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Hat die griechische Demokratie einen Platz im modernen Geschichtsbewußtsein? Wie könnte die Brücke aussehen, über die der Historiker von seiner politischen Gegenwartserfahrung aus zu den alten Athenern gelangt?Vom Selbstverständnis der modernen Demokratie aus betrachtet, erscheint die politische Ordnung Athens in klassischer Zeit als etwas weitgehend Fremdes: Der die beiden Epochen trennende Graben scheint nicht überbrückbar zu sein. Man kann jedoch die Wesenszüge der griechischen Demokratie mit den unübersehbaren Problemen und Schwierigkeiten der modernen Demokratie konfrontieren. Deren Hintergründe werden dann deutlicher, und es eröffnen sich Perspektiven für Weiterentwicklung und Wandel.Prof. em. Dr. Michael Stahlhatte bis 2011 den Lehrstuhl für Alte Geschichte an der Technischen Universität Darmstadt. Sein Lehrbuch "Gesellschaft und Staat bei den Griechen" erschien 2003 in zwei Bänden, 2008 präsentierte er "Botschaften des Schönen", Bilder aus der antiken Kultur.
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Seitenzahl: 30
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Fachbereich ALTE GESCHICHTE
Antike und moderne Demokratie
Von Prof. Dr. Michael Stahl
„Niemand wird heute der Illusion verfallen, die Antike hielte Lehren für eine zukünftige Welt in Händen. Sie ist untergegangen in der strengen Bedeutung des Wortes, und wer ihre Toten beschwört, befragt sie nicht mehr nach verbindlichen Lebensregeln.“
Mit diesen Worten resümiert der Althistoriker Werner Dahlheim die nunmehr etwa 200-jährige wissenschaftliche Erforschung des Altertums. Die Altertumswissenschaft hat im Laufe dieser zwei Jahrhunderte trotz mancher gegenteiliger Bemühungen ihre lebensweltlichen Wurzeln tatsächlich weitgehend verloren.
Aber auch außerhalb der akademischen Mauern löste sich jene klassizistische Traditionspflege der Antike als selbstverständliches und integrales Element der öffentlichen Kultur bereits vor mehr als zwei Generationen praktisch in Luft auf – von einigen randständigen Residuen abgesehen.
Freilich: Zerstört haben den Glauben an die sinnstiftende Kraft der Antike nicht zuletzt die Historiker selbst. Sie haben, wie Dahlheim notiert, „die Griechen wieder in ihre eigene Welt zurückversetzt und sie ihre eigenen Erfahrungen machen lassen.“
Diese sog. historistische Strömung gibt denn auch in der Altertumswissenschaft bis heute den Ton an. Ihr geht es darum, die Antike möglichst weit von uns wegzurücken, damit wir erkennen können, wie für uns fremd es bei den Alten zuging. Und deshalb hätten wir Modernen nichts mehr mit ihnen zu tun.
Wenn das richtig wäre, so liefe es darauf hinaus, daß die Erinnerung an Griechen und Römer für uns keinen Deut wichtiger wäre, als die an die Vergangenheit von Indern, Chinesen oder Südseeinsulanern. Das interessierte Publikum fragt sich dann allerdings, warum von Seiten der Sachwalter der antiken Hinterlassenschaften häufig keine Mühen und Kosten gescheut werden, eben diese Antike so opulent wie möglich zu präsentieren – in Museen oder teilweise großartigen Ausstellungen. Und die dortigen Besucher, zumeist nicht gering an Zahl, empfinden sich keineswegs naiv und unaufgeklärt, wenn sie von der Schönheit eines antiken Kunstwerks einfach überwältigt werden und überhaupt den Eindruck mitnehmen, das Gezeigte ginge sie und ihre Zeitgenossen doch etwas an.
Der Wissenschaftsbetrieb allerdings ist weithin geprägt von interesseloser Gleichgültigkeit. Man möchte nicht wahrhaben, daß die These der vollkommenen Andersartigkeit oder Alterität der Antike in der Sache falsch ist.
Denn die Prägekraft der antiken Tradition für die europäische Kultur bis in die Gegenwart ist trotz aller Mythenzerstörung nicht ernsthaft zu leugnen. In vielen Bereichen unseres Lebens – von unserer urbanen Lebensweise bis zu den Grundbegriffen der Kunst und Philosophie, von Politik, Recht, Verwaltung und Religion bis zur technischen Formung der natürlichen Lebenswelt – stehen wir, ob wir es zustimmend zur Kenntnis nehmen oder nicht, nach wie vor auf den Schultern der antiken Welt.
Und im übrigen ist die Alteritätsthese auch theoretisch falsch: das gesamte, nicht erst neuzeitliche Geschichtsdenken hat seit jeher als unabdingbare Grundlage für Geschichte die Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit erkannt. Der Gedanke der Alterität gründet sich hingegen auf die Vorstellung der Einzigartigkeit der Moderne mit ihren beiden Grundpfeilern Fortschritt und Emanzipation, und das heißt eben auch Befreiung von überkommenen Bindungen und Verpflichtungen.
Mit der permanenten Zerstörung von Tradition werden die Brücken zwischen Gegenwart und Vergangenheit eingerissen, und das Vollgefühl des modernen Singularitäts- und Befreiungsbewußtseins entzieht auch dem Historiker die Geschäftsgrundlage: den Neu-, Um- und Weiterbau jener Brücken, die das Heute mit dem Gestern und Vorgestern verbinden.
Das aber bedeutet den Verlust von Geschichte und damit den Rückfall in vorhochkulturelle Verhältnisse. Wir sind vermutlich nicht sehr weit davon entfernt und sehen zugleich, wie zahlreiche Entwicklungslinien der Moderne zunehmend fragwürdig werden.