte rar nicht ergab.
Es war besser, noch zu warten.
Jason schaute auf die Uhr.
Detective Stralla hatte sich noch nicht gemeldet. Die Zeit verstrich. Er trank seinen kalt gewordenen Kaffee aus, warf den Styroporbecher in den Papierkorb, stand auf und ging unruhig in der verwaisten Redaktion auf und ab.
Heute hatte er als einziger Reporter für den Großraum Seattle die Nachtschicht.
Am Redaktionstisch arbeitete ein kleines Team an der ersten Morgenausgabe. Jason lauschte dem Polizeifunk und wartete darauf, dass das Telefon klingelte. Irgendwann stand er auf und ging zum Schwarzen Brett. Memos, Hinweise an die Belegschaft. Kleinanzeigen für Gebrauchtwagen, Hawaii-Urlaube, Eintrittskarten für ein Spiel der Mariners.
Und dann sah er sein Bild unter der Überschrift BEGEGNEN SIE UNSEREN PRAKTIKANTEN.
Daneben hingen fünf andere Fotos, wie unter seinem mit einer Kurzbiografie. Sechs junge Journalisten hatten Glück gehabt und einen der begehrten Praktikumsplätze ergattert. Neena Swain, die stellvertretende Herausgeberin, hatte am ersten Tag sofort Klartext geredet.
„Sie haben bei uns die einmalige Chance, Ihr Können unter Beweis zu stellen. Verhätschelt wird hier niemand, Sie sind nicht mehr auf der Uni. Dies ist das echte Leben. Wir zahlen Ihnen das Gehalten eines fest angestellten Reporters und erwarten etwas dafür.“
Sie rückte ihre Brille zurecht und blickte die Nachwuchsjournalisten nacheinander an.
„Bei jedem Artikel haben Sie es mit der Konkurrenz der Seattle Times und des Post-Intelligencer zu tun. Also sorgen Sie dafür, dass Sie als Erster am Ball sind. Wir verlangen Spitzenleistungen, und zwar immer.“ Sie haute mit der Faust auf den Tisch. „Der Seattle Mirror hat neun Pulitzerpreise gewonnen, und wir dulden keine Mittelmäßigkeit. Am Ende der sechs Monate wird einer von Ihnen — nur einer — fest eingestellt.“
Die anderen konnten sehen, wo sie blieben.
So lief das. Fressen oder gefressen werden. Die anderen fünf Praktikanten hatten beeindruckende Lebensläufe vorzuweisen und Erfahrungen bei der New York Times, der Chicago Tribune, Newsweek, der Los Angeles Times und dem Wall Street Journal gesammelt.
Alle außer Jason Wade.
Er hatte in der Nähe des Flughafens als Gabelstaplerfahrer bei der Pacific-Peaks-Brauerei gearbeitet, um sein Studium am Community College zu finanzieren. Außerdem hatte er noch einen Teilzeitjob als Reporter bei einer mittlerweile eingestellten Wochenzeitung aus Seattle gehabt und darüber hinaus als Freelancer Artikel angeboten, einen davon beim Mirror.
Dieser Text über die Arbeit von Streifenpolizisten war Ron Nestor aufgefallen, dem Redaktionsleiter des Lokalteils, der Jason die letzte offene Praktikantenstelle zuschanzte, nachdem ein anderer Kandidat in letzter Minute abgesagt hatte.
Er hatte es nur mit knapper Not geschafft.
Wahrscheinlich hatte er deshalb den am wenigsten begehrten Job bei jeder Zeitung bekommen, die Nachtschicht als Polizeireporter.
„Sieht so aus, als hättest du den Kürzeren gezogen“, sagte Ben Randolf, ein großer, gut aussehender Typ, der an der Columbia University studiert und schon bei der Chicago Tribune gearbeitet hatte. Seine Eltern waren Investmentbanker in New York.
„Mit deiner Vorgeschichte ist das ein guter Job für dich, Jason.“ Astrid Grant hatte bei Newsweek Erfahrungen gesammelt. Ihr Vater war ein hohes Tier bei einem großen Filmstudio in Los Angeles, und sie hatte ihr Studium an der University of California in L.A. abgeschlossen. „Ich persönlich verabscheue die Polizei, aber du kommst von unten und hast den richtigen persönlichen Hintergrund für die Stelle. Findest du nicht?“
Später hatte Ron Nestor ihn aufzumuntern versucht.
„Der Job des Polizeireporters ist wichtig, Jason. Du solltest ihn nicht unterbewerten. Artikel über Kriminalität schaffen es immer wieder auf die Titelseite. Indem wir mit den Frequenzscannern den Polizeifunk abhören, sind wir immer dicht dran an Storys, welche die Einwohner von Seattle bewegen.“
Es war ein hartes Geschäft, und Jason wollte reüssieren, doch nach einem Monat sah es schlecht aus. Alle anderen Praktikanten hatten schon Artikel auf der Titelseite und längere Texte im Innenteil untergebracht. Er hatte es bisher nur auf acht kurze Artikel gebracht, die man vergessen konnte.
Er wandte sich von dem Schwarzen Brett ab.
Das Gebäude des Mirror stand in unmittelbarer Nähe der Innenstadt. Die Redaktion residierte im sechsten Stock, und die westliche Wand war ganz aus Glas. Er ging dorthin und blickte hinaus. Nach dem Sturm vom letzten Abend war diese Nacht klar. Er sah die Fahrlichter der Schiffe in der Elliott Bay und versuchte, nicht an den Job in der Brauerei zu denken. Und auch nicht daran, was ihn erwartete, wenn es ihm nicht gelang, den Vollzeitjob beim Mirror zu bekommen.
Er war fünfundzwanzig und hatte schon zu viel verloren. Zum Beispiel Valerie, die ihn einfach so verlassen hatte. Nein, sei ehrlich. Du hast es dir selbst zuzuschreiben, dass sie gegangen ist. Wie lange war das jetzt her? Monate, doch es tat immer noch weh. Komm darüber hinweg, du Loser. Du hast es vermasselt mit ihr.
Sein Telefon klingelte, und er ging zu seinem Schreibtisch zurück. Es war Stralla.
„Ich bin bereit, Sie über ein paar Einzelheiten zu informieren.“
Jason schaute auf die Uhr. Noch vierzig Minuten bis zur Deadline für die zweite Morgenausgabe, die umfangreichste.
„Geben Sie das an alle Welt weiter?“
„Nein, heute nur an Sie. Außer Ihnen hat niemand angerufen.“
Jasons Herzschlag beschleunigte sich, als er sich vorbeugte und mitschrieb, was Stralla ihm über den Fall von Karen Katherine Harding zu sagen hatte. Nach dem Ende des Telefonats ging er zu Beale und erzählte ihm, was er erfahren hatte.
„Also sind es Exklusivinformationen? Bis du sicher?“
„Ja. Ich habe sie von dem für den Fall zuständigen Detective.“
„Hast du auch ein Foto?“
„Ja.“
„Dann mach dich an die Arbeit. Ich rede mit Mack, damit er die Story auf der ersten Seite bringt. Du hast fünfunddreißig Minuten, dann muss der Text auf meinem Schreibtisch liegen. Also los, gib Gas.“
Jason begann konzentriert zu tippen. Dreißig Minuten später war er fertig und las den Artikel Korrektur.
Von JASON WADE
Seattle Mirror
Die Polizei fragt sich nach dem Verbleib einer Studentin aus Seattle, deren herrenloses Auto in der Nähe der kanadischen Grenze entdeckt wurde.
Das Sawridge County Sheriff’s Department hat keine Hinweise darauf, was Karen Katherine Harding zugestoßen sein könnte.
Ein Deputy fand ihren blauen Toyota Corolla am rechten Straßenrand der State Road 539, etwa zehn Meilen entfernt vom Grenzübergang Lynden. Die Schlüssel steckten im Zündschloss, der Wagen war nicht abgeschlossen. Die Ermittler entdeckten keine Anzeichen für Gewaltanwendung oder einen Kampf. Im Wageninneren fand sich unter anderem eine Reisetasche.
„Uns erscheint die Geschichte als merkwürdig“, sagte Detective Hank Stralla letzte Nacht dem Mirror. „Wir versuchen Miss Harding zu finden. Bis dahin können wir nicht ausschließen, dass bei ihrem Verschwinden Fremdeinwirkung im Spiel war.“
Es wird vermutet, dass Harding, nachdem sie am Dienstagabend ihre Wohnung in Capitol Hill verlassen hatte, bei dem Sturm eine Panne hatte. Laut Detective Stralla lebt eine Schwester von Harding in Vancouver, British Columbia. Er vermutet, Harding könnte auf dem Weg nach Kanada gewesen sein, um sie zu besuchen. Die Vermisste habe niemandem erzählt, wohin sie wollte. Stralla weigerte sich, weitere Details über ihr Verschwinden preiszugeben.
Harding ist vierundzwanzig Jahre alt, hat braune Haare und blaue Augen. Sie ist eins fünfundsechzig groß und wiegt knapp fünfzig Kilogramm. Jeder, der im Besitz von Informationen über Hardings Verbleib ist, sollte sich beim Sawridge County Sheriff’s Department melden.
Jason schickte den Text ab, und als er sich gerade die verspannten Nackenmuskeln massierte, rief Beale an.
„Wir bringen deinen Artikel auf der unteren Hälfte der Titelseite. Gute Arbeit.“
„Danke.“
Jason stand auf und ging zu einem großen Fenster am hinteren Ende der Redaktion, durch das man zwei Stockwerke hinab einen Blick auf die großen deutschen Druckmaschinen hatte. Selbst hier oben roch es noch nach Druckerschwärze. Die Arbeiter machten alles für den Druck der nächsten Ausgabe bereit. Dann ertönte ein lautes Signal, und das Gebäude erzitterte, als die Druckmaschinen zu arbeiten begannen.
Später schaute Jason noch einmal bei Beale vorbei, der auf einem großen Fernseher Letterman schaute.
„Was glauben Sie?“, fragte Jason. „Ist sie tot?“
„Vielleicht taucht sie wieder auf. So was kommt vor. Aber wer weiß. Eine hübsche Studentin, ganz allein nachts unterwegs bei dem Sturm.“ Beale schaltete den Fernseher aus und griff nach seiner Jacke und Tasche, weil er Feierabend machen wollte. „Weißt du was? Meiner Meinung nach werden sich unsere Leser auf die Story stürzen. Die Leute lieben Rätsel.“
Als Jason Wade zum Parkplatz ging, hörte er vom Wasser her Möwen und das lange, traurige Tuten eines Schleppers. Aus Richtung der Bucht wehte eine leichte Brise, die den Geruch von Salzwasser mit sich trug.
Er blieb stehen und sah die Laster mit dem Logo des Mirror, beladen mit dicken Bündeln der neuen Ausgabe. Die Ausgabe, bei der die erste Story von ihm auf der Titelseite erschien. Sie wurde ausgeliefert in eine Region, in der dreieinhalb Millionen Menschen lebten. In Viertel und Straßen, wo der Seattle Mirror, die Seattle Times und der Post-Intelligencer um Leser kämpften.
Du bist der Konkurrenz zuvorgekommen.
Zum x-ten Mal starrte er auf seinen Namen über dem Artikel, dann auf das Foto von Karen Harding.
Jason hoffte, dass sie noch lebte. Er wollte nicht, dass ihr etwas Schlimmes zugestoßen war, nur damit er eine gute Story bekam. Aber er brauchte eine. Was auch mit ihr passiert war, diese Story gehörte ihm, und er würde daran festhalten.
Er rollte die Zeitung zusammen und schloss sein Auto auf, einen roten Ford Falcon, Baujahr 1969, der jahrelang in der Garage der Witwe eines Feuerwehrmanns auf Mercer Island gestanden hatte. Sie hatte online eine Anzeige geschaltet, um den Wagen zu verkaufen. Jason hatte als Erster geantwortet. Sechshundert Dollar. Das Auto mochte nicht gut aussehen, hatte ihn aber noch nie im Stich gelassen.
Er fuhr Richtung Broad Street, und vor ihm ragte die „Space Needle“ auf, das futuristische Wahrzeichen der Stadt. Weiter südlich glitzerte die Skyline mit den Wolkenkratzern Bank of America Tower, Two Union Square und Washington Mutual. Nicht weit davon entfernt war der Pike Place Market.
Jason bestaunte Seattle. Jet City. The Emerald City.
Um diese nächtliche Zeit kam es ihm immer so vor, als gehöre die Stadt ihm.
Als er in nördlicher Richtung die Aurora Avenue hinabfuhr, dachte er daran, seinen Erfolg vielleicht ein bisschen feiern zu sollen. Er hatte es verdient. Er hatte Durst.
Nein. Vergiss es und fahr nach Hause.
Im Osten sah er den Gas Works Park, als er sich der Aurora Avenue Bridge näherte, die den Lake Union überspannte. An sonnigen Tagen kam er hierher, um die Segelboote und die großen Schiffe zu betrachten, die durch den Lake Washington Ship Canal Richtung Meer fuhren. Aber die Brücke hatte auch ihre dunkle Seite. Seit ihrem Bau hatten sich viele Menschen von ihr in den Tod gestürzt.
Am östlichen Rand von Fremont hielt er bei Johnny Pearls und bestellte ein chinesisches Gericht zum Mitnehmen. Eine halbe Stunde später war er zu Hause.
Sein Viertel lag am Rand von Fremont und Wallington, eine friedliche Wohngegend für Familien. Sein Haus stammte aus dem neunzehnten Jahrhundert und war in Apartments aufgeteilt worden.
Er war während seines Studiums hierher gezogen, um etwas Abstand zu bringen zwischen ihn, seinen Vater und die Brauerei. Die Stufen der hölzernen Treppe knarrten, als er sie zu seiner Wohnung im zweiten Stock hochstieg.
Er schloss die Tür auf und machte nur eine Lampe an. Das entspannte ihn. Der Boden im Wohnzimmer war aus Eichenholzdielen und darauf standen zwei dunkelgrüne Ledersofas, die ihm ein Zahnarzt geschenkt hatte, der seine Praxis aufgab. Sie standen sich gegenüber vor dem Kamin, der von Bücherregalen eingerahmt war. Dazwischen stand ein niedriger Tisch mit Zeitungen darauf.
An der gegenüberliegenden Wand hing ein riesiges Poster seines Idols Jimi Hendrix, der in Seattle geboren worden war. Darunter stand ein großes Aquarium. Er hob vorsichtig einen Stuhl hoch, um die Nachbarn nicht aufzuwecken, stellte ihn vor das beleuchtete Aquarium und betrachte die kleinen tropischen Fische, die zwischen der Koralle, dem gesunkenen Schiff und einem Taucher hin und her schwammen. Neben dem Taucher warnte ein kleines Schild: FISCHE GREIFEN AUF BEFEHL AN.
Er aß sein Reisgericht mit gebratenem Hühnchen- und Rindfleisch. Vor ihm auf dem Boden lag die Zeitung mit seinem Artikel auf der ersten Seite.
Er konnte den Blick kaum davon abwenden. Ein Traum war wahr geworden.
Solange er zurückdenken konnte, hatte er Schriftsteller werden wollen. Er las Crane, Steinbeck und Hemingway und glaubte, der Beruf eines Journalisten sei die beste Vorbereitung auf den des Schriftstellers, der es mit der größten Story überhaupt zu tun hatte, dem Leben selbst.
Das Lesen von Büchern und Zeitungen lenkte ihn ab von seinen Problemen, etwa von dem, dass seine Mutter ihn und seinen alten Herrn verlassen hatte.
Sie hatte mit seinem Vater in der Brauerei gearbeitet. In ihrem Abschiedsbrief hatte sie geschrieben, sie glaube zu ertrinken und verlasse die Familie, um zu überleben. Jason war am Boden zerstört.
„Das Leben geht weiter, Jay“, hatte sein Vater eines Abends gesagt, als sie zusammen vor dem Fernseher saßen. „Sie kommt zurück, du wirst schon sehen.“
Aber sie war nicht zurückgekommen.
Weil er nicht verstand, wie seine Mutter einfach so verschwinden konnte, wurden seine Noten schlechter. Der Traum vom College löste sich auf, und sein Vater besorgte ihm den Job in der Brauerei.
Sie standen vor Sonnenaufgang auf, stiegen in den Pick-up seines Vaters und fuhren zu dem Komplex mit den schmierigen Backsteingebäuden und qualmenden Schornsteinen. Überall roch es penetrant nach Hopfen. Für Jason war die Brauerei das Tor zur Hölle, und er verstand, warum der Kaffee in der Thermosflasche seines Vaters immer eine ordentliche Portion Bourbon enthielt.
Jason hatte immer ein Buch dabei.
Er schwor sich, dieser Hölle zu entkommen. Wenn er nicht gerade mit seinem Gabelstapler Paletten mit Bierkisten auf die Laster hieven musste, las er klassische Literatur. Er sparte, besuchte die Abendschule, bekam wieder bessere Noten, schaffte es aufs Community College und arbeitete nur noch am Wochenende in der Brauerei. Auch er trank ein bisschen. Okay, mehr als nur ein bisschen. Aber bei welchem Schriftsteller wäre das jemals anders gewesen? Er zog in das Apartment, schrieb für die Studentenzeitung, verkaufte als Freelancer Artikel und hatte eine Teilzeitstelle bei einer Wochenzeitung aus Seattle.
Dann war er Valerie begegnet.
Sie war Grafikerin und kam aus Olympia. Ihre Eltern waren vor Jahren bei einem Verkehrsunfall gestorben, und sie hatte keine anderen Angehörigen. Sie waren beide Einzelgänger, verliebten sich ineinander und redeten darüber, zusammen zu leben, dann zu heiraten und Kinder zu bekommen, das volle Programm. Es war eine gute, intensive Beziehung.
Bis er sie zerstört hatte.
Nachdem er eines Abends Überstunden gemacht hatte, hielt er vor einer Bar und vergaß, dass er sie schon eine Woche zuvor versetzt hatte. Sie hatten ins Kino gehen wollen, doch er hatte in einer Bar getrunken. Diesmal war es der Tag, an dem seine Mutter die Familie verlassen hatte, und er hatte darüber ganz vergessen, dass Valeries Grafikstudio Preise bekommen hatte und ein Essen gab. Er kam viel zu spät, schlecht angezogen und betrunken.
„Wie konntest du das tun?“, hatte sie ihn mir brechender Stimme im Taxi gefragt. „Hast du überhaupt keine Selbstachtung?“
Nie würde er ihren traurigen Blick vergessen.
„Wir müssen uns für eine Weile trennen“, sagte sie ein paar Tage später. „Ich nehme eine auf kurze Zeit befristete Stelle in Los Angeles an. Ich fahre nächste Woche. Allein.“
Und das war’s.
Jason blickte auf das mit Perlen besetzte Armband an seinem Handgelenk und hätte fast gelächelt. Ein Geschenk von Valerie. Am Pike Place Market hatte sie zu Beginn ihrer Beziehung zwei davon gekauft. „Eins für dich, eins für mich.“ Sie hatte gelacht und ihm das Armband angelegt. „Wir sind wie mit Handschellen aneinander gefesselt, für immer.“
Er hatte versucht, sie in Los Angeles zu erreichen, doch es war vergeblich. Nicht einmal hatte sie angerufen oder ihm eine E-Mail geschickt. Er wusste nicht, wo sie in L.A. arbeitete. Er konnte nur hoffen, dass sie zurückkommen und ihm die Chance geben würde, einiges richtigzustellen. Aber es dämmerte ihm, dass er genauso war wie sein Vater. Er hatte die Frau seines Lebens verloren und wie sein alter Herr den Schmerz im Alkohol ertränkt.
Das war jetzt mehrere Monate her.
Nach einiger Zeit hatte er versucht, sein Leben wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er hörte auf zu trinken und klammerte sich an den einzigen Traum, der ihm geblieben war. Er wollte Journalist werden. Und jetzt bist du auf dem besten Weg, es zu schaffen, dachte er, als er auf die Titelseite des Seattle Mirror schaute.
Nach dem Essen ging er zum Kühlschrank, öffnete die Tür und schaute auf die Flasche Bier, die da stand, damit er sich beweisen konnte, dass er keinen Alkohol mehr brauchte und nicht wie sein Vater war. Aber heute hatte er es verdient zu feiern. Nur heute.
Nein.
Er griff nach einer Flasche Mineralwasser, machte den Kühlschrank wieder zu, hob das druckfrische Exemplar des Mirror vom Boden auf und ging damit ins Schlafzimmer. Nachdem er sich die Zähne geputzt hatte, fiel er todmüde ins Bett. Er nahm das Armband ab, hängte es über einen Bettpfosten und warf noch einen Blick auf seinen Artikel.
Karen Harding schaute ihn an.
Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden.
Es kam ihm so vor, als würde sie ihn anflehen, ihr zu helfen.
Karen Harding lag mit geschlossenen Augen da.
Sie träumte, träumte noch immer, doch allmählich kam sie wieder zu Bewusstsein. Nach und nach erwachten ihre Sinne. Ihr Kopf schmerzte von dem Lärm. Ein Dröhnen, ohrenbetäubend laut, wie eine Kreissäge.
Ihr Körper schaukelte sanft hin und her. Doch noch immer träumte sie von ihrer Schwester. Marlene. Sie sprach mit Marlene. Sie musste ihre Schwester sehen. Und auch Luke. Sie war nicht mehr böse auf ihn. Sie war verzweifelt angewiesen auf die beiden. Warum hörten sie sie nicht? Warum kamen sie nicht zu ihr?
In ihren Ohren pochte es. War das ihr Herzschlag?
Der Traum löste sich auf. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Auf einmal hatte sie ein ganz flaues Gefühl im Magen. Irgendetwas war passiert.
Du träumst nicht mehr.
Halt die Augen geschlossen.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie erschauderte. Ihr Instinkt riet ihr, Bewusstlosigkeit vorzutäuschen. Sie musste versuchen, ihre Lage einzuschätzen. Es war schwierig zu atmen, und ihr Kiefer tat weh. Ihre Zähne bissen auf etwas, das man ihr in den Mund gezwängt hatte. Stoff.
Sie war geknebelt.
Sie hatte einen schrecklichen bitteren Geschmack im Mund. Atmen war schwer, schlucken tat weh. Ihr Kinn war feucht vom Sabbern.
Lass die Lider geschlossen.
Sie spürte den Druck auf ihre Handgelenke, und ihr wurde bewusst, dass sie gefesselt war. Sie versuchte, die Füße auseinander zu bewegen, doch auch die waren zusammengebunden. Sie lag auf dem Rücken.
Was geschah mit ihr?
Lieber Gott, hilf mir.
Sie versucht sich zu erinnern, was passiert war. Denk nach. Weil sie wütend auf Luke gewesen war, hatte sie Seattle verlassen, um Marlene in Vancouver zu besuchen. Sie hatte in dem Sturm eine Panne gehabt, und jemand hatte angehalten, um ihr zu helfen.
Der Reverend.
Ein so gütiger Mann.
Sie war ihm in sein Wohnmobil gefolgt, in dem es seltsam roch. Zeitungen, Karten und Papiere lagen herum. Sie hatte ein schlechtes Gefühl, wollte zu ihrem Wagen zurückkehren. Andererseits wollte sie nicht als undankbar erscheinen. Der Mann war so hilfsbereit.
Und dann war alles in Finsternis versunken.
Sie erinnerte sich, das Gefühl empfunden zu haben, getragen zu werden ...
Ihr Herz hämmerte wie wild.
Guter Gott.
Jetzt war sie hellwach. Sie befand sich in einem Fahrzeug. Sie öffnete die Lider, alles war dunkel. Sie wollte den Kopf heben, stieß aber gegen etwas Hartes. Mühsam bewegte sie die Hände nach rechts und ertastete eine Wand.
Sie bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut.
Von Angst gepackt, wollte sie schreien, doch der Knebel ließ es nicht zu. Sie konnte sich nicht bewegen, konnte nicht mit den Fäusten gegen die Wände ihres Grabes hämmern. Ihr kamen die Tränen.
Sie zwang sich, die Ruhe zu bewahren.
Was war hier los?
Sie durfte sich nicht aus der Fassung bringen lassen und musste nachdenken. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon hier war. War es real oder nur ein Traum, ein schlimmer Albtraum?
Nein.
Sie drehte sich nach links und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Und dann sah sie ihn, einen schmalen Lichtstreifen, einen Spalt, durch den sie blicken konnte.
Ein Teppichboden.
Sie hielt den Atem an.
Sie war in einem Wohnmobil und lag, wie sie nun erkannte, unten in einem Etagenbett. Links von ihr war ein Brett. Und der Spalt, durch den sie sehen konnte. Und da waren die Papiere, Karten und Akten, die ihr aufgefallen waren. Chaos, es sah aus, als hätte es einen erbitterten Kampf gegeben.
Sie sah den Kopf des Fahrers. Seinen Hals. Den weißen Kragen.
Der Reverend.
Als der Wagen durch ein Schlagloch fuhr, wurde sie durchgeschüttelt, und sie glaubte, in einer Schublade Besteck klappern zu hören.
Über ihr hörte sie ein dumpfes Geräusch, und in dem schwachen Licht erkannte sie, dass der Arm einer Frau über den Rand des oberen Bettes hing.
Am nächsten Tag, kurz nach Sonnenaufgang, schwebte ein Helikopter der Polizei über Karen Hardings Toyota, der noch immer am Straßenrand der State Road 539 stand.
Der Abwind des Rotors ließ das in einem Rechteck um das Auto gespannte Flatterband erzittern und hob die Seiten auf Hank Strallas Klemmbrett an. Der Detective vom Sawridge County Sheriff’s Department nippte an seinem Kaffee und sah sich um.
Karen Harding war spurlos verschwunden, doch es war noch zu früh, um sagen zu können, was geschehen war.
Der Helikopter drehte und flog in südlicher Richtung über dem Straßenrand davon. Der Lärm wurde leiser, und Stralla konnte besser nachdenken. War hier ein Verbrechen passiert, oder war die junge Frau einfach getrampt, nachdem ihr Wagen liegen geblieben war? Eines war sicher — die Umstände waren merkwürdig.