Hey guten Morgen, wie geht es dir? - Martina Hefter - E-Book
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Hey guten Morgen, wie geht es dir? E-Book

Martina Hefter

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Beschreibung

Deutscher Buchpreis 2024 Großer Preis des deutschen Literaturfonds 2024 Wiesbadener Literaturpreis 2024 Nominiert für den Bayerischen Buchpreis 2024 »Ein Buch wie ein Seiltanz. Aber solange Martina Hefter erzählt, kann nichts passieren.« Anne Weber Tagsüber hilft Juno ihrem schwerkranken Mann Jupiter dabei, seinen Alltag zu meistern. Außerdem ist sie Künstlerin, tanzt und spielt Theater. Und nachts, wenn sie wieder einmal nicht schlafen kann, chattet sie mit Love-Scammern im Internet. Martina Hefter hat einen berührenden Roman über Bedürfnisse und Sehnsüchte im Leben geschrieben. Und darüber, wie weit man bereit ist, für die Liebe zu gehen. Juno schreibt online mit Männern, die Frauen online ihre Liebe gestehen und so versuchen, sie um ihr Geld zu bringen. Doch statt darauf hereinzufallen, werden genau diese Männer zu einer Form von Freiheit für Juno. In den Gesprächen kann sie sein, wer sie will und sagen, was sie will – und das vermeintlich ohne Konsequenzen. Ganz im Gegensatz zu ihrem sonstigen Leben, in dem sie immer unterwegs, immer besorgt um Jupiter, immer beschäftigt und eingebunden ist. Also flüchtet Juno ab und zu vor ihrem Alltag ins Internet und spielt dort Spielchen mit Männern, die sie anlügen. Sie selbst wird zur Lügnerin. Aber ist es nicht so, dass man sich beim Lügen zuallererst selbst belügt? Eines Tages trifft Juno auf Benu, der ihre Behauptungen ebenso durchschaut wie sie seine. Und trotz der Entfernung zwischen ihnen entsteht eine Verbindung. »Hey guten Morgen, wie geht es dir« ist ein tiefgehender Roman, aber so leichtfüßig wie eine Komödie.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 224

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Dies ist der Umschlag des Buches »Hey guten Morgen, wie geht es dir?« von Martina Hefter

Martina Hefter

Hey guten

Morgen,

wie geht es

Dir?

Roman

Klett-Cotta

Impressum

Die Arbeit an diesem Roman wurde durch ein Stipendium der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen gefördert.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: © Anzinger und Rasp Kommunikation GmbH, München

unter Verwendung einer Abbildung © By kind permission of the Earl of Leicester and the Trustees of the Holkham Estate / Bridgeman Images

Gesetzt in den Tropen Studios, Leipzig

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-98826-0

E-Book ISBN 978-3-608-12353-1

Inhalt

TRAILER

NULL

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

BILDER VON VERLIEBTEN MÄNNERN

ZEHN

BILDER VON ÄLTEREN FRAUEN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

EPILOG

DANK

TRAILER

Zoom auf den Rücken einer Person, auf ein großes Backpiece: »Exploitation«, eine geschwungene, etwas verschnörkelte Schrift, außenrum fliegen ein paar Krähen.

Schnitt.

Zoom auf ein weiteres Backpiece mit dem gleichen Wort, eine andere Schrift, mehr eckig, die Linien nicht ausgefüllt, dahinter ein Sonnenaufgang über einem Fluss.

Nächster Zoom:

»Ausbeutung hält die Welt zusammen«, das steht längs auf einem Bein, von oben nach unten, ein muskulöses Bein, aber schlank, es ist über einen Meter lang.

Ein paar Bienen umschweben den Satz. Bienen, die den Menschen den Honig geben und hart arbeiten dafür. Die Königin in ihrer Mitte.

Es ist eines von Junos Beinen, aber das Tattoo stellt sich als Fake heraus, eine Hand mit einem Waschlappen kommt ins Bild, wischt den Spruch ab.

Zoom auf Junos echte Tattoos. Es sind zehn. Ein Schmetterling, genauer, ein Tagpfauenauge, drei unterschiedliche Rehe, das Wort Euphoria, es ist von vier kleinen Schmetterlingen umflogen. Eine Tänzerin in einem wallenden Kleid, ein aufgespannter Gothic-Regenschirm aus schwarzer Spitze. Ein Muster aus Rosen vor einem Gitter aus Dornen, oben auf der rechten Schulter.

Außerdem auf dem rechten Oberschenkel Dolce Vita. Eine feine, geschwungene Schrift über einem Stern aus Pünktchen.

Nice. Warum Dolce Vita?

Dolce Vita ist das, was man sich immer wünscht, und zugleich, was man verachtet. Nur durch Tod und Leid anderer zu bekommen.

Haha true!

NULL

Sie schlief schon seit einer Weile nicht mehr.

Und wenn sie doch mal schlief, träumte sie von blöden Sachen, von kleinen Hunden, die zu hunderten in die Wohnung einfielen und wütend kläfften. Bald wurde sie selbst ein Tier, sie hörte auf, die Wohnung zu putzen. Nachts war das Tier hellwach, aber nicht besonders aktiv.

Sie lag auf einer Gymnastikmatte auf dem Boden, ein paar zerstreute Bauchmuskelübungen, das war alles. Eigentlich schaute sie die meiste Zeit an die Zimmerdecke. Ein Stuckrelief klebte da, mehrere konzentrische Kreise, auf denen Blüten schwebten. Sie waren so oft mit Farbe überstrichen, dass sie aussahen wie Planeten. Sie kreisten auf ihren Bahnen, Tag und Nacht. Es war ganz angenehm, die Planeten anzusehen und sonst nicht viel.

Manchmal hörte Juno den Motor des Pflegebetts in Jupiters Zimmer brummen, dann wusste sie, er war noch wach, er verstellte das Kopfteil. Er musste es mitbekommen, wenn sie zur Toilette ging oder in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Aber Jupiter stellte nie Fragen, und was hätte sie auch antworten können?

Ich kann nicht mehr schlafen, weil mir alles zu viel wird. So was in der Art. Das war erstens falsch und hätte zweitens überhaupt nichts erklärt.

Manchmal nahm sie das Handy und öffnete Instagram. In den Feed schaute sie gar nicht erst, der war meistens langweilig. Lieber gleich in die Direct Messages. Eine glitzernde, hüpfende Neugier. War wieder eine Nachricht von Unbekannt da? In diesem Fall war das Wort Anfrage fett und blau.

Es war eigentlich fast jede Nacht fett und blau.

Hi Schönste / Hallo Hübsche / Hi du Sonnenschein, wie gehts?

Die ihr da schrieben, hießen Jimmy Taylor_354 oder Marcus DeBuonaventura. Sie hießen Phil Gibson1973. William____Smith und Dr. Antonio Alessandro. Braungebrannte Typen vor Segelyachten, weiße, grauhaarige Männer mit Basecap und Drei-Tage-Bart.

Ein Cowboy in Stiefeln, der vor einer Ranch posierte. Ein US-Army-General im Kadettenkostüm. Ein Witwer mit zwei Kindern, in einer luxuriösen Küche buken sie Pancakes.

In Wahrheit saßen jüngere Männer in einem Internetcafé irgendwo weit weg und tippten kitschige Lügen in den Rechner oder ins Handy. Juno hatte mal eine Doku auf YouTube gesehen, man nannte das Love-Scamming. Es schien ein gutes Geschäft zu sein. Man schrieb ältere, scheinbar alleinstehende Frauen unter einem Fake-Profil an.

Ich sah dein Profilbild und war sofort hingerissen von dir.

Dann begannen die Love-Scammer, eine Beziehung anzubahnen.

Guten Morgen meine Liebe.

Was hast du heute gegessen? Gib gut auf dich acht.

I love you.

Sticker mit roten Rosen. Sticker mit Kaffeetassen, auf denen Love stand.

Ein junger Mann wurde gefilmt, wie er gerade in einem Buch über psychische Manipulation las.

Ich vermisse dich so. Ich träume davon, mein Leben mit dir zu verbringen.

Irgendwann baten die Love-Scammer die Frauen um Geld.

Ich bin unterwegs auf Geschäftsreise und hatte einen Unfall, jetzt sitze ich hier im Gefängnis und komm nicht an mein Konto, kannst du mir kurz aushelfen?

Juno war geschockt und fasziniert zugleich, wie viele Frauen es gab, die so was glaubten. Die in der Doku freimütig erzählten, welche Summen sie am Ende per Western Union in ferne Länder überwiesen hatten.

Jetzt war also auch sie in ihren Radar geraten, ausgerechnet sie, Juno Isabella Flock. Juno, die Frau von Jupiter, aber davon wussten die Love-Scammer nichts. Unbeirrt ließen sie ihre Anfragen regnen. Und Juno sendete gern Antworten.

In der finsteren, glitzernden Euphorie des Wachseins, weit nach Mitternacht, aus ihrem Zimmer mit den Planeten an der Decke.

Hi schöne Frau.

Hi.

Wie geht es dir,

wie ist das Wetter bei euch da drüben?

Mir gehts fantastisch, danke.

Wir haben 45 Grad, man bekommt eine

Matschbirne davon.

Was machst du so?

Ich arbeite in einer Konstruktionsfirma, ARCO, aber ich bin auch Finanzberater,

Und was machst du?

Ich füttere meine Falken, ich besitze drei, jeder 20.000 Dollar wert. Sie heißen Leo, Bubbo und Lucas.

Wow, das klingt interessant!

Mittelalter, weißer Mann, graue Haare, er trug Shorts, stand unter einer Palme.

Weißer Mann, graue Haare, er lehnte an einem Cabrio.

Sonnengeküsster weißer Mann, er umarmte einen weißen, wuscheligen Hund.

Kalifornischer Segelbursche, leicht ergrauter Marine mit geklauter Identität.

Kommt her zu Juno. Sie will mit euch spielen.

Hi, danke, mir gehts gut.

In Deutschland wohne ich, ein Land mit riesigen Robbenbecken in den Zoos.

Was ich mache? Lieg in der Badi, trink Likör, wie alle in Deutschland.

Ich rauch Geldscheine, schon mal probiert?

Verheiratet? Nope, ich leb mit drei Dienern, zwei Männer eine Frau, wir beschimpfen einander und trinken dabei einen Kasten Bier.

Und du?

Die Love-Scammer glaubten ihr für lange Zeit einfach alles.

Zuerst machte das Spaß: Mit einem Typen lügen nach Mitternacht.

Sie streckte die Hand aus: Komm.

Es war auf eine fiese Weise lustig.

Manchmal zögerten sie.

Are you serious?

Smiley

Wie sie strauchelten, unsicher wurden.

Wie etwas in ihre Welt krachte, Trümmer von Juno Isabella Flock, die keine Geldscheine rauchte, sondern in einem Zimmer neben Jupiter lebte, der nachts in einem Pflegebett lag. Dieses Pflegebett sah aus wie ein Bett im Krankenhaus, nur war es mit einer Folie beklebt, die Holzfurnier imitieren sollte. Tagsüber saß Jupiter in einem Rollstuhl. Der Rollstuhl war rotmetallic lackiert, das hatte Jupiter sich damals ausgesucht. Mittlerweile gabs ein paar Kratzer im Lack.

Jeden Morgen hieß es raus aus dem Bett und rein in den Rollstuhl, das dauerte fünf Minuten, Jupiter schob sich zur Bettkante, die Beine voran, ließ erst die eine, dann die andere Seite seines Körpers runter auf die Sitzfläche und stützte sich dabei mit den Händen auf den Armlehnen ab.

Man muss nur kurz die Erde anheben, sagte Jupiter mal, es ist nicht so schwer.

Vielleicht hatten die Männer, die ihr schrieben, es verdient, so leicht auf Juno reinzufallen. Wie die Frauen, die sie betrogen, auf ihren Mist reinfielen.

Ob sie vielleicht diese Frauen rächen wollte? Eher nein.

Sie konnte nachts nicht mehr schlafen, das war alles.

Die Love-Scammer in ihren Schwellenländern wussten rein gar nichts von ihr, sonst hätten sie ihr vielleicht nicht geschrieben. Ihr, die nachts wach lag und an die Decke schaute.

Hey, schöne Frau, was machst du so?

Juno antwortete schnell und effektiv. Wie es ihr ging und was sie machte. Dass sie zwei Mal verheiratet war und sich jetzt mit einem Internisten langweilte.

Dass sie Kampfhunde züchtete.

Dass sie Hunde liebte – halt, das war nicht gelogen.

Irgendwann hatte sie bemerkt, dass sich kleine Wahrheiten in ihre Lügen schlichen. Etwas, das stimmte. Es beunruhigte Juno weniger, als dass es sie erstaunte. Manchmal fühlte es sich gut an, die Wahrheit zu sagen.

Hallo Schönheit!

Wie ist das Wetter bei dir?

Das Wetter ist grau und kalt, November, kein guter Monat.

Gestern sah ich einen Film, Melancholia, kennst du den? Ein Planet kracht in die Erde, es geht nicht gut aus. Es gibt zwei Schwestern, Claire und Justine. Einmal sagt Justine, es ist gut, wenn die Welt untergeht, und Claire ist fassungslos deswegen.

Wie kannst du so kalt sein, Justine, ey, wir sterben hier, und du sagst, ist doch in Ordnung?

Oder als Claire merkt, sie kann John nicht vertrauen. John ist Claires Mann, ein Hobby-Astronom. John sagt, Melancholia wird an der Erde vorbeiziehen, keine Angst. John irrt, der Planet kommt zurück, dreht um. Claires Panik, Justines Ruhe kurz vor dem Aufprall des Planeten, Claire drückt im Garten schützend ihren Jungen an sich.

Melancholia, ist das nicht ein schöner Name für einen verirrten Planeten? Ich hör die Filmmusik oft beim Spazierengehen. Manchmal denke ich wie Justine, so eine Kollision mit einem Planeten oder Kometen, das wär’s.

Love-Scammer antwortete nicht.

Claire bekommt von John eine Drahtschlaufe, sie kann sie im Garten gegen Melancholia halten. Melancholia hängt am taghellen Himmel, ein großer Mond. Claire sieht, wie er in der Schlaufe immer kleiner wird, sie denkt, er zieht wieder ab ins All, sie ist glücklich. Jedoch einen Tag später: Melancholia ist viel größer als die Schlaufe. Melancholia kam zurück.

Wie die Vögel niedergehen. Hagel donnert die Luft zu, das Gras zittert.

Mich macht Bedrohung aus dem All immer besonders traurig, weil die Dimensionen so viel größer sind.

Love-Scammer las die Nachricht nicht.

Hey, meld dich mal, ja?

Es ist schön, dir das alles zu schreiben.

Love-Scammer las die Nachricht nicht.

Hey guten Morgen, wie geht es dir?

Love-Scammer antwortete nicht mehr.

Nächster Typ, weiter gings.

Ich mag Liebesfilme, die kein Happy End haben, zum Beispiel Open Water, schon mal gesehen? Ein Paar treibt im Wasser, sie buchten einen Trip aufs offene Meer zum Tauchen, mehrere Leute auf dem Boot, die Crew verzählt sich, das Boot fährt zurück, vergisst sie einzusammeln.

Sie treiben im Pazifik, er wird von einem Hai angegriffen. Sie muss stark sein, ihn trösten, aber er stirbt in ihren Armen. Sie holt nochmal Luft, köpft dann abwärts, taucht nie wieder auf.

Ich hab das immer als brutal konsequente Lovestory gesehen.

Wie sie sich beide haben, sich klammern, sich tragen. Er hält sie, damit sie schlafen kann, gerade da kommt der Hai.

Ich mag die Konsequenz und dass der Film die Realität nicht bereinigt.

Nur dadurch wird es überhaupt erst ein Liebesfilm.

Der Scammer war unwichtig geworden, während sie das schrieb, obwohl er zuerst einzusteigen versuchte.

Ja, meine Liebe, wahre Liebe ist etwas Wunderbares!

rotes Herz

Ich finds immer toll, wenn wahre Liebe erst im Tod ihre Wahrheit zeigt.

Bitte sag nicht solche Sachen, Liebste!

Doch, genau solche Dinge will ich sagen.

Der Tod ist’s, der uns am Ende eint.

Ich freu mich, das mit dir zu teilen, übrigens.

Bitch.

So endeten die Chats jedes Mal.

Die Scammer antworteten irgendwann nicht mehr, und dieser eine hier wurde aggressiv. Juno war ihm nicht einmal böse. Sie sprach ja genau so in leiser Aggression, wenn sie ehrlich war.

Es kam ihr manchmal vor, als wäre es ihre aufrichtigste Haltung.

In den Chats war sie womöglich die echte Juno.

EINS

Juno. Namen, die auf o enden, klingen wie Donner, wenn er die Hänge hoher Berge herunterrollt. Oder wie tiefer Schlaf klingen würde. Wie ein trauriger Seufzer, den jemand in diesem Schlaf von sich gibt. Juno, das klingt auch wie etwas, das immer wieder von vorn beginnt. Zwei Silben, endlos hintereinander gesprochen, ein hörbares GIF.

Sie war für ein paar Tage ins Gebirge gereist, in den Ort, in dem sie aufgewachsen war. Sie wohnte bei ihrer Mutter in der kleinen Wohnung von früher, direkt unterm Dach, und schlief in ihrem alten Kinderzimmer, das jetzt eine Art Kammer für alles und nichts war. Man fühlte sich unter den schrägen Holzwänden wie in einem Zelt.

Gleich am ersten Abend das Übliche, Juno lag rücklings auf dem Boden, wie zu Hause, schaute aus dem Fenster auf die dunklen Bergrücken draußen. Elf Uhr, zwölf Uhr, sie sah die Lichter der Hütte oben auf dem Gipfel des Neuners ausgehen, eine der wenigen Hütten, die geöffnet waren um diese Jahreszeit. Die Lichter waren wie die eines Leuchtturms. Etwas, das seit jeher da gewesen war und eine Richtung anzeigte. Nebenan hörte sie den Fernseher, ihre Mutter hatte ihn laut gestellt, sie war ein bisschen schwerhörig geworden.

Sonst passierte nicht viel.

Mit Jupiter telefonierte sie jeden Tag über die Berge hinweg.

Gehts dir gut, kommst du klar?

Bestens, sagte Jupiter durch den Äther, geht alles super.

Jupiter bekam zu Hause auch alles ohne sie hin, Kühlschrank öffnen, Butter rausnehmen, den Käse, eine Scheibe Brot belegen, ein paar Tomaten dazu, Mini-Strauchtomaten, die man nicht schneiden musste, denn Jupiter konnte das Messer nicht mehr so gut halten.

Aber wenn Juno bei ihm war, hatte das alles eine andere Qualität. Jupiter griff nach etwas, nach dem im Notfall auch sie greifen konnte, Messer, Kaffeekanne, Teller. Juno war der doppelte Boden für Jupiter, aber jetzt waren sie beide für fünf Tage ohne Sicherheitsnetz. Juno könnte bei einer Wanderung fallen, abstürzen und nicht zurückkehren. Und auch Jupiter könnte fallen. Zum Beispiel auf den rutschigen Fliesenboden in der Küche, er könnte nicht wieder hochkommen, sein Handy wäre vielleicht nicht in der Nähe.

Juno blieb wach, so lange es ging. Sie dachte, sie würde es so auf jeden Fall spüren, wenn etwas passierte. Dabei war sie hergekommen, um wieder schlafen zu lernen. Womöglich wollte sie das nicht mit ganzem Herzen.

* * *

Gleich am ersten Abend wieder eine Anfrage auf Instagram.

Sie kam von Owen_Wilson223.

Juno überlegte kurz, das Profil gleich zu blockieren, sie wollte doch schlafen. Oder ein bisschen aus dem Fenster schauen. Ihre Mutter war längst ins Bett gegangen, sie könnte auch rüber ins Wohnzimmer gehen und einen Film im Fernsehen ansehen, eine Tüte Chips öffnen. Andererseits saß irgendwo da draußen ein Love-Scammer, Fake Owen Wilson, unter demselben nächtlichen Himmel, der hier über den Bergzacken lag, und wartete auf ihre Antwort. Es war zu verlockend. Juno öffnete das Profil. Wie üblich gab’s nur wenige Fotos, ein paar Tage zuvor gepostet.

Ein Mann mit Dreitagebart, um die fünfzig, weiß, das erste Foto zeigte ihn im Smoking bei einem Stehempfang, auf der Wand hinter ihm sah man das Logo einer Firma. Owen_Wilson223 hielt ein Lachsbrötchen in der Hand, lächelte in die Kamera.

Im Chatfenster stand

Hi.

Smiley

Juno klickte auf Anfrage annehmen.

Hi!

Smiley

Keine zwei Minuten später war Owen Wilson online.

Wie geht’s?

Mir geht es gut, und dir?

Mir geht es großartig!

Smiley mit den Herzaugen

Wo lebst du?

Ich lebe in Rumänien, dem Land von Dracula. Kennst du es?

Und du?

Mein Name ist Owen aus der Ukraine, aber ich lebe in Austin, Texas!

Wow, toll!

Bist du jetzt ein Cowboy?

Musstest du vor dem Krieg fliehen?

Hast du Kinder?

Nein, keine Kinder, aber drei Hunde.

Wow!

Wow smiley

Eigentlich gehts mir gar nicht gut.

Ich bin gerade im Gebirge. Jeden Morgen stürzt die Sonne hinter dem Nebel hervor und die Berge leuchten, aber es ist ein bisschen zu viel des Guten.

Man sieht die Verletzlichkeit der Erde irgendwie.

okay, lol!

Lachsmiley

Bist du verheiratet?

Es spielt keine Rolle, ob ich verheiratet bin.

Damit das klar ist: Ich will dir hier nur meine Gedanken schreiben. Etwas über Verletzlichkeit. Alle Astronauten sagten in Interviews, dass die Verletzlichkeit der Erde vom All aus eklatant sichtbar wäre. Dass sie so klein und zart sei. Sie waren alle geschockt, was für schlimme Dinge auf diesem zarten Planeten passieren.

Du bist lustig, lol!

zwei Tränenlachsmileys

Wehendes Gras stürzt durch den Wind, die Pferde im Stall drehen die Augen auf, sind jedoch ruhig.

Ich hab versucht, ein Gedicht zu schreiben. Über den Film Melancholia, ein Planet heißt da so. Er kommt aus den Tiefen des Weltraums, ist aus der Bahn geraten und trudelt herum, er wird die Erde treffen.

Kennst du den Film?

Längere Pause, keine Antwort.

Und überhaupt, du bist gar nicht Owen Wilson aus Texas. Du bist ein Love-Scammer in einem Internetcafé.

Und ich bin nicht aus Rumänien. Wie’s mir geht? Wenn du’s wissen willst:

Lausig gehts mir. Ich kann nämlich nicht einschlafen.

Fünf Minuten keine Antwort.

Juno erwartete, dass er sie gleich blockieren würde.

Das wirkt auf dich wie ein Luxusproblem, oder?

Nach weiteren fünf Minuten ploppte die Sprechblase auf.

Dein Gedicht mit dem Pferd ist nice.

Kurze Pause.

Wie hast du das gemerkt mit dem Scammen?

Wer kann so was ernst nehmen.

Owen Wilson aus der Ukraine, und dein albernes Profilbild. Das ganze Geschnulze auch noch.

Bist du mir böse?

Nein, ich fiel ja nicht auf dich rein.

Okay.

Bist du mir böse?

Nein. Nimmst du Drogen?

Nein, wieso sollte ich?

Ich rauche Gras.

Ich bekomm Lachanfälle von Gras.

Das ist gut!

Tränenlachsmiley

Ich find’s nicht gut.

Lachen ist gut.

Manchmal ja, manchmal nein.

Du solltest dir nicht so viele Gedanken machen.

Ich kanns nicht stoppen.

Vielleicht schläfst du jetzt doch lieber?

Niemand, außer vielleicht Jupiter, würde jemals erfahren, dass sie nicht mehr schlafen konnte.

Noch fünf Tage, bis es zurückging nach Leipzig.

In den kleinen Flecken der großen Stadt, in ihr kleines Zimmer mit den Planeten und in das Zimmer nebenan, in dem das Pflegebett und der Rollstuhl standen.

Das Zimmer mit einem klopfenden Herzen; das Herz von Jupiter, das dort aushielt.

Juno legte das Handy weg und kletterte auf das Klappsofa, das früher im Wohnzimmer gestanden hatte. Tatsächlich war sie ein bisschen müde, und die leicht euphorische Unruhe, die vielen Ideen und Gedanken, die sonst um diese Uhrzeit herbeigeflogen kamen wie fremdartige Raumschiffe oder Vögel, fehlten heute. Es würde sich vielleicht der Schlaf zeigen. Über diesen Schlaf in den Bergen, der erst noch werden musste, versprach Owen_Wilson223 angeblich zu wachen. Während sie, Juno Isabella Flock, von fern, unter den Sternen hindurch, eigentlich über Jupiters Schlaf wachten wollte.

Guten Morgen. Konntest du gestern einschlafen?

Ja, danke, konnte ich.

Mehr schrieb sie erst mal nicht.

Sie hatte vor, viel zu wandern, vielleicht half das ja auch fürs Schlafen. Die ersten Tage war’s neblig, eigentlich kein Wanderwetter. Man sah die Gipfel nicht, nur die schwarzen Nadelwälder zogen weiter unten die Hänge entlang. Geh lieber ins Hallenbad, sagte ihre Mutter, aber Juno hatte keine Lust auf Schwimmen. Einmal spazierte sie ins Vilstal. Ein schmaler, holpriger Weg, links und rechts zogen sich sanft die ersten Berghänge hoch. Als Kind war sie oft alleine zum Spielen hierher gekommen, heimlich, denn es war zu weit weg von zu Hause und außerdem gefährlich, ihre Eltern hätten es niemals erlaubt.

Parallel zum Wanderweg floss die Vils, ein Gebirgsfluss, der weiter vorn im Ort begradigt und mit Steinufern eingedämmt und beruhigt worden war. Hier hinten brauste er ziemlich heftig und warf sich in sprudelnde Schnellen. An den ruhigeren Stellen war er tief türkis und hatte breite Kieselufer. Juno war dort in den Sommern oft heimlich ins Wasser gestiegen und ein paar Züge geschwommen, allein und unbeobachtet, trotz aller Verbote.

Sie hatte das auch später nie jemandem erzählt, ihren Eltern nicht und Jupiter auch nicht. Sie waren mal zusammen hier gewesen, ganz am Anfang, als sie noch nicht lange ein Paar waren und ein Wochenende bei Junos Eltern verbrachten. Schon damals konnte Jupiter nicht mehr gut gehen, musste oft Pausen machen, sie brauchten lange für den Weg. Juno dachte, er sei eben nicht besonders sportlich. Nichts, was sie störte.

Der Fluss war jetzt eher ruhig, normal für die Jahreszeit.

Es war wie ein sonderbares Geheimnis, dass sie hier als Kind allein geschwommen war. Ein Geheimnis zu haben, war wie einen kleinen Schatz irgendwo zu horten, tief vergraben in der Erde, unter einem Baum, die Stelle kannte nur Juno.

Ihre Mutter sah sie nicht besonders oft, sie war viel unterwegs. Nachmittags tranken sie manchmal zusammen Tee, würzige, nach Holz, Pfeffer oder Fichtennadeln schmeckende Mischungen. Diesen Tee hier musst du Jupiter mitbringen, sagte ihre Mutter einmal, er macht Jupiter nicht gesund, aber fröhlicher, und sie versprach, Juno etwas davon abzupacken. Ihre Mutter hatte seit jeher im Sommer alle möglichen Kräuter in den Bergen gesammelt und auf dem Balkon getrocknet. Wenn Juno als Kind hinfiel und ein dickes Knie oder eine verstauchte Hand hatte, rieb ihre Mutter die Stellen mit selbstgemachter Arnikatinktur ein. Es half tatsächlich immer.

Macht der Tee mich auch fröhlicher?, fragte Juno, und ihre Mutter sagte, dass bei ihr kein Tee der Welt helfen könne. Sie wollte einen kleinen, eher zärtlichen Spaß machen, das hörte man an ihrem Tonfall. Aber dann waren sie beide für einen Moment still.

Wahrscheinlich stimmt das, antwortete Juno.

* * *

Am dritten Tag klarte der Himmel auf. Juno fotografierte die verschneiten Berggipfel vom Balkon, schneeweiß lagen sie vor einem babyblauen Himmel, die Gegend sah jetzt viel größer aus. Auch die Nächte waren plötzlich riesig und hoch, die Milchstraße streute ihre Sterne quer über die Berge.

Jeden Abend hatte sie eine Nachricht.

Wie ist es im Gebirge?

Wie hoch sind die Berge?

Hi, was machst du gerade?

Schön ist es, einsam, windig, jetzt gerade ist alles ein bisschen schroff.

Es ist wie auf dem Mars zu sein, denke ich manchmal.

Morgen geh ich wandern, es gibt ein Moor, da ist ein Biber.

Ich mag Biber, wie sie so emsig auf ein Ziel hin schuften, ohne dass sie das hinterfragen.

Lol ich mag wie du schreibst.

Du bist witzig.

Tränenlachsmiley

Smiley

Dass Owen Wilson ihr jetzt als er selbst schrieb, ohne Zweck, ohne Hintergedanken, glaubte sie nicht.

Wo sie auch hinsah, überall waren zuerst die Teufel da.

In der Doku über Love-Scamming hatte sie gesehen, dass enttarnte Scammer es trotzdem weiter bei ihren Opfern versuchten, auf anderen Wegen, mit anderen Lügen. Sie überlegte, das Profil jetzt doch zu blockieren. Einfach ein Klick und tschüss. Aber sie hatte schon viel zu viele Antworten gesendet, ihre Wörter waren schon zu sehr in der Atmosphäre.

Konnte man das noch anhalten?

Natürlich log sie zum Teil noch immer.

Diesmal aus Vorsicht, wer konnte schon wissen, mit wem genau sie es zu tun hatte.

Eigentlich lebe ich in Chemnitz, bin gerade im Urlaub.

Eine niedliche Stadt mit vielen Springbrunnen und einem Schloss.

Nein, ich hab keine Kinder, ich kann ja nicht mal kochen.

(was allerdings stimmte)

Von Jupiter erzählte sie nichts, sie schrieb, sie lebe allein.

Dass sie von Affäre zu Affäre lebe, immer mal neue Lover habe.

Sie machte sich drei Jahre jünger und schrieb, sie sei Schauspielerin. Was ungefähr das war, was sie ganz gern gewesen wäre.

Nur wenn ich auf der Bühne stehe, bin ich wirklich da. Dann gibt es mich.

(auch das stimmte)

Ich geh immer noch ganz schön oft Party machen, was soll man auch sonst tun.

Ich mag mein Leben.

(diskutabel)

Er kannte ihr Instagramprofil. Vielleicht auch ihren richtigen Namen. Er könnte googeln. Sie lebte ja gar nicht in Chemnitz. Er könnte einiges über sie finden. Fotos vergangener Performances in Leipziger Theatern, Programmankündigungen. Und sogar drei Interviews, zweimal im MDR und einmal in einem lokalen Kulturradio.

Juno Isabella Flock. Überall waren ihre Splitter.

* * *

In den folgenden Nächten hingen sie lange am Handy, tippten in die Sprechblasen, obwohl Juno zuerst nicht wollte. So viel chatten, sie hatte das noch nie gern getan, bekam immer Nackenschmerzen davon.

Das dunkle Holz des Balkons warf zusätzliche Dunkelheit durch die Fenster, sie hatte eine kleine orange Lampe an, hielt das Handy dicht an die Augen.

Er erzählte, dass er in Nigeria lebte. In einer mittelgroßen Stadt im Südwesten.

Juno sah nicht auf Google Maps nach, sie wusste es auch so: Er war ziemlich weit entfernt.

Sie erfuhr auch seinen richtigen Namen: Benu.

Juno schlug den Namen später nach. Benu war ein Wesen aus der altägyptischen Mythologie, eine Art Vorgänger des Phönix, ein Totengott. Benu verbrachte die Nacht im Duat, dem Totenreich, und stieg in der Morgenröte neu geboren als Reiher wieder herauf.

Juno mochte den Namen. Auch er endete, wie Juno, auf etwas Dunkles, auch er hatte, wie Juno, nur zwei Silben.

Wenn man sie immer weiter sprach, ohne Pause, klangen sie irgendwann wie ein fortdauerndes Geräusch.

Einmal, weit genug weg, hoch genug oben, um so direkt zu sein, fragte sie Benu nach dem Scammen. Warum er das machte.

Sie dachte, ihre Frage las sich sachlich und ernsthaft interessiert.

Bitte keine Polizei.

Das wiederum las sich ziemlich dringend.

Er würde gern aufhören, aber hätte keine Wahl.

Polizei ist brutal hier, Gefängnis ist Hardcore.

Du musst selbst wissen, was du tust.

Keine Angst, ich verpfeif dich nicht.

Ich wüsste auch gar nicht, wo.

Smiley

»Hallo, guten Tag, liebes Polizeirevier in (nigerianische Stadt im Südosten von Lagos), hier Juno Isabella Flock, sie haben da einen Love-Scammer in ihrer Stadt, er heißt Benu, könnten sie ihn bitte verhaften. Danke.«

Schreib ruhig irgendwelchen Frauen, die doof genug sind.

Hauptsache, ich hab ein Gegenüber.

Das schrieb sie nicht, wollte es nicht mal denken, aber dachte es trotzdem. Denn das Weltall war angezündet, und die kleinen Hunde, die es manchmal immer noch gab in ihren Träumen, tänzelten wie irr herum.

So was konnte man nur mit jemandem teilen, der weit genug entfernt war.

Hörst du auch zu, Scammer Benu?

* * *

Nigeria. Juno musste überlegen, wo in Afrika das Land genau lag, und schämte sich, weil sie es nicht sicher wusste. Irgendwo mehr links, nicht ganz unten. Sie fuhr ihren Rechner hoch, schaute bei Google Maps nach, es stimmte ungefähr. Immerhin.

Dann suchte sie die Stadt, in der Benu wohnte. Noch nie gehört, den Namen. Sie lag etwas von der Küste entfernt im Landesinneren, ungefähr zweihundert Kilometer weiter westlich floss der Niger.

Sie wusste kaum etwas über Nigeria. Einmal hatte sie eine Reportage in der FAZ