Die Rote Jägerin - Lisa Unger - E-Book

Die Rote Jägerin E-Book

Lisa Unger

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Beschreibung

Lisa Unger verwebt die tragischen Schicksale von zwei Frauen zu einem meisterhaften Psychothriller. Als Zoey Drake noch ein Kind war, wurden ihre Eltern ermordet. Seither kämpft sie mit ihrer Traurigkeit und Wut. Vor Jahren wurde Claudia Bishop vergewaltigt. Da sie am selben Tag auch Sex mit ihrem Mann hatte, ließ sie aus Angst vor der Wahrheit nie klären, wer der Vater ihrer Tochter Raven ist. An dieser Belastung ging ihre Ehe zugrunde. Jetzt, nach der Scheidung, zieht Claudia in das alte Farmhaus ihrer Familie. Sie ahnt nicht, dass hier die Eltern von Zoey starben und weitere furchterregende Geheimnisse darauf warten, enthüllt zu werden … Ace Atkins: »Gehört zu den besten Thrillern, die ich in den letzten Jahren gelesen habe – mutig und düster, aber mit echter Leidenschaft. Unger gehört zu den Besten.« Lisa Unger ist die internationale Bestsellerautorin von mehr als 20 Romanen, die millionenfach verkauft wurden. Sie gilt als moderne Meisterin der Spannung.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 558

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Red Hunter

erschien 2017 im Verlag Gallery Books.

Copyright © 2017 by Lisa Unger

Copyright © dieser Ausgabe 2023 by Festa Verlag GmbH, Leipzig

Veröffentlicht mit Erlaubnis von Gallery Books,

a Division of Simon & Schuster, Inc.

Titelbild: Festa Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-98676-063-2

www.Festa-Verlag.de

Für Joe und Jen Pamlanye

Danke für eure bereichernde Freundschaft

und euer kostbares Geschenk –

Raum und Zeit.

Heute

Nichts an mir würde Ihnen jemals auffallen. Ich bin weder besonders schlank noch übergewichtig. Mein Gesicht gehört nicht zu denen, an die Sie sich erinnern. Mit dunklen Augen und blassem Teint, strohblondem Haar und vollen Wangen, die gerade mal rosig genug sind, um Sie nicht vermuten zu lassen, ich sei krank, verschwinde ich in dem Meer aus anderen unscheinbaren Gesichtern, die Sie im Lauf eines Tages vor oder nach mir gesehen haben. Auch an meiner Kleidung wird Ihnen nichts auffallen. Keine Marken, die Neid erwecken könnten, nichts Verräterisches, keine Flecken, aber eben verknittert oder abgetragen genug, damit Sie mich als eine junge Frau abhaken, die zwar nicht viel Geld hat, aber nicht arm genug ist, um bedürftig zu sein. Trage ich eine Uniform, existiere ich nicht einmal. Ich bin die Kassiererin im Supermarkt oder das Zimmermädchen, das Ihr Hotelzimmer putzt, das Girl am Kundentelefon oder die junge Lady an der Information. Nein, würden Sie später sagen, an ihren Namen oder ihr Aussehen kann ich mich nicht erinnern, eigentlich nicht. Tatsächlich sehen Sie mich nicht, Ihr Blick geht über mich hinweg, ohne haltzumachen. Aber ich sehe Sie.

Heute bemühe ich mich, keine Energie von Aufregung zu verströmen. Wie ich gelernt habe, benutze ich meine Atmung, um den Adrenalinpuls zu kontrollieren. Ich lasse meinen Kopf gesenkt und schlendere dahin, während ich ihm folge. Er bewegt sich langsam, zögerlich, stützt sich schwer auf seinen Krückstock, macht an Bordsteinen lange halt, wagt dann vorsichtig den Schritt nach unten. Manchmal muss ich langsamer gehen oder ganz stehen bleiben und mir Kleidung, die ich nie kaufen würde, in Schaufenstern ansehen, die mein Spiegelbild zurückwerfen: eine schmale, unbewegliche Gestalt inmitten von Großstädtern, die in ihrer fiebrigen Existenz gefangen vorbeihasten.

Meine Hände sind klein und weich, aber weit stärker, als Sie vermuten würden. Im Training schlagen wir mit Handflächen und Fingerknöcheln auf Hohlblocksteine. Dabei entstehen Haarrisse in den Knochen. Heilen sie dann ab, ist der Knochen stärker als zuvor. Ich kann mit der Handkante ein fünf mal zehn Zentimeter starkes Kantholz durchschlagen. Trotzdem sind meine Hände nicht schwielig wie die eines Faustkämpfers, sondern glatt wie Kiesel am Strand. Weil ich nicht groß bin, muss ich schnell sein. Weil ich nicht groß bin, muss ich den Nahkampf suchen, geschickt Ellbogen und Knie einsetzen, mit Handkantenschlägen Nieren und Geschlechtsteile oder die verwundbare Halsschlagader treffen. Auch die Augen sind gute Ziele. Fängt man’s richtig an, können die Augen einen Kampf beenden.

Ein Kampf, wenn er sich nicht vermeiden lässt, ist ein Tanz. Man kann sich darauf vorbereiten, aber keine Strategie festlegen. Man ist mit seinem Gegner zusammengespannt: Seine Bewegungen diktieren deine, seine Schwächen sind deine Stärken, seine Fehler sind deine Chancen. Du musst präsent und fokussiert sein, vor allem aber musst du atmen. Keine Panik, keine Wut. Nur das Atmen.

Seine rechte Hand umklammert den Krückstock. In der linken trägt er eine wiederverwendbare grüne Tragetasche aus Kunststoff. Heute ist Mittwoch, der Tag, an dem er auf den Farmers’ Market geht, wo er Beerenobst, Brot, Honig, Grünkohl, Karotten und eine Schale Hummus kauft. Die Verkäufer kennen ihn, aber er wird selten mit einem Lächeln begrüßt. Er ist mürrisch, unfreundlich und noch mehr. Vielleicht können andere riechen, was ich als Tatsache über ihn weiß. Sie entdecken den Geruch, können ihn aber nicht einordnen. Sie weichen kaum merklich vor ihm zurück, wollen ihre Hände rasch wegziehen, wenn sie ihm seine Einkäufe oder das Wechselgeld geben. Nur die alte Frau am Hummus-Stand mustert ihn erkennbar finster. Den nahen Tod erkennt man nur, wenn man ihn schon einmal gesehen hat. Die Fäulnis in seinem Inneren dringt durch die Poren nach draußen, starrt einen aus den Abgründen seiner Augen an. Wer für solche Dinge empfänglich ist, auch wenn er sie vielleicht nicht benennen kann, fühlt sich abgestoßen.

Er überquert die Straße. Sobald er drüben ankommt, folge ich ihm rasch, kurz bevor die Fußgängerampel umspringt. Er trägt ein ausgefranstes Tweed-Sakko, einen schlammfarbenen weichen Filzhut, eine Kakihose und braune Halbschuhe. Obwohl er anständig gekleidet ist, beachtet ihn niemand. Niemand sieht die Alten, die Schwachen, die Gebrechlichen – sie sind unsichtbar wie ich. Niemand achtet auf ihn, als er vom Broadway auf die 26th Street abbiegt. Dann steht er vor der Metalltür, steckt eine Hand durch die Schlaufen der Tragetüte und angelt seinen Schlüssel aus der Tasche. Mit dem Schlüssel im Schloss und auf seinen Stock gestützt kämpft er damit, die Tür aufzustoßen. In diesem Augenblick ist er verwundbar.

»Kann ich Ihnen dabei helfen, Sir?«, frage ich, als ich von hinten an ihn herantrete und die Haustür über seine Schulter hinweg mühelos aufstoße.

»Brauch keine Hilfe«, knurrt er, ohne mich auch nur anzusehen. Ich tänzele an ihm vorbei und betrete den kleinen Eingangsbereich vor ihm. Dort gibt es eine weitere Tür. Ich muss ihn dazu bringen, mir den Schlüssel zu geben.

»Oh, das macht keine Mühe«, sage ich fröhlich. »Ich bin Eve. Aus dem zweiten Stock.«

Ich bin nicht Eve. Ich wohne nicht im zweiten Stock. Ich nehme ihm die Tragetasche aus der Hand.

»Geben Sie die wieder her«, verlangt er. Dabei trifft etwas Speichel meine Wange. Ich wische ihn ab. »Lassen Sie mich in Ruhe.«

»Geben Sie mir den Schlüssel«, sage ich. »Ich sperre Ihnen auf.«

Er gibt ihn nicht her, also strecke ich eine Hand aus und nehme ihn mir. Sein Griff ist schwach und unsicher, und sein Gesicht rötet sich vor Wut, vom Bewusstsein zittriger Machtlosigkeit. Ich habe ihn als starken Mann in Erinnerung, mit stählernem Griff und grausamem Lächeln, ausdruckslosen Augen – mehr habe ich nie von ihm gesehen. Und dieser Moment im Vorraum lässt mich kurz stocken, weil Vergangenheit und Gegenwart stotternd aus dem Gleichtakt gekommen sind. Er ist nur ein alter Mann. Hilflos. Schwach. Dann erinnere ich mich an das weiche Fleisch meines Arms im schraubstockartigen Griff seiner harten Finger. Ich erinnere mich daran, wie meine Mutter meinen Namen kreischte – mit vor Entsetzen schwankender Stimme, die ich nie zuvor gehört hatte und mein Leben lang nicht mehr vergessen werde. Ich erinnere mich an ihn. Aber er erinnert sich nicht an mich. Einst hatte ich Angst vor ihm. Tatsächlich war er mein schlimmster Albtraum. Heute ist alles fast zu einfach.

Ich stecke den Schlüssel ins Schloss und stoße die innere Tür auf. In diesem Augenblick spüre ich erneut Zweifel, die mich auszuhöhlen scheinen. Dies ist unrecht. Ein Teil von dir weiß das.

»Nummer 103, nicht wahr?«

Jetzt starrt er mich an. Sein Kopf zittert leicht, fast als wollte er ihn schütteln. Seine Augen sind wässrig braun, noch immer ausdruckslos, aber schwach, nicht stark und kalt, wie ich sie in Erinnerung hatte. Sein Körper hat ihn im Stich gelassen. Jahre im Gefängnis, ein hartes Leben und Krankheiten haben ihn schrecklich altern lassen. Es gibt Männer in seinem Alter, die fit und robust aussehen. Nicht er.

Er hat nicht mehr lange zu leben, und sein Dasein ist trostlos und einsam. Ich könnte ihn einfach unbehelligt lassen. Diese Möglichkeit existiert als flackernder Lichtschimmer am äußersten Rand meines Bewusstseins. Ich könnte einen anderen Weg einschlagen.

Aber … Er hat es nicht verdient, frische Beeren zu essen und den Morgen vor dem Fernseher zu verbringen, nicht wahr? Er hat keinen Anspruch darauf, später in den Park zu gehen und sein altes Brot an die Tauben zu verfüttern. Er hat diese einfachen menschlichen Freuden im letzten Lebensabschnitt nicht verdient.

Du hast nicht zu bestimmen, wer was verdient.

Oh, das habe ich sehr wohl.

Ich sperre die Wohnungstür auf und gehe hinein. Drinnen ist es dunkel und kahl, nur ein alter Fernsehsessel und ein Fernseher auf einem Metallfuß. In einer Ecke ein ordentlich gemachtes Bett. Das gerahmte Foto einer Frau, ein Taschenbuch und ein Glas Wasser auf einem wackeligen Beistelltisch. Und ausgerechnet eine Bibel, die auf der Arbeitsfläche der Küchenzeile aufgeschlagen neben dem Telefon liegt.

»Haben Sie Jesus gefunden?«, frage ich ihn. »Sind Sie gerettet?«

»Verschwinden Sie«, sagt er, reißt mir seine Einkäufe aus der Hand und drängt sich an mir vorbei. »Los jetzt! Sie sollen verschwinden.«

Ich schließe die Tür. Er dreht sich um und mustert mich mit diesen Augen.

Da ist es wieder.

Das Ungeheuer, an das ich mich erinnere.

»Wer sind Sie?«, fragt er.

»Erkennst du mich nicht?«, frage ich lächelnd. Seither sind viele Jahre vergangen; zwischen damals und heute hat sich viel ereignet. Tatsächlich ein ganzes Leben.

Aber er erkennt mich. Das tut er. Ich sehe es ihm an, als er vor mir zurückzuweichen beginnt.

»Du.«

»Ganz recht«, sage ich. »Ich.«

Er stolpert weiter rückwärts, während ich die Tür absperre und die Sicherungskette einhake. Er lässt sich schwer in den alten Fernsehsessel fallen. Das Pfeifen seiner angestrengt keuchenden Atmung füllt den Raum. Er hat Lungenkrebs, das weiß ich.

»Wo ist sie?«, frage ich.

»Wer?«, fragt er. Aber sein rascher Blick zum Bett hinüber verrät ihn. Ich greife unter die Matratze und hole die Pistole hervor, die er irgendwo versteckt haben musste. Ich lege sie weit außerhalb seiner Reichweite auf die Arbeitsplatte.

Ich habe selbst etwas mitgebracht. Ich hole es aus meiner Tasche und halte es hoch, damit er es sehen kann. Ich frage mich, ob er es wiedererkennt. Er hat mich einmal damit verletzt. Die Narben trage ich noch heute. Äußerlich und innerlich. Eine einzelne Träne läuft ihm über die Wange. Seine Lippen bewegen sich flüsternd. Ich brauche eine Sekunde, um zu erkennen, dass er betet.

Ist es dies, was du sein willst?

Das ist die Stimme meines Onkels, der kein Onkel, sondern irgendwie mehr wie ein Vater ist, weil er mich aufnahm, mich liebte, mich alles lehrte, was ich weiß.

Ich trete einen Schritt auf den Alten zu. Von nebenan dringen leise Musikfetzen herüber. Es gibt Dinge, die ich sagen müsste, Fragen, die ich stellen wollte, aber sie verlieren sich in dem roten Nebel, der meine Gedanken überlagert.

Ja, das will ich, antworte ich der Stimme in meinem Kopf. Genau das will ich sein.

TEIL 1

ZWEI GRÄBER

1

Raven wirkte reumütig, aber Claudia wusste, dass dieser Eindruck trog. Das Mädchen hielt den Kopf gesenkt, sodass Massen ihres blauschwarzen Haars, dicht und unglaublich glänzend, herabfielen und ihr Gesicht verdeckten. Es war Oktober, eine Woche vor Halloween, und dies war seit Schulanfang Claudias zweiter Besuch im Büro des Rektors. Beim ersten war es um Noten gegangen. Raven hatte bereits Mühe mitzukommen. Ihre Testergebnisse zeigen, dass sie mehr könnte, hatte der verzweifelte Mathelehrer gesagt. Aber sie ist oft nicht richtig da. Passt einfach nicht auf. Lässt in Tests Aufgaben aus. Mrs. Bishop, sie versucht’s nicht mal.

Claudia konnte ihn bereits auf Rektor Blakes Gesicht sehen. Den Gesichtsausdruck besorgter Menschen, freundlicher Menschen, wenn sie sich zu fragen begannen, ob mit Raven irgendwas nicht stimmte.

»Es ist immer schwierig, an eine neue Schule zu kommen«, sagte Rektor Blake. »Aber hier in der Lost Valley Central haben wir eine Null-Toleranz-Politik in Bezug auf körperliche Gewalt.«

Körperliche Gewalt? Das war neu. Claudia wusste noch immer nicht genau, was Raven angestellt hatte. Sie war nach Rektor Blakes Anruf eilig hergekommen. Der ergrauende farblose Mann mit sanfter Stimme hatte sie mit verständnisvollem Lächeln in seinem Büro begrüßt. Wir hatten ein Problem in der Cafeteria. Eine Schülerin ist heimgefahren.

»Ach, wirklich?«, fragte Raven. »Also ist’s okay, wenn sie mich beleidigt, und ich muss dasitzen und mir alles gefallen lassen?«

»Schluss jetzt, Raven«, sagte Claudia. Sie fragte sich, ob sie auf ihre Tochter so erschöpft wirkte, wie sie sich fühlte. Ravens Fähigkeit, sich über etwas zu empören, war fast unbegrenzt.

»Es gibt andere Möglichkeiten, deine Probleme zu lösen, ohne jemandem ein Essenstablett auf den Schoß zu kippen«, sagte der Rektor freundlich. »Was genau hat sie zu dir gesagt? Was hat dich so wütend gemacht?«

Raven schüttelte den Kopf. »Das ist unwichtig.«

Der Rektor antwortete mit einem raschen Nicken, als verstünde er, als wüsste er, wie grausam Kinder sein und dass Worte wie Schläge schmerzen konnten.

»Mir ist bewusst, dass Mobbing nicht nur körperlich, sondern auch emotional und verbal stattfinden kann. Und Clara Parker ist kein Unschuldslamm; sie hat schon mehr als einmal hier gesessen. Trotzdem kann’s nicht toleriert werden, wenn wir diese Linie ins Körperliche übertreten.«

O Gott, dachte Claudia. Sie wird vom Unterricht ausgeschlossen … fliegt von der Schule. Sie konnte fast hören, wie ihre Schwester Martha krähte: Ich hab dir gesagt, dass ein Schulwechsel nicht dieLösung ist. Du kannst nicht einfach immer davonlaufen.

»Ich brauche ein klareres Bild von dem, was passiert ist«, sagte Claudia. Sie sah zu Raven hinüber, die den Kopf abgewandt hatte.

»Clara und eine Freundin haben Raven offenbar unfreundlich angegangen. Was dabei gesagt wurde, weiß ich nicht, weil Raven sowie Clara und deren Freundin Beth sich darüber ausschweigen. Aber als Reaktion darauf hat Raven ein vor ihnen auf dem Tisch stehendes Tablett umgekippt, sodass beide Mädchen voller Essen waren.«

Claudia war versucht zu lächeln, beherrschte sich aber noch rechtzeitig.

»Es war ein Versehen«, sagte Raven wenig überzeugend. »Ich hab’s vom Tisch genommen, um wegzugehen und anderswo aufzuessen.«

»Heute hat’s Spaghetti mit Fleischklößchen gegeben, deshalb war das eine schöne Bescherung.«

»Dann hat sie also niemanden geschlagen«, sagte Claudia. Sie wollte nicht zu den Eltern gehören, die ihre widerlichen, unartigen Bälger jederzeit mit vollem Einsatz verteidigten. Aber es war ihr wichtig, genau zu erfahren, was sich abgespielt hatte.

»Ich habe niemanden geschlagen«, sagte Raven. »Es war ein Versehen. Clara ist heimgefahren, weil ihr Outfit ruiniert war, aber nicht weil ich ihr wehgetan habe.«

Rektor Blake nickte zurückhaltend, legte dabei den Kopf etwas schief und kniff die Augen leicht zusammen. »Andere Schülerinnen in der Umgebung der Mädchen haben gesagt, es habe so ausgesehen, als hätte Raven ihr Tablett Clara absichtlich auf den Schoß gekippt.«

»Klar doch«, sagte Raven und setzte sich etwas auf. »Alle ihre Freundinnen, die zuvor gelacht haben, als sie mich beleidigt hat.«

Claudia kämpfte gegen plötzlich in ihr aufsteigenden Zorn, eine Woge jäher Fürsorglichkeit für Raven an. »Im Prinzip hat sich also Folgendes ereignet«, sagte sie und bemühte sich, weiter mit sanfter Stimme zu sprechen. »Eine Gruppe von Mädchen hat Raven umringt und sie unfreundlich angegangen – um Ihren Ausdruck zu benutzen –, und als Raven aufgestanden ist, um zu gehen, hat sie ihr Tablett versehentlich oder absichtlich umgekippt und damit das Outfit einer Mitschülerin ruiniert. Ist das richtig?«

Raven nickte leicht. »Es war ein Versehen.«

Claudia war sich ziemlich sicher, dass dies kein Versehen gewesen war.

Sie wusste, dass Ravens Temperament einer Sturmflut glich, die gegen alles anbrandete, was sich ihr in den Weg stellte, um dann rasch abzuebben und in Bedauern umzuschlagen.

»So scheint’s gewesen zu sein«, sagte der Rektor vernünftig. Er schien ein netter Mann zu sein, der versuchte, seine Arbeit zu tun.

»Sind die anderen Mädchen gerügt worden?«, fragte Claudia.

»Was gesagt wurde, ist unklar«, sagte der Rektor. »Deshalb ist’s schwierig, diesen Punkt anzusprechen.«

»Okay«, sagte Claudia. Sie atmete kurz durch. »Wie geht’s also weiter? Soll Raven bestraft werden?«

»Nun … Heute ist Donnerstag«, sagte Rektor Blake. Er hatte gepflegte Hände mit langen, dünnen Fingern, einem goldenen Ehering und sauberen rosigen Fingernägeln. Die Hände sagten viel über einen Menschen aus. Er war bedächtig, vernünftig und versuchte, sich an die Vorschriften zu halten. Jetzt faltete er die Hände auf der grünen Schreibunterlage.

»Ich werde Raven nicht vom Unterricht ausschließen, sie soll keinen Eintrag in ihre Akte bekommen. Ich schlage vor, dass sie den morgigen Tag freinimmt, damit wir am Montag gemeinsam einen Neuanfang versuchen können. Sie sollte darüber nachdenken, was passiert ist, und überlegen, wie sie besser hätte reagieren können. Vielleicht setzen wir für Montag ein Gespräch mit den Mädchen und ihren Eltern über bessere Konfliktbewältigung an. Wie klingt das?«

Tatsächlich klang das beschissen. »Einen Tag freinehmen« war ein Ausschluss vom Unterricht, auch wenn es keinen Aktenvermerk gab. Sie würde an diesem Gespräch teilnehmen müssen, während Raven uneinsichtig schmollte und Rektor Blake den gütigen Moderator spielte.

Diese Clara und ihre Eltern, die Parkers, würden die Geschädigten spielen, und Claudia und Raven würden als Outsider dastehen. Aber sie merkte, dass sie nickte.

Claudia wollte noch etwas sagen. Sie wollte sich bedanken und ihm versichern, sie werde dafür sorgen, dass Raven die Tragweite ihres Handelns begreife. Aber sie wollte auch verlangen, dass Clara über die Macht des gesprochenen Wortes belehrt wurde.

Stattdessen steckte ihr ein schwerer Seufzer im Hals, ein dicker Kloß aus Wut und Frustration und Traurigkeit. Sie fürchtete, sich nicht beherrschen zu können, wenn sie jetzt den Mund öffnete. Also nickte sie nur und stand auf. Sie spürte Ravens dunkle Augen auf sich. Nur ihre Tochter, vielleicht auch ihre Schwester, wusste, dass Claudias Schweigen bedeutsamer war als lautes Schimpfen, das ebenfalls nicht ihre Art war.

»Miss Bishop?«, fragte Rektor Blake. Er starrte sie besorgt an. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«

»Mir geht’s gut«, brachte sie heraus. »Danke für Ihre Geduld mit Raven. Wir werden den Fall übers Wochenende besprechen, und er wird daheim natürlich Konsequenzen haben.«

Da! Sie war nicht in Tränen ausgebrochen. Konnte man sich eine verwundbarere Position vorstellen als die einer Alleinerziehenden, die mit ihrem unartigen Kind im Büro des Rektors saß? Wurde in Wirklichkeit nicht sie getadelt? Weil es schließlich ihre Schuld war, dass ihre Tochter sich nicht beherrschen konnte?

»Raven«, sagte sie. »Möchtest du Rektor Blake noch irgendwas sagen?«

»Tut mir leid«, sagte sie pflichtschuldig. »Ich hätte mich besser beherrschen müssen.«

Der Rektor lächelte herzlich. »Man muss eine Persönlichkeit sein, um einzugestehen, dass man falsch gehandelt hat. Das ist ein guter Start, denke ich. Schreib mir übers Wochenende eine E-Mail, okay? Mit deinen Überlegungen?«

Raven nickte. »Wird gemacht.«

Als ihre Tochter aufstand, legte Claudia einen Arm um ihre schmalen Schultern, drückte sie leicht und zog sie mit sich aus dem Raum.

Claudia stand neben Ravens Spind, während diese ihre Habseligkeiten – iPad, Ordner, schmutzige Sportkleidung – in ihren Rucksack stopfte. Claudia hasste Schulen – die hässlichen Lampen, die Gerüche aus der Cafeteria, Turnstunden und die erbärmliche soziale Hierarchie, in der Aussehen und Sporterfolge mehr zählten als Intelligenz und Charakter (als ob sich das jemals ändern würde). Der Mief auf dem Flur – was war das nur für ein Geruch? – brachte alle Erinnerungen lebhaft zurück.

»Es war nicht meine Schuld«, sagte Raven und knallte ihre Spindtür zu.

»Das ist’s nie, was?«, fragte Claudia.

Dieser Blick, diese dunklen Augen in elfenbeinweißer Haut. Diese rosigen vollen Lippen und die absurd langen Wimpern. Ravens Schönheit war schockierend in ihrer Intensität, durch Ravens völlige Nonchalance ihrem Aussehen gegenüber. Dieses Mädchen müssen wir in eine Burka stecken, hatte Martha gescherzt. Mit dieser Figur? Bei einer 15-Jährigen? Das sollte illegal sein.

Zum Glück wurde Ravens Schönheit durch ihr jungenhaftes Benehmen abgemildert. Sie trottete. Hätte Claudia nicht darauf bestanden, dass sie duschte und sich die Haare bürstete, hätte das Mädchen die meiste Zeit leicht verwahrlost gewirkt. Und trotzdem starrten alle Männer und alle Jungs mit demselben dümmlichen Gesichtsausdruck, großen Augen und einem lüsternen Lächeln auf ihren Gesichtern, ob jung oder alt. Raven sah sie nicht einmal. Claudia gewöhnte sich an, Pfefferspray in ihrer Umhängetasche zu haben. Sie ist ein Baby!, hätte sie am liebsten gekreischt. Starrt sie nicht so an!

Claudia wusste, dass sie noch immer eine ziemlich attraktive Frau war, die in jüngeren Jahren ziemlich heiß gewesen war – blond und lebhaft, mit glitzernden blauen Augen. Nie mager, nie eine dieser spindeldürren Patrizierfrauen, die sie immer bewundert hatte. Sie war mollig und kurvenreich, nie unter Größe 42, manchmal auch mehr, wenn sie nicht auf jeden gottverdammten Bissen achtete, den sie in den Mund steckte. Trotzdem hatten ihr die Männer immer hinterhergesehen.

Aber sie hatte niemals auch nur entfernt wie Raven ausgesehen: eine Prinzessin, eine Fee, eine Sirene, für die Männer Burgen erstürmten und Drachen besiegten und glücklich sterbend an Klippen zerschellten. Verstörender war jedoch die Art und Weise, wie Frauen Raven betrachteten – mit blankem Hass, offenem Neid. Sie wussten, mit welchen Vorzügen sie ganz ohne eigenes Zutun gesegnet war. Das Mädchen hatte in irgendeiner genetischen Lotterie das große Los gezogen. Aber wusste jemand wirklich, wie einsam das machte? Wie gefährlich das war? Zweifellos gehörte es zu den Gründen, aus denen Raven von den anderen Mädchen in ihrer Klasse angefeindet wurde.

»Mom!« War es nur Raven, die in diese einzelne Silbe solchen Ärger legen konnte? »Du tust’s schon wieder.«

»Sorry.« Abdriften, sich in eigenen Gedanken verlieren, geistesabwesend sein. Ihre Tochter behauptete, Claudia tue das dauernd. Gottbewahre … Eine Mutter hatte doch kein eigenes Gefühlsleben.

»Was hat sie gesagt?«, fragte Claudia, als sie das Gebäude verließen und zu ihrem Wagen gingen. Sie legte ihrer Tochter erneut einen Arm um die Schultern und zog sie enger an sich. Und das Mädchen lehnte sich etwas gegen sie, ging im Gleichschritt mit ihr.

Raven schüttelte den Kopf. »Unwichtig.«

Und vielleicht hatte Raven recht. Was Clara gesagt hatte, spielte keine Rolle. Entscheidend war – wie schon zuvor in der City –, dass Raven ihr Mundwerk, ihr Temperament nicht beherrschen konnte. Das Problem hatte einen Namen: Impulskontrolle.

Sie stiegen in den klapprigen alten Ford Pick-up, fast ein Oldtimer, noch immer ein Arbeitspferd, das sie für ihr Projekt brauchte – ein Fahrzeug, bei dem sie nicht auf Kratzer oder Dellen achten musste, das schwere Lasten transportieren konnte.

»Ich hasse diesen Truck«, sagte Raven. Er unterschied sich allerdings himmelweit von dem Range Rover, den ihr Vater fuhr.

»Ich weiß«, sagte Claudia und fuhr aus der Schuleinfahrt auf die Straße nach Hause hinaus.

Claudia fand es immer komisch – nicht wirklich komisch, sondern interessant oder bemerkenswert –, wie ein einzelner Augenblick oder vielmehr eine Abfolge von Augenblicken ein ganzes Leben entgleisen lassen konnte. Da ist man unterwegs, hat ein Gleis für sich, fährt mit voller Geschwindigkeit. Man hat sein Ziel fest im Blick, und die Fahrt an sich ist auch nicht übel. Tatsächlich ist man mit dem ganzen Arrangement ziemlich zufrieden.

Und dann ein Ereignis oder eine Kette von Ereignissen …

Vielleicht lenkt eine an Depressionen leidende Frau ihr Auto impulsiv auf die Gleise, sodass der Lokführer den Zug, in dem du als Pendler sitzt, nicht mehr rechtzeitig stoppen kann. Dein Pfad (und der des Lokführers und der übrigen Pendler) und ihrer kollidieren. Was ihr im Leben zugestoßen ist und was du in deinem erlebt hast – alles, wo du geboren wurdest, wie du aufgewachsen bist, ob deine Eltern nett waren, ob du in der Schule gemobbt wurdest, dass die Veranlagung zu Depressionen nicht bei dir, sondern bei ihr ausgebrochen ist, hat euch im selben Augenblick an denselben Ort geführt, und dann … RUMS!

Oder ein Windstoß entführt deinen Schal, und wer sollte ihn auffangen als dein zukünftiger Ehemann, der zufällig auf derselben Straße unterwegs ist? Genau in Richtung des in diesem Augenblick wehenden Windes, sodass er etwas Rotes an sich vorbeifliegen sieht, instinktiv danach greift, sich mit dem Schal in der Hand umdreht, deinem Blick begegnet … und PENG! Liebe auf den ersten Blick. Solche Augenblicke – weniger dramatisch, aber ebenso bedeutsam – ereignen sich jeden Tag, dachte Claudia oft, aber fast niemand scheint zu bemerken, wie viele Dinge klappen oder schiefgehen müssen, damit sie sich ereignen können.

Es ist niemals nur eine Ursache, die zu einem tragischen Unfall führt, hatte sie einmal gelesen, auch wenn sie nicht mehr wusste, wo genau. Meistens waren es sieben Dinge – sieben Fehler oder Irrtümer oder Nachlässigkeiten. Analysierte man irgendeine Katastrophe – eine Ölpest, eine Entgleisung oder einen Flugzeugabsturz –, waren es im Allgemeinen sieben Dinge, die schiefgehen mussten, damit so was passieren konnte.

Claudia hatte viel Zeit damit verbracht, über diese Theorie nachzudenken, auch wenn das, was ihr zugestoßen war, sich kaum als Unfall einordnen ließ. Vor allem in dunkleren Augenblicken wie diesem, wenn sie die Klugheit fast aller ihrer Entscheidungen seit der damaligen Nacht anzweifelte. Es war auf seltsame Weise tröstlich, zurückzublicken und zu denken, wenn sie nur eines dieser Dinge verändert hätte, könnte sie noch in dem imaginären Zug sitzend in die richtige Richtung unterwegs sein.

Die erste Sache war, dass Ayers, jetzt ihr Ex-Mann, in Midtown hatte leben wollen, weil sie beide dort arbeiteten. Aber sie liebte den Stadtteil East Village, hatte ihn als Studentin lieb gewonnen. Dort gab es das Yaffa Café und Müll und Varietés und St. Marks Books. Es gab noch Schmuddelecken, auch wenn alles jetzt sehr stylish war und die meisten der wundervollen Lokale aufgegeben hatten oder vor der Schließung standen. Und das dortige Leben war schon damals sehr teuer gewesen. Aber sie hatte eine kleine Wohnung, die sie liebte, in der 5th Street gefunden. Nach hinten hinaus gab es einen winzigen Garten, der an eine Kirche mit altem Friedhof grenzte, und die Fenster ließen sich öffnen. Das war etwas ganz anderes als das Apartment, das Ayers sich in Midtown vorstellte: ein Wohnturm mit Doorman und Klimaanlage, ein blitzblanker Fitnessraum und freitags gesellige Drinks auf der Sonnenterrasse.

Ayers war kein Freund von Schmuddelecken. Aber er ließ Claudia ihren Willen, weil das seine Art war. Er stellte seine Wünsche und Bedürfnisse zugunsten von Claudias zurück. Ein guter Mann, ein zärtlicher Gatte, von dem sie gleich wusste, dass er ein liebevoller Vater sein würde.

Die Fenster nach hinten hinaus waren vergittert, natürlich waren sie das. Dies war East Village, und auch wenn New York City flächendeckend gentrifiziert war, brachen Junkies noch immer ein und plünderten Wohnungen aus, wenn man keine Fenstergitter hatte. Also ließen sie welche einbauen, obwohl sie Ayers deprimierten. Er liebte unvergitterte Stadtansichten. Es waren hübsche Gitter mit Efeuranken aus weiß gestrichenem Schmiedeeisen, die sich wie Fenstertüren öffnen ließen. Claudia war schrecklich nachlässig, wenn es darum ging, sie zu schließen und zu verriegeln. Sie vergaß es manchmal. Das war Nummer zwei.

Sie waren seit einem Jahr verheiratet und versuchten, ein Baby zu bekommen. Aber nicht auf die traurige, verzweifelte Art so vieler Leute.

Mehr ein unbekümmertes Herumvögeln ohne Verhütung, weil wir – zwinker, zwinker – ein Baby bekommen möchten. Das versuchten sie seit ungefähr acht Monaten, ohne dass Claudia schwanger geworden wäre. Aber hey, sagte Ayers, der Weg ist das Ziel! Jetzt zieh deinen Slip aus, du kleine Nutte.

Weil sie ein Glas Prosecco getrunken hatten, wurde Ayers ausgelassen. Dann alberten sie herum, was zu einem Quickie mit zu den Knöcheln heruntergezogenem Slip und hochgeschobenem Rock führte, bei dem er sie über die Couch gebeugt von hinten nahm. So waren sie zu spät dran für ihre Verabredung mit seinen Eltern im Café des Artistes. Sie ging in ihrem reizenden Duplex-Apartment nicht wieder nach oben, sondern benutzte nur die kleine Toilette neben der Küche, legte Lippenstift auf und steckte ihr Haar nachlässig hoch. Sie kam sich unartig und schmuddelig vor – und liebte dieses Gefühl, weil ihre Schwiegermutter so etepetete war. Weder Claudia noch Ayers gingen ins Schlafzimmer zurück, um die Fenstergitter zu schließen. Das war Nummer drei.

Claudia und ihre Schwiegermutter waren in fast allen Dingen gegensätzlich, was vermutlich der Grund dafür war, dass sie gut miteinander auskamen. Claudia bewunderte Sophies reserviertes, immer stylishes, cooles (nicht kaltes, aber unerschütterliches) Auftreten. Und Claudia ertappte Sophie oft dabei, dass sie ihr zulächelte, wenn sie drauflosschwatzte oder überschwänglich oder leidenschaftlich wurde. War Sophie gestärktes Leinen, war Claudia eine Krinoline. War Sophie Kräuselkrepp, war Claudia Pailletten. Das funktionierte. Und ihr Schwiegervater Chuck war ein Bär von einem Mann, stets liebenswürdig, mit zerzaustem Haar, herzhaftem Appetit und dröhnendem Lachen, das explosiv aus ihm hervorbrach.

Nach dem Abendessen versuchte Claudia, alle zu einem letzten Drink zu überreden. Aber Ayers sagte, er sei müde, habe in aller Frühe eine Besprechung und wolle vorher noch ins Fitnessstudio. Das war Nummer vier.

Sie war betrunken. Nein, nicht betrunken. Beschwipst. Natürlich nicht kotzend, stolpernd, hässlich betrunken – das niemals. Aber sie war aufgekratzt, übertrieben heiter, albern, EZV war der Code, den Claudia und ihre Freundinnen dafür benutzten. Einer. Zu. Viel. Mit EZV konnte man weinerlich werden, seinen Freunden versichern, wie sehr man sie liebe, auffällig laut lachen oder hingebungsvoll tanzen – auch wenn man eine miserable Tänzerin war. Was in den meisten Fällen in Ordnung war. Vielleicht nicht gerade in Anwesenheit der Schwiegereltern.

Jeden weiteren Drink würde man jedoch bereuen. Noch einer, dann war morgen ein schlechter Tag. Vielleicht war das der wahre Grund dafür, dass Ayers nach Hause wollte. Weil es für seine Mutter Grenzen gab. Gestärktes Leinen bekam schreckliche Falten. Einer Krinoline sah man nie an, ob sie zu lange oder zu fest umarmt worden war. Ich liebe meine Mutter, sagte Ayers oft, als wäre diese Feststellung nötig. Aber ich erinnere mich aus meiner Kindheit, dass sie nie viel Geduld für Zuneigung hatte. Claudia hatte keine Ahnung, was das heißen sollte. Wieso brauchte man für Zuneigung Geduld? Sie selbst war der roten Linie vielleicht schon zu nahe gekommen; es hatte viele Umarmungen und Liebenswürdigkeiten gegeben (von Claudias Seite), und Sophie hatte sich vielleicht etwas versteift. Hätte Claudia nicht EZV intus gehabt, wäre ihr gleich beim Heimkommen aufgefallen, was sie erst später bemerkten: dass in der Küche Licht brannte, was beim Weggehen nicht der Fall gewesen war. Dass ein Mantel von einem der Garderobenhaken unter der Treppe auf dem Fußboden lag. Ohne EZV hätte sie diese Dinge sehen und die Wahrheit erkennen können, bevor es zu spät war. In ihrer Wohnung war jemand. Das war Nummer fünf.

Ayers war noch draußen, und Claudia kam allein in das Apartment. Claudia hatte sich Mrs. Swansons, ihrer greisen Vermieterin, angenommen. Das bedeutete, dass sie ihr oft Ayers auslieh. Oh, dabei hilft Ayers Ihnen. Nicht wahr, Liebster? Sie halfen ihr bei Kleinigkeiten – Glühbirnen auszuwechseln oder Mitten, ihrer getigerten Katze, tote Mäuse abzunehmen. Beim Einkaufen nahm Claudia oft Brot, Eier und fettarme Milch mit und lieferte sie auf dem Weg nach oben ab. Im Allgemeinen kam Mrs. Swansons Tochter Ashley vorbei, um den Müll hinauszutragen. Aber Ashley hatte an diesem Tag eine Grippe, deshalb hatte Ayers sich bereit erklärt, sie zu vertreten. Genau das tat er jetzt. Deshalb betrat Claudia die Wohnung allein. Das war Nummer sechs.

Die schmale Duplex-Treppe hinaufstolpernd nahm sie einen unbekannten Geruch wahr. Leicht moschusartig. Aber sie achtete nicht weiter darauf. Dies war einer der Gründe, weshalb sie in East Village in einem Apartment leben wollte, dessen Fenster sich öffnen ließen. Die Stadt hatte einen typischen Geruch, vor allem im Sommer. Und sie roch nicht nur nach Müll und Obdachlosen und Hundepisse. Dazu kamen Düfte von Blumen und Bäumen, aus Bäckereien und guten Restaurants, von Gummi und heißem Asphalt, die den undefinierbaren New-York-Geruch ausmachten. Und den konnte man in Midtown nicht riechen. Beim Eintreten fragte sie sich geistesabwesend – ja, das tat sie schon damals –, ob sie vergessen hatte, das Fenster zu schließen. War sie Sophie gegenüber zu überschwänglich gewesen? Hatte Ayers sich ihretwegen geniert? Vielleicht hätte sie nicht von ihrer Freundin Misha erzählen sollen, die ihre üppige Achselbehaarung vor Kurzem neongrün gefärbt hatte und sich einen Spaß daraus machte, sie bei jeder Gelegenheit zu zeigen. Ihre Geistesabwesenheit hinderte sie oft daran, Dinge zu sehen, die sie unmittelbar vor sich hatte. Das war Nummer sieben.

Viele Frauen können sich später an nichts erinnern, hatte ihre Ärztin ihr erklärt. Und das musste eine wundervolle Gnade sein. Denn Claudia erinnerte sich. An jede Sekunde mit Schlagen, Quetschen und Würgen ab dem Augenblick, in dem er aus dem Schlafzimmer trat, sie an den Haaren packte und hineinzerrte, bevor er die Tür schloss und absperrte. An jede Einzelheit seines Gesichts: die dunklen Augen, die Bartstoppeln, die Narbe am Kinn, der schlechte Mundgeruch, die Verfärbungen an seinen Zähnen. Er boxte ihr mit geballter Faust ins Gesicht – ein so vernichtend brutaler Schlag, dass sie weiße Sterne vor den Augen hatte und der Schmerz von Oberkiefer und Nasensattel bis zum Schädeldach hinaufzuckte, als ihr Kopf nach hinten flog.

Sie kämpfte verzweifelt um Orientierung. Nein, nein, dies passierte nicht. Konnte nicht passieren. Er legte einen Arm quer über ihre Kehle und drückte ihr die Luft ab. Sie konnte nicht atmen, also konnte sie nicht schreien. Komisch, wie das funktionierte. Darauf wäre sie nicht gekommen.

Keine Luft, kein Laut. Sie wand sich stumm. Völlig machtlos gegen seine weit, weit überlegene Stärke. Dabei trainierte sie Kickboxen! Sie hatte feste, kräftige Beine mit sportlichen Waden, die nie in diese eleganten hohen Stiefel passten, die sie so bewunderte. Sie war größer als Ayers – deshalb gab es kein hübsches Video davon, wie er Claudia über die Schwelle trug. Sie lieferten sich oft spielerische Ringkämpfe. Er war kräftig, Ayers, aber nicht so stark wie dieser Mann. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie war hilflos wie ein Kind. Seine Augen. Die waren ausdruckslos, völlig ausdruckslos. Er sah sie nicht, sie war gar nicht da. Er drang in sie ein, ein grausames, reißendes Hineinstoßen. Die Vergewaltigung. Sie war unaussprechlich, nicht zu begreifen. Und die Schmerzen: ein schreckliches Reißen und Brennen. Ein, zwei, drei Stöße. Er schloss die Augen, als ihn ein Schauder durchlief – Ejakulation, nicht Vergnügen –, und war fertig. Er schlug ihr noch mal ins Gesicht.

Hör auf, mich anzuglotzen! Ein harter Schlag gegen ihren Wangenknochen.

Sie sank zurück, und er trat sie brutal in die Rippen. Sie musste sich auf dem Boden liegend übergeben und schaffte es, sich gedemütigt zu fühlen, obwohl er bereits fort war – durch das Fenster hinaus, das einen hübschen Blick auf Mrs. Swansons Garten und den Friedhof bot. Dann verlor sie das Bewusstsein. Als Nächstes erinnerte sie sich daran, dass die Tür gewaltsam geöffnet wurde. Nicht von Ayers, sondern von einem uniformierten Cop. Wieso nicht von Ayers? Warum war er nicht der Erste, der durch diese Tür kam?

»Jesus!«, sagte der junge Cop. Claudia spürte den Drang, sich dafür zu entschuldigen, dass sie sich übergeben hatte. Verrückt, nicht wahr? Dann war sie wieder weggetreten.

Zwei Wochen später erfuhr sie, dass sie schwanger war. Kein HIV, keine sonstigen sexuell übertragbaren Krankheiten. Die Vaterschaft hätte sich in vitro feststellen lassen, aber der Test war invasiv und konnte den Fötus schädigen. Diese Frage entschieden sie gemeinsam. Sie glaubte, sie hätten gemeinsam beschlossen (obwohl Ayers später behaupten würde, ihm sei es in erster Linie um Claudia gegangen, er habe nur ihr Bestes im Sinn gehabt), das nicht wissen zu wollen. Unabhängig von seiner Zeugung war ein Baby ein Geschenk. Oder etwa nicht? Sie würden dieses Kind lieben. Sie würden nie versuchen, die Vaterschaftsfrage zu klären. Sie würden das Baby unter allen Umständen als ihr eigenes aufziehen.

Tu’s nicht, hatte Martha ihr geraten. Du weißt nicht, was du empfinden wirst. Das ist dem Kind gegenüber nicht fair.

Also ist’s fair, die … Schwangerschaft zu beenden?

Claudia war schockiert darüber, wie einig sich alle waren, sie solle eine Abtreibung vornehmen lassen. Was für ein grässliches Wort: die brutale Beendigung von etwas, bevor es begonnen hatte. Sogar ihre Ärztin stimmte in diesen Chor ein. Sollen wir einen Termin für die Ausschabung vereinbaren? Nein, sagte Claudia. Ich bin noch unschlüssig.

Also Leben um jeden Preis?, fragte Martha.

Dieses Baby ist der Beweis dafür, dass selbst im denkbar schlimmsten Augenblick, in deiner dunkelsten Stunde etwas Wundervolles entstehen kann, erwiderte Claudia.

Martha, die 15 Jahre älter als Claudia war, schüttelte nur den Kopf und starrte in mittlere Ferne wie eine langmütige Allwissende, die nur darauf wartete, dass ihre kleine Schwester zu ihr aufschloss.

Ayers und ich haben uns an diesem Abend geliebt. Dies kann genauso gut sein Kind sein.

Und wenn er nicht der Vater ist?

Das spielt keine Rolle. Wir schaffen’s – wir sind stark genug, lieben uns genug. Das ist möglich. Ich habe mich informiert.

Claudia erinnerte sich, wie sie aus ihrem neuen Apartment in einem luxuriösen Wohnturm in Chelsea – mit Fenstern, die sich nicht öffnen ließen, und einem Doorman, der wie ein Preisboxer aussah (dort waren sie binnen zwei Wochen nach dem Überfall eingezogen) – über die Stadt geblickt und gehofft … dafür gebetet hatte, recht zu behalten. Aber sie behielt nicht recht, bei Weitem nicht. Nicht in dieser Sache. Seit damals anscheinend nie mehr.

Claudia bog auf die lange Zufahrt zu ihrem Farmhaus ab. Acht Hektar Land, überwiegend bewaldet, im Lost Valley, New Jersey, das nur ein Punkt auf der Landkarte war. Lost Valley?, hatte Raven aufgebracht gefragt. Soll das ein Witz sein? Du verschleppst mich aus Manhattan an einen Ort, der Verlorenes Tal heißt? Das klingt wie etwas aus einem Horrorfilm. Dieses Stück Land war seit Jahrzehnten im Familienbesitz; ihr Vater hatte es wie mehrere andere Immobilien aus einer Laune heraus gegen Bargeld gekauft. Damals in den 70er-Jahren hatte er es spottbillig bekommen; 15.000 Dollar für acht Hektar, auch weil Wohnhaus und Scheune baufällig waren. In all den Jahren, in denen die Farm ihm gehörte, hatte er sie kein einziges Mal betreten, und Claudia hatte sie nach seinem Tod geerbt.

Auch Claudia war nie auf der Farm gewesen, bis sie sich eines Tages in den Kopf gesetzt hatte, die Gebäude zu renovieren und in einem Blog darüber zu berichten. Geschiedene City Mom zieht aufs Land und renoviert zwei historische Gebäude. Sie würde Fotos machen. Später würde daraus ein Buch entstehen – anrührend, bewegend, inspirierend. Es würde nicht nur von der Farm, sondern von einer spirituellen Rekonstruktion handeln. Dass sie eigentlich keine Schriftstellerin oder Fotografin war und keinerlei Erfahrung mit Renovierungen hatte, tat nichts zur Sache. Und ihr gefiel der Name der Kleinstadt. Er war romantisch, nicht wahr? Ein geheimer Ort, ein verstecktes Juwel, ein Ort, an dem Magie noch möglich war.

Verrückterweise klappte alles irgendwie. Nach Marthas Urteil schrieb Claudia tatsächlich gar nicht schlecht. Und aus ihren Fotos sprach eine »gewisse spezielle Energie«, wie Ayers sagte. Ihr Blog hatte »Abonnenten«, sie »baute eine Plattform« auf und hatte gestern eine Anfrage von einem Inserenten bekommen. Und sie war – traute sie sich, das zu sagen? – halbwegs glücklich, was sie einst nie für möglich gehalten hätte. Wenn sie’s jetzt noch schaffte, Raven wieder aufs richtige Gleis zu setzen …

»Du machst’s schon wieder.«

Claudia stellte den Motor des alten Trucks ab. Wie lange hatten sie so dagestanden, während sie einfach das Scheunentor anstarrte? Das übrigens so aussah, als könnte es jeden Augenblick aus seinen Angeln fallen.

»Jesus, Mom«, sagte Raven, als sie ausstieg und ihre Tür heftig zuknallte. »Wach auf!«

Claudia beobachtete, wie Raven zum Haus hinüberstürmte und durch die Haustür brach. Man war sich der eigenen Defizite nie so bewusst wie in der Gegenwart seines Kindes. Woran das wohl lag?

Der Wolkenhimmel über ihr war bedrohlich bleigrau. Sie sah zu ihm auf, als ein blauer Toyota Camry vorfuhr. Er kam zum Stehen, und ein Mann, ein Unbekannter, stieg aus. Seit ihrer Vergewaltigung in East Village waren über 15 Jahre vergangen. Ihr Herz begann nicht mehr angstvoll zu jagen, wenn ein Unbekannter auf sie zukam. Sie hielt nicht mehr jeden Unbekannten für einen potenziellen Angreifer. Aber die Frau, die sie jetzt war, unterschied sich dadurch von dem Mädchen, das sie damals gewesen war, dass sie vorbereitet war, falls er einer war. Sie hatte einen Kurs in Selbstverteidigung gemacht und fast ein Jahr lang jeden Dienstag und Donnerstag mit einem ehemaligen Kampfschwimmer namens Jet trainiert, als Raven noch ein Kleinkind gewesen war. Verteidigung beginnt mit der Annäherung, hatte er immer gesagt. Achte auf die Körpersprache, die Augen. Vertraue auf deinen Instinkt. Fühlt sich etwas nicht richtig an, ist wahrscheinlich irgendwas faul.

Was ihr an dem Mann, der aus dem blauen Camry ausstieg, als Erstes auffiel, war seine Zurückhaltung, seine Sanftheit. Er wahrte Abstand, hob eine Hand und lächelte. Das taten gute Männer, sie kamen einem nicht zu nahe. Egoistische Männer, arrogante Männer, gefährliche Männer verletzten gewöhnlich als Erstes die Raum- oder Respektblase – sie hielten nicht genug Abstand oder machten vielleicht eine unpassende Bemerkung, nannten einen Sweetie oder Babe. Vielleicht quetschten sie einem bei der ersten Begrüßung auch die Hand, um Stärke zu demonstrieren.

»Hallo«, sagte er. »Mrs. Bishop?«

Eigentlich war sie nicht Mrs. Bishop. Sie hatte Ayers’ Namen nie angenommen. Bishop war ihr Mädchenname. Wäre sie irgendwann eine »Mrs.« gewesen, wäre sie »Mrs. Martin« gewesen, was ihr nicht so gut gefiel wie Bishop. Raven trug den Doppelnamen Bishop-Martin, der nach Claudias Ansicht bedeutend und wichtig klang, attraktiv rhythmisch war: Raven Bishop-Martin. Mit diesem Namen konnte eine junge Frau alles erreichen, alles sein.

»Richtig«, sagte sie, ohne zu lächeln oder sich zu bewegen. Nicht zu lächeln, nicht übertrieben freundlich zu sein, fiel ihr so schwer. Das erforderte Disziplin, die sie erst hatte lernen müssen. Du brauchst dich nicht jedem an den Hals zu werfen, Claudia, sagte Martha oft.

Er angelte nach etwas in seiner Hemdtasche, zog einen zusammengefalteten Zettel heraus. »Sie hatten einen Aushang im Coffee Shop, dass Sie einen Handwerker suchen.«

Ah, richtig. »Ja«, sagte sie.

»Ich bin Josh Beckham.« Er fuhr sich mit einer Pranke durch aschblonde Locken. »Hat Madge Ihnen von mir erzählt?«

»Oh«, sagte sie. Madge gehörte die hiesige Bäckerei. Claudia, die immer mit allen Leuten redete, hatte erwähnt, sie brauche Hilfe bei der Renovierung. Und Madge hatte ihr zu dem Aushang geraten.

Bei uns gibt’s viele Kids, die wieder zu Hause sind und Arbeit suchen. Ein paar von ihnen können sogar einen Nagel einschlagen. Sie hatte einen Mann namens Josh erwähnt, der bei seiner alten Mutter lebte, die er versorgte. Nicht erwähnt hatte sie seine leuchtend blauen Augen oder die Muskeln, die sich unter seinem blauen T-Shirt abzeichneten.

»Oder passt’s gerade nicht?«, fragte er. Sie sah, dass er das Scheunentor begutachtete.

Oh, doch!, wollte sie sich begeistern. Vielen lieben Dank, dass Sie gekommen sind. Sie kommen genau richtig. Hier muss so vieles gemacht werden!

»Doch, doch«, sagte sie. Wieso fühlte es sich unhöflich an, ruhig und gemessen zu sprechen, sich zurückzuhalten? »Madge hat Sie erwähnt.«

Er betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen, dann nickte er.

»Ich arbeite seit ein paar Jahren als Allrounder.« Er zog einen weiteren zusammengefalteten Zettel aus der Brusttasche. »Das ist eine Liste von Leuten, die Sie anrufen können. Die werden Ihnen bestätigen, dass ich gut und zuverlässig arbeite und einen fairen Stundenlohn verlange.«

Die Sonne schaffte es, durch ein Wolkenloch zu scheinen. Ihr orangerotes Licht blendete, sodass er sich jetzt eine Hand über die Augen hielt.

»Danke«, sagte sie. »Kann ich Sie morgen anrufen?«

»Klar doch.«

Sie stürzte sich immer zu rasch in Neues, was sie dann oft bereute. Sie hatte stets geglaubt, sie folge nur ihren Instinkten, diese rationale Erklärung hatte sie sich zurechtgelegt. Aber ihre Instinkte versagten manchmal, weil – woran Martha sie oft erinnerte – sie einfach zu nett, zu leichtgläubig war. Du glaubst, dass jeder, der dir begegnet, ein so reines Herz hat wie du. Aber das stimmt nicht, Kid. Das wissen wir beide. Sie wollte ihn auf der Stelle anheuern. Stattdessen würde sie tun, was Martha getan hätte. Sie würde seine Referenzen abtelefonieren, und wenn er dann noch in Ordnung zu sein schien, würde sie ihn kommen und eine einzige Arbeit machen lassen, um zu sehen, was sich daraus entwickelte. Das war das Gegenteil von dem, was ihre Instinkte ihr rieten – ihm ihre Liste zu geben und ihm zu erklären, er sei angeheuert.

Er gab ihr die Referenzenliste und seine Visitenkarte und nickte freundlich. »Wäre nett, von Ihnen zu hören.«

Auf dem Weg zu seinem Toyota blieb Josh noch mal stehen. »Ihr Scheunentor sieht nicht sicher aus. Dafür brauchen Sie nicht unbedingt mich. In der Stadt gibt’s die Firma Just Old Doors. Auf Reparaturen oder Neuanfertigungen im historischen Stil spezialisiert. Nicht billig, aber sie arbeitet gut. Sie sollten es begutachten lassen, bevor Sie’s noch mal aufmachen, okay?«

Sie lächelte ihn an. »Das tue ich. Danke.«

Claudia beobachtete, wie er wegfuhr. Seine Energie. Die war nicht nur beherrscht oder sanft. Sie war auch traurig. Und hatte er nicht irgendeine Kleinigkeit an sich, die nicht ganz stimmte? Erst als sein Wagen verschwunden war, wich die Anspannung aus ihren Schultern, die sie unwillkürlich zurückgenommen hatte.

Was war dieses Geräusch? Schwache Dissonanzen hingen in der Luft. Als sie zum Haus hinübersah, öffnete Raven ihr Fenster. Musik quoll heraus. Die zornigen Rhythmen von Nine Inch Nails hallten durch den schon dämmrigen Nachmittag.

2

Ich trug die Lebensmittel die Treppe hinauf – vier Tragetüten, fünf Stockwerke. Ich stellte die Tüten ab und angelte den Schlüssel aus meiner Tasche. Drinnen lief der Fernseher. Ich rüttelte den Schlüssel im Schloss, dann stieß ich die Tür mit einem Hüftschwung auf. Das nach dem Krieg gebaute Apartmentgebäude in East Village war weniger solide als die Vorkriegsbauten. Diese Häuser waren nach dem Zweiten Weltkrieg hastig errichtet worden, um die anschwellende Einwandererflut unterbringen zu können. Viele von ihnen zeigten jetzt deutliche Abnutzungserscheinungen: verzogene Türrahmen, undichte Fenster, schiefe Fußböden, bröckelnde Fassaden. Onkel Paul wohnte seit 30 Jahren in diesem Apartment – seit er beim NYPD Streifenpolizist in Midtown North gewesen war. Auch ich hatte einige Zeit hier gelebt. In gewisser Weise war dies das einzige Zuhause, das ich gekannt hatte.

Er erwartete mich – mit einer Tasse Kaffee an dem kleinen Küchentisch sitzend, an dem sein Krückstock lehnte und auf dem eine aufgeschlagene Zeitung lag.

Ich sagte nichts, als ich die Tüten auf die Arbeitsfläche stellte und auszupacken begann. Wir sind beide eher schweigsam. Kaffee und Hummus von Sahadi’s draußen in Brooklyn Heights, handgemachter Mozzarella von Busso’s in der 11h Street, frisches Obst und Gemüse vom Farmers’ Market auf dem Union Square. Einkaufen für meinen Onkel war ein Abenteuer, ein Treck durch die Stadt zu den Lieferanten für frische Lebensmittel. Er hatte immer gern gut gegessen, aber nachdem er sich im Streifendienst 25 Jahre lang von Pizzen, Donuts, Hotdogs und Gyros ernährt hatte, hatte er seine Ernährung nach der Pensionierung auf frische Bioprodukte umgestellt.

»Wann hast du ihn aufgespürt?«, fragte er, statt mich zu begrüßen. »Und wie?«

Ich beschäftigte mich weiter damit, meine Einkäufe wegzuräumen. Ich wollte nicht darüber reden; es gab nichts zu erzählen. Ich stellte drei Büchsen Tomaten von San Marzano in den Schrank und schloss die Tür.

»Ich kann das nicht billigen«, sagte er. Sein pfeifendes Atemgeräusch gefiel mir nicht.

Stille bis auf das halblaute Schwatzen aus dem Fernseher, das für ihn wohl nur ein weißes Rauschen war, eine Erinnerung daran, dass die Welt sich weiterdrehte, auch wenn er seine Tage heute fast ausschließlich in seinem kleinen Apartment verbrachte. Er holte rasselnd Luft und stieß sie mühsam keuchend aus.

»Das hätten sie nicht gewollt.«

Da war ich mir nicht so sicher.

»Und was nun?« Ein weiteres pfeifendes Keuchen. »Hast du dir das überlegt?«

Onkel Paul hatte fast 40 Jahre lang jeden Tag ein Päckchen Zigaretten geraucht. Jetzt litt er an einem Lungenemphysem und konnte die Treppe kaum noch bewältigen. Er schaffte es noch, aber er brauchte eine Ewigkeit dafür, weil er auf jedem Absatz pausieren musste. In letzter Zeit war er selbst im Sitzen kurzatmig. Ich versuchte, möglichst nicht daran zu denken. Er war alles, was ich hatte.

»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest«, sagte ich.

Ich mahlte eine Portion Kaffeebohnen, kippte das Mahlgut in den Kaffeebereiter und setzte Wasser auf. Als ich mich ihm gegenübersetzte, fixierte er mich mit seinen blassblauen Augen und fuhr sich mit einer Hand über sein kurz geschorenes weißes Haar. Sein Gesicht war von einem Netz aus Fältchen um Mund und Augen überzogen. Es war hart, hatte Felsgrate als Wangenknochen und einen Feldblock als Kinn.

»Ich werde darüber nachdenken«, sagte ich. »Sie würden mich dafür hassen, dass ich dich enttäuscht habe.«

»Schluss damit.«

Ich blickte auf die Schlagzeile der Meldung hinunter, die er gelesen hatte. MANN IN SEINER WOHNUNG ERMORDET. Er sah, was ich las.

»Hier steht, dass er 65 war. Er hatte Krebs, ein schlimmes Bein, konnte nur am Stock gehen.«

»Ja, ich weiß«, sagte ich. »Unauffällig. Zurückhaltend. Nur ein netter alter Kerl, der im Park die Tauben füttert. Wer würde ihm so was antun?«

Ich kannte diese Meldung bereits. Aber das schrieben sie eigentlich immer, nicht wahr? Über Opfer und Täter gleichermaßen. Was würden die Leute über mich sagen?, fragte ich mich. Gegenwärtig jobbte ich als Bedienung im Sidewalk Café an der Avenue A. Ich kam pünktlich, machte keine Fehler und verschwand bei Schichtende. Ich lächelte vage, wenn jemand mich ansah, und war höflich, fast freundlich zu meinen Kolleginnen (deren Namen ich kaum kannte). Wollte jemand seine Schicht mit meiner tauschen, sagte ich immer Ja. Das Café florierte, und die Trinkgelder waren gut, vor allem spätnachts am Wochenende, wenn die Leute feierten. Ich versuchte nie, Trinkgeld, das ich in bar bekam, für mich zu behalten, sondern warf es immer in die gemeinsame Kasse, aus der auch die Geschirrspüler und Tischabräumer ihren Anteil bekamen. Ich hatte mehrmals beobachtet, dass Kolleginnen solche Trinkgelder einsteckten. Aber ich verlor natürlich nie ein Wort darüber.

Was würden sie, meine Kolleginnen, sagen, wenn sie wüssten, was ich war? Auf mich traf zu, was die Leute von ihm gesagt hatten. Ich war unauffällig. Zurückhaltend. Sie hätten das blasse, stille, in keiner Weise auffällige Mädchen bestimmt nie mit dieser Zeitungsmeldung in Verbindung gebracht.

Ich nenne ihn meistens Paul, nicht Onkel Paul. Tatsächlich ist er gar nicht mein Onkel. Er ist der Stiefbruder meines Vaters. Die beiden sind zusammen aufgewachsen und waren ihr Leben lang beste Freunde. Über ihre Kindheit in New Jersey weiß ich nicht allzu viel; beide haben nicht viel darüber gesprochen. Mein Großvater war städtischer Busfahrer. Meine Großmutter war Lehrerin und starb an Bauchspeicheldrüsenkrebs, als mein Dad noch klein war. Mein Großvater heiratete dann Pauls Mutter Sherry, die Notruf-Dispatcherin war. Nach Pauls Schilderung lebten sie einfach und ohne besondere Vorkommnisse. Paul und mein Vater Chad gingen beide zur Polizei. Paul zog nach New York City und blieb sein Leben lang Streifenpolizist. Mein Vater wurde Kriminalbeamter, Angehöriger der Mordkommission in New Jersey. Meine Mom war »von Beruf Mutter«, wie sie scherzhaft sagte – eine seltene Ausnahme in einem Milieu, in dem gewöhnlich beide Eltern berufstätig waren. Sie backte Plätzchen, wusch Wäsche, zahlte Rechnungen und kochte das Abendessen.

»Darüber wollen wir nicht reden«, sagte ich.

»Doch, das wollen wir«, sagte er und klopfte mit einem Fingerknöchel hart auf die Zeitung. »Das ist unrecht.«

»Findest du?« Aufflammender Zorn ließ mich aufspringen. Dann setzte ich mich wieder und beugte mich über den Tisch. »In welcher Beziehung unrecht? In welchem gerechten Universum ist das unrecht?«

»Verletzen wir andere, verletzen wir uns selbst, Zoey. Das müsstest du inzwischen wissen.«

Er ließ den Kopf sinken und holte keuchend Luft. Ich legte meine Hand auf seine. Ich atmete bewusst langsam, weil ich hoffte, seine Atmung würde meinem Beispiel folgen. Das tat sie.

»Was soll ich dir für heute Abend kochen?«, fragte ich. »Ich muss heute arbeiten, deshalb koche ich vor, und Betsy kann dir das Essen aufwärmen, wenn du hungrig bist.«

Er gab keine Antwort. Also trat ich an den Vorratsschrank und nahm die Tomatendosen heraus. »Ich denke, ich mache eine Marinara mit Fleischklößchen. Eine große Portion, damit wir etwas davon einfrieren können.«

»Zoey.«

Von seinem Küchenfenster aus konnte ich ins Esszimmer des Lofts im Nachbarhaus sehen. Es gehörte zu einem der neueren Gebäude, alles weiß und Espresso, klare Linien und eine metallisch glitzernde Wandverkleidung hinter dem Herd. Kalt und modern, wie die Leute es heutzutage zu mögen scheinen. Im Gegensatz dazu besteht die Küche meines Onkels hauptsächlich aus Resopal, sich ablösenden Tapeten und uralten Küchengeräten, die nach jahrelanger Benutzung fleckig bleiben, auch wenn ich sie noch so lange schrubbe.

Der Rest seiner Wohnung stammt ebenfalls aus dem New York alter Schule. Natürlich ist dieses Gebäude nicht klimatisiert, aber er hat ein Klimagerät am Schlafzimmerfenster. Wenn ich hier übernachte – was ich manchmal tue, wenn mir seine Atmung nicht gefällt –, schlafe ich auf dem Bettsofa. Als ich damals mit 14 Jahren bei ihm eingezogen bin, hat er mir das Schlafzimmer überlassen und auf dem Sofa geschlafen, bis ich in ein Studentenwohnheim der New Yorker Universität umgezogen bin. Vier Jahre lang hat er auf einem Bettsofa geschlafen.

»Ich fülle die Marinara in eine Frischhaltebox. Dann braucht Betsy sie nur aufzuwärmen und etwas Pasta zu kochen. Und den Salat anzumachen.«

Betsy war die Krankenpflegerin, die täglich vorbeischaute, um zu kontrollieren, ob er seine Medikamente nahm, ihm duschen zu helfen, was ich nicht sollte, und darauf zu achten, dass er aß, wenn ich nicht kommen konnte.

»Bitte«, krächzte er.

»Es ist vorbei.«

»Es ist nie vorbei, Kid«, sagte er. »Nicht einfach so.«

Obwohl ich bereits den Verdacht hegte, er könnte recht haben, weil ich eine Leere in mir spürte, die vielleicht nie mehr ausgefüllt werden konnte, ließ sich daran nichts mehr ändern. In jedem Leben gibt es bestimmte düstere Eingänge, und wer dort eintritt, kommt nie mehr heraus. Die Tür fällt hinter einem ins Schloss, und man ist drinnen gefangen. Davor warnt einen niemand. Oder man hört nicht zu. Was wirklich vor sich geht, begreift man immer erst, wenn’s zu spät ist.

Ich goss Olivenöl auf den Boden des schweren gusseisernen Topfs, der meiner Mutter gehört hatte. Ich hackte Knoblauch klein, streifte ihn vom Schneidebrett ins heiße Öl und stellte die Hitze kleiner. Ich öffnete die Tomatendosen und sog prüfend die Luft ein. Nur die Nase kann einem sagen, wann der Knoblauch genau richtig ist, bevor er braun wird und weggeworfen werden muss.

Als es Zeit wurde, kippte ich die gewürfelten Tomaten (meine Mutter hätte sie frisch aus dem Garten geholt, aber ich bin in solchen Dingen weniger ehrgeizig – und ich habe keinen Garten) ins Öl und hörte sie brutzeln. Ich zerriss Basilikumblätter und sah zu, wie sie aufs Rote hinabsegelten. Salz. Pfeffer. Eine Prise Zucker gegen die Bitterkeit. Dann ließ ich alles zusammen weiterköcheln. Wie alle guten Rezepte erforderte dieses kaum Arbeit, nur erstklassige Zutaten und etwas Zeit und Aufmerksamkeit.

Als ich mich wieder meinem Onkel zuwandte, hatte er den Kopf in beide Hände gestützt und atmete noch schwerer.

»Alles gut«, sagte ich. »Mir fehlt nichts.«

Er schüttelte den Kopf, schien nicht sprechen zu können. Also brachte ich ihn ins Schlafzimmer. Dort lief das Klimagerät, und die Vorhänge waren zugezogen, sodass der Raum kühl und dämmrig war. Ich versuchte zu übersehen, wie mager er geworden war, wie viel dünner sein Arm sich anfühlte. Trotz des summenden Klimageräts konnte ich Kindergeschrei von dem Schulhof unten auf der anderen Straßenseite hören.

»Willst du Sauerstoff?« Neben seinem Bett stand ein grün-silberner Zylinder. Er nickte und setzte sich schwer auf die Bettkante. Ich hob seine Beine aufs Bett und half ihm die Sauerstoffbrille anzulegen. Früher hatte er mich auf dem Rasen meiner Eltern über den Kopf gehoben und sich mit mir im Kreis gedreht. Oder ich war auf seinem Rücken geritten, bevor er mich in einem Spiel, das wir Flugzeug nannten, auf dem Hartholzboden unseres Wohnzimmers in Strumpfsocken im Kreis gewirbelt hatte.

Dafür bist du zu groß, Zoey!, schalt meine Mutter mich. Onkel Paul hat Rückenprobleme. Aber er hatte lächelnd den Kopf geschüttelt, sodass ich wusste, dass alles okay war.

Ich wusste nicht, was ein Lungenemphysem war, bis mein Onkel eines bekam. In meiner Ahnungslosigkeit hielt ich es für relativ harmlos, für nicht mehr als ein bisschen Kurzatmigkeit. Ich wusste nicht, dass etwas seine Lungenfunktion immer stärker beeinträchtigte, sodass er abmagerte. Im Lauf der Zeit büßte die Lunge so viel von ihrer Funktionsfähigkeit ein, dass sie den Stoffwechsel nicht mehr in Gang halten und dem Körper nicht mehr genügend Sauerstoff zuführen konnte. Das gehört zu den unangenehmen kleinen Dingen, denke ich, über die nie jemand redet. Es ist solch eine stille, hässliche Art, langsam zu sterben.

Ich deckte ihn mit der leichten Decke zu, die über dem Stuhl in einer Zimmerecke hing. Er zeigte auf den Fernseher, und ich schaltete ihn ein und gab ihm die Fernbedienung in die Hand. Ich kontrollierte die Inhalatoren auf seinem Nachttisch: Advair, Combivent, Flovent. Er nahm zweimal täglich Accolate und hatte Prednison gegen Anfälle.

Seine Lungenfunktion lag bei weniger als 50 Prozent und konnte nur noch schlechter werden.

Auf dem Nachttisch stand in einem billigen Kunststoffrahmen ein Foto von meinen Eltern und mir; daneben lagen die Plakette, die er zur Verabschiedung bekommen hatte, und sein NYPD-Ring. Ansonsten gab es hier nur das Bett, seinen Lesesessel, zwei Nachttische und Regale über Regale voller Bücher in farbig gescheckten Stapeln – Geschichte, Biografien, Krimis, Sachbücher. Mein Onkel hatte nie zu lesen aufgehört. Auf dem zweiten Nachttisch lag ein kleiner Stapel aus drei Büchern: der neueste Lee Child, ein Buch über Vögel und eine Biografie Alexander Hamiltons.

»Die Polizei hat noch keine heiße Spur im Fall des in seiner Wohnung ermordeten älteren Mannes«, sagte die kesse blonde Reporterin von NY 1 News, vor dem Eingang eines Apartmentgebäudes stehend.

Ich gab vor, nicht hinzuhören, während ich die Decke glatt zog und mich daranmachte, den Wasserkrug zu füllen.

»John Martin Didion war ledig. Nach Auskunft von Hausverwalter Anthony Ruiz war er ruhig und höflich, hatte seit mehreren Jahren in diesem Gebäude gewohnt – in einer Wohnung mit Mietpreisbindung, die er von seiner Mutter übernommen hatte, nachdem er sie bis zu ihrem Tod gepflegt hatte.«

»Er war ein sehr ruhiger Mieter, wissen Sie? Mit ihm hat’s nie Schwierigkeiten gegeben«, sagte der Latino in mittleren Jahren, der verlegen die Hände ringend an der Kamera vorbeiblickte. »Ich verstehe diese Stadt nicht mehr. Wohin soll das alles noch führen?«

Der Fernseher zeigte körnige Bilder. Ich brauchte einige Sekunden, um zu erkennen, dass dies der Eingang von Didions Gebäude war. Als er zur Haustür hinkt, nähert sich ihm eine schlanke Gestalt in einem Hoodie von hinten, dann verschwinden die beiden in dem Gebäude.

»Aufnahmen der Überwachungskamera des Nachbarschaftsladens auf der anderen Straßenseite zeigen, wie Mr. Didion beim Betreten seines Gebäudes angesprochen wurde. In seiner Wohnung wurde er durch einen einzigen Messerstich ins Herz getötet. Entdeckt wurde die Leiche von einer Nachbarin, der aufgefallen war, dass die Wohnungstür offen stand.«

Die Kamera schwenkte zu der jungen Reporterin zurück. Eine leichte Brise ließ ihr Haar attraktiv wehen, ihr Make-up war perfekt. Sie sah wie eine Puppe aus, die man anziehen und in einen Sportwagen setzen konnte. Sie würde einen perfekten Plastik-Boyfriend und ein Traumhaus mit Pool haben.

»Nachlässig«, sagte Paul. Er atmete tief durch die Nasenkanülen ein. »Du weißt doch, dass es in dieser Stadt überall Kameras gibt.«

»Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte ich. Ich deckte ihn gut zu und küsste ihn auf die Stirn. »Du bist ein alter Mann. Hör auf, Geschichten zu erfinden.«

Aber mein Herz jagte. Mich selbst zu sehen war eigenartig gewesen. Eine außerkörperliche Erfahrung. Und ja, sehr leichtsinnig. Ich hatte die Umgebung des Hauses genau ausgekundschaftet. Wie hatte ich diese Kamera übersehen können?

»Die Polizei ermittelt weiter und bittet alle, die Informationen über die Gestalt in dem Hoodie haben, sich zu melden«, fuhr die Plastik-Reporterin fort.

Scheiße.

Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Er ließ sich zurücksinken, sodass seine Arme schlaff ausgestreckt am Körper anlagen, und sein Brustkorb hob und senkte sich, während er pfeifend ein- und ausatmete. Manchmal döste er in dieser Haltung ein und schlief dann stundenlang, weil er von der bloßen Anstrengung, am Leben zu bleiben, erschöpft war. Ich ging leise zur Tür. Bevor ich sie ganz schloss, erwiderte er meinen Blick, und ich hörte ihn flüstern: »Sei nächstes Mal vorsichtiger.«

Ich kochte die Marinara fertig, wusch noch ab und legte Betsy einen Zettel mit Anweisungen fürs Abendessen hin. Als ich wieder nach ihm sah, schlief er fest. Hoffentlich würde er schlafen, bis Betsy kam. Eine 24-Stunden-Betreuung wäre mir lieber gewesen, aber davon wollte er nichts hören. Ich bin kein Invalide. Ich kann mich selbst versorgen. Leider stimmte das immer weniger. Aber es ist schwierig, sich gegen Leute durchzusetzen, die einen früher huckepack getragen haben.

Parallel zu meiner illustren Karriere als Serviererin arbeitete ich als Katzensitterin, Pflanzengießerin und Haushüterin. Seit einem Monat – und vermutlich noch weitere sechs Monate lang – lebte ich in einem Loft an der Ecke Greenwich Street und Vestry Street. In einer Traumwohnung von der Art, auf die sich höchstens ein Prozent der Bevölkerung realistische Hoffnungen machen durfte. Dorthin war ich unterwegs, nachdem ich Pauls Gebäude ohne Aufzug in East Village verlassen hatte.