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Einsamkeit, Bitternis, Verlassenheit, Leid, Indolenz des Milieus, kaputte Beziehungen, Pseudoidealismus, elende Liebe, Lebensangst, existenzielle Langeweile, banale Konversation innerhalb öder Konventionen, Erschöpfung, aussichtslose Fluchten; sinnfremd, sinnlos, ausweglos, fruchtlos! Nach den Meistererzählungen (Orlando Syrg Taschenbuch, OrSyTa 12021) sowie zwei seiner berühmten Meisterdramen: Die Möwe und Onkel Wanja (Orlando Syrg Taschenbuch, OrSyTa 92023) beschließen diese Auswahledition der Werke Anton Tschechows seine späten Schauspiele: Drei Schwestern und Der Kirschgarten; Spitzenwerke der Weltliteratur, nach wie vor mitreißend und uneingeschränkt aktuell.
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Seitenzahl: 223
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Einsamkeit, Bitternis, Verlassenheit, Leid, Indolenz des Milieus, kaputte Beziehungen, Pseudoidealismus, elende Liebe, Lebensangst, existenzielle Langeweile, banale Konversation innerhalb öder Konventionen, Erschöpfung, aussichtslose Fluchten; sinnfremd, sinnlos, ausweglos, fruchtlos!
Nach den Meistererzählungen (Orlando Syrg Taschenbuch, OrSyTa 12021) sowie zwei seiner berühmten Meisterdramen: Die Möwe und Onkel Wanja (Orlando Syrg Taschenbuch, OrSyTa 92023) beschließen diese Auswahledition der Werke Anton Tschechows seine späten Schauspiele: Drei Schwestern und Der Kirschgarten; Spitzenwerke der Weltliteratur, nach wie vor mitreißend und uneingeschränkt aktuell.
Anton Pawlowitsch Tschechow, geb. am 29. Januar 1860 in Taganrog (Russland). Novellist und Dramatiker. Vater Kaufmann. Gymnasium Taganrog, 1879-1884 Studium der Medizin in Moskau. 1884 Ausbruch einer Lungenkrankheit. Kurzzeitige Ausübung des Arztberufs, danach vorwiegend literarische Tätigkeit. Zunächst Humoresken und Anekdoten für Zeitungen und Zeitschriften, später viele ernste und tragische Erzählungen sowie Kurzgeschichten. 1890 Reise zur Strafkolonie auf der Insel Sachalin. 1892-1897 auf seinem Landgut Melichovo bei Moskau, seit 1898 vorwiegend in Jalta auf der Krim. Reisen nach Westeuropa. Die Möwe, 1895. Onkel Wanja, 1896. Drei Schwestern, 1901. Heirat mit der Schauspielerin Olga Knipper. Der Kirschgarten, 1903. Tschechow stirbt am 15. Juli 1904 im Kurort Badenweiler (Markgräflerland; 30 km südlich von Freiburg).
August Scholz (Pseudonym Thomas Schäfer), geb. am 27. September 1857, Imielin - gest, am 8. Oktober 1923, Berlin. Studierte zunächst Jura, wechselte dann zur nordischen und slawischen Philologie. Übersetzte bewundernswert zahlreiche Werke von Tolstoi, Dostojewski, Gorki, Tschechow, Gontscharow, Ryleev, Gogol, Kolzow, Andrejew und Bjömson.
Joerg K. Sommermeyer (JS), geb. am 14.10.1947 in Brackenheim, Sohn des Physikers Kurt Hans Sommermeyer (1906-1969). Kindheit in Freiburg. Studierte Jura, Philosophie, Germanistik, Geschichte und Musikwissenschaft. Klassische Gitarre bei Viktor v. Hasselmann und Anton Stingl. Unterrichtete in den späten Sechzigern Gitarre am Kindergärtnerinnen- / Jugendleiterinnenseminar und in den Achtzigern Rechtsanwaltsgehilfinnen in spe an der Max-Weber-Schule in Freiburg. 1976 bis 2004 Rechtsanwalt in Freiburg. Zahlreiche Veröffentlichungen. JS (Joerg Sommermeyer) lebt in Berlin und Lahnstein.
Orlando Syrg, Berlin, 29. September 2023
Über dieses Buch
Der Autor
Der Übersetzer
Der Herausgeber
Drei Schwestern
Personen
Erster Akt
Zweiter Akt
Dritter Akt
Vierter Akt
Der Kirschgarten
Personen
Erster Aufzug
Zweiter Aufzug
Dritter Aufzug
Vierter Aufzug
Alles in allem: Nur eine Träne Am Abgrund Vor der Traufe Des Himmels.
JS, Lahnstein, 27.09.2023
(1901)
Andrej Sergejewitsch Prosorow.
Olga,
Mascha,
Irina; seine Schwestern.
Fjodor Iljitsch Kulygin, Maschas Gatte.
Natascha, Andrejs Braut, später seine Gattin.
Alexander Ignatjewitsch Werschinin, Oberstleutnant und Batteriechef.
Iwan Romanowitsch Tschebutykin, Militärarzt.
Baron Tusenbach,
Ssoljony,
Rode,
Fedotik; Offiziere
Anfissa, eine alte Kinderfrau.
Ferapont, ein Kanzleidiener.
Offiziere.
Dienerschaft.
Zeit: Gegenwart. – Ort der Handlung: eine größere Garnisonstadt im Osten Russlands.
Im Hause der Prosorows. Wohnzimmer, das durch Säulen vom Saal geschieden ist; draußen ist es heiter, sonnig. Man sieht, wie im Saal der Frühstückstisch gedeckt wird. Olga im blauen Uniformkleid einer Lehrerin am Mädchengymnasium; Mascha im schwarzen Kleid, den Hut auf den Knien, sitzt und liest in einem Buch; Irina im weißen Kleid, steht sinnend da.
OLGA: Heut vor einem Jahre ist der Vater gestorben – gerade an deinem Namenstag, Irina, am fünften Mai. Es war sehr kalt an dem Tag – es schneite sogar. Ich glaubte nicht, dass ich's überleben würde – du lagst ohnmächtig da, wie tot. Und nun ist kaum ein Jahr vergangen – und wir reden davon so gleichgültig, du hast schon dein weißes Kleid an, und dein Gesicht strahlt. Die Uhr schlägt zwölf. Auch damals schlug gerade die Uhr. – Pause. – Ich erinnere mich noch: als sie den Vater hinaustrugen, spielte die Militärkapelle, und auf dem Friedhof wurde geschossen. Merkwürdig übrigens – er war doch General und Brigadekommandeur, und doch waren nur wenig Leute am Grab. Allerdings fiel an dem Tag ein starker Regen – Regen und Schnee ...
IRINA: Wozu die Erinnerung auffrischen!
An der Tafel im Saal erscheinen Baron Tusenbach, Tschebutykin und Ssoljony.
OLGA: Heut ist's warm, man kann die Fenster weit aufmachen – aber die Birken haben noch nicht ausgeschlagen. Genau elf Jahre ist's her, dass der Vater die Brigade bekam und wir von Moskau abreisten. Ich habe es noch ganz frisch im Gedächtnis: es war Anfang Mai, in Moskau prangte schon alles in schönster Blüte. So warm war es, alles von Sonnenschein übergossen. Du mein Gott! Wie ich heute Morgen erwachte und die hereinflutende Lichtmasse und den Frühling draußen sah - da wurde mir so wohl, ach, und so sehnsüchtig weh ums Herz.
TSCHEBUTYKIN im Saal. Nein, so'n Teufelskerl!
TUSENBACH: Ist natürlich alles Unsinn!
Mascha, nachdenklich über das Buch gebeugt, pfeift leise eine Melodie.
OLGA: Pfeif nicht, Mascha. Wie kann man nur. – Pause. – Dieser Dienst im Gymnasium, dieses Stundengeben bis zum späten Abend verursacht mir immer Kopfschmerzen. Ich glaube wirklich, ich werde schon alt. Während der vier Jahre, seit ich angestellt bin, ist es mir immer, als ob meine Kraft Tag für Tag tropfenweise hinschwände. Und nur ein Gedanke wächst und erstarkt in mir beständig ...
IRINA: Nach Moskau zurückkehren. Das Haus verkaufen, alles hier aufgeben – und dann nach Moskau ...
OLGA: Ja – so bald wie möglich! Nach Moskau!
Tschebutykin und Tusenbach lachen.
IRINA: Unser Bruder Andrej wird wahrscheinlich bald Professor werden – denn der darf doch auf keinen Fall hier versauern! Bleibt nur die arme Mascha übrig. OLGA: Mascha kommt jedes Jahr zu uns nach Moskau, für den ganzen Sommer.
Mascha pfeift leise eine Melodie.
IRINA: Mit Gottes Hilfe wird sich schon alles ordnen lassen. – Schaut zum Fenster hinaus. – Ein Prachtwetter ist das heute. Ich weiß nicht, warum ich so froh gestimmt bin! Heute Morgen fiel mir ein, dass mein Namenstag ist, und mit einem Mal empfand ich eine solche Freude. Ich gedachte meiner Kinderjahre, da Mama noch lebte. Was für wunderbare Gedanken gingen mir durch den Kopf – ach, was für Gedanken!
OLGA: Du strahlst heut übers ganze Gesicht, ausnahmsweise hübsch bist du. Auch Mascha ist hübsch, und Andrej wäre ein schöner Mann, wenn er nicht so stark geworden wäre. Das steht ihm gar nicht zu Gesicht. Und ich – ich bin alt geworden, und so abgemagert bin ich, jedenfalls vom Ärger mit den Mädchen im Gymnasium. Heute bin ich mal frei und kann zu Hause bleiben – da hab' ich auch gleich keine Kopfschmerzen und fühle mich jünger als gestern. Achtundzwanzig Jahre bin ich nun alt ... Alles ist schließlich gut, alles kommt von Gott, ich glaube aber, wenn ich verheiratet wäre und den ganzen Tag in meinem Heim zubringen könnte – ich würde mich wohler fühlen. – Pause. – Ich würde meinen Mann lieben.
TUSENBACH zu Ssoljony: Sie reden einen Unsinn zusammen – 's wird einem über, Ihnen zuzuhören. – Tritt in das Wohnzimmer ein. – Ich habe ja ganz vergessen, unser Batteriechef Werschinin wird Ihnen heute seine Visite machen.
Setzt sich ans Klavier.
OLGA: Ah – sehr angenehm!
IRINA: Ist er alt?
TUSENBACH: Nein, in den besten Jahren. Höchstens vierzig, fünfundvierzig Jahre. – Klimpert leise. – Scheint ein famoser Kerl. Nicht dumm – das ist sicher. Nur spricht er etwas viel.
IRINA: Ist er interessant?
TUSENBACH: Es macht sich. Etwas stark verheiratet ist er: Frau, Schwiegermutter und zwei Töchter. Übrigens ist es schon seine zweite Frau. Überall, wo er Besuch macht, erzählt er, dass er eine Frau und zwei Töchter hat. Auch hier wird er's erzählen. Die Frau ist halb verrückt, trägt einen langen Zopf wie ein Mädchen, spricht lauter hochtrabendes Zeug, philosophiert und macht jeden Augenblick einen Selbstmordversuch, jedenfalls, um ihren Mann zu ärgern. Ich wäre längst fortgelaufen von einer solchen Frau Gemahlin, er aber trägt es und beklagt sich nur darüber.
SSOLJONY tritt mit Tschebutykin aus dem Saal ins Wohnzimmer: Mit einer Hand heb' ich nur anderthalb Pud, mit zweien dagegen fünf, ja sogar sechs Pud. Daraus schließe ich, dass zwei Menschen nicht nur doppelt, sondern dreimal so stark sind als einer oder vielleicht noch stärker ...
TSCHEBUTYKIN liest im Gehen die Zeitung »Swjet«: Gegen Ausfallen der Haare ... zwei Drittel Lot Naphthalin auf ein halbes Quart Spiritus ... aufzulösen und täglich zu gebrauchen ... – Macht sich Notizen in ein Taschenbuch; zu Ssoljony. – Ich sag' Ihnen also, das Fläschchen wird gut zugekorkt, und durch den Korken wird ein Glasröhrchen gesteckt ... und dann nehmen Sie ein kleines Quantum ganz gewöhnlichen Alaun ...
IRINA: Iwan Romanytsch! Lieber Iwan Romanytsch!
TSCHEBUTYKIN: Was denn, mein liebes, gutes Herzchen?
IRINA: Sagen Sie mal – warum bin ich heute so glücklich? Als wenn ich auf dem Meer dahinsegelte: über mir dehnt sich der weite blaue Himmel, und große weiße Vögel schweben durch die Lüfte. Warum ist das nur so? Warum?
TSCHEBUTYKIN küsst ihr zärtlich beide Hände: Mein weißer Vogel!
IRINA: Wie ich heute früh aufstand und mich wusch, da war es mir mit einem Mal, als wäre mir alles auf dieser Welt hier klar, als wüsste ich, wie man leben soll. Ich weiß jetzt alles, lieber Iwan Romanytsch. Der Mensch soll sich beschäftigen, soll arbeiten im Schweiße seines Angesichts, wer er auch sei, darin allein liegt der Sinn und das Ziel seines Lebens, sein Glück, sein Triumph. Wie schön ist es doch, ein Arbeiter zu sein, der mit Tagesanbruch aufsteht und auf der Straße Steine klopft, oder ein Hirt, oder ein Lehrer, der Kinder unterrichtet, oder ein Lokomotivführer. Ja, es ist, bei Gott, besser, ein ganz gewöhnliches Lastpferd zu sein, das doch seine Arbeit tut, als eine junge Dame, die mittags um 12 Uhr aufsteht, im Bett ihren Kaffee trinkt, dann sich zwei Stunden lang anzieht ... o, wie schrecklich ist das! Ich dürste förmlich nach Arbeit – wie man bei großer Hitze nach einem Schluck Wasser dürstet. Wenn ich von jetzt ab nicht täglich ganz früh aufstehe und arbeite, dürfen Sie mir Ihre Freundschaft kündigen, Iwan Romanytsch!
TSCHEBUTYKIN zärtlich: Gewiss, gewiss werde ich sie Ihnen kündigen ...
OLGA: Der Vater hat uns daran gewöhnt, um sieben Uhr aufzustehen. Jetzt erwacht Irina wohl um sieben Uhr, liegt aber wenigstens bis neun im Bett und simuliert. Und so ein ernstes Gesicht macht sie dabei!
IRINA: Du hast dich eben daran gewöhnt, mich als kleines Mädchen zu betrachten, und wunderst dich, wenn ich ein ernstes Gesicht mache. Ich bin doch zwanzig Jahre alt!
TUSENBACH: Sehnsucht nach Arbeit! O Gott, wie kann ich dieses Gefühl begreifen! Ich habe nie im Leben gearbeitet. Ich bin in dem kalten, trägen Petersburg geboren, in einer Familie, die niemals die Arbeit oder irgendwelche Sorgen gekannt hat. Ich erinnere mich noch, wie ich aus dem Kadettenkorps nach Hause kam. Der Diener zog mir die Stiefel aus, ich quälte alle Welt mit meinen Launen, und meine Mutter sah mit förmlicher Ehrfurcht zu mir auf und war höchst erstaunt, wenn andere nicht dasselbe taten. Man suchte mich auf jede Weise vor Arbeit zu bewahren, aber auf die Dauer ist's doch nicht gelungen. – Diese Zeiten sind vorüber, und ein reinigender Sturm bereitet sich vor, der von unserer Gesellschaft die Trägheit, die Gleichgültigkeit, das Vorurteil gegen die Arbeit und die faule Langeweile hinwegblasen wird. Ich werde jedenfalls arbeiten, und in dreißig Jahren wird jeder Mensch es tun. Jeder!
TSCHEBUTYKIN: Ich werde nicht arbeiten.
TUSENBACH: Sie kommen nicht in Betracht.
SSOLJONY: In dreißig Jahren werden Sie, Gott sei Dank, nicht mehr auf der Welt sein. Sie gehen entweder in zwei, drei Jahren an Ihrem Spleen zugrunde, oder ich werde mal wütend und schieße Ihnen eine Kugel durch den Kopf.
TSCHEBUTYKIN lacht: Ich habe tatsächlich nie in meinem Leben was getan. Seit ich von der Universität fort bin, hab' ich nicht 'nen Finger gerührt, nicht ein Buch angesehen – höchstens die Zeitungen hab' ich gelesen. – Zieht eine Nummer des »Nowoje Wremja« aus der Tasche. – Ich weiß alles aus den Zeitungen – z. B., dass es einen Schriftsteller Dostojewski gegeben hat; aber was er geschrieben hat – davon hab' ich keine Ahnung ... Der liebe Gott mag's wissen ... Mein Lebtag hab' ich nichts getan, und doch hab' ich nie zu etwas Zeit gehabt ... – Von der unteren Etage aus wird gegen den Fußboden geklopft. – Da, sehen Sie, man ruft mich unten schon wieder – wahrscheinlich ist jemand zu Besuch da! Ich komme gleich wieder ... – Eilt hastig davon, kämmt sich dabei den Bart. –
IRINA: Er hat wieder irgendwas ausgeheckt.
TUSENBACH: Ja. Er ging mit so feierlicher Miene fort – jedenfalls wird er Ihnen gleich irgendein Präsent bringen.
IRINA: Ach ... wie unangenehm!
OLGA: Ja, es ist schrecklich. Er macht immer Dummheiten.
MASCHA: »Ein Eichbaum grünt am Meeresstrande, ein goldnes Kettlein hängt daran ... ein goldnes Kettlein hängt daran ...« – Erhebt sich und singt leise. –
OLGA: Du bist heut in schlechter Stimmung, Mascha!
Mascha singt leise vor sich hin, setzt sich den Hut auf.
OLGA: Wohin willst du denn?
MASCHA: Nach Hause.
IRINA: Du bist doch sonderbar!
TUSENBACH: Wie können Sie schon gehen – heut, am Namenstag!
MASCHA: Das macht doch nichts ... Ich komm' übrigens am Abend wieder. Adieu, mein schönes Schwesterchen! – Sie küsst Irina. – Ich wünsche dir noch einmal: bleib gesund und werde glücklich! Früher, wie Papa noch lebte, kamen immer dreißig, vierzig Offiziere, wenn bei uns Namenstag war, und es ging fidel zu. Heute – sind kaum anderthalb Mann da, und still ist's, wie in einer Wüste ... Ich geh' ... Bin heute nicht bei Stimmung, hab' meinen melancholischen Tag – nimm's mir nicht übel. – Lacht unter Tränen. – Abends wollen wir plaudern – jetzt leb' wohl, meine Liebe. Ich will fort ... irgendwohin ...
IRINA unzufrieden: Nein, du bist wirklich ...
OLGA unter Tränen: Ich verstehe dich, Mascha.
SSOLJONY: Wenn ein Mann philosophiert, kommt manchmal schon ganz nettes Zeug zum Vorschein; wenn aber eine Frau oder gar zwei Frauen philosophieren – na, da kann man nur gleich auf die Bäume klettern!
MASCHA: Was wollen Sie damit sagen, Sie ganz abscheulicher Mensch?
SSOLJONY: Nichts weiter. »Kaum hatte er noch ach! gesagt, als ihn der Bär am Halse packt.« – Pause. –
MASCHA zu Olga, ärgerlich. So flenne doch nicht!
Anfissa und Ferapont kommen mit einer Torte herein.
ANFISSA: Hier herein, mein Lieber! Geh nur 'rein, hast ja saubre Stiefel! – Zu Irina. – Aus dem Landschaftsamt, von Michael Iwanytsch Protopopow ... eine Pastete.
IRINA: Ach, wie liebenswürdig! Sag', ich lasse schön danken. – Nimmt die Torte in Empfang. –
FERAPONT: Was?
IRINA lauter: Ich lasse schön danken.
OLGA zu Anfissa: Altchen, gib ihm doch ein Stück Pastete! Geh mit, Ferapont, du bekommst Pastete!
FERAPONT: Was?
ANFISSA: Komm, Väterchen Ferapont Spiridonytsch. Komm! – Ab mit Ferapont.
-
MASCHA: Ich kann Protopopow nicht leiden – diesen Michail Potapytsch oder Iwanytsch. Ihr hättet ihn nicht einladen sollen.
IRINA: Ich hab' ihn auch nicht eingeladen.
MASCHA: Das war recht.
Tschebutykin tritt ein, in Begleitung eines Soldaten, der einen silbernen Samowar trägt; allgemeines Erstaunen und Unzufriedenheit.
OLGA bedeckt ihr Gesicht mit den Händen: Seinen Samowar! Es ist unglaublich! – Geht an den Tisch im Saal. –
IRINA: Aber, liebster Iwan Romanytsch – was machen Sie denn da?
TUSENBACH lachend: Ich sagte es Ihnen ja!
MASCHA: Iwan Romanytsch, Sie besitzen einfach keine Scham.
TSCHEBUTYKIN: Meine Lieben, meine Schönen – Sie sind doch für mich das Einzige, das Teuerste, was ich auf der Welt noch habe! Ich bin nun bald sechzig, bin ein alter Mann, ein armseliger, verlassener Greis ... Nichts Gutes gibt's an mir außer dieser Liebe zu Ihnen – wenn Sie nicht wären, würde ich längst nicht mehr auf der Welt sein ... – Sieht sich um. – Was soll mir dieser Kram? Was soll er mir? - Zu Irina. – Mein liebes, gutes Kind, ich habe Sie gekannt vom Tage Ihrer Geburt an ... ich habe Sie auf meinen Armen getragen ... ich hab' Ihre verstorbene Mama so gern gehabt ...
IRINA: Aber warum denn solche kostbaren Geschenke?
TSCHEBUTYKIN ärgerlich, unter Tränen: Kostbare Geschenke ... gehn Sie mir doch weg! – Zu dem Burschen, in den Saal zeigend. – Trag' den Samowar dort hinein ... – Spricht ihr spöttisch nach. – Kostbare Geschenke ... – Der Bursche trägt den Samowar in den Saal. Anfissa tritt in das Wohnzimmer ein. –
ANFISSA: Meine Lieben, ein fremder Oberst ist da! Er hat schon den Paletot abgelegt, Kinderchen, und kommt gleich hier herein. – Zu Irina. – Sei nur recht freundlich, recht nett, Irinuschka! ... – Ab; im Abgehen. – 's ist auch Zeit zum Frühstücken ... o Gott ...
TUSENBACH: Jedenfalls Werschinin ...
Werschinin tritt ein.
TUSENBACH: Oberstleutnant Werschinin!
WERSCHININ zu Mascha und Irina: Habe die Ehre, mich Ihnen vorzustellen: Werschinin. Bin in der Tat sehr erfreut, dass ich Ihnen endlich meine Aufwartung machen kann. Was aus Ihnen geworden ist – ei, ei!
IRINA: Nehmen Sie gefälligst Platz. Es ist uns sehr angenehm ...
WERSCHININ: Wie ich mich freue, wie ich mich freue! Sie sind doch drei Schwestern – nicht wahr? Dreier kleiner Mädchen erinnere ich mich. Die Gesichter sind mir nicht mehr gegenwärtig, aber dass Ihr Vater, Oberst Prosorow, drei kleine Töchterchen hatte – das schwebt mir ganz deutlich vor, aus eigenster Anschauung. Wie die Zeit vergeht – ach, wie die Zeit vergeht!
TUSENBACH: Alexander Ignatjewitsch ist aus Moskau hierher gekommen.
IRINA: Ah, aus Moskau?!
WERSCHININ: Ganz recht, aus Moskau. Ihr verstorbener Papa war dort Batteriechef, und ich war Offizier in derselben Brigade. Zu Mascha. Ihres Gesichts kann ich mich, glaub' ich, dunkel entsinnen ...
MASCHA: Und ich kann mich Ihrer nicht mehr entsinnen.
IRINA: Olja! Olja! – Schreit in den Saal hinein. – Olja, so komm doch her!
Olga kommt aus dem Saal in das Wohnzimmer.
IRINA: Denk' dir nur: es hat sich bereits herausgestellt, dass Oberstleutnant Werschinin aus Moskau ist!
WERSCHININ zu Olga: Sie müssen Olga Ssergejewna sein, die Älteste ... und Sie Maria ... und Sie Irina, die Jüngste ...
OLGA: Sind Sie geborener Moskauer?
WERSCHININ: Ich habe in Moskau die Schule besucht, bin dort Soldat geworden und habe lange Jahre da gedient. Jetzt habe ich eine Batterie bekommen – und bin, wie Sie sehen, hierher versetzt worden. Persönlich erinnere ich mich Ihrer nicht mehr, nur dass Sie drei Schwestern waren, weiß ich. Ihren Vater dagegen seh' ich noch leibhaftig vor mir – ganz genau habe ich sein Bild im Gedächtnis. Ich habe in Moskau in Ihrem Hause verkehrt ...
OLGA: Wirklich? Ich glaubte doch immer, ich hätte mir alle gemerkt – und mit einem Mal ...
WERSCHININ: Man nannte mich Alexander Ignatjewitsch ...
IRINA: Alexander Ignatjewitsch ... dass Sie aus Moskau sind, ist wirklich eine angenehme Überraschung für uns!
OLGA: Wir sind nämlich auf dem Sprunge, wieder dahin zu ziehen.
IRINA: Zum Herbst denken wir schon dort zu sein. Es ist ja unsere Vaterstadt, wir sind da geboren ... In der Staraja Basmannaja ... – Beide lachen vor Freude. –
MASCHA: Ganz unerwartet sehen wir einen Landsmann wieder. – Lebhaft. – Jetzt erinnere ich mich! Weißt du noch, Olja – bei uns sagten sie immer der »verliebte Major«. Sie waren damals Leutnant und in irgendjemanden verliebt, man nannte Sie scherzweise den Major ...
WERSCHININ lacht: Ganz recht ... der »verliebte Major«, das stimmt ganz genau
MASCHA: Sie trugen damals nur einen Schnurrbart ... O, wie alt Sie geworden sind! – Unter Tränen. – Wie alt Sie geworden sind!
WERSCHININ: Ja, damals, als man mich den »verliebten Major« nannte, war ich noch jung und wirklich sehr verliebt. Jetzt ist's damit vorbei.
OLGA: Aber Sie haben doch noch kein einziges graues Haar! Sie sind gealtert, sind aber noch nicht alt.
WERSCHININ: Nun, ich bin doch schon im Dreiundvierzigsten. Sind Sie schon lange von Moskau fort?
OLGA: Elf Jahre. Aber warum weinst du denn, Mascha? Was ist dir? ... – Unter Tränen. – Sieh – auch ich fang' an zu weinen ...
MASCHA: Nichts ist mir. In welcher Straße haben Sie dort gewohnt?
WERSCHININ: In der Staraja Basmannaja. Und eine Zeitlang wohnte ich in der Deutschen Straße.
OLGA: Das liegt nicht weit ab.
WERSCHININ: Von der Deutschen Straße ging ich immer nach der roten Kaserne. Man kommt dort über eine einsame Brücke – so düster ist's da, das Wasser rauscht ... wenn man dort allein vorübergeht, wird einem ganz traurig ums Herz. – Pause. – Und hier haben Sie einen so prächtigen, wasserreichen Strom! Ein wunderbarer Strom!
OLGA: Ja, aber es ist kalt hier. Kalt ist's ... und dann haben wir die Mückenplage ... WERSCHININ: Ich bitte Sie! Hier ist ein so gesundes, treffliches, echt slawisches Klima. Der Strom, der Wald ... auch Birken haben Sie hier, die lieben, bescheidenen Birken, die ich mehr liebe als alle andern Bäume. Hier muss es sich wirklich gut leben. Nur eins ist sonderbar, dass der Bahnhof zwanzig Werst von der Stadt entfernt ist ... Und kein Mensch weiß, warum das so ist ...
SSOLJONY: Ich weiß, warum das so ist. – Alle sehen nach ihm hin. – Wenn er näher läge, wär' er nicht so weit, und weil er so weit ist, darum liegt er eben nicht nahe. – Peinliches Schweigen. –
TUSENBACH: Sie sind ein Spaßvogel, Wassili Wassiljewitsch.
OLGA zu Werschinin: Jetzt besinn' auch ich mich auf Sie, ganz deutlich.
WERSCHININ: Ich habe Ihre Mutter gekannt.
TSCHEBUTYKIN: Eine schöne Frau war's, Gott habe sie selig ...
IRINA: Mama ist in Moskau begraben.
OLGA: Auf dem neuen Marien-Friedhof ...
MASCHA: Denken Sie nur, ich fange schon an, ihr Gesicht zu vergessen! So wird's auch uns mal ergehen – man wird uns vergessen.
WERSCHININ: Ja, man wird uns vergessen. Das ist nun so unser Schicksal, dagegen lässt sich nichts tun. Was uns jetzt wichtig und bedeutungsvoll vorkommt, wird mit der Zeit vergessen werden oder uns unwichtig erscheinen. – Pause. – Und es ist interessant, dass wir jetzt gar nicht sagen können, was eigentlich später einmal als wichtig und bedeutungsvoll und was als unbedeutend und lächerlich gelten wird. Hat man nicht die Idee des Kopernikus oder die Pläne des Kolumbus in der ersten Zeit albern und lächerlich gefunden, während irgendein läppischer Unsinn als Wahrheit galt? Und ebenso ist's möglich, dass unsere heutigen Zustande, mit denen wir so zufrieden sind, späteren Geschlechtern höchst seltsam, unvernünftig, unlauter, vielleicht sogar sündhaft erscheinen werden ...
TUSENBACH: Wer kann's wissen? Vielleicht wird man unsere Zeit einmal sogar eine große Zeit nennen und ihr Anerkennung zollen. Wir haben keine Folter mehr, keine Todesstrafe, keine Einfälle wilder Völker. Bei alledem haben wir freilich noch Elend genug.
SSOLJONY mit feiner Stimme: Zip, zip, zip ... Unser Baron macht sich nichts aus Grütze – der wird schon vom Philosophieren satt!
TUSENBACH: Wassili Wassilitsch, ich bitte Sie – lassen Sie mich in Ruhe ... – Setzt sich auf einen andern Platz. – Das wird auf die Dauer langweilig.
SSOLJONY mit feiner Stimme: Zip, zip, zip ...
TUSENBACH zu Werschinin: Es gibt so viele Leiden, unter denen die Menschen heute seufzen – und doch heißt es, dass unsere gesellschaftlichen Zustande in sittlicher Beziehung entschieden fortgeschritten sind.
WERSCHININ: Gewiss, gewiss ... allerdings.
TSCHEBUTYKIN: Sie sagten eben, Baron, man werde unsere Zeit mal eine große Zeit nennen; darum bleiben die Menschen aber doch klein! ... – Erhebt sich von seinem Platz. – Sehen Sie, was für ein kleiner Kerl ich zum Beispiel bin! Na, wenigstens hab' ich jetzt einen Trost: bin ich klein, so ist meine Zeit doch groß.
Hinter der Szene Geigenspiel.
MASCHA: Das ist unser Bruder Andrej ...
IRINA: Er hat studiert und wird jedenfalls Professor werden. Der Vater war Soldat - der Sohn hat die wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen.
MASCHA: Es war Papas Wunsch.
OLGA: Wir haben ihn heute ein bisschen geärgert. Er scheint nämlich verliebt ...
IRINA: In eine hiesige junge Dame. Sie wird heute wohl bei uns sein ...
MASCHA: Sie kleidet sich ganz entsetzlich. Als Moskauer werden Sie mich begreifen: ich kann es nicht ansehen, wie sie sich hier tragen; sie beleidigen mich geradezu, diese hiesigen Modedamen. Nicht bloß geschmacklos und unmodern – nein, einfach kläglich kleiden sie sich. Diese sonderbaren grellen, gelben Röcke, mit den abgeschmackten Fransen dran, und dazu die knallroten Jäckchen. Und die Backen so glatt abgeseift, so glänzend! Andrej ist gar nicht verliebt – ich kann's nicht glauben, er hat doch Geschmack. Er spaßt nur mit uns, will uns ärgern. Ich hörte übrigens gestern, dass sie Herrn Protopopow heiratet, den Vorsitzenden des hiesigen Landschaftsamts. Das wäre nett ... – Ruft nach der Seitentür hin. – Andrej, komm doch her! Nur auf einen Augenblick!
Andrej kommt herein.
OLGA stellt vor: Mein Bruder, Andrej Ssergejewitsch.
WERSCHININ: Werschinin ...
ANDREJ: Prosorow ... – Wischt sich den Schweiß von der Stirn. – Sie sind als Batteriechef zu uns versetzt?
OLGA: Denk' dir, Alexander Ignatjewitsch kommt aus Moskau!
ANDREJ: Ach! Da gratulier' ich Ihnen – meine lieben Schwestern werden Ihnen schön zusetzen!
WERSCHININ: Ihre Schwestern sind meiner schon überdrüssig.
IRINA: Sehen Sie doch, was für einen hübschen Porträtrahmen mir Andrej heute geschenkt hat! – Zeigt den Rahmen. – Er hat ihn selbst gemacht.
WERSCHININ betrachtet den Rahmen und weiß nicht, was er sagen soll: Ja ... sehr nett ...
IRINA: Auch den Rahmen dort über dem Piano hat er verfertigt.
Andrej macht eine abweisende Handbewegung und geht auf die Seite.
OLGA: Er ist nicht nur unser kleiner Gelehrter, sondern spielt auch die Geige und macht allerhand hübsche Sägearbeiten – mit einem Wort: ein Meister in allen Künsten. Andrej, so bleib doch da! Er hat nämlich die Gewohnheit, immer wegzulaufen, wenn Gesellschaft da ist. Komm doch her! – Mascha und Irina fassen ihn unter die Arme und führen ihn lachend zurück. –
MASCHA: Komm, komm!
ANDREJ: Lasst mich, bitte!
MASCHA: Wie komisch du doch bist! Alexander Ignatjewitsch wurde früher immer der »verliebte Major« genannt, und er hat sich gar nicht darüber geärgert.
WERSCHININ: Nicht im Geringsten!
MASCHA: Und dich will ich jetzt immer den »verliebten Geiger« nennen!
IRINA: Oder den »verliebten Professor« ...
OLGA: Er ist verliebt! Unser Andrjuscha ist verliebt!
IRINA: Bravo, bravo! Dakapo! Andrjuscha ist verliebt!
TSCHEBUTYKIN tritt von hinten an Andrej heran und umfasst mit beiden Armen seine Taille: »Zur Lieb' allein, zur Lieb' allein hat uns Natur geschaffen!« – Lacht, setzt sich und liest in einer Zeitung, die er aus der Tasche gezogen hat. –
ANDREJ: Na, genug, genug ... – Trocknet sich die Stirn. – Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen und bin nicht recht auf dem Posten. Bis vier Uhr hab' ich gelesen, dann hab' ich mich hingelegt, aber es war nichts mehr mit dem Schlafen. Hab' über dies und das gegrübelt – und mit einem Mal ist's hell, die Sonne dringt mit Gewalt ins Schlafzimmer. Gegen zwei Uhr schon beginnt's zu dämmern ... Ich will jetzt im Sommer, solange ich hier bin, ein englisches Buch übersetzen ...
WERSCHININ: Lesen Sie englisch?
ANDREJ: Ja. Mein Vater, Gott hab' ihn selig, hat uns gehörig mit Bildung vollgepfropft. Das war sehr überflüssig und lächerlich – aber es liegt schließlich kein Grund vor, es zu verschweigen. Nach seinem Tode begann ich dick zu werden, als ob mein Körper plötzlich von einem schweren Druck befreit worden wäre. Dank unserm Papa können wir alle Französisch, Deutsch und Englisch, und Irina kann außerdem noch Italienisch. Aber was für Mühe hat das gekostet!