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Die Autorin Rosie Lowan und ihr Ehemann Chad kommen in New York kaum über die Runden, als sie eine überraschende Nachricht erhalten: Chads verstorbener Onkel hat ihnen seine Luxuswohnung im historischen Windermere-Gebäude vererbt. Das junge Paar kann sein Glück kaum fassen. Doch schon kurz nach dem Umzug beschleicht Rosie ein beängstigendes Gefühl. Die vielen Kameras im Haus und die überfürsorglichen Nachbarn erscheinen ihr seltsam. Ebenso wie die Gerüchte um mysteriöse Todesfälle, die sich im Gebäude ereignet haben sollen. Als kurz darauf eine Leiche gefunden wird, weiß Rosie: Sie muss die Wahrheit über das Windermere herausfinden, bevor auch sie in tödliche Gefahr gerät ...
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Seitenzahl: 577
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Auftakt
Erster Akt
1
2
3
4
5
6
7
Zweiter Akt
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
Dritter Akt
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
Vierter Akt
40
41
42
43
Sechs Monate spater
44
45
Epilog
Danksagung
Über das Buch
Die Autorin Rosie Lowan und ihr Ehemann Chad kommen in New York kaum über die Runden, als sie eine überraschende Nachricht erhalten: Chads verstorbener Onkel hat ihnen seine Luxuswohnung im historischen Windermere-Gebäude vererbt. Das junge Paar kann sein Glück kaum fassen. Doch schon kurz nach dem Umzug beschleicht Rosie ein beängstigendes Gefühl. Die vielen Kameras im Haus und die überfürsorglichen Nachbarn erscheinen ihr seltsam. Ebenso wie die Gerüchte um mysteriöse Todesfälle, die sich im Gebäude ereignet haben sollen. Als kurz darauf eine Leiche gefunden wird, weiß Rosie: Sie muss die Wahrheit über das Windermere herausfinden, bevor auch sie in tödliche Gefahr gerät …
Über die Autorin
Lisa Unger ist eine amerikanische Thrillerautorin, deren Romane es in ihrem Heimatland regelmäßig auf die Bestsellerliste schaffen und vielfach begeistert besprochen werden. Auch international kann die Autorin mit ihren Thrillern große Erfolge verzeichnen, ihre Bücher erscheinen in 26 Sprachen, werden millionenfach gelesen und wurden bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Lisa Unger lebt mit ihrer Familie an der Westküste Floridas.
Weitere Titel der Autorin:
Die treue Freundin
Die folgsame Tochter
Das makellose Mädchen
Der heimliche Beobachter
Lisa Unger
Apartment 5B
Ein junges Paar. Eine luxuriöse Wohnung. Eine tödliche Falle …
Thriller
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Anke Angela Grube
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2024 by Lisa Unger
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The New Couple in 5B«
Originalverlag: Park Row Books, New York
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2025 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Judith Abend, Köln
Covergestaltung: Manuela Städele-Monverde
Covermotiv: © Magdalena Russocka / Trevillion Images
E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN9783751761383
Sie finden uns im Internet unter luebbe.de
Bitte beachten Sie auch: lesejury.de
In liebender Erinnerung an meinen Onkel Frederick Davidson, einen wahren Renaissance-Menschen, der sein Leben lang an einem großen Epos arbeitete, und an meine Tante Phyllis Davidson, die für mich den Glamour von New York City verkörperte. Und für meinen Onkel Mario Miscione, einen liebevollen, hingebungsvollen Familienvater.
Du. Stehst auf festem Boden, greifst nach mir. Ich. Stehe an der Kante, blicke hinab. Überall um mich herum Sterne. Sterne am Himmel, die Großstadt ein Feld funkelnder, ferner Himmelskörper. Jedes Licht ein Leben. Jedes Leben eine Tür, eine Möglichkeit. Das habe ich an meiner Arbeit immer am meisten geliebt, dass ich in einem anderen Menschen verschwinden kann. Ich häute mich täglich, schlüpfe in die Haut eines anderen. In manchen fühle ich mich wohler als in meiner eigenen.
»Nicht«, sagst du. »Tu das nicht. Es muss doch nicht so enden.«
Ich höre die Angst und die Verzweiflung in deiner Stimme, schiefe, dissonante Töne, eine Kakofonie in meinem eigenen Herzen. Und denke, dass du dich möglicherweise irrst. Vielleicht hat alles, was ich bin, alles, was ich getan habe, dazu geführt, dass ich hier am Rande des Abgrunds stehe. Es gab kein anderes mögliches Ende. Keinen anderen Weg.
Sirenengeheul. Fern und schwach wie Vogelgesang. Es scheint fast, als würden die Sirenen in dieser Stadt nie aufhören zu heulen, ständig sind Menschen auf dem Weg zu irgendeinem Notfall, irgendeiner Krise. Eilen hin, um zu helfen, jemanden aufzuhalten oder zu retten. Von außen betrachtet wirkt es wie Chaos. Aber im Inneren ist es still, nicht wahr? Es ist wieder einer dieser besonderen Momente im Leben. Nur dass uns diesmal das Schlimmste passieren wird, passieren könnte, oder auch nicht. Mit jedem Flackern der Lichter, mit jeder verstreichenden Sekunde ändert sich der Ausgang der Geschichte, dazu braucht es nur eine leichte Verlagerung des Gewichts.
»Bitte.« Unter der Angst, dem Flehen in deinem Tonfall, höre ich es – Hoffnung. Du hast immer noch Hoffnung. Klammerst dich an diese anderen Möglichkeiten.
Doch als ich dich jetzt ansehe, weiß ich – wie du auch, oder? –, dass ich mich zu oft für das Dunkle entschieden habe, dass kein anderer Ausgang möglich ist als dieser. Der uns beide hier und jetzt befreien wird.
Kräftige Schläge. Sie sind an der Tür.
Weißt du, was komisch ist? Schon an dem Tag, an dem wir uns kennenlernten, wusste ich, dass es so enden würde. Nicht wirklich, nicht genau so, es war keine Vorahnung, keine Vision der Zukunft. Doch sogar in dem Licht, das du auf mich geworfen hast, während du mich zu dem Menschen gemacht hast, der ich immer sein wollte, war da immer dieser dunkle Schemen, ein Gespenst. Der Zerstörer. Du warst immer zu gut für mich, und ich wusste, ich würde nie an den Dingen festhalten können, die wir uns zusammen aufbauten.
Geräusche schwellen an, verbinden sich – deine Stimme, das Hämmern an der Tür, dieses Heulen, die endlosen Hupgeräusche dieser Stadt, die immer in Bewegung ist, die Stadt, in der wir gelebt haben und die wir liebten.
Das Gewicht meines Körpers. Ich schließe die Augen und spüre es. Das Schlagen meines Herzens, das Kommen und Gehen meines Atems. Ich stehe schwankend direkt an der Kante, während du mit ausgestreckten Händen näher kommst.
»Es wird alles gut«, flüsterst du. Jedenfalls glaube ich, dass es das ist, was du sagst. Ich kann dich kaum verstehen, so groß ist der Lärm. Deine Augen, eine wirbelnde Galaxie aus Lichtern, wie die Großstadt unter mir.
Du bist jetzt ganz nah, die Hand ausgestreckt.
Nur einen Schritt. Vor oder zurück.
Was soll es sein?
Vor oder zurück, mein Herz?
Die Erbschaft
Blick’ harmlos wie die Blume,
Doch sei die Schlange darunter.
William ShakespeareMacbeth, erster Akt, fünfte Szene
Manchmal sind es die kleinsten Dinge, die am meisten zählen.
So wie die schmale, rechteckige Schachtel, die ganz unten in meiner Umhängetasche liegt. Vielleicht fünfzehn Zentimeter lang und fünf Zentimeter breit. Sie ist leicht, fast gewichtslos, und klappert, wenn man sie schüttelt. Trotzdem ist sie eine flüsternde Präsenz, ein weißes Rauschen in meinem Bewusstsein.
Max, wie aus dem Ei gepellt in seinem Sakko mit Hahnentrittmuster und einem dünnen Kaschmirpullover, studiert die übergroße Speisekarte und überlegt. Als würde er nicht wie immer die Penne á la Wodka mit einem Salat bestellen. Auch ich habe die Speisekarte aufgeschlagen und suche mir etwas aus. Als würde ich nicht sowieso eine Pizza Margherita bestellen, ohne Salat. Das schicke italienische Restaurant am Broadway, direkt gegenüber von meinem Verlag, ist gut besucht. Silberbesteck klirrt, man hört leises Stimmengemurmel. Über sprudelndem Mineralwasser und Thunfisch-Tartar werden hier zahlreiche Geschäfte abgeschlossen.
Vor dem großen Fenster, an dem wir sitzen, fließt der Verkehr, man hört Hupgeräusche, Busse im Leerlauf, das Kreischen von Bremsen, dann und wann wütende Rufe von aufgebrachten Autofahrern. Und die ganze Zeit spüre ich sie, die Präsenz dieser schmalen Schachtel, so voller Möglichkeiten.
Die Kellnerin nimmt unsere üblichen Bestellungen auf und stellt wie immer für Max eine Flasche Pellegrino auf den Tisch. Ich trinke eigentlich lieber Leitungswasser, aber er schenkt mir ein Glas ein, stets ein Gentleman. Ich bemerke seine manikürten Fingernägel, poliert und eckig gefeilt, und das weiße Ziffernblatt seiner Patek Philippe. Keine Smartwatch für Max. Er schätzt an Uhren ihre elegante Verbindung von Form und Funktion.
»Also«, sagt er und stellt die grüne Flasche wieder auf das weiße Tischtuch.
Sein Tonfall gefällt mir nicht. Max und ich kennen uns schon sehr lange. Er klingt ernst, vorsichtig.
»Also?«
»Dein Buchprojekt.«
Deswegen haben wir uns zum Lunch getroffen, um über meinen Vorschlag für ein neues Buch zu sprechen.
Er holt mein Konzept aus dem dünnen Lederordner, den er zwischen uns auf den Tisch gelegt hat.
»Es hat durchaus Potenzial.«
Das ist Lektoren-Jargon für ›Ich mag es nicht‹. Wie oft habe ich dasselbe zu Autorinnen und Autoren gesagt, die ich als Lektorin betreut habe?
Ich habe immer schon geschrieben, in jeder freien Minute, wann immer sich die Gelegenheit ergab. Mein Ausflug ins Verlagswesen war für mich nur ein Zwischenstopp auf dem Weg zur Schriftstellerei. Aber Max wollte nie etwas anderes sein als Verlagslektor und begabten Autorinnen und Autoren helfen, Großes zu erreichen.
»Aber?«, wage ich zu fragen. Er hebt die Augenbrauen, räuspert sich.
Max und ich haben uns als Lektorats-Assistenten, beide frisch von der Uni, kennengelernt. Wir waren so begierig darauf, in die Welt der Bücher einzutauchen, echte Literatur-Nerds, verführt vom Glanz und Glamour der Branche oder dem, was wir uns darunter vorstellten. Max stieg die Karriereleiter hinauf, während ich bis spätabends arbeitete, früh aufstand und mich an den Wochenenden einschloss, um mein erstes Buch zu schreiben.
Als die erste Fassung fertig war, war Max bereits junger Starlektor in einem der größten Literaturverlage New Yorks. Er war der erste Mensch, den ich bat, mein Manuskript zu lesen, und der Erste, der mir sagte, dass er an mich glaubte. Der erste Lektor, der ein Buch kaufte, das ich geschrieben hatte und mich damit zu dem machte, was ich immer hatte sein wollen: eine Autorin, die vom Schreiben lebt.
Er fährt sich durch sein glänzendes dunkles Haar, das er ein wenig länger trägt, und nimmt seine Hornbrille ab. »Ich weiß nicht, Rosie. Irgendwas fehlt.«
Ich will verärgert auffahren – etwas soll fehlen? Aber obwohl mein Ego getroffen ist, ahne ich, dass er recht hat. Die Wahrheit ist, ich bin selbst nicht so wahnsinnig begeistert davon. Das innere Feuer, das nötig ist, um ein Projekt dieses Ausmaßes in Angriff zu nehmen, fehlt.
»In deinem ersten Buch war so viel Leidenschaft«, fährt Max fort und fixiert mich mit intensivem Blick. Er liebt das, seinen Beruf, diesen Prozess. »Es war so vielschichtig – das Justizsystem, die Frauenfeindlichkeit in der Gerichtsberichterstattung, die Stimmen der Kinder. Es hat mich wirklich gepackt, schon in dem Exposé, das du eingereicht hast. Ich konnte es sehen. Es war neu, aufregend.«
»Und das hier ist es nicht.« Ich versuche, vermutlich vergebens, mir die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.
Er beugt sich vor und greift nach meiner Hand. »Doch, ist es. Nur eben nicht genauso aufregend. Dein erstes Buch war ein Erfolg, darauf können wir aufbauen. Aber das nächste Buch muss unbedingt noch größer sein, noch besser.«
Größer. Besser. Was kommt als Nächstes? Das ist das Mantra der Buchbranche.
»Bloß kein Druck«, schnaube ich.
Mein erstes True-Crime-Buch handelte von der brutalen Vergewaltigung einer jungen Frau aus Manhattan, der Justiz-Farce, die folgte, als ein Mann zu Unrecht verurteilt wurde und der wahre Täter davonkam, um dann weitere drei Frauen zu vergewaltigen und zu ermorden. Es kostete mich fünf Jahre, für das Buch zu recherchieren und es zu schreiben, während ich gleichzeitig in Vollzeit als Lektorin arbeitete. Das Buch verkaufte sich gut, es war kein Mega-Bestseller, aber in jeder Hinsicht ein ordentlicher Erfolg. Es kam im richtigen Moment, nach MeToo, als Frauen, denen von Männern Unrecht angetan worden war, gesellschaftlich in einem anderen Licht gesehen und alte Geschichten neu bewertet wurden.
Das Buch ist vor einem Jahr erschienen, bald kommt es als Taschenbuch heraus. Für mein nächstes Projekt kann ich mir unmöglich wieder fünf Jahre Zeit nehmen.
Max legt sanft seine Hand auf meine. Seine Berührung ist warm und löst verbotene Erinnerungen aus. Seine Finger streifen meinen Ehering und den Verlobungsring, und er zieht die Hand zurück und legt die Fingerspitzen aneinander.
»Ist es wirklich das Thema, worüber du schreiben willst?«
»Ja«, entgegne ich schwach. »Ich glaube schon.«
»Sieh mal«, sagt er und setzt seine Brille wieder auf. »Du hattest in letzter Zeit viel um die Ohren.«
Ich will protestieren, aber es stimmt. Mein Mann Chad und ich haben seinen alten Onkel Ivan gepflegt, der vor Kurzem gestorben ist. Er war Chads einziger Angehöriger, und ja, es war nicht leicht, in seiner letzten Lebensphase für ihn da zu sein und sich nach seinem Tod um seinen Nachlass zu kümmern. Es macht Angst, mitansehen zu müssen, wie ein geliebter Mensch stirbt, und es ist traurig, die Überbleibsel eines langen, bewegten Lebens zu sichten. Onkel Ivan – er war alles, was wir hatten. Ich habe seit über zehn Jahren keinen Kontakt mehr zu meiner Familie. Wir trauern sehr um ihn. Jetzt, wo die Temperaturen fallen und die Feiertage näher rücken, haben wir beide mit einer tief sitzenden Traurigkeit zu kämpfen. Vielleicht hat das meine Arbeit mehr beeinträchtigt, als mir klar war.
Ich denke an die Schachtel in meiner Tasche, diesen kleinen Lichtstrahl. Plötzlich überkommt mich der Drang, nach Hause zu fahren und sie aufzureißen.
»Hör zu«, sagt Max, als ich schweige. »Nimm dir einfach ein wenig Zeit, um darüber nachzudenken, tiefer einzusteigen. Frag dich selbst: ›Ist das die Geschichte, die ich erzählen will und muss? Ist es etwas, das die Leute lesen sollten‹? Sorg dafür, dass auch bei mir der Funke überspringt. Wir haben Zeit.«
Haben wir nicht.
Das Geld von meinem ersten Buch geht zur Neige. Chad hat eine schlecht bezahlte Rolle in einem Off-Off-Broadway-Stück. Diese Stadt – es ist wahnsinnig teuer, hier zu leben. Gerade wurde unsere Miete erhöht, und wir müssen entscheiden, ob wir es uns leisten können, den Mietvertrag zu verlängern. Es ist nur eine kleine Wohnung im fünften Stock im East Village, ohne Fahrstuhl, und doch können wir sie uns nicht mehr leisten, wenn nicht bald einer von uns einen größeren Geldbetrag erhält. Chad hat ein Vorsprechen für eine besser bezahlte Rolle, aber die Konkurrenz ist so groß, dass niemand sagen kann, ob er überhaupt eine Chance hat. Es ist nur ein Werbespot, nichts, was ihn begeistern würde, aber wir brauchen das Geld.
Heute ist er bei der Eröffnung von Ivans Testament. Aber wir erwarten nicht, dass wir etwas erben werden. Ivan ist als mittelloser Mann gestorben. Er besaß nur sein Apartment, und das wird seine Tochter Dana bekommen.
Habe ich mein Exposé übereilt fertiggestellt, weil ich verzweifelt bin? Möglich.
Die Kellnerin bringt unser Essen, und ich habe plötzlich einen Bärenhunger. Wir langen zu. Die Pizza ist gut, unwiderstehlich käsig-knusprig. Wir schweigen, aber es ist ein entspanntes, kameradschaftliches Schweigen. Obwohl das Gespräch nicht so verläuft wie ich es erhofft hatte, ist da keine Spannung zwischen uns. Wir Schriftsteller wollen eigentlich nur eines hören, nämlich wie brillant wir sind. Alles andere schmerzt ein wenig.
»Du sagtest, es habe Potenzial«, sage ich mit vollem Mund. »Was genau hat dir gefallen? Worauf kann ich aufbauen?«
»Ich mochte die übersinnlichen Elemente«, erklärt er und schiebt sich einen großen Bissen Penne á la Wodka in den Mund. Das gehört zu den Dingen, die ich an Max liebe, seine Leidenschaft für gutes Essen. Chad ist vorsichtig mit allem, was er isst, weil er immer für eine Rolle entweder zu- oder abnehmen muss. »Die hast du irgendwie ziemlich flüchtig abgehandelt.«
Ich runzle die Stirn. »Ich dachte, du magst keine Geistergeschichten.«
Es gab ein paar übersinnliche Elemente in meinem letzten Buch – das kleine Mädchen, das einen Tag bevor es geschah vom Tod seiner Mutter träumte, das Kind, das überzeugt war, durch ein Medium Kontakt mit seiner ermordeten Schwester aufgenommen zu haben. Beides wurde gestrichen. Zu viel Esoterik, wie Max damals meinte. Lass uns auf dem Boden der Tatsachen bleiben.
»Tue ich auch nicht – eigentlich«, erwidert er. »Aber ich finde es faszinierend, warum der Glaube entsteht, dass es in einem Haus spukt. Es ist interessant, was das über die Menschen aussagt, über die Orte, die Mythologie.«
Ich spüre ein aufgeregtes Kribbeln in mir aufsteigen. Genau aus diesem Grund braucht jede Autorin einen guten Lektor.
In meinem Exposé geht es um ein legendäres Apartmentgebäude an der Park Avenue in Manhattan, in dem schon zahlreiche Prominente lebten, unter anderem ein Bestsellerautor, eine berühmte Bildhauerin und ein junger Bühnen- und Filmstar. Es war auch Schauplatz überdurchschnittlich vieler grausiger Morde, Selbstmorde und furchtbarer Unfälle. Im Grunde ist es eine New-York-Story: die Geschichte des Gebäudes, seine einmalige Architektur, der Bauplatz – dort, wo es jetzt steht, stand früher eine alte Kirche, die niedergebrannt ist. Ich habe vor, auf die einzelnen Verbrechen einzugehen und die schillernden Charaktere zu beschreiben, die jetzt dort leben. Ich will die Geschichten der Menschen erzählen, die dort starben – unter anderem Chads Onkel Ivan, der ein berühmter Kriegsfotograf war.
Ich werde noch Zutritt zu dem Haus haben, auch wenn wir mit dem Ausräumen von Ivans Wohnung fast fertig sind. Seine Tochter, von der Ivan seit Jahren nichts mehr gehört hatte, die sich nicht einmal meldete, als er im Sterben lag und Chad immer wieder versuchte, sie anzurufen, erhebt jetzt Anspruch auf das Erbe. Sie war nicht interessiert an ihrem Vater, seinen letzten Tagen oder seinen bescheidenen Besitztümern. Aber das Apartment ist ein Vermögen wert. Ich habe mich mit dem Concierge angefreundet, Abi. Er ist eine unerschöpfliche Quelle des Wissens über das Gebäude, weil er seit Jahrzehnten dort arbeitet. Ich glaube, er ist längst im Rentenalter, scheint aber nicht vorzuhaben, seine Concierge-Uniform an den Nagel zu hängen. »Manchen gelingt es nicht, das Windermere zu verlassen, Miss Rosie«, scherzte er, als ich ihn fragte, wie lange er denn noch arbeiten wolle. »Manchen ist es bestimmt, hier zu sterben.«
»Und ich fand die Verbrechen interessant«, fährt Max fort und reibt sich nachdenklich das Kinn. »Also wenn wir diese Elemente etwas mehr herauskitzeln, kann ich das Buch bei der Lektorats-Konferenz vorstellen.«
Im Gegensatz zu meiner geringen Motivation, das Buch zu schreiben, als ich das Restaurant betrat, brenne ich nun regelrecht darauf, mit der Überarbeitung anzufangen. Max hat ganz recht. Es geht nicht um Architektur oder die Geschichte des Gebäudes, sondern um das Düstere, die Verbrechen, die Menschen. Die Frage ist: Gibt es Orte, auf denen ein Fluch liegt, an denen es spukt, gibt es Energien, die das Auftreten schauriger Ereignisse begünstigen? Oder tun nur kaputte Menschen einander furchtbare Dinge an? Ein Mysterium. Das ist es, was eine gute Geschichte ausmacht. Und die Geschichte ist Trumpf, sogar im Sachbuch.
»Ich mache mich gleich an die Arbeit«, sage ich. »Danke, Max.«
»Dafür sind wir Lektoren ja da, Autoren zu helfen, ihr Buch so gut wie möglich zu machen.« Er scheint zufrieden mit sich. »Also, was nehmen wir zum Dessert?«
Ich höre ein lautes Quietschen von Reifen auf Asphalt und schaue auf die Straße, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie ein Fahrradkurier von einem Taxi angefahren wird. Unter einem grässlichen Knirschen von Metall und Glas prallt der Kurier gegen die Motorhaube. Seine langen, schlaksigen Arme und Beine heben und senken sich wie Flügel, als er gegen die Windschutzscheibe kracht, die zu einem Netz haarfeiner Risse zerspringt. Dann schlägt er hart und mit verdrehten Gliedmaßen auf dem Asphalt auf und bleibt auf dem Bürgersteig direkt vor dem Fenster des Restaurants, liegen. Ich schreie entsetzt auf, als rot-schwarzes, zähflüssiges Blut gegen die Scheibe spritzt.
Max und ich springen auf. Ich merke, dass ich mich gegen die blutige Scheibe presse, als könnte ich durch das Glas hindurch zu dem Verletzten gelangen. Ich nehme nichts anderes wahr als ihn, und dann muss ich an Ivan denken, seine letzten gequälten Atemzüge.
Die Augen des Fahrradfahrers sind grün, sie starren leer. Sein rechtes Bein und der linke Arm sind in einem unnatürlichen Winkel verdreht, als hätte eine unsichtbare Hand seinen Körper verbogen. Ich greife nach meinem Handy, aber Max telefoniert bereits. »Wir sind Zeuge eines Unfalls geworden. Am Broadway zwischen der 55th und der 56th Street, vor dem Serafina. Ein Mann wurde schwer verletzt.«
Ist tot, hätte ich ihn am liebsten korrigiert. Aber ich tue es nicht. Wenn man einmal gesehen hat, wie der Tod aussieht, erkennt man es sofort. Es ist eine Art Leere, ein erloschenes Licht, etwas ist entflohen. Diese grünen Augen sind leer, sie sehen nichts mehr. Eine modisch gekleidete junge Frau in einem langen schwarzen Mantel und High Heels läuft zu der verdrehten Gestalt hin und fällt auf die Knie, während sie in ihr Handy spricht.
Sie fühlt den Puls an seinem Hals, behutsam und gekonnt. Dann beginnt sie zu schreien. Ihre Schreie sind so hilflos, so verzweifelt – hat sie ihn gekannt? »Hilfe. Hilfe. So hilf ihm doch jemand.« Oder erkennt auch sie, dass hier jede Hilfe zu spät kommt? Erinnert es sie, wie mich auch, an alle Verluste, die sie je erleiden musste?
Ich presse mich immer noch gegen die Scheibe, wie gelähmt vor Entsetzen.
Eine Menschenmenge versammelt sich und versperrt mir die Sicht auf den Mann. Nur Minuten später kommt ein Rettungswagen. Es gibt ein wütendes Hupkonzert, die Autofahrer sind frustriert, weil ihre Fahrt schon wieder durch einen Verkehrsunfall unterbrochen wurde. Max tritt zu mir und legt mir seinen starken Arm um die Schultern.
»Alles in Ordnung mit dir? Rosie, sag doch etwas.«
Da merke ich, dass ich weine. Dicke Tränen laufen mir über die Wangen. Ich wende mich von der Szene auf der Straße ab, sinke in seine Arme und lasse mich einen Moment von ihm festhalten. Ich schöpfe Trost aus seinem vertrauten Geruch, daraus, ihn zu spüren.
»Ist schon gut«, sage ich schließlich und löse mich von ihm.
»Sicher?«, fragt er besorgt. »Das war– einfach schrecklich.«
Wir setzen uns wieder, in fassungslosem Schweigen. Die Zeit scheint sich zu dehnen. Endlich wird der Radfahrer im Rettungswagen fortgebracht, und die Menschenmenge löst sich auf. Wir sitzen immer noch am Restauranttisch, hilflos, unfähig, irgendetwas zu tun. Wie lange hat das alles gedauert? Ein Restaurantangestellter tritt nach draußen und schüttet einen Eimer Seifenwasser über die Blutlache, die sich gebildet hat. Dann greift er nach einem Schwamm und versucht, das Blut vom Fenster zu wischen, direkt vor mir, aber er verschmiert es nur zu grässlichen, breiten roten Schlieren.
Ich springe so schnell auf, dass ich fast meinen Stuhl umgestoßen hätte. Die übrigen Gäste widmen sich wieder ihrem Essen. Die Show ist vorbei, alle kehren zum Alltag zurück. Vielleicht sollte es auch so sein. Aber ich bin bis ins Mark erschüttert. So viel Blut. Mir ist übel.
»Ich muss hier raus. Tut mir leid.«
Auch Max erhebt sich. Er versichert der Kellnerin, er sei gleich wieder da, um die Rechnung zu begleichen, dann bringt er mich nach draußen und hält ein Taxi an. Der Verkehr fließt wieder, und fast sofort hält eins neben uns.
»Du bist ganz bleich«, sagt Max, öffnet mir die Wagentür und legt die Hand auf meine Schulter. »Soll ich dich nach Hause bringen? Ich bezahle nur noch schnell die Rechnung.«
»Nein, nein«, protestiere ich. Es ist mir peinlich, dass ich so verstört bin. »Mir geht’s gut.«
Ich kann nicht aufhören zu zittern.
»Ruf mich an, wenn du zu Hause bist«, sagt er. »Damit ich weiß, dass du gut angekommen bist.«
Dann sitze ich allein auf dem Rücksitz des Taxis. Vom Fahrer sehe ich nur die Augen im Rückspiegel, der Lärm der Stadt ist gedämpft. Max’ Gestalt hinter mir wird kleiner. Mein Puls rast, meine Gedanken kreisen um das Erlebte.
Was ist da gerade passiert? Was war das?
Ein Unfall. Einer von Hunderten, die in dieser Stadt jeden Tag passieren. Ich hatte nur das Pech, ihn miterleben zu müssen.
Mein Vater würde es sicherlich als ein schlechtes Omen betrachten. Aber er und ich haben nicht dieselbe Weltanschauung. Ich habe seit Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen. Es ist erstaunlich, dass ich seine Stimme immer noch so klar in meinem Kopf höre.
Das Taxi schlängelt sich mit hohem Tempo durch den Verkehr, der Fahrer steht praktisch auf der Hupe. Ich wühle in meiner Umhängetasche herum, bis ich die kleine, blau-weiß-lila gestreifte Schachtel finde, und ziehe sie heraus, um sie zu betrachten. Ein Schwangerschaftstest.
Im Angesicht von Tod und Verlust, was brauchen wir da am meisten?
Hoffnung.
Leben.
Ich kann es kaum erwarten, endlich nach Hause zu kommen.
Ich schließe die schwere Gittertür auf und sehe nach der Post. Nur Rechnungen und nutzlose Flyer. Dann steige ich in den fünften Stock zu unserer Wohnung hoch. Ich bin immer noch ein wenig mitgenommen, aber der Eindruck des Unfalls verblasst schon etwas.
Das macht mich vermutlich zu einer echten New Yorkerin, der das Unglück anderer gleichgültig geworden ist. New York City, sosehr ich die Stadt liebe, ist ein Angriff auf alle Sinne, ein täglicher Schlag ins Gesicht. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als sich abzuschotten, wenn man das hier überleben will, den Lärm, die Gerüche, die anzüglichen Sprüche und Pfiffe, die lauernden Übeltäter, die Gewalt. Ich ertappe mich dabei, wie ich meine Wahrnehmung des Vorfalls infrage stelle. Vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm. Vielleicht war der Radfahrer nur bewusstlos, nicht tot. Er wird verletzt sein, sicher, aber letztendlich überleben, um weiter als Kurier zu fahren. Richtig? Richtig.
Als ich im fünften Stock angekommen bin, glaube ich schon fast selbst daran. Ich schließe die Tür auf, betrete die Wohnung und hoffe, dass Chad schon zu Hause ist, aber er ist nicht da.
Die Wohnung ist sonnendurchflutet und aufgeräumt, und ich spüre, wie etwas von meiner Anspannung nachlässt, als ich die High Heels abstreife und barfuß über die Holzdielen tappe. Sosehr ich auch versuche, mich dagegen zu wehren, sehe ich immer noch vor mir, wie der Mann gegen die Windschutzscheibe geschleudert wird, höre das Knirschen von Metall, sehe sein Blut spritzen. Und als wäre das nicht genug, beschleicht mich auch noch eine tiefe Enttäuschung darüber, dass das Treffen mit Max nicht so gelaufen ist, wie ich es mir erhofft hatte.
Ich hänge meinen Mantel und die Umhängetasche an die Flurgarderobe und trage meine kleine Schachtel sofort ins Bad.
Ich bin seit zwei Wochen überfällig.
Es ist der denkbar schlechteste Zeitpunkt dafür, ein Baby zu bekommen – wir sind beide pleite, unsere berufliche Zukunft ist ungewiss. Aber das ist mir egal. Ich wünsche mir mehr als alles andere, ein Kind zu haben, eine Familie. Mein ganzer Körper, mein ganzes Herz sehnt sich danach. Ich treibe mich auf Spielplätzen herum und biete Freunden an, auf ihre Kinder aufzupassen. Ich suche online nach Babynamen und betrachte sehnsüchtig die Fotos schicker Kinderzimmer auf Pinterest. Und das geht nicht nur mir so, auch Chad wünscht es sich. Wir hoffen so verzweifelt auf ein Kind, weil keiner von uns Familie hat. Ich habe keinen Kontakt mehr zu meiner Familie, und Chads Eltern sind viel zu früh bei einem Autounfall gestorben. Und jetzt, nach Ivans Tod, stehen wir ganz alleine da.
Wir werden es schon schaffen. Mit dem Baby. Unser Leben. Das werden wir. Chad wird die Rolle in diesem Werbespot bekommen, ich werde mein Exposé überarbeiten, und Max wird begeistert sein.
In dem schwachen gelben Licht, das durch die Milchglasscheibe fällt, breite ich die Utensilien auf dem Porzellanwaschbecken aus. Ich studiere die Gebrauchsanweisung, nur um sicherzugehen, dass ich alles richtig mache, obwohl ich das Ganze schon oft durchexerziert habe und es immer wieder in einer Enttäuschung endete. Letztendlich geht es nur darum, auf das Teststäbchen zu pinkeln. Ich tue es, setze die kleine Kappe wieder auf und lege es ab.
Ich erhasche einen Blick auf mein Bild in dem Spiegel, der eine kleine ausgeschlagene Ecke hat. Mein Gesicht, von wilden, rotbraunen Haaren umrahmt, ist konzentriert, und ich kneife ein wenig die Augen zusammen, weil ich zu lange auf die winzige Schrift gestarrt habe. Im Ruhezustand wirkt mein Gesicht streng und besorgt. Wenn ich nicht aktiv eingreife, zieht sich automatisch meine Stirn in Falten, und die Mundwinkel biegen sich nach unten. Ich zwinge mich, mein Spiegelbild anzulächeln.
»Du schaffst das«, versichere ich der jungen Frau im Spiegel. Ich weiß nicht genau, ob sie mir glaubt.
Fünfzehn Minuten. Nicht mehr, nicht weniger.
Im Wohnzimmer lasse ich mich auf das Designersofa sinken, das wir vom ersten größeren Vorschuss auf mein Buch gekauft haben. Es scheint jetzt eine lächerliche Ausgabe zu sein, mehr, als viele Leute für einen Gebrauchtwagen hinlegen würden. Aber die tiefe, weiche Polsterung ist wie eine Umarmung, sie umhüllt mich. Ich greife nach der Kaschmirdecke, ein weiterer Kauf, der unsere derzeitigen Mittel übersteigt, und kuschle mich darin ein.
Tief durchatmen.
Ich checke mein Handy. Keine Nachricht von Chad. Wie das Vorsprechen wohl gelaufen ist? Ich stelle mir vor, wie er in einem Raum mit Schauspielkollegen wartet, die alle genauso gut aussehen und genauso charmant sind wie er. Doch er ist der Beste. Er hat wirklich Talent, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand das erkennt. Danach wollte er noch zur Testamentseröffnung. Seine Standortbestimmung ist deaktiviert. Ich versuche es noch einmal. Und noch einmal. Nichts.
Eine Nachricht von Max: Bist du zu Hause?
Ich antworte sofort: Entschuldige. Ich bin zu Hause. Mir geht’s gut. Und dir?
Das war einfach furchtbar. Ich kann nicht aufhören, an den armen Kerl zu denken. Sein Bein. Glaubst du, er wird wieder?
Nein, eindeutig nicht. Stattdessen schreibe ich: Ganz bestimmt. Der Rettungswagen war so schnell da.
Ich sehe die verdrehte Gestalt des Radfahrers vor mir, das viele Blut, das auf die Fensterscheibe gespritzt ist, und verdränge das Bild. Nein, ich will das nicht in meinem Kopf haben.
Wir haben alte Fenster mit kreuzförmigen Unterteilungen, und wenn man hinausschaut, sieht man die Wohnungen gegenüber, die Feuerleiter, die schmale Gasse zwischen den Gebäuden. Die meisten der Fenster sind dunkel; dort wohnen Leute mit richtigen Jobs, die tagsüber bei der Arbeit sind.
Doch sie ist zu Hause, die junge Mutter mit dem Kleinkind. Das Baby sitzt in seinem Hochstuhl, sie telefoniert. Die dunklen Haare hat sie zusammengebunden, sie trägt ein ärmelloses Yoga-Oberteil und gebatikte Leggins, ihre Bewegungen sind anmutig und schnell. Jetzt spricht sie mit dem Baby, auch wenn ich es durch die geschlossenen Fenster hindurch nicht hören kann. Sie tippt mit der Spitze eines zarten Fingers auf sein Näschen. Das Baby schaut sie anbetungsvoll an und lacht. Ich spüre einen kleinen Stich im Herzen. Ich beobachte die beiden öfter, als es vernünftig wäre.
Sieben Minuten.
Ich zucke zusammen, als es unten an der Tür klingelt. Einmal. Zweimal. Dreimal. Dringlich. Wütend? Wahrscheinlich nur irgendein Freak. Ich warte. Vielleicht hört es ja von selbst auf.
Wieder klingelt es, lange und laut.
Dieses Mal antworte ich: »Wer ist da?«
»Dana.«
Dana? Chads Cousine? Warum ist sie hier? Wir sind uns noch nie begegnet.
»Oh, hallo«, sage ich in die Gegensprechanlage. Was mag sie wollen?
Acht Minuten.
»Kann ich hochkommen?« Ihr Ton ist scharf, unfreundlich.
»Äh, klar.« Ich schaue mich rasch in der Wohnung um. Es ist aufgeräumt genug. »Aber Chad ist nicht da.«
Keine Antwort, also lasse ich sie ins Haus und öffne die Wohnungstür. Ich höre die Stahltür unten krachend zuschlagen, dann hallen Schritte durchs Treppenhaus. Dana läuft die fünf Stockwerke hoch. Endlich erscheint eine atemberaubende Rothaarige in einem weich fließenden blauen Mantel, engen Jeans und hohen Stiefeln, außer Atem vor Anstrengung.
»Verdammt«, schnauft sie. »Das sind sehr viele Stufen.«
»Ja.« Ich trete beiseite, um sie in die Wohnung zu lassen. »Man gewöhnt sich daran. Ich bin Rosie, Chads Frau. Er ist nicht da.«
Sie bleibt im Hausflur stehen und mustert mich abschätzend von oben bis unten. Ich kann ihren Blick nicht deuten. »Du bist genau sein Typ«, sagt sie, leichten Hohn auf den Lippen.
Ich lächle unsicher. Was soll das bedeuten? Als würde sie Chad kennen, als würde sie mich kennen. Aber das tut sie nicht.
Ich werfe unauffällig einen Blick auf mein Handy. Zehn Minuten.
»Komm rein.« Aber sie bleibt stehen.
»Tja«, sagt sie und schaut sich um. »Das Windermere wird ja ein echtes Upgrade für euch sein.«
Die Röte auf ihren Wangen, begreife ich allmählich, kommt nicht nur vom Treppensteigen. Sie glüht vor Wut.
»Wie bitte?«
Aber sie scheint mich nicht zu hören.
»Weißt du, was ich in diesem Leben von meinem Vater bekommen habe?«, fragt sie. Ihre mineralblauen Augen blitzen, aber ihre wütende Tirade täuscht mich nicht. Ich sehe nur Traurigkeit und Verlust.
»Nichts«, fährt sie fort, als ich nicht antworte. »Absolut nichts. Verdammt noch mal rein gar nichts.«
Willkommen im Klub, hätte ich am liebsten erwidert und denke an meinen eigenen Vater, aber es macht nicht den Anschein, als wolle sie Vertraulichkeiten austauschen. Ihr Blick ist hart und unnachgiebig.
»Willst du nicht reinkommen? Möchtest du ein Glas Wasser?«
Aber sie ist offensichtlich in ihrer Wut gefangen.
»Ivan war ein Trinker«, fährt sie fort. »Er hat meine Mutter geschlagen. Wusstest du das?«
Ich schüttle den Kopf.
»Dann hat er uns verlassen. Ohne einen Cent. Meine Mutter hat ihr Leben lang hart gearbeitet, um für uns zu sorgen. Die ganze Welt hat ihn gefeiert, weißt du, wegen seiner tollen Kunst. Aber weißt du, was er uns gegeben hat? Gar nichts.«
»Das tut mir leid«, sage ich. Und das stimmt. Ivan war gut zu mir, freundlich, liebevoll, eine Vaterfigur, auch wenn ich ihn so lange gar nicht gekannt habe. Aber er war nicht mein Vater; wir hatten keine gemeinsame Geschichte, kein gemeinsames Gepäck. »Er hat es bereut, dass er dir kein guter Vater war. Zutiefst.«
Ivan hat tatsächlich eingeräumt, dass er als Ehemann und Vater versagt hat. Ich weiß nicht, ob er es notwendigerweise bereute; er ging ziemlich pragmatisch mit seinen Fehlern um. Aber in dieser Situation schien es mir das Richtige zu sein, es zu sagen. Damit lag ich falsch.
Dana hebt eine blasse, harte Hand. »Nicht.«
Sie ist eine Schönheit mit hohen Wangenknochen und einem breiten, vollen Mund. In ihren Augen erkenne ich Ivans kühle Intelligenz wieder. Ihre Augenbrauen, jetzt vor Wut und Trauer zusammengezogen, sind perfekt gewölbt.
»Er war ein Ungeheuer«, sagt sie.
Ich würde ihr gern widersprechen, aber ich schweige und blicke auf die schwarz-weißen Fliesen hinunter. Dasselbe könnte ich von meinem Vater sagen. Und ich würde mit jedem streiten, der behauptet, dass es nicht stimmt.
Sie blickt zur Decke hoch, immer noch heftig atmend, und schüttelt dann langsam den Kopf. »Hast du sie dir mal angesehen? Seine Fotos. All diese Bilder von Gemetzel und Blutvergießen. Seine Porträts von Kriegsverbrechern. Die Aufnahmen von Schlachtfeldern, Leichen von Kindern, verbrannten Dörfern.«
»Er war Kriegsfotograf«, versetze ich. »Aber nein, ich habe mich nicht näher mit seiner Arbeit beschäftigt.«
»Genau, weil du ein anständiger Mensch bist und dich von Gewaltdarstellungen abwendest. Aber überleg mal. Er war dort und tat nichts, machte nur Fotos. Er war ein Voyeur, sah sich Katastrophen, Mord und Tod an und tat nichts außer zuzusehen.«
So habe ich das noch nie betrachtet. Vielleicht hat sie recht. Oder sie dämonisiert ihn, weil es leichter ist, seinen Vater zu hassen, als die traurige, verlassene Tochter eines Mannes zu sein, der sie nicht lieben konnte.
»Ich glaube, er wollte bezeugen, was passiert, über Kriege berichten, damit alle die Wahrheit erfahren«, wage ich einzuwenden.
»Klar«, sagt sie mit einem verächtlichen Lachen. »Klingt ganz nach ihm.«
Ich rieche ihr leichtes Blumenparfüm und bemerke einen schlichten Ehering an ihrer linken Hand.
»Weißt du, was mein Vater mir nach seinem Tod hinterlassen hat?«
Ich schüttle den Kopf. Das Ganze ist offensichtlich geplant. Es ist nicht schwer zu erraten, was jetzt kommt.
»Absolut gar nichts.«
»Das Apartment –«, setze ich an.
»Gehört euch.« Sie fixiert mich.
»Was? Nein.«
Onkel Ivan besaß nicht viel. Seine Ersparnisse waren fast aufgebraucht. Wir wissen das, weil wir ihm geholfen haben, über die Runden zu kommen, obwohl unser Geld schon für uns allein kaum bis zum Ende des Monats reichte. Am Ende haben wir für ihn Lebensmittel eingekauft und etwas zum exorbitanten Hausgeld beigesteuert. Die Wohnung selbst war längst abbezahlt. Zum Glück hat Ivan beim Militär gedient, bevor er Kriegsfotograf wurde, also hatte er eine gute Krankenversicherung, die alle Kosten übernahm. Dana, die zornige Tochter, steuerte nichts bei, obwohl Chad sie mehrmals anrief, um sie um Hilfe zu bitten.
»Ich war bei der Testamentseröffnung. Ich hatte erwartet, dass er mir sein Apartment hinterlassen würde, schließlich bin ich sein einziges lebendes Kind. Das war wohl das Mindeste, was man erwarten konnte, aber offenbar hat er die Wohnung dir und deinem Mann vermacht. Das Testament wurde erst kürzlich geändert.«
Das ist nicht möglich. Ivan hat mir selbst gesagt, dass er das Apartment Dana hinterlassen wollte.
Ich will ihr das gerade sagen, als die Haustür quietschend aufgeht und dann krachend ins Schloss fällt. Im Treppenhaus sind Schritte zu hören, schnelle, sichere Schritte. Das muss Chad sein.
Zwölf Minuten.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Dana.«
Sie macht einen Schritt vorwärts und ich weiche zurück, zurückgedrängt von der Energie, die sie ausstrahlt. »Wie wär’s damit: Ich überschreibe dir das Apartment? Damit würdest du das Richtige tun.«
»Dana?«
Beide drehen wir uns zu Chad um, der die letzten Stufen heraufgejoggt kommt.
Er ist eine Erscheinung mit seinen dichten, weizenblonden Locken und den haselnussbraunen Augen mit blauen Einsprengseln. Breitschultrig, fit und durchtrainiert. Dazu eine starke Kinnpartie, ein paar modisch stehen gelassene Bartstoppeln. Mein Mann ist ein Filmstar. Er wurde nur noch nicht entdeckt. Trotzdem werden die meisten Frauen in seiner Gegenwart ganz schwach. Sogar ich, obwohl ich als seine Frau all seine Schwächen und Macken kenne.
Dana sieht ihn finster an und fasst sich an den Hals.
»Was willst du hier?«, will er wissen. Er hat eine kleine, steile Falte zwischen den Augenbrauen, wie immer, wenn er zornig oder beunruhigt ist.
Sie tritt einen Schritt zurück, um ihn vorbeizulassen.
»Ich wollte gerade gehen«, sagt sie. »Du wirst von meinem Anwalt hören.«
»Tu das nicht, Dana.« Seine Stimme klingt müde. »Ich bin genauso überrascht wie du.«
Chad hält einen dicken Umschlag in der Hand. Ich fange langsam an, eins und eins zusammenzuzählen.
»Als hättest du es nicht gewusst.« Sie kocht vor Wut. »Als hättest du nicht die ganze Zeit darauf hingearbeitet.«
»Und wo warst du?« Auch er ist jetzt zornig. »Als Ivan im Sterben lag?«
Ihr Kiefer ist angespannt, als sie den Kopf schüttelt und zwischen mir und Chad hin- und herblickt. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, ihre Hände zittern.
»Weißt du überhaupt, wen du da geheiratet hast?«, zischt sie mir zu. »Lauf, solange du noch kannst, Rosie.« So viel Traurigkeit, so viel Wut. Ich trete noch einen Schritt zurück und schlinge die Arme um meine Mitte.
Sie dreht sich um und geht zur Treppe. »Glaub mir, es ist noch nicht vorbei«, ruft sie über die Schulter zurück.
»Dana!«, sagt Chad, als sie die Stufen hinunterstürmt. Das Stakkato ihrer Absätze hallt durchs Treppenhaus. Er tritt ans Treppengeländer und ruft: »Dana, lass uns doch darüber reden.«
Unten schlägt die Stahltür zu. Sie ist gegangen. Einen Augenblick lang stehen wir beide wie betäubt da. Endlich legt er den Arm um mich und führt mich zurück in die Wohnung.
»Was war das denn?«, frage ich. Ich bin zu nervös, um jetzt ins Badezimmer zu gehen. Die Viertelstunde ist vorbei.
Er lässt sich aufs Sofa fallen und starrt auf den Umschlag, den er in der Hand hält.
»Rosie.« Ein Lächeln spielt um seine Mundwinkel. »Ivan hat uns sein Apartment hinterlassen.«
In letzter Zeit hatten wir nichts als Pech. So ein Geschenk des Himmels scheint kaum möglich, so eine glückliche Wendung. Wenn man es als Glück bezeichnen kann, etwas zu bekommen, das wahrscheinlich eigentlich jemand anderem zustünde. Ich erlaube mir nicht, daran zu glauben, schiebe es beiseite, immer noch ganz auf meine andere Hoffnung konzentriert.
»Bin gleich wieder da«, sage ich. Chad nickt, öffnet den Umschlag und holt die Unterlagen heraus. Zwei Schlüsselbunde fallen klimpernd auf unseren Couchtisch im Shabby Chic-Stil.
Ich ziehe die Badezimmertür hinter mir zu und schließe die Augen. Bitte, bitte, bitte.
Doch als ich die Augen wieder öffne, wird mir das Herz schwer. Nur eine blaue Linie. Ich unterdrücke die Tränen und wappne mich gegen die heftige Enttäuschung, die mich überkommt. So lange versuchen wir es doch noch gar nicht, rede ich mir ein. Es sollte nicht so wehtun. Wir sind noch jung. Und es ist wirklich nicht der beste Zeitpunkt dafür, ein Kind zu bekommen.
Ich setze mich auf die Toilette und konzentriere mich auf meine Atmung.
Dann wickle ich alles – den Test, die Verpackung, die Schachtel – in Papiertücher und werfe es in den Abfalleimer. Ich habe Chad nicht erzählt, dass meine Periode überfällig ist. Warum ihn auf diese Achterbahnfahrt der Gefühle mitnehmen. Ich starre auf mein Spiegelbild, schaue mir in die dunklen Augen, fahre mir mit den Fingern durchs Haar und setze ein Lächeln auf, das auch mein Schauspielergatte nicht besser hinbekommen würde. Reiß dich zusammen, befehle ich mir.
Als ich wieder ins Wohnzimmer komme, starrt Chad auf die Schlüssel in seiner Hand.
»Es gehört uns«, sagt er. »Ich habe alles hier. Die Schlüssel, die Grundeigentumsurkunde für die Eigentumswohnung, alle Unterlagen.«
»Das ist der reine Wahnsinn«, sage ich und setze mich neben ihn.
»O mein Gott, Rosie.« Er ergreift meine Hände. »Dieses Apartment Es ist ein Vermögen wert.«
160 Quadratmeter, lichtdurchflutet, mit atemberaubenden Ausblicken, in einem exklusiven Altbau mit einem Concierge. Parkettböden, hohe Decken, ein echter Kamin. Ich wage kaum, mir uns beide dort vorzustellen.
»Es fällt schwer, darüber zu jubeln«, sagt er. »Weil Ivan tot ist. Aber – Wahnsinn!«
Ich will nicht aussprechen, was ich denke, weil ich die Pragmatikerin bin und er der Träumer. Aber wie hoch sind die Erbschaftssteuern? Und das Hausgeld ist extrem hoch. Können wir es uns überhaupt leisten, diese Erbschaft anzutreten?
»Was ist mit Dana?« Ich denke an ihre zorngeröteten Wangen, die Traurigkeit in ihren Augen.
Er hebt die Schultern. »Was soll mit ihr sein? Wo war sie denn, als Ivan im Sterben lag? Ich meine, sie hat nicht mal angerufen, kein einziges Mal. Seit über zehn Jahren herrscht Funkstille zwischen ihnen.«
Es ist kompliziert, würde ich am liebsten erklären, wenn man auf Distanz zu den Eltern gegangen ist. Würde ich heimfahren, wenn ich hörte, dass mein Vater im Sterben läge? Ich weiß es nicht. Vielleicht nicht. Andererseits würde ich auch keine Erbschaft erwarten.
»Sie will ihr Erbe einklagen.« Ich denke an ihre Wut und an die Drohung, die sie im Gehen ausgestoßen hat.
Chad scheint nachzudenken, er blickt auf die ausgebreiteten Unterlagen und die beiden Schlüsselbunde. Sie blitzen in dem schwachen Licht auf, das durchs Fenster fällt. »Soll sie.«
Dann zieht er mich an sich und mustert mich forschend. »Rosie, es ist okay, sich darüber zu freuen. Freu dich doch für uns.«
Dann küssen wir uns, und die Erbschaft und alles andere ist vergessen. Es wird schnell leidenschaftlich, das ist immer so. So lange sind wir noch nicht verheiratet, weniger als ein Jahr. Es war eine einfache Hochzeit auf dem Standesamt, danach eine kleine Feier mit Freunden in unserer Lieblingsbar. Wir versprechen uns ständig, bald auf Hochzeitsreise zu gehen, aber wir mussten uns so abrackern, um finanziell über die Runden zu kommen, dass wir es bislang nicht geschafft haben. Dazu kam noch die Pflege von Ivan.
Seine Lippen auf meinem Hals, seine Hände zerren an meiner weißen Seidenbluse. Sie fällt zu Boden, und dann ziehe ich den Reißverschluss seiner Jeans auf, schiebe meinen Rock hoch und steige auf ihn drauf. Er gleitet in mich hinein, hart, hungrig. Ich lasse mich von der Leidenschaft mitreißen, während er mit dem Mund meine Brüste liebkost. Es ist schnell und intensiv, heiß. Ich presse mich fester an ihn, er wirft vor Lust den Kopf zurück und stöhnt hilflos. Ich drücke die Lippen auf das weiche Fleisch seiner entblößten Kehle. Seine Arme schließen sich um mich. Es existiert nichts mehr auf der Welt als das hier.
»Rosie«, flüstert er. »Ich liebe dich so sehr.«
Raketen der Leidenschaft explodieren, als er mit einem Stöhnen, das wie Schmerz klingt, zum Höhepunkt kommt, und mein Körper antwortet mit einem heftigen Orgasmus. Ermattet lasse ich mich gegen ihn sinken, und mein Blick fällt auf die Fenster. Ich habe vergessen, die Vorhänge zuzuziehen. Alle Fenster gegenüber sind dunkel, bis auf eins. Die Yoga-Mama steht am Fenster und beobachtet uns. Sie muss das Ganze mitangesehen haben.
Zum Glück bin ich nicht der schüchterne Typ. Als sie meinen Blick bemerkt, wendet sie sich verlegen ab und lässt abrupt die Jalousien herunter. Ich kichere in mich hinein, erzähle Chad von der Yoga-Mama und merke an, dass wir vorsichtiger sein sollten.
»Wildgewordene Kulturschaffende«, sagt er. Darüber müssen wir beide lachen.
Ich blicke zum Fenster hinaus und frage mich, ob uns wohl noch jemand beobachtet hat. Im obersten Stock wohnt ein Künstler, der manchmal die ganze Nacht arbeitet. Im dritten Stock leben ein paar junge Frauen, die anscheinend irgendwelche Bürojobs haben. Sie haben ständig Freunde da oder sitzen auf ihrem großen Sofa, in bequemen Joggingsachen, die Haare hochgebunden, gucken Netflix und bestellen sich was bei Uber Eats. Sie sind jung, machen einen netten Eindruck. Meistens sind sie gegen zehn im Bett, um sieben gehen sie zur Arbeit. Bei den übrigen Fenstern sind meistens die Jalousien heruntergelassen.
»Ich werde Olivia anrufen.«
»Das ist eine gute Idee.«
Olivia gehört zu den wenigen in unserem Freundeskreis, die einen richtigen Job haben. Die Übrigen sind Schriftsteller, Schauspieler, Künstler. Olivia ist Anwältin, sie arbeitet bei einer großen Kanzlei, die ihren Sitz in Uptown Manhattan hat. Sie ist auf dem besten Wege, zur Partnerin gemacht zu werden, und arbeitet so viel, dass sie sich ständig verspätet oder früher gehen muss, sei es bei kulturellen Events, Performances oder Signierstunden. Vor einer Ewigkeit waren sie und Chad mal ein Paar, aber das ist kein Ding. Zumindest nicht für mich. Sie war die Erste aus seinem Freundeskreis, die auch meine Freundin wurde. Manchmal ertappe ich sie dabei, dass sie ihn wehmütig ansieht oder mich mustert – nicht eifersüchtig, nur etwas traurig vielleicht. Ich weiß nicht. Als hätte sie ihn vielleicht nicht gehen lassen sollen. Aber sie hat es getan.
Chad greift nach seinem Smartphone und ich gehe ins Bad, um schnell zu duschen. Ich setze mich auf die Toilette und pinkle, und als ich das Toilettenpapier anschaue, ist es dunkel vor Blut. Jede Resthoffnung, dass das Testergebnis falsch gewesen sein könnte, zerschlägt sich. Ich krümme mich fast, so heftig sind die Krämpfe, die mich überkommen. Und das wohlige Nachgefühl des Liebesspiels mit meinem heißen Ehemann lässt rasch nach.
Vor meinem inneren Auge erscheint das verschmierte Blut auf dem Restaurantfenster, das zornige Rot von Danas Wangen. Der Schmerz lässt nach, als ich im Badezimmerschrank nach den Binden suche.
»Weißt du«, ruft Chad von draußen, »ich glaube wirklich, dass unsere Pechsträhne vorbei ist.«
Ich glaube nicht an Glück oder Pech. Das Leben passiert einfach. Es ist wie eine Achterbahnfahrt; man kann sich nur festklammern, und los geht’s.
Chad döst ein, als wir uns zum tausendsten Mal Blade Runner 2049 ansehen. Er kennt den gesamten Text von Ryan Gosling auswendig, und manchmal steht er auf, um ihn für mich mitzusprechen. Ich finde es süß, dass mein Mann ein großer Science-Fiction-Fan ist und davon träumt, eine Rolle wie Gosling in Blade Runner oder Harrison Ford in Star Wars zu spielen – ein Weltraum-Draufgänger, aber vielschichtig. Gerade probt er an einem Off-off-Broadway-Theater mit unter 100 Sitzplätzen. Es ist eine genderfluide Inszenierung von »Macbeth« mit Musik, und er spielt eine der Hexen. Die Inszenierung ist tatsächlich ziemlich gut und hat schon ein paar positive Vorabkritiken eingeheimst. Da er seinen Master in Schauspiel an der Columbia University gemacht hat, ist er ein ausgewiesener Shakespeare-Darsteller, und er besucht immer noch jeden Donnerstagabend einen Schauspielkurs, um sein Handwerk weiter zu verfeinern und zu vertiefen. Aber sein jungenhaftes Herz träumt von Weltraumabenteuern.
Er liegt schlafend auf dem Sofa und schnarcht leise. Ich betrachte ihn eine Weile, weil er so süß ist, wenn sein Gesicht entspannt ist. Im Wachzustand ist er ständig in Bewegung, eilt von einem Projekt zur nächsten, immer unter Hochdruck. Er ist ehrgeizig. Das gilt wohl auch für mich, und manchmal sind unsere Tage so ausgefüllt, dass wir einander kaum zu Gesicht bekommen. Ich streiche ihm eine Haarsträhne aus der Stirn und berühre seine weiche Wange. Er regt sich und öffnet die Augen.
»Du bist eingeschlafen.«
»Ich habe geträumt – von Ivan. Und dem Apartment.« Eine für ihn untypische Besorgnis lässt ihn die Stirn runzeln.
»Wir reden morgen weiter darüber.«
Er nickt, steht auf, streckt sich und zeigt dabei diese unglaublichen Bauchmuskeln.
»Kommst du ins Bett?«, fragt er schläfrig und streckt die Hand nach mir aus.
»Ich werde noch ein bisschen arbeiten.«
Das ist meine Zeit, wie wir beide wissen. Er ist Frühaufsteher. Aber meine Kreativität erreicht ihren Höhepunkt, wenn der Tag vorbei ist und die anderen schlafen.
»Mach nicht zu lange.« Er drückt mir einen Kuss auf den Scheitel, bevor er im dunklen Schlafzimmer verschwindet.
Ich hole meinen Laptop aus der Tasche und mache mich an die Arbeit.
Die Änderungen gehen mir leicht von der Hand, und der Aufbau des Buches steht mir klar vor Augen, sehr viel klarer als vorher.
Die Stunden vergehen. Ich schaffe unglaublich viel.
Als ich fertig bin, ist die Morgendämmerung weniger als eine Stunde entfernt; am Himmel zeigt sich bereits ein heller Schimmer. Ich bin erschöpft, aber zufrieden mit meiner Überarbeitung. Ich weiß einfach, dass es so funktionieren kann – ich spüre das Kribbeln auf meiner Haut.
Vielleicht hat Chad recht. Es ist Schicksal, dass wir dieses Apartment geerbt haben. Es ist mir bestimmt, dieses Buch zu schreiben, und ich soll im Windermere wohnen, während ich es schreibe. Ich spüre geradezu die positive Energie.
Ich verfasse eine Mail an Max und eine an meine Agentin Amy und schicke beide ab, mit dem überarbeiteten Exposé und der Leseprobe im Anhang. Es ist 5.55 Uhr, wie mir auffällt, was ich als gutes Zeichen werte. Ivan hat das Apartment 5B, die Adresse ist Park Avenue 55.
Ich will mich gerade hinlegen, als mir unsere glänzenden neuen Schlüssel ins Auge fallen. Ich setze mich wieder hin, sichte die Wohnungsunterlagen und denke an unser Telefonat mit Olivia vorhin zurück.
»Zunächst einmal«, sagte Olivia, als Chad sie auf Lautsprecher stellte, »solltet ihr feststellen, wie viel das Apartment wert ist.«
»Ich habe nachgesehen, für wie viel die letzte Wohnung im Windermere wegging«, antwortete Chad. »Sie war größer und moderner als Ivans – aber der Verkaufspreis lag bei fünf Millionen.«
Das wundert mich. Wann hat er das recherchiert? Auf dem Nachhauseweg von der Testamentseröffnung? Wahrscheinlich.
»Wahnsinn«, sagte Olivia. »Wie hoch ist das monatliche Hausgeld?«
»Tja, es ist ein altes Gebäude, also sind die Ausgaben hoch, unter anderem für den Vollzeit-Aufzugführer – etwa 2.000 Dollar im Monat. Aber weißt du, wir bezahlen jetzt mehr als das an Miete.«
Olivia schwieg eine Weile, und wir konnten beide hören, wie sie eine Nachricht tippte und abschickte.
»Ich werde noch mal mit unserem Erbrechts-Spezialisten sprechen, aber ich glaube, unter zehn Millionen fällt keine Erbschaftssteuer an. Wenn die Dokumente alle in Ordnung sind und das Testament klar und korrekt aufgesetzt wurde, habt ihr gerade den Jackpot gelandet.«
Chad und ich sahen einander an.
Heilige Scheiße, formte er tonlos mit den Lippen.
Gut, vielleicht glaube ich doch an Glück.
Aber es war nicht nur Glück, oder? Wir waren für Ivan da, als es sonst niemand war. Seit Chad und ich zusammen sind, haben wir alle Festtage mit Ivan verbracht, Weihnachten, Thanksgiving und die Geburtstage. Bei unserer Hochzeit war er der Trauzeuge, er hat die Heiratsurkunde unterschrieben. Als er plötzlich so schwer erkrankte, waren wir für ihn da. Er musste keinen Augenblick allein und unbetreut zubringen. Er starb in seiner eigenen Wohnung, in seinem eigenen Bett, mit uns an seiner Seite.
Er hat nie auch nur mit einem Wort erwähnt, dass er uns das Apartment hinterlassen wollte. Und es wäre keinem von uns beiden in den Sinn gekommen, ihn um irgendetwas zu bitten. Was wir getan haben, taten wir aus Liebe. So einfach ist das.
»Warum hat er die Wohnung nicht seiner Tochter hinterlassen?«, fragte ich laut, obwohl ich das gar nicht vorhatte. »Laut Dana hat er sein Testament erst vor Kurzem geändert.«
Chad warf mir einen Blick zu. »Ist doch egal, oder? Es war seine Entscheidung. Und er hat sich für uns entschieden.«
Ich teilte Olivia mit, dass Dana vorhatte, ihr Erbe einzuklagen, dass sie in unsere Wohnung gekommen ist und uns gedroht hat.
»Ich meine – sie kann’s ja versuchen. Aber wenn das Testament eindeutig ist und er einen Notar zur Testamentsänderung hinzugezogen hat, hat sie kaum Aussicht auf Erfolg. Es kommt ständig vor, dass Leute ihre Kinder enterben. Ist nicht schön, aber viel dagegen tun kann man nicht.«
Wir schwiegen beide. Ich verflocht meine Finger mit Chads Fingern.
»Hey Leute?« Olivias Stimme drang blechern durch den Lautsprecher. »Meinen Glückwunsch. Feiert das, ja? Ihr habt es verdient.«
»Danke«, sagte ich. »Olivia, zu unserem ersten Essen in unserer neuen Wohnung laden wir dich ein.«
»Ich komme darauf zurück«, antwortete sie. Ich konnte das Lächeln in ihrer Stimme hören. »Im Ernst – das ist fantastisch.«
Man muss schon wirklich großherzig sein, um sich ehrlich für einen Ex und seine neue Frau freuen zu können, wenn sie völlig unerwartet ein Vermögen erben. Ich habe Olivia schon immer bewundert, ihren Stil, ihren Erfolg, ihre Hingabe an ihren Beruf. Aber jetzt stieg sie noch etwas höher in meiner Wertschätzung.
Als ich jetzt allein im Wohnzimmer sitze, greife ich nach dem klimpernden Schlüsselbund. Er liegt kalt und schwer in meiner Hand. Ich versuche, mir vorzustellen, dort glücklich mit Chad zu leben, in Murray Hill, einem echten New Yorker Traditionsviertel. Vielleicht fehlt der Glamour von SoHo, das hippe Understatement von Tribeca oder die coole Rauheit des East Village, wo wir derzeit leben. Aber es ist ruhig und friedlich dort. Ja, ich sehe uns, wir schieben einen Kinderwagen die Park Avenue hinunter. Sind glücklich und in Sicherheit.
Aber in einer Sache irrt Chad sich: Das Hausgeld beträgt fast 4.000 Dollar im Monat und ist damit fast doppelt so hoch wie unsere derzeitige Miete. Mit unseren Einnahmen und der Mietkaution unserer jetzigen Wohnung können wir es uns leisten, schätzungsweise ein halbes Jahr im Windermere zu leben – wenn wir oft Ramen kochen. Es sei denn, ich bekomme einen Buchvertrag. Oder Chad kriegt die Rolle im Werbespot.
Ich denke immer noch über all das nach, als ich neben meinem Mann ins Bett schlüpfe.
Er dreht sich um und hält mich fest, und ich schmiege mich in seine Arme und falle sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Als ich aufwache, ist Chad längst weg. Er hat den ganzen Tag Probe, und heute Abend ist Premiere. Wahrscheinlich werde ich ihn erst wieder sehen, wenn er auf der Bühne steht. Es gibt keine kleinen Rollen, heißt es ja immer. Aber diese Rolle ist winzig. Ich glaube, sein Auftritt dauert insgesamt etwa zwanzig Minuten.
Ich stehe auf und mache mir einen starken Kaffee. Es ist schon fast zehn. Als ich mir eine Tasse eingeschenkt habe, setze ich mich sofort an meinen Laptop. Es ist bereits eine Mail von Max eingetroffen:
Wow. Ich weiß nicht, wie du das so schnell geschafft hast, aber ich bin begeistert. Mir gefällt, wie du das Buch um die verschiedenen Verbrechen herum aufgebaut hast. Ich freue mich darauf, das Projekt heute auf der Konferenz vorstellen zu können. Bis ganz bald.
Ich gestatte mir einen kurzen Freudenschrei und informiere Chad mit einer kurzen Textnachricht über die positive Wendung. Er antwortet nicht, was ich auch nicht erwartet hätte. Sein Handy liegt vermutlich in der Garderobe und er ist auf der Bühne. »Spart am Werk nicht Fleiß noch Mühe, Feuer sprühe, Kessel glühe!«
Doch es gibt noch eine Sache, um die ich mich kümmern muss: unsere Mietkaution.
Ich rufe im Büro unseres Vermieters an und erwische seine Sekretärin.
»Hi, Mira«, sage ich. »Hier ist Rosie Lowan, wir wohnen in der First Avenue. Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass wir den Mietvertrag nicht verlängern werden. Wir ziehen Ende des Monats aus.«
Kurzes Schweigen am anderen Ende der Leitung, dann kommt: »Ja, ich weiß. Ich bin gerade dabei, die Rückzahlung Ihrer Kaution zu veranlassen.«
»Oh«, sage ich verwirrt.
»Ihr Mann. Er hat vor ein paar Wochen angerufen und gefragt, ob wir die Rückzahlung der Kaution beschleunigen könnten, weil Sie das Geld für die neue Wohnung bräuchten.«
»Wann war das genau?«, frage ich.
»Lassen Sie mich nachsehen.« Ich höre das Klackern ihrer Tastatur. »Am fünften Oktober.«
Nur ein paar Tage nach Ivans Tod. Hat er Chad gesagt, dass wir die Wohnung bekommen werden?
»Tja, da war er mir wohl einen Schritt voraus«, sage ich und überspiele meine Verwirrung.
»Wenn Sie den Scheck abholen wollen, er liegt ab heute Nachmittag bereit.«
Das ist schon ziemlich seltsam. Chad, der sich praktisch nie mit Verwaltungskram abgibt, hat den Vermieter angerufen und um die Rückzahlung der Kaution gebeten. Was vermutlich eine gute Sache ist. Wir werden das Geld früher zurückbekommen, ein zusätzlicher Zahlungseingang auf unseren Konten statt nur Abbuchungen. Aber bedeutet das, Chad wusste, dass wir das Apartment bekommen würden? Aber hätte er mir das nicht gesagt? Wenn er so sicher war, dass wir umziehen würden, dass er um frühere Rückzahlung unserer Mietkaution gebeten hat?
Unwillkürlich muss ich an etwas denken, was Dana gesagt hat: Als hättest du das nicht die ganze Zeit geplant.
Und dann: Lauf, solange du noch kannst, Rosie.
Aber ich schiebe den Gedanken an Dana beiseite, die in ihrer Verletztheit Gift und Galle speit. Es gibt bestimmt irgendeine Erklärung für das alles. Und ich habe Wichtigeres zu bedenken.
Mein Buchprojekt ruft. Ich werde heute arbeiten, ins Windermere fahren und einige Zeit in dem Apartment verbringen. Unserem Apartment.
Ich gehe unter die Dusche und ziehe mich an. Dabei verabschiede ich mich innerlich von den ärgerlichen Macken unserer Wohnung – dem unebenen Fußboden, dem Wasserleck im Bad, dem gesprungenen Linoleum in der Küche. Gerade will ich die Wohnung verlassen, als mein Telefon klingelt. Ich ziehe es aus der Tasche und sehe eine unbekannte Nummer. Aber ich erkenne die Vorwahl.
Geh nicht ran, würde Chad sicher sagen.
Aber ich nehme den Anruf an.
Ich sage erst mal gar nichts. Ich bleibe in der Wohnungstür stehen und lausche.
Schließlich fragt eine junge weibliche Stimme: »Rosie? Bist du dran?«
»Sarah?«
»Hi«, sagt sie und stößt die Luft aus. »Es ist schön, deine Stimme zu hören.«
Meine kleine Schwester. Auch ich finde es schön, ihre Stimme zu hören, aber es tut auch weh.
»Du fehlst mir«, sagt sie.
Seit ich vor zehn Jahren nach New York City kam, im Grunde eine Ausreißerin auf der Flucht vor meiner schlimmen Kindheit, vor Chaos und Wahnsinn, herrscht absolute Funkstille zwischen meinen Eltern und mir. Aber mit Sarah und meiner Großmutter habe ich gelegentlich Kontakt. Ich schreibe ihnen echte Briefe auf Papier und erzähle ihnen von meinem Leben. Als ich geheiratet habe, habe ich es Sarah mitgeteilt. Ich sorge immer dafür, dass sie meine Adresse hat und mich erreichen kann, für den Fall, dass sie irgendwann ebenfalls gehen will.
»Alles in Ordnung?«, frage ich und spüre, wie mein Magen sich verknotet.
»Du weißt schon«, sagt sie. »Wie das Leben so ist.«
»Die Eltern?«
»Wie immer.«
Das überrascht mich nicht. Ich blocke die Erinnerungen an meine Kindheit ab, die in mir aufsteigen wollen, das abgelegene Haus, das Leben in ständiger Furcht. Ich bekam ein Stipendium für die New York University und wegen meiner extremen Armut zudem einen Job als studentische Hilfskraft, damit ich meinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. Es war ein harter Kampf, in dieser Stadt zu überleben und meine schwierige Kindheit hinter mir zu lassen, aber ich habe kein einziges Mal zurückgeblickt. Und ich habe es geschafft. Ich bin eine Überlebende, wenn auch sonst nichts.
»Rosie«, sagt Sarah. »Ich werde heiraten. Brian Jenkins.«
»Das ist wunderbar«, sage ich. Im Juni wird sie zwanzig. Brian ist ein Junge aus unserer Kleinstadt auf dem Ozark-Plateau. Ich erinnere mich nur, dass sein Vater mit unserem Vater zu trinken pflegte, sie saßen auf Plastikstühlen auf dem Rasen vor dem Feuer. Manchmal tranken sie die ganze Nacht, lachten über gar nichts, gelegentlich kam es zum Streit.
»Ich bin schwanger.«
Überraschung, Überraschung. Trotzdem ist es ein bisschen wie ein Messerstich in den Magen. »Das freut mich für dich, Sarah.«
»Wirklich?«
»Klar.«
Dann herrscht ein angespanntes, tiefes Schweigen. Es zieht sich so lange hin, dass ich mich schon frage, ob die Verbindung unterbrochen wurde.
»Ich hatte gestern Nacht einen Traum«, sagt sie schließlich leise. »Einen schlimmen Traum.«
Sarah und ihre Träume. Wir hatten früher ein gemeinsames Zimmer, und sie wurde immer von Albträumen geplagt, was kein Wunder ist, denn unser Aufwachsen war weder behütet noch schön.
»Es ging um dich«, fährt sie fort, als ich schweige.
»Okay.« Ich sollte ihr sagen, dass ich losmuss. Aber stattdessen setze ich mich an den kleinen Küchentisch und streife meine Tasche ab.