Sieh niemals weg - Rick Mofina - E-Book

Sieh niemals weg E-Book

Rick Mofina

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Beschreibung

»Alles, was ein großartiger Thriller braucht!« Lee Child

Als ein verheerender Tornado über einen Flohmarkt in Dallas fegt, will Jenna Cooper nur eins: ihr Baby in Sicherheit bringen. Eine freundliche Frau kommt ihr dabei zu Hilfe. Nur kurz ist Jenna abgelenkt, da sind die Fremde und Kind verschwunden. Wurden die beiden vom Sturm mitgerissen?

Die Reporterin Kate Page glaubt nicht an ein solches Unglück und schwört herauszufinden, was mit dem Baby geschah. Während das FBI in der vom Unwetter verwüsteten Stadt die Ermittlungen aufnimmt, verfolgt Kate auf eigene Faust die Spur der Fremden. Eine Spur, die sie das Leben kosten kann ...

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Inhalt

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Über dieses Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Motto

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Epilog

Danksagungen

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Vergiss mich nicht

Über dieses Buch

»Alles, was ein großartiger Thriller braucht!« Lee Child

Als ein verheerender Tornado über einen Flohmarkt in Dallas fegt, will Jenna Cooper nur eins: ihr Baby in Sicherheit bringen. Eine freundliche Frau kommt ihr dabei zu Hilfe. Nur kurz ist Jenna abgelenkt, da sind die Fremde und Kind verschwunden. Wurden die beiden vom Sturm mitgerissen?

Die Reporterin Kate Page glaubt nicht an ein solches Unglück und schwört herauszufinden, was mit dem Baby geschah. Während das FBI in der vom Unwetter verwüsteten Stadt die Ermittlungen aufnimmt, verfolgt Kate auf eigene Faust die Spur der Fremden. Eine Spur, die sie das Leben kosten kann …

Über den Autor

Rick Mofina war viele Jahre lang als Reporter tätig, ehe er sich hauptberuflich dem Schreiben von Spannungsromanen zuwandte und mehrere Preise für seine Thriller gewann. Seine Bücher erscheinen in 17 Ländern. Weitere Infos unter: www.rickmofina.com

RICK MOFINA

Sieh niemals weg

Thriller

Ins Deutsche übertragen von Alfons Winkelmann

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2014 by Highway Nine Inc.

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Whirlwind«

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition is published by arrangement with Harlequin Books S. A.

This is a work of fiction. Names, characters, places and incidents are either the product of the author’s imagination or are used fictitiously, and any resemblance to actual persons, living or dead, business establishments, events or locales is entirely coincidental.

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Stephan Bellem

Covergestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung mehrerer Motive von © shutterstock/Eky Studio und © Shutterstock/F.Schmidt

eBook-Erstellung: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-9411-5

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

In Gedenken an John Gradon

Wasser ergossen die Wolken, Donner entsandte das Gewölk, auch deine Pfeile fuhren dahin. Laut rollte dein Donner wie ein Rad, Blitze erhellten den Erdkreis. Die Erde bebte und schwankte.

Psalm 77, 18–19

1

Wildhorse Heights, Texas

Der Tod war nahe, aber davon wusste Jenna Cooper nichts.

Niemand wusste etwas davon.

Wie Tausende anderer Besucher des Old Southern Glory Flea Market im südöstlichen Teil des Dallas-Fort Worth Metroplex war sie auf der Jagd nach Schnäppchen.

Jenna kam gern hierher. Mit seinen über neunhundert Verkaufsständen in Hallen und draußen auf dem Gelände, das sich über mehr als 16 Hektar entlang der Hawn- und LBJ-Autobahnen erstreckte, war der Old Southern einer der größten Flohmärkte in ganz Texas.

Was immer Jenna auch gerade benötigte, hier fand sie ein passendes Schnäppchen.

»Kann ich Ihnen hierfür ein Angebot machen?«

Jenna tippte auf die Babysachen, die sie ausgesucht und auf den Tisch der Verkäuferin gelegt hatte. Ein Fleecepulli, ein Schlafanzug mit Füßen, ein Strampler, T-Shirts, Lätzchen, Spitzenoberteile und ein paar süße Hosenröcke.

Die Verkäuferin trug eine Baseballkappe der Cowboys, eine rosafarben getönte Sonnenbrille und ein T-Shirt mit der Aufschrift: Verna’s Clothes for Kids. Jenna schätzte sie auf Ende sechzig.

»Was bieten Sie, meine Liebe?«

Jenna überlegte, dass die Kleidungsstücke neu etwa fünfzig bis sechzig Dollar kosten würden. Aber die Preise auf den Schildchen der Sachen hier ergaben zusammengerechnet etwa fünfunddreißig Dollar. Sie war nicht gut im Handeln, jedoch blieb ihr im Augenblick keine andere Wahl. Sie, Blake und die Kinder mussten jeden Cent dreimal umdrehen.

»Wie wäre es mit fünfundzwanzig für alles?«

Die Frau betrachtete prüfend Jennas Tochter, die sich am Kinderwagen festhielt, in dem ihr kleiner Bruder gerade aus einem Nickerchen erwachte.

»Wie alt sind Ihre Kleinen?«, fragte sie und wägte dabei Jennas Angebot ab.

»Cassie ist vier, fast fünf, und ihr kleiner Bruder Caleb ist fünf Monate alt.«

»Ich wette, mit denen haben Sie gut zu tun.«

»Allerdings.«

»Na schön, meine Liebe, für Sie und Ihre Engel, fünfundzwanzig.«

»Danke«, sagte Jenna und reichte der Frau das Geld.

Während die Verkäuferin unter dem Tisch nach einer Tüte suchte, ertönte aus dem alten Transistorradio, das an ihrem Holzschild hing, auf dem ebenfalls ›Verna’s Clothes for Kids‹ stand, krächzend die neueste Wettervorhersage.

Aber nur wenig Menschen achteten auf die Tornadowarnung.

Am Horizont zuckten ununterbrochen Blitze über den Himmel. Es war heiß und schwül. Jenna drückte sich den Handrücken gegen ihre feuchte Stirn und schaute dann nach Caleb. Er würde hungrig sein, und sie müsste einen Platz zum Stillen suchen. Sie ließ Cassie einen Schluck Wasser aus der Flasche trinken und wollte den Einkauf beenden, um noch vor dem Regen wieder zuhause zu sein.

»Ihr kleines Mädchen ist wunderschön.«

Jenna blickte zum Ende des Tischs hinüber, wo eine weitere Frau kurz beim Wühlen innegehalten hatte, um ihr das Kompliment zu machen. Sie war etwa in Jennas Alter, also Mitte zwanzig, hatte eine kurze rote Stachelfrisur und ein nettes Lächeln.

»Danke sehr«, sagte Jenna.

»Und …« Die Fremde nickte zum Kinderwagen hin »… Ihr Kleiner ist fünf Monate alt, wie ich gehört habe?«

»Ja.« Jenna strahlte.

»Darf ich?« Die Frau trat näher und hockte sich neben Calebs Sportwagen. »Oh, er ist noch ganz klein! Was für ein Süßer!«

»Hier ist Ihre Tasche«, sagte die Verkäuferin zu Jenna.

»Vielen Dank.« Sie streckte die Hand danach aus.

»Nach wem gerät er?« Die Fremde richtete sich wieder auf.

»Nach seinem Vater. Er hat die Augen seines Vaters.«

Zum ersten Mal fiel Jenna ein Mann am anderen Ende des Tischs auf. Er war etwa so alt wie die Frau, und die Art und Weise, wie er zuschaute, ließ darauf schließen, dass er mit ihr zusammen hier war.

»Sie sind gesegnet! Es sind wunderschöne Kinder«, sagte die Frau.

»Vielen Dank.« Jenna schob die Babysachen in das Netz des Kinderwagens.

Die Frau hatte Recht, dachte Jenna, während sie sich durch das Gewimmel des Flohmarkts schob. Sie war gesegnet, aber das vergangene Jahr war auch schwer für die Familie gewesen. Eine Woche nachdem sie erfahren hatte, dass sie schwanger war, hatte Blake, der beim Bodenpersonal des DFW International Airport beschäftigt gewesen war, die Kündigung erhalten. Wochen und Monate waren verstrichen, und Blake hatte jede Arbeit angenommen, die er finden konnte. Er war nach Hause gekommen, die Hände schwielig von einem langen Tag auf einer Baustelle, oder er war vor dem Fernseher eingeschlafen, nachdem er Dutzende von Lieferungen als Kurier ausgefahren hatte. Aber das waren alles gering bezahlte Aushilfsjobs gewesen, nichts Festes.

Blake fand einfach keine gute feste Stelle.

Jenna war Bankkassiererin in Teilzeit und arbeitete so viele Stunden, wie sie konnte, bevor der Geburtstermin kam. Sie verbrauchten die geringen Ersparnisse, die sie hatten, und bis vor sechs Wochen hatte sie befürchtet, ihr Haus zu verlieren. Da wurde Blake von American Journey Movers angeheuert. Es war eine Vollzeitstelle und umfasste zum Glück auch eine Krankenversicherung, was bei der Geburt Calebs sehr nützlich gewesen war.

Kehrseite war, dass Blake stets umherreiste. In der einen Woche fing er in Florida an, dann folgte Minnesota. Gott sei Dank kam Jennas Schwester Holly nach Calebs Geburt für zwei Wochen von Atlanta herüber, weil Blake, einen Tag nachdem Jenna das Baby vom Krankenhaus heimgebracht hatte, bereits wieder unterwegs nach Kentucky und Virginia war.

Jetzt war er in Alaska.

Jenna vermisste ihn.

»Du stehst das durch, Jen«, würde Blake zu ihr sagen. »Du gibst nicht so leicht auf. Wir stehen das durch. Sieh dir doch an, was wir bisher schon überstanden haben.«

Er hatte Recht, und darum war sie dankbar. Für sie wurde alles immer besser. Sie hatte einen gesunden Jungen und eine wunderschöne Tochter. Blake hatte eine gute Stelle gefunden. Es stimmte, sie war gesegnet. Sie hatten ihr Haus behalten und zahlten ihre Schulden zurück.

Um finanziell besser über die Runden zu kommen, versuchte Jenna, einen Job in der Datenverarbeitung zu finden, den sie von zuhause ausüben könnte. Außerdem achtete sie sehr aufs Geld und überschritt ihr Budget niemals. Deswegen hatte sie Cassie und Caleb in den zehn Jahre alten Ford Focus verfrachtet, ihr Familienauto, und war hierher gekommen.

Aber sie hatte heute früh gezögert, bevor sie aufgebrochen war. Die Wettervorhersage hatte eine leichte Unwetterwarnung für diesen Nachmittag gemeldet. Als sie so in ihrer Zufahrt stand, hatte der Himmel jedoch gut ausgesehen, und sie plante, am frühen Nachmittag zurück zu sein. Abgesehen davon brauchte sie jetzt einige Sachen, und das war die beste Zeit für sie zu fahren.

Bisher hatten sie Glück gehabt, dachte Jenna, während sie den Kinderwagen durch die belebten Marktstraßen lenkte. Neben den Babysachen hatte sie für einen Pappenstiel Handtücher und Bettlaken erstanden. Zwar hatten sie Webfehler, aber die waren nicht einmal zu sehen. Jetzt brauchte sie eine Schreibtischlampe. Sie hatte eine für zwei Dollar entdeckt. Die gleiche kostete im Geschäft fünfzehn Dollar.

Caleb begann zu quengeln. Jenna musste ihn stillen, wollte jedoch zuerst die Lampe erstehen. Sie versuchte gerade, sich an die Reihe zu erinnern, wo die Lampe war, da spürte sie den ersten Regentropfen.

Dann wirbelte ein Windstoß einige Papierfetzen und Staub auf. Händler warfen Planen und Plastikdecken über die Auslagen, andere entrollten Tuchwände. Jenna entfaltete den Regenschutz an Calebs Kinderwagen, zog Cassie die Regenjacke über und öffnete ihren Regenschirm gerade in dem Moment, als es richtig losging.

Eilig suchten sie Schutz vor dem Regen unter dem Zeltdach eines großen Picknickbereichs. Sie quetschten sich neben andere Käufer, und da sausten auch schon Hagelkörner zu Boden, groß wie Golfbälle, und prasselten mit solcher Heftigkeit aufs Dach, dass Jenna befürchtete, es könne einreißen.

»Mama, ich hab Angst!« Cassie legte die Arme um sie.

Jenna zog sie enger an sich und packte den Kinderwagen fester. Sie biss sich auf die Lippe, während sie den Sturm und die Blitze beobachtete und bereute, nicht eher gegangen zu sein.

»Mama, ich möchte nach Hause!«

»Ich auch, Schatz. Es wird bald aufhören. Dann besorgen wir einen Keks für dich, ich stille Caleb, und wir fahren nach Hause, okay?«

Jenna spürte Cassies kleines Gesicht an ihrem Leib, als sie nickte. Der Hagel ließ wieder nach.

»Was ist, Schatz? Ich verstehe dich nicht.«

Jennas Kopf fuhr zu einem Mann in der Menge herum, der sein Handy ans Ohr gedrückt hielt. »Schatz!«

Andere unter dem Dach wandten sich einer Frau zu, die »Wirklich?« in ihr Handy sagte.

»Schatz.« Der Mann starrte hilflos den Himmel an, dann sein Handy. »Ich verstehe dich nicht.« Daraufhin sagte er, an die übrige Gruppe gewandt: »Meine Frau ist östlich von Lancaster. Sie hat gesagt, da hat ein Tornado zugeschlagen, daraufhin ist die Verbindung abgebrochen.« Er streifte sich seine Kapuze über. »Ich muss sie suchen. Ihr geht besser alle in Deckung.«

Wie aufs Stichwort heulten die Sirenen auf. Jenna kannte dieses Geräusch. In ganz Dallas gab es etwa hundert Warnsirenen, die einmal pro Monat getestet wurden.

Nur dass es dieses Mal kein Test war.

Der Dauerton war ein Warnsignal, sofort Schutz zu suchen.

»Mama!«

Jenna war wie erstarrt.

Eine massive keilförmige schwarze Wolkenwand türmte sich plötzlich im Westen auf, wo der Himmel eine außerweltliche Grünschattierung angenommen hatte. Jennas Mund war auf einmal wie ausgedörrt, und sie kämpfte darum, die Woge der Panik in Schach zu halten, die in ihren Eingeweiden aufstieg.

»Mein Gott!«, sagte ein alter Mann, rückte seine Brille zurecht und zeigte zum Himmel. »Das ist ein Schulbus, der da oben rumwirbelt, da oben in der Luft!«

Cassie fest an sich drückend, sprach Jenna flüsternd ein Gebet.

2

Wildhorse Heights, Texas

Jennas Herz raste.

Ungläubig starrte sie durch den Regen hinüber zu der sich auftürmenden schwarzen Wolkenwand, die auf den Markt zuwirbelte.

Händler krabbelten umher, um ihre Waren zu schützen. Leute eilten in sämtliche Richtungen. Das Jaulen der Sirene verstärkte die Panik bei den Menschen, die eng zusammengedrängt unter dem Zeltdach standen. Einige rannten zum nächsten Gebäude davon. Hupen dröhnten.

Hinter den Tischreihen sah Jenna die Autos, die hoffnungslos ineinander verkeilt waren und sich vergebens bemühten wegzukommen. Sie kalkulierte ihre Chancen, ihre Kinder auf dem fernen Parkplatz in den Wagen zu bringen, bevor der Sturm hereinbrach.

Wir werden es nicht rechtzeitig schaffen.

»Mama!« Cassie legte sich die Hände über die Ohren. »Ich möchte hier weg, Mama! Ich hab Angst!«

Caleb schrie.

Wir müssen einen sicheren Zufluchtsort finden, sofort!

Die besten Aussichten bot das Gebäude ganz in der Nähe. Sie würde Caleb in seinem Kinderwagen lassen, so kam sie rascher mit den Kindern voran. Eilig zog sie die Riemen fest, die ihn hielten, dann setzte sie Cassie auf ihre Hüfte und trug sie auf einem Arm, während sie Calebs Wagen mit der freien Hand lenkte.

Als sie in den Regen hinausrannten, flog hinter ihnen das Zeltdach davon.

»Halt dich an mir fest, Cassie!«

Jenna stemmte sich gegen den Wind, fest entschlossen, die etwa vierzig Meter bis zum Gebäude zu schaffen. Sie sah die Menschentraube, die sich um den Eingang drängte, und betete darum, dass sie ihre Kinder ins Innere bekäme.

Es gibt kein Zurück mehr. Wir können sonst nirgendwo hin.

Hinter ihnen schossen Gegenstände vom Markt durch die Luft: Ein Gartenstuhl, ein Bücherregal und ein Klapptisch prallten vom Boden, von den Bäumen und den Gebäuden ab.

Über das Heulen der Sirene und den ganzen Lärm hinweg hörte Jenna einen lauten Schrei. Sie drehte sich um und sah einen älteren Mann, der von einem umherfliegenden Stück Holz zu Boden geschlagen wurde. Menschen, die ihm helfen wollten, standen plötzlich einem großen Abfallbehälter im Weg, der mit Höchstgeschwindigkeit umherpolterte und dann in sie hineinschlug wie in Bowlingkegel.

Jenna war hin- und hergerissen, ob sie helfen sollte, als Calebs Wagen zu zittern begann und sich etwas vom Boden hob. Windböen wollten ihn ihr entreißen. Sie kämpfte mit aller Macht darum, Caleb und Cassie festzuhalten, und mühte sich weiter auf das Gebäude zu, wobei sie bei jedem Schritt des Wegs ein Gebet sprach, bis sie den Eingang erreicht hatte. Dort bahnte sie sich zusammen mit den anderen ihren Weg ins Innere.

»Beeilung, bitte!«, bettelte Jenna über den sausenden Wind hinweg.

Das große, quadratische Gebäude, das Saddle Up Center, war vor Jahrzehnten errichtet worden und sah aus wie eine Scheune mit Betonfußboden, Holzrahmen, Metallwänden und einem Metalldach. Es beherbergte Reihen von Händlertischen mit Kleidung, Mobiliar und Sammlerobjekten. Hunderte verängstigte Käufer drängten sich hinein.

Unheil lag in der Luft. Die Alarmsirene wurde begleitet vom wütenden, stakkatohaften Bombardement des Schutts, der gegen die Wände und das Dach schlug. Das Gebäude bebte wie unter Artilleriebeschuss.

Menschen mit funktionierenden Handys schrien Nachrichten heraus.

»Viele Verletzte in Lancaster!«

»Transformatoren explodieren, überall Brände!«

»Ein Tornado ist unterwegs hierher!«

Da ertönte ein lauter Knall: Eine Straßenlaterne hatte das Dach durchbohrt, und ihr langer Mast schwang gefährlich über der Menge hin und her.

Die Beleuchtung im Center begann zu flackern, während Schutt gegen das Gebäude hämmerte und der Wind heulte.

»Das hält nicht mehr lange durch!«, rief ein Mann.

Caleb schrie, und Jenna starrte nach oben. Die hölzernen Balken, die das Dach trugen, bogen sich durch und splitterten. Sie reckte den Hals auf der Suche nach einem Ort, irgendeinem Ort, wohin sie gehen könnten.

»Mama!« Cassie schluchzte.

Sie wog schwer in ihrem Arm, und Jenna musste sie absetzen.

»Mama, bitte, nicht! Ich hab Angst. Halt mich fest!«

»Liebes, wir müssen irgendwo einen Ort finden, wo wir sicher sind.«

Jennas Herz schlug wie wild, und sie sah sich nach einem Treppenhaus ins Untergeschoss, in einen Keller, eine Tribüne, nach irgendetwas um, wo ihre Kinder geschützt wären.

Nichts.

Oh Gott, bitte, hilf uns!

Das Dach verrutschte. Ein stählerner Mülleimer durchbohrte es wie eine Kugel und knallte in den Stand eines Händlers. Dann flog ein kleines Auto mit entsetzt dreinschauenden Insassen über eine der Wände herein und schlug mitten im Meer hilfloser Käufer auf. Menschen kreischten, während andere sich bemühten, den Wagen von den Opfern herunterzuheben.

Die Wände des Gebäudes wellten sich unter dem pulverisierenden Wind. Jenna atmete immer schneller, und das Rauschen des Bluts in ihren Ohren verstärkte sich ebenso wie das Schlagen ihres Herzens. Sie ging in die Knie und zog Cassie und Calebs Wagen näher zu sich.

Wir werden nicht hier sterben.

Jemand packte sie an der Schulter.

»Hier entlang!«, rief ihr eine Frau ins Ohr. »Kommen Sie mit! Hier entlang ist es sicherer.«

Jenna erkannte die Rothaarige wieder, der sie vorhin begegnet war und die so viel Getue um Caleb gemacht hatte.

»Sieht so aus, als würden Sie Hilfe brauchen! Hier, ich nehme ihn – wir müssen da rüber!«

Jenna blieb keine Zeit zum Überlegen. Sie ließ zu, dass die Frau Calebs Kinderwagen an sich riss. Jenna trug Cassie, während der Begleiter der Frau ihnen den Weg freiräumte. Obwohl ihr Puls galoppierte, genoss Jenna dennoch ein gewisses Gefühl von Erleichterung.

Inmitten des Lärms und des Durcheinanders entdeckten sie eine Ecke, wo vier riesige Pflanzgefäße aus Beton an einer Wand lehnten. Lass uns hier in Sicherheit sein. Bitte, lass uns hier in Sicherheit sein! Die Pflanzgefäße waren etwa einen Meter hoch und einen Quadratmeter groß, und zwischen ihnen gab es einen schmalen Spalt, den niemand nutzte.

Das Getöse wurde so intensiv, dass Jenna Vibrationen im Brustkorb verspürte. Da begann die Erde zu beben.

Die Frau schob Calebs Wagen in den Spalt zwischen die Pflanzgefäße. Jenna, die Cassie festhielt, folgte. Sie hockten sich hin, und Holzteile regneten von der Decke herab.

Adrenalin pumpte durch ihre Adern, Jenna zitterte am ganzen Leib, und sie flehte den Himmel an, ihre Familie zu beschützen.

Der Mann war gerade dabei, eine Plane über sie zu ziehen, da sah Jenna, wie der Wind die Tür aus dem Gebäude sog und einige Menschen mitriss.

Das Dach verdrehte sich, als Träger nachgaben, und mächtige Dachbalken fielen auf die hilflosen Menschen herab. Große Brocken der Gebäudemauern wurden weggerissen, dann war das Dach fort, und Menschen verschwanden oben in den schwarzen Wolkenwirbeln. Metall, Holz und Schutt prasselten auf Jenna und die anderen herab.

Tränen strömten ihr übers Gesicht.

Bitte hilf uns! Beschütze meine Kinder! Lass uns nicht sterben!

In dem entsetzlichen Chaos drückte Jenna Cassie eng an sich und hielt den Wagen fest gepackt, als der Wind ihn ihr entreißen wollte. Die freundliche Fremde packte gleichfalls mit an.

Bitte, lieber Gott, hilf mir!

Das Letzte, woran sich Jenna erinnerte, war, dass sie ihre Kinder fest umklammert hielt und betete, bevor etwas sie am Kopf traf. Sie sah Sterne, und dann wurde alles schwarz.

Jenna Cooper schwebte.

Sie trieb unter einer strahlend hellen Sonne dahin, während diamantene Wogen warmen Wassers an einen weißen Sandstrand schwappten. Blake war neben ihr, und Caleb machte zwischen ihnen ein Schläfchen, beschattet von ihren Handtüchern.

Völlig zufrieden sah Jenna den Möwen zu, wie sie über ihnen kreisten, kreischten, sie lockten …

… das Gekreisch … es zieht sie vom Strand hoch … trägt sie immer höher, immer weiter weg von Blake und den Kindern … nein … sie kann sie nicht verlassen … das Gekreisch … nein … sie ist noch nicht bereit, sie zurückzulassen … sie steigt rascher empor … das kann nicht sein …

Jennas Lider flatterten, sie öffnete die Augen und kniff sie gleich wieder zusammen, um sich an das Licht zu gewöhnen, das durch das Gitter oben herabfiel. Wo bin ich? Eine Unzahl wirrer Gedanken durchfuhr sie, und zugleich loderte eine Vielzahl von Empfindungen in ihr auf. Sie lag auf dem Rücken, wackelte mit den Zehen, den Fingern, holte tief Luft. Nicht unangenehm. Wo ist Blake, wo sind die Kinder? Sie glaubte, den Lärm von Funkgeräten in der Ferne zu vernehmen. Sie hustete, rieb sich Sand aus den Augen, verspürte unmittelbar neben sich eine vertraute Wärme. Jemand kuschelte sich an sie.

»Mama!«

»Cassie!« Jenna sah sie im schwachen Licht prüfend an. Cassie hatte Schnitte auf ihren kleinen Wangen. »Bist du verletzt, Liebes? Alles in Ordnung?«

»Ich glaube, schon. Du hast ein großes Aua an deinem Kopf.«

Jenna spürte eine Schwellung an ihrer Stirn, knapp unter dem Haaransatz, und berührte sie mit den Fingern. Sie war empfindlich, klebrig, und auf ihren Fingerspitzen glitzerte Blut.

»Ich habe vermutlich einen kleinen Schlag abbekommen, Liebling.«

Cassie verzog den Mund, und sie weinte. »Ich hab Angst. Was ist passiert, Mama?«

Bilder blitzten vor Jenna auf: Der Markt, der Sturm, die Schutzsuche, eine rothaarige Frau, die ihr mit Caleb half, hinter den Pflanzgefäßen in Deckung zu gehen, alles wurde dunkel, das Gebäude brach auseinander, Jennas Hand, die den Kinderwagen umklammerte.

Jetzt war ihre Hand leer.

Sie suchte den Bereich um sich herum ab.

Wo ist mein Baby?

»Caleb?«, sagte sie. Dann entriss sich ihren Lippen der Aufschrei: »Caleb!«

3

Dallas, Texas

In den Stunden vor dem Sturm saß Kate Page, Praktikantin im Büro der Nachrichtenagentur Newslead in Dallas, an ihrem Schreibtisch und telefonierte.

Sie hatte den Anruf von Cody Warren entgegengenommen, einem sechzehnjährigen Highschool-Schüler, dessen Vater vergangene Woche bei einem Unfall mit Fahrerflucht südlich von Dallas ums Leben gekommen war.

»Können Sie uns helfen, den Mörder meines Vaters zu finden? Bitte, Ma’am?«

Kate fasste den Apparat anders, während der Junge fortfuhr: »Wir müssen das an die Öffentlichkeit bringen. Die Polizei sagt, sie hat keine Hinweise, nichts.« Cody brach die Stimme. »Wir haben ihn gestern beerdigt.«

Über die Jahre hinweg hatte Kate eine emotionale Distanz gegenüber den Menschen beibehalten, denen sie begegnet war, wenn sie über Tragödien berichtet hatte. Aber sie hatte ihr Mitgefühl nie verloren, und sie empfand Mitleid mit diesem Teenager, der jedes Nachrichtenbüro in Dallas-Fort Worth angerufen hatte.

Er verdiente Freundlichkeit und die Wahrheit.

»Cody, es tut mir so leid, was geschehen ist. Mein Beileid.«

»Danke, Ma’am.«

»Ich kann dir nicht garantieren, dass wir eine Story bringen, aber ich gebe dir mein Wort, dass ich mich darum kümmere, okay?«

Es folgte eine Pause.

»Versprochen?«

»Versprochen.«

»Okay. Vielen Dank, Ma’am.«

Nachdem sie aufgelegt hatte, nahm sich Kate einen Augenblick zum Luftholen. Sie wurde kurz abgelenkt, als das Geplapper des Polizeifunk-Scanners im Büro von der anderen Flurseite her ertönte, wo Tommy Koop, ein Redaktionsassistent, den Strom kodierter Funksprüche überwachte.

Kate glaubte, das Wort Tornados gehört zu haben, bevor Tommy die Lautstärke herunterdrehte, und sie vermutete, dass es bloß das Bruchstück eines Funkgesprächs der Feuerwehr über die Wettervorhersage war.

Zehn Menschen arbeiteten in dem Büro, und die meisten Reporter waren unterwegs. Kate blieb noch eine Stunde vor ihrem nächsten Termin, ausreichend Zeit, um das Versprechen einzuhalten, das sie ihrem Anrufer gegeben hatte. Sie führte eine rasche Onlinerecherche hinsichtlich der neuesten Meldungen zu dem Unfall mit Fahrerflucht durch. Es gab nicht viele Hinweise. Sie rief nacheinander die Highway-Patrol, die Sheriffs für die Bezirke Ellis und Dallas und die zuständige Polizei von Cedar Hill an. Sie wurde mit einem Sergeant verbunden, der sie auf den neuesten Stand brachte.

»Codys Vater hatte angehalten, um einer Autofahrerin, einer älteren Frau, auf der Bear Creek Road beim Radwechsel zu helfen, als ihn ein Wagen angefahren hat«, sagte der Sergeant.

»Er war ein guter Samariter.« Kate machte sich Notizen.

»Stimmt genau.«

Die Untersuchungsbeamten verfügten über ein verschwommenes Foto des verdächtigen Wagens aus der Überwachungskamera eines Geschäfts, bauten jedoch darauf, dass Menschen sich meldeten, die etwas gesehen hatten. Der Sergeant teilte Kate Einzelheiten über Zeit und Ort mit.

Nach dem Anruf sah sie zu den Fenstern des Büros hinaus, das im 21. Stockwerk lag. Der Himmel hatte sich verfinstert. Es regnete, und Blitze zuckten.

Sie rief Cody zurück, um etwas mehr über seinen Vater zu erfahren. Dann verfasste sie, den Stift zwischen die Zähne geklemmt, einen knappen Artikel von dreihundert Wörtern über die Suche nach dem Wagen, der etwas mit dem Tod eines guten Samariters zu tun hatte. Sie schickte ihn in die Nachrichtenredaktion und hoffte, dass Chuck Laneer, der Bürochef, sie sich vor Dorothea Pick, der Chefredakteurin, ansehen würde.

Die Ticker wurden wieder lauter, es kamen Nachrichten über einen Sturm, und Tommy wanderte zwischen seinem Schreibtisch und dem Fenster hin und her, woraufhin er einige Telefonate tätigte. Früher am Tag war eine schwere Unwetterwarnung mit der geringen Möglichkeit eines Tornados herausgekommen. Kate überlegte einen Moment lang, wie groß die Chance war, dass ein Tornado zuschlug, und dachte, wie gut es war, dass sie ihre Regenjacke mitgebracht hatte. Ihr blieb immer noch etwas Zeit vor ihrem Termin, den Dorothea ihr zugeteilt hatte: eine Ratssitzung über Parkanlagen.

Kate warf einen Blick zu Tommy hinüber. Er war ein gutherziger, hart arbeitender Junge, dachte sie, bevor sich ihre Gedanken wieder darauf richteten, ob Chuck und Dorothea einen Reporter abgestellt hatten, der den möglichen Sturm beobachten sollte.

Sie blickte prüfend auf ihren vorübergehend »besetzten« Schreibtisch, auf die Kinkerlitzchen, die der vorherige Inhaber zurückgelassen hatte, auf den ausgefransten Stadtplan, der an der halbhohen Stoffwand neben einem Kalender und der verblassten Liste von Kontaktnummern angeheftet war.

Vor ihrem Rauswurf hatte sie bei einer Zeitung in Ohio gearbeitet. Jetzt hatte sie eine Woche eines dreiwöchigen internen Praktikums beim Büro von Newslead in Dallas hinter sich. Praktikum? Das ist ein einziger Job-Wettkampf!

Kate war eine von drei Reportern im Programm. Die anderen beiden Kandidaten waren erfahren, und es waren Texaner.

Roy Webster, 42, hatte vor seiner Entlassung zwanzig Jahre beim Houston Chronicle gearbeitet. Sein Team war Finalist beim Pulitzer-Preis für seine Berichte zum Hurrikan Ike gewesen.

Bei ihrer ersten Begegnung hatte Webster die Hand ausgestreckt. »Sie sind nicht aus Texas, nicht wahr, Kate?«

»Nein, bin ich nicht.«

»Sie haben einen teuflischen Weg gewählt, um den Staat kennenzulernen.« Er zwinkerte ihr zu.

Die andere Kandidatin, Mandy Lee, 33, war eine Reporterin für allgemeine Themen und ehemalige Schönheitskönigin, die zwei staatliche Preise für ihre Berichte gewonnen hatte, bevor sie eine Abfindung von der Dallas Morning News angenommen hatte.

Bei ihrer Begegnung mit Kate verhielt sie sich kühl.

»Canton, Ohio? Ich habe nicht mal gewusst, dass sie in diesem Nest eine Zeitung haben.« Mandy zeigte Kate ihr gewinnendes Lächeln.

Kate wusste, dass sie im Nachteil war. Sie spürte ebenfalls, dass Dorothea Pick nicht damit einverstanden gewesen war, sie auf die Shortlist zu setzen.

»Sie haben Glück, hier zu sein«, hatte Dorothea gesagt. »Es gab so viele starke Kandidaten direkt hier aus Dallas.«

Chuck Laneer allerdings, beeindruckt von Kates Hartnäckigkeit während ihrer Tätigkeit in Ohio, war hart, jedoch fair gewesen.

»Zeigen Sie uns einfach, was Sie draufhaben«, hatte er zu ihr gesagt.

Oh, sie würde mehr als das tun.

Roy und Mandy mochten besser qualifiziert sein, aber Kate war eine Kämpfernatur, die nie aufgab. Am Ende des Praktikums hätte einer von ihnen eine Stelle. Die anderen würden unbeschäftigt nach Hause gehen.

Für Kate war es keine Option zu verlieren. Zurzeit verringerten die meisten Zeitungsredaktionen ihre Belegschaft um die Hälfte. Wenige stellten neue Mitarbeiter ein. Das war die beste Gelegenheit für Kate, eine Vollzeitstelle zu bekommen, vielleicht sogar ihre einzige, und es sah nicht gut aus.

Bisher hatte sie bei ihrer Arbeit wenig Spielraum gehabt, oder sie hatte lediglich anderen Leuten bei deren Storys zugearbeitet. Ihr Name hatte nur unter einem Artikel gestanden, der national Aufsehen erregt hatte. Sie hatte viel investiert, um hier zu sein.

Sie durfte nicht versagen.

Kate begegnete dem Blick ihrer Tochter Grace, die ihr als Bildschirmschoner zulächelte, und eine Woge von Schuldgefühlen überrollte sie.

Habe ich die richtige Entscheidung getroffen?

Ihre sechsjährige Tochter war zuhause in Canton bei Freunden zurückgeblieben. Meine Güte, wie Kate sie vermisste! Sie wollte nicht von ihr getrennt sein, aber sie brauchte eine Vollzeitstelle. Vor sechs Monaten hatte man sie beim Repository entlassen, und dieses Praktikum in Dallas war ihre beste Chance auf einen neuen Anfang.

Bisher jedoch lief es nicht gut. Sie musste stärkere Storys abliefern.

Kates Telefon klingelte. Es war Dorothea.

»Habe Ihren Artikel hier. Kommen Sie mal rüber.«

Als sie zu Dorotheas Schreibtisch kam, klopfte die stellvertretende Chefredakteurin auf einen Stuhl, den sie neben ihren gerollt hatte. Kates Story prangte auf ihrem Monitor.

»Setzen Sie sich«, sagte Dorothea. »Ich möchte, dass Sie sich ansehen, was ich tun werde.«

Dorothea Pick, Zweite in der Hierarchie des Büros, war Ende vierzig. Kates Meinung nach legte sie etwas zu viel Makeup auf und wirkte mit den überlangen Augenbrauen wie ständig überrascht oder verärgert. Sie hatte eine liebenswürdige Stimme, die vor einem südlichen Charme triefte, der ständig an der Grenze zur Herablassung lag, wenn sie sich hinsichtlich ihrer Arbeit an Kate wandte.

»Das ist gut geschrieben, jedoch kein Thema von nationaler Bedeutung.« Dorotheas Telefon klingelte. Sie warf einen Blick auf die Nummer. »Moment, den muss ich annehmen.« In das Telefon sagte sie: »Wo bist du? Okay, was hast du? Ja, ja … aber hat er den Boden berührt?« Nachdem sie eine Antwort abgewartet hatte, warf Dorothea einen Blick zu Chuck Laneers Büro mit den Glaswänden hinüber. Sie sahen ihn am Schreibtisch stehen und telefonieren, die Hemdsärmel aufgekrempelt, die Brille auf die Stirn geschoben und eine Fernbedienung auf seinen Flachbildschirm gerichtet. »Ich geb dich an Chuck weiter.«

Dorothea leitete den Anruf weiter und nahm ihre Arbeit an Kates Artikel wieder auf. Ihre Maus und ihre Tastatur klickten, als sie Zeile um Zeile entfernte.

»Wie Sie wissen, wurde auf regionaler Ebene über diese Tragödie berichtet, also ist das hier bestenfalls eine regionale Kurzmeldung, die die Leser auf den neuesten Stand bringt, und eine regionale Kurzmeldung ist maximal einhundert Worte lang.« Mit chirurgischer Präzision reduzierte sie Kates Story auf fünfundneunzig Worte. »Und wie wir wissen, gibt es bei Kurzmeldungen keine Signatur.«

Kate sah zu, wie Dorothea ihren Namen löschte.

»Da«, sagte Dorothea. »Wie ist das?«

»Ich verstehe nicht, warum das kein Artikel ist«, sagte Kate. »Dieser Mann war freiwilliger Feuerwehrmann, ein Exmarine, der in Afghanistan gedient hat. Er hielt an, um einer Frau zu helfen, die auf dem Weg war, ihren sterbenden Mann im Krankenhaus zu besuchen, und hat dafür mit dem Leben bezahlt. Die für seinen Tod verantwortliche Person ist bisher damit davongekommen.«

Dorothea nickte lächelnd. »Tut mir leid, ist ein Verkehrsunfall. Jetzt sollten Sie zu dem Termin aufbrechen, den ich Ihnen zugeteilt habe.«

»Die Versammlung wegen der Einkaufszentren?«

»Es geht um Dealey Plaza.«

»Aber da nähert sich ein schwerer Sturm, vielleicht mit Tornados. Vielleicht könnte ich darüber berichten? Die Versammlung klingt nicht nach echter Neuigkeit. Darum könnte ich mich später kümmern.«

»Den Sturm haben wir abgedeckt. Wir brauchen jemanden bei der Versammlung wegen des Einkaufszentrums.«

»Aber …« Kate warf dem Assistenten, der die Ticker überwachte, und Chuck Laneer in seinem Büro am Telefon einen Blick zu. »… ich glaube wirklich …«

»Weigern Sie sich, zu einem Termin zu gehen, Kate?«

»Nein, ganz und gar nicht.«

»Haben Sie den Bericht über Dealey Plaza gelesen, den ich Ihnen gegeben habe?«

»Ja. Aber er schlägt bloß vor, neue Bäume zu pflanzen.«

»Sie sind nicht aus Texas, also kann man Ihnen nachsehen, dass Sie nicht verstehen, dass Dealey ein nationales Markenzeichen ist. Alles, was das Plaza betrifft, interessiert Herausgeber im ganzen Land. Sie machen sich besser auf die Socken.«

Kate kehrte an ihren Schreibtisch zurück, um ihre Sachen zu holen.

Sie schluckte ihre Enttäuschung hinunter und streifte ihren Regenmantel über, dabei außerstande, das nagende Gefühl zu unterdrücken, dass Dorothea alles unternahm, um ihre Absichten zu durchkreuzen. In der letzten Woche hatte sie den beiden anderen Praktikanten größere Berichte zugewiesen, die weitere nationale Aufmerksamkeit erregt hatten. Offenbar setzte Dorothea ihre Strategie fort, Kate mit Kinkerlitzchen und Nebensächlichkeiten zu versorgen.

»Alle aufhören mit dem, was sie gerade tun!«, dröhnte Chucks Stimme.

Er stand in der Tür zu seinem Büro und hatte einen Notizblock in der einen und seine Brille in der anderen Hand. In die Linien seines zerfurchten Gesichts waren neununddreißig harte Jahre bei der Zeitung eingeschrieben.

»Wir haben eine Bestätigung, dass Tornados das städtische Gebiet überqueren. Wir haben Verletzte und Zerstörung.« Laneer warf einen Blick auf seinen Notizblock. »Wir müssen Leute nach Arlington, Grand Prairie und Lancaster schicken.«

Laneer zeigte mit seiner Brille auf Kate.

»Sie gehen zu den Wildhorse Heights, zum Old Southern Glory Flea Market, südlich von LBJ und Hawn. Der ist getroffen worden. New York will alles, was wir haben, und sie wollen es schnell, Leute. Lasst alles stehen und liegen. Heute gibt es nur eine Story. Ran an den Speck!«

4

Dallas-Fort Worth Metroplex, Texas

Kate nahm den Aufzug zur Tiefgarage des Gebäudes.

Sie rannte zu ihrem Wagen, einem Chevy Cobalt, Baujahr 2007, der rasselnd ansprang, was sie daran erinnerte, dass sie demnächst zur Werkstatt musste. Sie stellte den Kilometerzähler auf null und tippte dann die Adresse des Flohmarkts in das Navi auf ihrem Armaturenbrett.

Das Büro von Newslead befand sich im Bryan Tower. Der Flohmarkt lag etwa fünfzehn Kilometer südöstlich davon.

Sie schaltete ihre Freisprechanlage ein und fuhr aus der Tiefgarage hinaus. Ihre Scheibenwischer fegten den Regen beiseite, während ihr Chucks Anordnungen im Kopf widerhallten.

»Bringen Sie uns die Fakten, die herzzerreißenden Sachen und die Helden!«

Kate fuhr auf die Autobahn, wobei sich ihr Magen zusammenzog, wie immer, wenn sie auf dem Weg zu einer großen Story war. Sie hatte schon von vielen Tragödien oder Katastrophen berichtet und gewöhnte sich dennoch nicht daran.

Kein Reporter tat das.

Man wusste nie, was einem bevorstand. Aber es lag an einem selbst, eine Story aus dem Chaos herauszuholen, dem einen Sinn abzugewinnen, was sich vor einem entfaltete, und das alles, während die Uhr unermüdlich tickte. Und als wäre das noch nicht genügend Druck, wusste Kate, dass sie und ihre beiden Mitstreiter danach beurteilt würden, wie sie mit dieser Sache umgingen.

Der Gewinn wäre eine Vollzeitstelle.

Sie packte das Lenkrad fester, während sie sich durch den Verkehr wühlte.

Ich tu alles, was nötig ist, schwor sie dem Schnappschuss ihrer Tochter auf der Sonnenblende. Währenddessen kamen im Radio die neuesten Nachrichten über die Tornados, die bestätigten: »Eine große Anzahl Todesopfer«, was Kates Gedanken zu den Opfern und deren Familien lenkte. Sie wollte keine Story oder eine Stelle den Schmerzen anderer zu verdanken haben.

So hab ich’s nicht gemeint. Vergib mir.

Sie warf einen Blick auf den Glitter, der von Graces selbstgefertigter Karte auf den Beifahrersitz gefallen war, als sie ihre Tochter zur Geburtstagsfeier ihrer Freundin Courtney gebracht hatte, nur wenige Tage bevor sie nach Texas gegangen war.

Es war fast zwei Wochen her, aber es kam ihr wie ein Jahr vor.

Im Rückspiegel sah Kate die Silhouette von Dallas: den Bank of America Plaza, die Renaissance und Comerica Tower und das Prisma des Fountain Place, alles verschwommen im regengestreiften Rückfenster.

Würde Dallas ihre neue Heimat werden?

Während die nasse Straße unter ihrem Wagen dahinjagte, betrachtete sie ihr Leben und wohin es sie gebracht hatte. Sie war eine neunundzwanzig Jahre alte alleinerziehende Mutter mit einer sechsjährigen Tochter. Kate und Grace waren von Anfang an auf sich allein gestellt. Graces Vater war nie Teil der Gleichung gewesen. Kate hatte den größten Teil ihres Lebens allein verbracht. Ihre Mutter und ihr Vater waren bei einem Hotelbrand ums Leben gekommen, als sie sieben Jahre alt gewesen war. Nach der Tragödie hatten Kate und ihre kleine Schwester Vanessa bei Verwandten gelebt, dann waren sie von einem Pflegeelternpaar zum nächsten weitergereicht worden. Zwei Jahre nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie Vanessa bei einem Autounfall verloren.

Kates Funkgerät piepte.

»Wir haben eine Bestätigung dafür, dass gewaltige Tornados über Lancaster und Wildhorse Heights gezogen sind. Wir haben Berichte von Todesopfern und großflächiger Verwüstung. Das könnte einer der schlimmsten Stürme aller Zeiten sein …«

Kate holte tief Luft und konzentrierte sich aufs Fahren, als ihr Telefon klingelte. Chuck Laneer war am Apparat.

»Wo sind Sie jetzt?«

»Etwas über halbe Strecke.«

»Sehen Sie irgendwelche Schäden?«

»Nein, nichts außer schwarzen Wolken und Regen, wo ich bin.«

»Wir müssen dranbleiben.«

Kate zog an einer Reihe langsamerer Fahrzeuge vorüber. Während Häuserzeile um Häuserzeile an ihr vorbeirollte, überprüfte sie beständig ihr Navi. Sie war irgendwo am südlichsten Punkt von Kleberg, als das Quietschen der Scheibenwischer darauf hindeutete, dass der Regen nachließ.

Der Himmel klarte auf.

Das Gebiet war flach, nahezu baumlos, erschien jedoch unberührt. Sie sah eine in die Jahre gekommene Rollschuhbahn, den Parkplatz eines Gebrauchtwagenhandels, einen Eisstand – jedoch kein Anzeichen von Schäden.

Nichts.

In der Furcht, eine Ausfahrt verpasst zu haben, kontrollierte sie erneut ihr Navi. Wo war der Flohmarkt? Er sollte hier sein.

Nichts.

Ihr Telefon klingelte. Wieder Chuck.

»Kate, wo sind Sie … was haben Sie erreicht?«

»Nichts bislang.«

»Sie sollten …«

»Chuck, die Verbindung wird schlecht …«

»… wie wir hören, ist das Saddle Up Center auf dem Markt …«

Der Anruf brach ab, und sie versuchte, Chuck zurückzurufen, aber sie bekam keine Verbindung mehr.

Der Verkehr vor ihr floss langsamer und sah jetzt aus wie ein Strom aus roten Bremslichtern, als Soldaten und Hilfssheriffs aus den zwei Spuren des südlich fließenden Verkehrs eine machten, um den Notfallfahrzeugen den Weg freizuhalten. Kate geriet auf die langsame Fahrspur, wo der Verkehr bald zum Erliegen kam.

Auf dem grasbewachsenen Mittelstreifen neben der Expressspur sah sie ein großes, umgekehrtes Neonschild von Sanchez Restaurant – Heute: Fajita Special. Sie sah eine teilweise geborstene Holzkonstruktion, die vielleicht ein Dach gewesen war, dann einen völlig verbeulten, auf der Seite liegenden Van. Autos hatten daneben angehalten, um den Insassen zu helfen. Zwei Reihen Autos fuhren Stoßstange an Stoßstange in die entgegengesetzte Richtung. Kate musste zweimal hinsehen, als mehrere Pick-ups vorbeifuhren. Sie waren überladen mit blutenden Menschen, die von anderen versorgt wurden.

Oh mein Gott!

Dann zuckten in ihrem Rückspiegel die Blaulichter, während sie die Sirenen eines Rettungswagens hörte, nein, dreier Rettungswagen, die rasch auf der Notfallspur herankamen, gefolgt von einem SUV mit dem farbenfrohen Logo einer Rundfunkstation.

Der Verkehr auf Kates Spur bewegte sich im Schneckentempo. Sie musste den Schauplatz des Geschehens erreichen.

Sie biss sich auf die Unterlippe und traf eine Entscheidung.

Als der Wagen der Rundfunkstation vorüber war, lenkte sie ihren Wagen auf die Notfallspur und folgte ihm. Sie fuhr etwa einen Viertelkilometer, bevor sie an einer Wendestelle eine Straßensperre erreichte. Mehrere Polizeiwagen waren dort geparkt. Beamte lenkten den Verkehr auf die Gegenfahrbahn Richtung Norden.

Hilfssheriffs winkten den Rettungswagen und den Nachrichtenwagen weiter nach Süden durch, aber ein großer Soldat in einem Regenmantel trat vor Kates Wagen, zeigte auf sie und befahl ihr anzuhalten. Dann beugte er sich zu ihrem Fenster herab.

»Sie können nicht weiterfahren, Miss. Diese Spur ist nur für Rettungswagen. Sie müssen über die Wendestelle zurück.«

»Ich weiß, aber ich bin von der Presse, und Sie haben gerade die Leute vom Rundfunk durchgelassen.«

Als der Soldat zögerte, bemerkte Kate die Beamten an den Streifenwagen in der Nähe, die mit sechs oder sieben aufgebrachten Menschen debattierten. Sie verlangten, durchgelassen zu werden. »Mein Vater und meine Mutter sind da, aber wir können sie nicht übers Telefon erreichen … bitte, lassen Sie uns durch …«

Kates Soldat warf der Gruppe einen Blick zu, und sie sagte, als er sich wieder ihr zuwandte: »Ich muss auch einen Job erledigen.«

»Von wem sind Sie? Haben Sie einen Ausweis?«

»Newslead.« Kate suchte nach ihrem Presseausweis und zeigte ihn vor. »Unsere Storys werden im ganzen Land und in der ganzen Welt verbreitet.«

Er musterte ihren Ausweis lange genug, dass sie seine blauen Augen und das Regenwasser bemerkte, das ihm an der Kinnlinie herabfloss.

»Na gut.« Er nickte. »Ich lasse Sie durch, aber wenn Sie die nächste Sperre erreichen, parken Sie am Straßenrand. Die Notfallspuren müssen für die Rettungsmannschaften frei bleiben.«

»Danke sehr.«

»Danken Sie mir nicht.«

»Wie bitte?«

»Ich habe im Lauf der Zeit viel gesehen, aber nichts wie das, was da unten geschehen ist. Machen Sie sich auf was gefasst!«

5

Wildhorse Heights, Texas

Nach der Warnung des Soldaten fuhr Kate voller Anspannung an der Straßensperre vorüber.

Sie hielt das Lenkrad so fest, dass ihre Knöchel weiß wurden, und lenkte um die Bruchstücke von Kunststoff, Metall und Müll herum, die über die beiden leeren Spuren Richtung Süden verstreut lagen. Etwa hundert Meter weiter führte die Autobahn leicht abwärts, so dass sie einen Überblick über das bekam, was einmal der Old Southern Glory Flea Market gewesen war.

»Oh mein Gott!«

So weit ihre Augen reichten, war die Landschaft ein Friedhof aus zerdrückten Autos und Lastwagen, durchsetzt mit den geisterhaften, sprossenähnlichen Überresten von Bäumen, die aus einem Meer von Trümmern ragten.

Kleine Brände flackerten inmitten der Zerstörung.

Sieht aus wie ein Tor zur Hölle.

Voraus sah Kate die Reihe von Kranken-, Feuerwehr- und Polizeiwagen mit ihren blitzenden Lichtern. Sie parkte zwischen einem Feuerwehrwagen und dem Übertragungswagen eines Fernsehsenders. Der Regen hatte aufgehört. Sie trug passende Jeans und ein Top mit Gürtel, aber ihre flachen Lederschuhe waren gänzlich ungeeignet. Metall, Holz und Scherben bedeckten den Boden. Sie holte ein Paar alter Wanderschuhe und Wollsocken aus dem Kofferraum, zog sich beides rasch an und band die Schnürsenkel fest zu. Dann streifte sie die Regenjacke über, griff sich ihr Handy und versuchte, Chuck zu erreichen. Nichts. Sie versuchte, eine SMS zu schicken. Es funktionierte nicht. Kein Empfang. Die Mobilfunkantennen mussten hinüber sein. Verdammt. Sie prüfte die Kamera ihres Handys. Sie würde genügen. Sie prüfte die Tastatur und legte eine Datei mit der Bezeichnung Sturm-1 an. Okay, sie konnte immer noch schreiben und Aufnahmen machen.

Sie sammelte ihre Ersatzbatterie für das Handy, ein Notizbuch und Stifte zusammen, hängte sich das Band mit ihrem Presseausweis um den Hals und rief sich Chucks Anweisungen ins Gedächtnis zurück.

Bringen Sie uns die Fakten, die herzzerreißenden Sachen und die Helden!

Ihr Puls beschleunigte sich, als sie in das Chaos hineineilte. Nachdem sie um einen Haufen aus zersplitterten Balken und zerschlagenen Rigipsplatten herum war, blieb sie angesichts der Szenerie vor sich wie angewurzelt stehen.

Mit trübseligem Ausdruck breiteten zwei Feuerwehrleute eine gelbe Plane über die Leichen von vier Menschen aus: zwei erwachsene Männer und zwei erwachsene Frauen, Seite an Seite auf dem Boden in einer ordentlichen Reihe. Ihrer Kleidung nahezu vollständig beraubt, waren ihre zerschlagenen Leiber blutgetränkt. Einer der Frauen fehlte ein Fuß. Einer der Männer hatte eine Glasscherbe im Bauch stecken. Nicht weit entfernt sah sie eine weitere gelbe Plane auf dem Boden, unter der drei weitere Fußpaare hervorragten. Zwei der Paare gehörten Kindern.

Kate stützte sich auf einem Picknicktisch ab, bis sie sich wieder gefasst hatte.

Sie sprach ein schweigendes Gebet für die Toten, dachte dann an ihre Tochter in Ohio und wünschte sich, jetzt bei ihr sein zu können. Nachdem sie ihre Tränen zurückgeblinzelt hatte, öffnete Kate ihr Notizbuch, machte sich weitere Notizen und ging weiter.

Ich muss das tun.

Überall stolperten Menschen mit schreckensweit geöffneten Augen umher und riefen die Namen ihrer Liebsten in den Schutt.

Kate erreichte ein Auto, das auf dem Dach lag. Ein metallenes Hinweisschild war durch die Windschutzscheibe gerammt. Auf dem Wagen war ein großes weißes X aufgesprüht. Zwei Frauen saßen daneben auf dem Boden, eine zerrissene Decke um sich gelegt. Sie waren auf der Straße, aber ein großer Teil des Asphalts neben ihnen war abgeschält worden.

Sie ließ sich neben ihnen nieder.

»Hallo, ich bin Kate Page, Reporterin von Newslead. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

Die Frauen waren etwa Mitte zwanzig. Ihre Gesichter waren zerkratzt, und in ihren Augen standen die Tränen. Eine von ihnen nickte leicht.

»Können Sie mir schildern, wo Sie waren, als der Sturm zuschlug, und was geschehen ist?«, fragte Kate.

Die erste Frau hatte kurzes blondes Haar. Sie blickte zum Horizont, als ob die Tragödie sich dort wiederholen würde, und zitterte beim Sprechen.

»Meine Schwester und ich steckten im Verkehr fest, als wir versuchten herauszufahren, und da sahen wir es kommen – den Hagel, alles wurde schwarz. Dinge schlugen auf den Wagen ein.«

»Gartenstühle, Tische, Eisenpfähle«, fügte die zweite Frau hinzu.

»Ich habe geglaubt, wir würden sterben«, sagte die blonde Frau. »Wir haben dieses Donnern gehört, wie zehn Güterzüge. Der Boden bebte, und dieser Druck kam, dieser gewaltige Druck, als würde uns etwas zerquetschen wollen. Unsere Fenster zerbrachen. Wir konnten buchstäblich hören, wie das Metall unseres Wagens zusammengedrückt wurde.«

»Wir haben uns einfach in die Arme genommen und gebetet«, sagte die zweite Frau.

»Dann wiegte sich der Wagen hin und her«, sagte die blonde Frau. »Und der Tornado hob ihn hoch. Wir wirbelten und flogen etwa fünfzehn Sekunden umher, dann ließ er uns fallen, und die Airbags entfalteten sich. Wir standen auf dem Kopf … ich habe nach meiner Schwester gerufen. Aber wir waren am Leben, Gott sei Dank. Menschen zogen uns heraus. Unsere Beine und Schultern tun weh, aber wir sind in Ordnung … aber andere …« Die Frau starrte in den Himmel, als würde sie ihm nicht länger mehr trauen. »Andere hatten nicht so viel Glück.«

Kate stählte sich, äußerte Worte des Mitgefühls, ging weiter und sprach mit weiteren Überlebenden. Die ganze Zeit über hatte sie ihre Deadline vor Augen. Sie musste das Saddle Up Center suchen, einen offiziellen Kommentar vom Schauplatz bekommen, niederschreiben, was sie hatte, und einen Weg finden, ihre Geschichte ans Büro zu schicken.

Überall riefen Menschen um Hilfe.

Rettungsleute arbeiteten daran, Menschen aus dem Schutt herauszuziehen. Sie setzten ihre Hände, Rohre, Holzstücke und alles sonst ein, was sie finden konnten, während der Funknotruf plärrte. Die Luft roch nach versengter Erde, frisch geschnittenem Holz und Verzweiflung.

Weit oben knatterten Hubschrauber, Sanitäter legten die Verletzten auf Tragen, andere verwendeten Türen oder Sperrholzplatten als improvisierte Tragen, und Freiwillige hielten Infusionsbeutel hoch.

Kate sah mehrere Feuerwehrleute zusammengedrängt an einem Tisch sitzen, in Funkgeräte sprechen, über ausgebreiteten Karten brüten. Sie wies sich aus und bat um einen Lagebericht vom obersten Chef der Gruppe, Station 9 Captain Vern Hamby.

»Im Augenblick gibt’s nicht viel zu berichten.«

»Können Sie mir bitte sagen, was Sie wissen, Captain?«

Sein erschöpftes Gesicht legte sich in Falten. Erfahrung und Besorgnis sprachen daraus, und er lenkte ein und gab Kate eine offizielle Zusammenfassung.

»Wir haben eine bedeutende Anzahl von Opfern. Die Zahl der Toten könnte mehrere Hundert betragen, oder sogar mehr.«

Kate schrieb mit.

»Man hat uns gesagt, es sei ein EF5-Tornado gewesen. Das ist die höchste Einstufung, wobei die Windgeschwindigkeit zwischen 400 und 480 Kilometer pro Stunde liegt. An einem Tag wie heute könnten über dreitausend Besucher auf dem Markt gewesen sein. Das Gelände bietet wenig Schutz.«

Kate nahm die Information in sich auf.

»Oberste Priorität hat die Rettung der Menschen aus den Trümmern«, sagte der Captain. »Wir haben lokale Brände aufgrund geborstener Gasleitungen und explodierter Transformatoren. Sie sind tückisch. Aus der ganzen Region treffen Hilfsgüter ein. Wir errichten Feldlazarette, Schutzhütten, Zentren für Vermisste und Schauhäuser, einige hier vor Ort. Sehen Sie die Flaggen? Andere werden in Schulen und Gemeindesälen gehisst. Wir haben Berichte erhalten, nach denen eine Anzahl von Tornados im Metroplex, in ganz Texas und in anderen Staaten zugeschlagen hat.«

Aus Hambys Funkgerät ertönten mehrere Stimmen. Er musste los. Kate begleitete ihn, wobei sie ihre letzten Fragen stellte.

»Die ›X‹ auf den Fahrzeugen?« Sie nickte zu einem Laster hinüber, auf dessen Seite X3 gesprüht war. »Das bedeutet, Sie haben sie durchsucht, nicht wahr?«

»Ein X bedeutet, niemand ist drin, ein X mit einer Zahl sagt Ihnen, wie viele bestätigte Tote drin sind und dass Sie weitergehen und denen helfen sollen, denen Sie helfen können.«

Kate warf traurig einen Blick zu dem Laster. Eine Hand ragte aus einem Türrahmen hervor.

»In welche Richtung geht’s zum Saddle Up Center?«, fragte sie.

»Das Saddle Up?« Hamby schüttelte langsam den Kopf. »Viele Opfer dort.« Er sprach ins Schultermikrofon seines Sprechfunks. Nach einer verrauschten Antwort blieb der Captain stehen und lenkte Kates Aufmerksamkeit auf einen markanten Punkt in der Ferne. »Sehen Sie da unten diesen Wagen, der aussieht, als würde er auf der Heckstoßstange stehen, an einen Pfahl gelehnt? Wie eine Rakete, die gleich starten will?«

Kate nickte.

»Es ist da unten.«

Sie benötigte einige Zeit, um zum Zentrum zu gelangen.

Kate trat langsam durch die Überreste eines zerstörten Gebäudes, wobei sie achtgeben musste, denn rosafarbenes Isoliermaterial verbarg die spitzen Zacken der geborstenen Holzwände. Mitten auf dem Weg packte sie eine Hand am Fußknöchel.

»Helfen Sie mir!«

Kate wäre fast auf eine Frau getreten, die in den Ruinen feststeckte. In ihr Gesicht hatten sich Schmutz und Glassplitter eingegraben. Kate zog sie heraus und setzte sie hin. Die Frau hielt ein Stück Tuch auf eine Wunde an ihrem Bein, aus der Blut hervorquoll.

»Lassen Sie mich einen Blick drauf werfen.« Kate hob den blutgetränkten Lappen hoch.

Im linken Unterschenkel der Frau klaffte ein über zwanzig Zentimeter langer Schnitt, der bis auf den Knochen durchging. Die Frau verlor Blut. Kates Kenntnisse in erster Hilfe waren ziemlich eingerostet, aber sie wusste, dass man diese Wunde säubern und etwas darauf pressen musste, um die Blutung zu stoppen. Sie drückte die Hand der Frau wieder auf das Tuch.

»Halten Sie das fest!«

Kate blickte sich um, rief nach Sanitätern, nach Feuerwehrleuten, aber niemand war in der Nähe. Nichts, was sauber aussah, kein Stück Tuch, nichts war zur Hand. Kate löste das Band ihrer Bluse, zertrennte deren Saum an einem zerbrochenen Fenster und riss lange Streifen davon ab. Mit dem Rest der Bluse reinigte sie die Wunde, dann legte sie die sauberen Streifen darum und zog sie mit dem Band straff.

»Lassen Sie mich bitte nicht allein!«, bat die Frau.

Kate nahm sie bei der Hand und setzte sich zu ihr, während sie um Hilfe rief.

»Ich war im Büro«, sagte die Frau. »Draußen wurde alles schwarz. Das ganze Büro drehte sich vom Boden hoch, die Fenster explodierten förmlich, die Wände wackelten wie Gummi. Ich wurde umhergeschleudert wie eine Puppe in einem Mixer. Der Schreibtisch und der Stuhl knallten gegen mich. Zerbrochenes Glas sauste umher wie Kugeln. Ich dachte, ich würde sterben.« Tränen strömten über das Gesicht der Frau. »Seien Sie für Ihre Hilfe gesegnet!«

Kate tröstete sie, bis Sanitäter eintrafen.

Auf ihrem weiteren Weg zum Saddle Up Center entdeckte sie einen Laster der WFGG-TV-News mit Satellitenschüssel, was sie daran erinnerte, dass sie Chuck im Büro einen Artikel schicken musste.

Ich muss das jetzt zusammenschreiben, bevor ich zum Center gehe.

Sie setzte sich neben zwei zerstörte Autos mit einem X darauf, durchblätterte ihre Notizen und machte sich daran, in ihr Handy zu schreiben. Im Kopf hatte sie den Artikel fertig, und ihre Finger bewegten sich rasch. Beim Tippen wurde der Bildschirm blutig, und sie schloss an der Fünfhundert-Worte-Grenze.

Es gibt keinen Mobilfunkempfang. Wie bringe ich das ins Büro?

Sie hatte absolut keine Ahnung.

Sie eilte zum WFGG-TV-Fahrzeug mit seiner Schüssel, die zum Mast oben gerichtet war. Satellitentelefone benötigten kein Mobilfunknetz, sie arbeiteten überall. Niemand war da. Sie klopfte an die Türen. Ein Mann von Mitte zwanzig mit stoppelbärtigem Gesicht öffnete eine Seitentür. Mit zusammengebissenen Zähnen starrte er Kate an.

»Was ist?«

»Ich heiße Kate Page, Reporterin bei Newslead.«

»Ja, und? Ich habe zu tun.«

»Wie heißen Sie?«

»Fitch, aber ich habe zu tun.«

Sie sah die vielen kleinen Monitore, Computer und die Ausrüstung.

»Ihr habt ein Satellitentelefon, nicht wahr, Fitch?«

»Wir lassen alles über Satellit laufen.«

»Hier gibt’s kein Mobilfunknetz. Ich brauche jetzt Ihre Hilfe. Ich muss eine Datei von meinem Handy zu meinem Schreibtisch über euer Satellitensystem schicken.«

»Tut mir leid, hab zu tun.«

»Fitch, bitte! Ich gebe Ihnen zwanzig Dollar.«

Er blickte sie an, überlegte sich die Sache.

»Dreißig.«

»Kommen Sie schon, wo bleibt die professionelle Kameradschaft?«

»Dreißig.«

»Okay, dreißig. Abgemacht.«

»Zeigen Sie mir Ihr Handy!«

Kate gab es ihm. Er untersuchte die Anschlüsse.

»Ich sollte ein Übertragungskabel dafür haben. Was müssen Sie senden?«

Kate nahm das Handy und zeigte ihm die Datei mit der Bezeichnung ›Sturm-1‹.

»Bloß Text?« Er wandte sich seinem Arbeitsbereich zu, durchwühlte eine Schachtel mit Kabeln und Adaptern, fischte ein Kabel heraus, verband das eine Ende mit Kates Handy und das andere mit einem Laptop.

»Ja, keine Bilder.«

Er tippte ein paar Befehle ein, und Sekunden später erschien Kates Artikel auf seinem Laptop.

»Wohin geht’s?«, fragte er. »Sie können es per E-Mail schicken.«

Kate gab ihm die Adresse der Redaktion.

»Schreiben Sie ›Dringend, von Kate Page‹ in die Betreffzeile.«

Fitch reichte Kate den Laptop.

»Hier. Schreiben Sie, was Sie müssen. Fassen Sie sich kurz.«

Sie trat ein, legte ihre Sachen ab und tippte:

Kein Mobilfunknetz am Flohmarkt. WFGG lässt mich ihren Satelliten benutzen. Bald mehr, Kate Page.

Nachdem sie ihre Story abgeschickt hatte, tippte Kate eine weitere E-Mail an ihre Freundin Heather in Ohio.

»He, was soll das?«

»Lasse nur meine Tochter wissen, dass ich okay bin.«

Kate drückte schnell auf ›Senden‹ und durchwühlte dann ihre Brieftasche. Sie fand lediglich Zwanziger. Sie sah in ihren Taschen nach. Kein Bargeld. Sie reichte Fitch vierzig Dollar.

»Ich brauche das Wechselgeld, Kumpel.«

Er schob die Hand in seine Jeans und zog einen Fünfer hervor.

»Mehr hab ich nicht. Sorry.«

»Schon gut. Danke für die Hilfe, Fitch.«

»Sonst hätten Sie mich erwürgt. Das hab ich gespürt.«

»Ha-ha.«

Kate sammelte ihre Sachen zusammen und entfernte sich mehrere Schritte von dem Laster.

»Warten Sie!«, rief Fitch. »Sie haben ’ne Antwort gekriegt. Werfen Sie einen Blick drauf.«

Kate kehrte zurück und las die E-Mail:

Kate: Sie hätten versuchen sollen, uns eher zu erreichen. Haben Sie nichts Stärkeres zu bieten? Ihr Artikel lässt das Saddle Up Center völlig außen vor. Darauf hätten Sie sich doch konzentrieren sollen. Benny Lopez, einer unserer Fotografen, ist vor Ort. Sie sollten ihn schnell finden. AP hat bereits gesendet – DP.

»Was für ein Arschloch«, sagte Fitch. »AP hat Satellitentelefone.«

Kate war bei Dorotheas Antwort rot geworden.

»Möchten Sie antworten?«, fragte Fitch.

»Nein.«

Kate schlug die Tür hinter sich zu, dass es wie ein Gewehrschuss klang, und verließ eilends den Laster.

6

Wildhorse Heights, Texas

»Hilfe! Helft mir doch!«

Was ist?

Bei der leisen Antwort spitzte Jenna die Ohren.

Jemand war da draußen, weit entfernt.

Sie blickte sich um, tastete umher, vergrub die Finger im Schutt. Der Kinderwagen war verschwunden. Die Rothaarige war verschwunden. Ihr Begleiter war verschwunden.

Nein, das ist nicht echt!

»Caleb! Irgendwer? Hilfe!«

Das kann nicht sein.

»Helft mir! Irgendwer, hier drüben! Hilfe!«

»Hallo!«

Jemand war da draußen und kam näher. Jenna warf die Hände zu den Holzbalken hoch, die ihre winzige Zelle wie Zahnstocher versiegelten. Sie konnte sie nicht wegdrücken.

Ihre Gedanken rasten. Alles drehte sich in ihrem Kopf.

»Hilfe! Helft mir!«

Jemand riss an ihrem T-Shirt.

»Mama, diese Frau macht mir Angst«, sagte Cassie.

»Welche Frau?«

»Dadrin.«

Jenna rutschte herum, damit sie so weit wie möglich hinter Cassie gelangen konnte. Bei einem buschigen weißen Haarschopf hielt sie inne. Er gehörte zu einer alten Frau.

Jenna fuhr zurück. Galle stieg ihr in die Kehle, und sie kämpfte gegen die Übelkeit an. Ein Leichnam!Oh Gott! Jenna legte sich den Handrücken an den Mund und kämpfte darum, ihre Fassung zurückzugewinnen. Die ganze Zeit über verspürte sie ein Kribbeln auf der Kopfhaut.

Tut mir leid.

Die Frau war über siebzig. Kopf, Schultern und Arme ragten aus dem Schutt hervor, als wollte sie versuchen, schwimmend hinauszugelangen. Eine Gesichtsseite war weggerissen worden, so dass sich Gewebe, Zähne und Schädelknochen zeigten. Sie regte sich weder, noch atmete sie.

»Oh Gott, nicht hinsehen, Liebes!«

Jenna fasste die Hand der Frau und tastete nach einem Puls.

Nichts.

»Ist sie tot, Mama?«

»Pscht.« Jenna nahm Cassie in die Arme.

»Wo ist Caleb? Werden wir auch tot sein?«

»Keine Angst, Schatz. Jemand wird uns helfen. Wir werden Caleb finden.«

»Wird Papa kommen?«

»Wir rufen Papa an.«

Vom Adrenalin beflügelte Angst vibrierte jetzt in jedem Teil von Jennas Körper.

»Du zitterst, Mama.«

»Ich weiß, kommt wieder in Ord…«

»Kann uns jemand hören?«

Die Stimme eines Mannes, sehr nahe.

»Ja!«, rief Jenna. »Hier drüben! Bitte helfen Sie uns! Mein Baby ist verschwunden! Wir müssen es finden! Bitte!«

»Können Sie etwas bewegen, um Ihre Position anzuzeigen?«

Jenna fand ein Stück Rohr, schob es gerade nach oben und wackelte damit herum, während sie rief: »Hier! Hier drüben!«

»Wir sehen es! Halten Sie es fest!«

Weitere Stimmen sowie gedämpfte Funkgespräche erfüllten die Luft, hinzu kamen die Geräusche, wie Schutt Stück für Stück entfernt wurde. Es brauchte einige Zeit, bis die Suchenden, alles in allem sechs Leute eines Rettungskommandos aus Dallas, sich bis zu Jenna und Cassie vorgearbeitet hatten und sie aus den Ruinen heraushoben.