Arkspire - Der neue Arkanist - Jamie Littler - E-Book
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Arkspire - Der neue Arkanist E-Book

Jamie Littler

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Beschreibung

Arkspire: Eine Stadt der Magie, der Mysterien, der Trickbetrüger und eines außergewöhnlichen Geheimnisses, das nur ein junges Mädchen lüften kann Arkspire ist eine Stadt, die von der Magie besessen ist. Die fünf Arkanisten – eine Gruppe von allmächtigen Magiern – beschützen die große Stadt seit Menschengedenken. Inmitten des geschäftigen Treibens lebt Juniper Bell, eine Diebin, die alles für ihre Familie – sogar ihre unglaublich nervige Schwester Elodie – tun würde. Doch eines Nachts geschieht etwas Unglaubliches. Ein mysteriöses, gestohlenes Relikt explodiert und enthüllt eine geheimnisvolle Kreatur namens Cinder. Die einzigen Kreaturen dieser Art sind angeblich gefährliche Feinde der Arkanisten … und so dauert es nicht lange, bis diese ihre Aufmerksamkeit auf Juniper richten. Schon bald werden Juniper, Cinder und alle, die sie liebt, in eine außergewöhnliche Welt der Magie gezogen, aber sie geraten auch in große Gefahr. Es scheint, dass die Welt, die Juniper zu kennen glaubte, nichts als eine Lüge ist …

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Inhalt

DIE ARKANISTEN

PROLOG

1 DER FEIND MEINES FEINDES

2 UNTER DEN AUGEN DER EULE

3 GEBEN IST SELIGER DENN NEHMEN

4 TRAUTES HEIM, GLÜCK ALLEIN

5 DIE RETTUNG DER RELIKTE

6 JELLIPER

7 SELBSTREFLEXION

8 DIE WAHRHEIT IM SPIEGEL

9 GEFÄNGNISAUSBRUCH

10 DIE RUHE NACH DEM STURM

11 DIE CRUX DES GANZEN

12 DIE ARKANISTEN

13 DAS URTEIL

14 ZIMMER MIT AUSSICHT

15 DER KANDIDAT

16 DER PLAN BEGINNT

17 DIE GELEBTE LÜGE

18 WIE MAN MAGIE VERWENDET

19 EIN ZIEMLICH ERNSTES HOBBY

20 DER STURM

21 EIN LEUCHTFEUER IN DER DUNKELHEIT

22 KRÄUTERTEE

23 AUF TAUCHGANG

24 ERINNERUNGEN

25 UNERWARTETE GESELLSCHAFT

26 NACHTSCHICHT

27 AUSSENSEITER

28 DER MITTERNACHTSTURM

29 UNSERE NAMEN SIND EWIG

30 DAS KARTENHAUS

31 EIN NEUER ORDEN

EPILOG

PROLOG

Die schmale Gasse war ein Klacks. Juniper Bell sprang mit einem großen Satz hinüber und rollte sich bei der Landung ab.

Ihre Mama lächelte stolz. »Ganz meine Tochter.«

Strahlend drehte sich Juniper um und hoffte, ihre Zwillingsschwester direkt hinter sich zu sehen. Stattdessen sah sie, dass Elodie auf einem Hausdach auf der anderen Seite der Gasse zurückgeblieben war und mit zitternden Knien über die Kante lugte.

Genau das hatte Juniper befürchtet.

»Du schaffst das, El!«, rief Mama ihr zu. »Es ist nicht so weit, wie es aussieht!«

»Ich … ich weiß nicht, ob ich das schaffe …« Elodies Augen füllten sich vor lauter Frust mit Tränen.

»Da könntest du locker mit einem großen Sprung rüberkommen«, ermutigte sie Juniper, »und das musst du auch, sonst fällst du nämlich runter und bist tot.«

»Juni!«, kreischte Elodie.

»Ach komm, was soll denn schon passieren?«

»Ähm … dass ich runterfalle und sterbe? Eigentlich sollten wir überhaupt nicht hier oben sein. Wenn wir erwischt werden, kriegen wir richtig Ärger.«

Die Familie Bell stammte aus dem Iris-Distrikt, der von der Arkanistin mit dem Titel Die Beobachterin regiert wurde. Im Moment befanden sie sich allerdings im benachbarten Mitternachts-Distrikt, wo Die Verhüllte und ihr Orden der Mitternacht herrschten. Eigentlich war es nicht verboten, andere Distrikte zu besuchen, aber in einer besonderen Nacht wie dieser waren Dregger wie sie aus den unteren Stadtbezirken sicher nicht in den Uppers, den oberen Vierteln, willkommen. Was blieb ihnen also anderes übrig, als sich heimlich über die Dächer zu schleichen? Die Gelegenheit, einen Arkanisten in Aktion zu erleben, war das Risiko absolut wert.

»Uns erwischt heute Nacht keiner«, versicherte Mama der weiterhin zögernden Elodie. »Wir sind schnell wie die Schatten: kaum hier und schon wieder weg.«

»Genau wie Die Verhüllte!«, sagte Juniper.

Mama lachte.

»Nur noch viel schattenlicher!«

Elodie war immer noch nicht überzeugt und betrachtete die Armee von Wachen, die unten auf der Straße mit geschulterten Gewehren aufpasste.

»Ich sollte zurückgehen und sie holen …«, raunte Juniper ihrer Mama zu.

Juniper war fünfzehn Minuten vor ihrer Zwillingsschwester geboren worden und nahm ihre Aufgabe als ältere Schwester sehr ernst. Beide Mädchen hatten die braune Haut und das dunkle Haar ihrer Mutter geerbt, doch auf Junipers Kopf sah es aus, als wäre sie rabiat mit einer stumpfen Schere zu Werke gegangen (denn genau das war sie auch), während Elodies Frisur hübsch und ordentlich war. Trotzdem hatte Elodie versucht, ihre Haare zu buschigen Zöpfen zu binden, damit sie denen von Juniper ähnlicher sahen. Sie wollte immer wie ihre Zwillingsschwester sein. Manchmal war es Juniper ein bisschen zu viel, dass sie immer einen Nachmacher dabeihatte, aber insgeheim war sie wahnsinnig stolz.

»Nein. Das schafft sie schon allein, ich weiß das«, beharrte Mama.

Juniper nickte und entschied sich für eine andere Taktik. Sie wollte Elodie ja helfen, aber solange die sich ständig darüber Sorgen machte, was alles passieren könnte, kämen sie kein Stück weiter.

»Hey, vielleicht war das Ganze ja eine schlechte Idee«, rief Juniper. »Du wartest hier, und wir gucken uns die super-fantastolle Arkanistin an und erzählen dir aaaaall die coolen Sachen, wenn wir wiederkommen. Schade, dass du nicht dabei sein kannst. Wenn es das nächste Mal eine Erbschaft gibt, bist du wahrscheinlich schon älter als Mama …«

»So alt bin ich nun auch wieder nicht«, meinte Mama.

Bei dem bloßen Gedanken wurden Elodies große Augen noch einmal riesiger.

»Nein, bitte lasst mich nicht allein. Ihr hattet recht, ich schaffe das schon!«

Juniper lächelte triumphierend. Wenn es ein Lockmittel gab, mit dem man Elodie dazu bringen konnte, die Regeln zu brechen oder einen waghalsigen Sprung von einem Dach zum anderen zu machen, dann waren es die Arkanisten. Sie war ganz besessen von ihnen.

Elodie spähte über die Dachkante und schreckte sofort zurück. »Aber … was, wenn ich runterfalle?«

»Das wirst du nicht!«, riefen Juniper und Mama gleichzeitig.

»Das könnt ihr doch gar nicht wissen!«

Juniper hockte sich an den Rand des Daches und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin da und halte dich fest.«

»Und du lässt auch ja nicht los?«

»Niemals.«

Elodie musterte ihre Zwillingsschwester genau, um zu prüfen, ob sie log. »Versprochen?«

»Versprochen!«

Elodie schluckte und streckte hoch konzentriert ihre Zunge heraus. Daran erkannte Juniper, dass es gleich ernst wurde. Elodie ging in Position. Kniff die Augen zusammen. Holte tief Luft, nahm Anlauf … und sprang! Sie überquerte die Gasse nur ganz knapp, und Juniper ergriff ihre wild umherfuchtelnden Arme und zog sie in Sicherheit.

Elodie schaute auf den Abgrund zurück, den sie gerade überquert hatte, und konnte es fast nicht glauben. »Ich … ich habs geschafft? Ich habs geschafft! Ich habs geschafft!« Sie hüpfte auf und ab, und Juniper hielt sie fest an den Händen.

»Es gibt nichts, was Jelliper nicht schaffen, wenn sie zusammenarbeiten«, sagte Mama stolz und benutzte dabei den Spitznamen, den sich die Zwillinge selbst gegeben hatten. Sie nahm die beiden in den Arm.

»Na ja, die Zeit zurückdrehen können wir nicht«, sagte Juniper.

Elodie sah sie fragend an. »Wofür sollte das auch gut sein?«

»Weil wir bestimmt die Erbschaft verpassen, wenn wir weiter so rumtrödeln!«

Da fiel Elodie die Kinnlade runter. »Beim Besucher aus dem Jenseits, jetzt aber zack, zack, zack!«

Der große Marktplatz des Mitternachts-Distrikts war brechend voll. Die gigantische Menschenmasse wartete unruhig in der klebrig-schwülen Abendluft. Vornehme Fuzzis, und zwar jede Menge davon, eine Klamotte schicker als die andere. Die Herren in den eleganten Mänteln strichen sich ihr geöltes Haar zurück, während die Damen in ihren modischsten Kleidern posierten, mit Juwelen, die im Schimmer der unzähligen Ätherlicht-Kerzen glitzerten. Alle lauschten gebannt dem ergreifenden Lied, das von einem Orchester auf einer großen Bühne in der Mitte des Platzes gespielt wurde.

Den Zwillingen blieb fast der Atem weg. »Wooooooooow!«

»Wenn das nicht die absolut besten Sitzplätze sind, kriegt ihr euer Geld zurück«, sagte Mama grinsend und nahm auf der Dachkante hoch über den Feierlichkeiten Platz. Die Zwillinge setzten sich daneben. Juniper ließ die Beine über die Kante hängen, Elodie saß etwas weiter hinten.

»Das ist ja der Hammer!« Juniper schlug sich strahlend mit der Faust in die Handfläche. Elodie knabberte unterdessen an ihrem Daumennagel und konnte sich ein aufgeregtes Lachen kaum verkneifen.

»Nicht schlecht, was?«, meinte Mama. »Wenn die Welt dir eine leere Tasche gibt, musst du sie eben füllen.«

Dieses Spektakel wurde niemals langweilig – ganz egal, welchen Arkanisten man dabei erleben durfte.

Wer einmal das Unglaubliche mit eigenen Augen gesehen hatte, vergaß es nie wieder, und man gewöhnte sich auch nie daran.

Der heutige Abend war allerdings etwas ganz Besonderes, da es die erste Erbschaft war, die im Leben der Zwillinge stattfand. Es war der Moment, in dem die Kräfte eines Arkanisten auf den ausgewählten Erben übergingen. Von diesem Geschenk träumte ein jedes Kind in Arkspire.

Vor einer Woche hatte Mama den Zwillingen versprochen, sie mit zum Ritual zu nehmen (solange sie Papa nichts davon verrieten), und seitdem hatten sie jede Nacht wach im Bett gelegen und konnten es kaum mehr abwarten. Elodie hatte sich zur Feier des Tages sogar ihren schönsten Pullover angezogen. Der war ihr zwar viel zu groß, wie all ihre Kleidungsstücke, aber wenigstens hatte er keine Löcher.

Plötzlich wurde das Orchester leiser, und eine erwartungsvolle Stille legte sich über den Platz. Die Luft war wie elektrisch aufgeladen – ein Wunder, dass niemand einen Stromschlag bekam. Man konnte die Aufregung förmlich im warmen Abendwind schmecken, wie ein Knistern auf der Zunge, und der süße Geruch der schwarzen Blumen, für die der Mitternachts-Distrikt berühmt war, kitzelte in der Nase.

Eine einzelne Dame trat aus dem Orchester vor und begann zu singen. Das Lied war schön und zugleich traurig. Die Art von Lied, die einen tief im Inneren berührt und von der man eine Gänsehaut bekommt. Es war ein Klagelied. Hinter der Sängerin flackerten still zwei weiße Säulen aus Ätherlicht und beleuchteten einen Teil der Bühne, der bisher im Schatten verborgen gewesen war. Dort stand ein offener Sarg auf einem Podium. Darin lag der tote Körper einer unglaublich alten Frau mit geschlossenen Augen, ihre faltigen weißen Hände überkreuzt auf der schwarzen Bestattungsrobe.

Hinter dem Sarg stand ein junges Mädchen, das nicht viel älter als die Zwillinge war. Ihr braunes Haar war zu zwei Knoten gebunden, und über der Stirn trug sie einen Kopfschmuck, der im geisterhaften Licht glänzte. Dutzende Münzen baumelten daran herunter – die Bezahlung für den Fährmann, der die Seelen der Toten ins Jenseits brachte. Ihrem bleichen Gesicht sah man an, dass sie ein Lächeln kaum unterdrücken konnte. Wenn man bedachte, was gleich geschehen würde, konnte man ihr das auch kaum vorwerfen. Wenn Juniper als Erbin auserwählt worden wäre, hätte sie erst einmal ein Tänzchen hingelegt.

Ein großer, hagerer Mann aus dem Orden der Mitternacht stand neben ihr. Beide blickten ernst auf den Sarg hinab.

Als das Lied zu Ende war, trat der Mann vor.

»Bewohner des Mitternachts-Distrikts!«, verkündete er mit staubiger, alter Stimme. »Mit großer Trauer müssen wir nun von unserer geliebten Anführerin, der dreiundzwanzigsten ihres Namens, Abschied nehmen. Wie es der Brauch verlangt, haben wir diesen schrecklichen Verlust schon im gleißenden Licht des Tages betrauert. Nun, in der beruhigenden Dunkelheit der Nacht, wollen wir feiern, denn ihr Erbe wird weiterleben! Die Verhüllte hat ein Kind erwählt, das würdig ist, ihre Gaben zu erben und ihr in dieser ehrbaren Ahnenreihe nachzufolgen. Erwählte Erbin Der Verhüllten, tritt vor und nimm dein Schicksal an.«

Das Mädchen nickte und trat an den Sarg heran. Sie wirkte selbstbewusst. Bereit. Die letzten paar Jahre hatte sie schließlich nichts anderes getan, als sich auf diesen Augenblick vorzubereiten.

Elodie erschrak, als Die Verhüllte plötzlich die Augen aufschlug. Sie hatte so still und friedlich dagelegen, dass sie auch als tot durchgegangen wäre. Außerdem lag sie schließlich in ihrem eigenen Sarg. Ihre trüben Augen richteten sich auf das Mädchen, das sich über sie beugte. Sie erhob eine greisenhafte Hand, die das Mädchen vorsichtig, aber entschlossen ergriff.

»Ich, Nyx Neverbright, gebe mich der Macht Der Verhüllten hin. Möge mein Name vergessen werden, da ich neu geboren werde«, sagte das Mädchen und schloss die Augen.

Die Menge hielt den Atem an.

Juniper griff Elodies Hand und drückte sie fest.

»Es geht loooooos …«

Die Schatten, die im flackernden Ätherlicht tanzten, veränderten sich auf einmal. Sie bewegten sich zielgerichtet. Dunkle, geisterhafte Schemen entströmten der Frau im Sarg und wanden sich hinauf zu Nyx’ ausgestrecktem Arm. Wie ein Band woben sie sich über ihre Schulter, verhüllten ihren Oberkörper und schwebten dorthin, wo sich ihr Herz befand. Ein magisches Symbol auf ihrer Hand begann zu leuchten.

Da waren die Ätherlichter auf einmal fort. Jede einzelne Kerze verlosch. Aus allen Straßenlampen und Fenstern verschwand das Licht. Dunkelheit legte sich über den gesamten Mitternachts-Distrikt.

Elodie drückte Junipers Hand noch fester.

Das einzige verbliebene Licht kam von Nyx auf der Bühne. Aus dem einzelnen Symbol auf ihrer Hand waren weitere, merkwürdige Zeichen gewachsen, die sich spiralförmig ihre Arme hochschlängelten und weiß in der Finsternis leuchteten. Ihre Augen glühten wie Flammen. Sie hob die Arme, schlang die Hände umeinander wie bei einem Tanz und ließ die Symbole bei der Bewegung miteinander verschmelzen. Dann klatschte sie in die Hände.

Auf einmal erwachten die Ätherlicht-Säulen wieder zum Leben, alle Kerzen wurden wieder entzündet, und die Straßenlaternen brummten, als hätten sie im Leben nicht daran gedacht auszugehen.

Das Licht kehrte in den Distrikt zurück.

Die alte Frau im Sarg lag nun reglos da.

»Das Mädchen, das hier vor euch steht, ist nun nicht mehr Nyx Neverbright!«, rief diese. »Ich bin nun Die Verhüllte, die vierundzwanzigste ihres Namens, Anführerin des Ordens der Mitternacht und des Mitternachts-Distrikts. Und ich schwöre bei aller Macht, die mir verliehen wurde, dass ich uns zu nie gekannten Höhen führen werde!«

Mit unheimlicher Stille erhoben alle Zuschauer eine Kerze, und der Platz verwandelte sich in ein Meer aus Sternen, die sich sanft hin- und herbewegten. Glocken ertönten im gesamten Distrikt.

Wie gebannt schauten die Zwillinge zu. Neben ihnen lächelte Mama noch breiter. Da, wo sie herkamen, in den Dregs, gab es nur wenig Wundersames. Was sie heute Abend gesehen hatten, würde einiges wiedergutmachen. Doch in Junipers Hinterkopf nagte ein ungutes Gefühl an ihr. Trotz der großen Feier fühlte sich irgendetwas komisch an. Wie ein plötzlicher eisiger Wind an einem Sommertag.

Plötzlich formte ihr Atem ein weißes Wölkchen vor dem Gesicht, obwohl es gar nicht Winter war.

Jemand schrie, und da begriff Juniper: Die Glocken läuteten nicht wegen der Feier, sondern als Warnung.

Schon stiegen geisterhafte Gestalten zwischen den Pflastersteinen auf, die wie von einer unsichtbaren Sonne erleuchtet schienen. Aus dem Nichts nahmen sie ihre Form an wie der Morgennebel. Sie schwebten durch Wände, als ob diese gar nicht da wären. Fünf von ihnen. Unnatürlich verdrehte Kreaturen, die fast menschlich aussahen, doch dafür waren ihre Arme und Beine viel zu schrecklich verzerrt, ihre Finger zu lang, und ihre durchscheinenden, geisterhaften Körper bewegten sich wie Rauchschwaden im Wind. Am schlimmsten waren allerdings ihre Gesichter, eine unendliche Leere, aus der bloß zwei leuchtende, mit brennendem Hass erfüllte Augen starrten. Die Kreaturen griffen nach den Leuten ringsum und zeigten auf Die Verhüllte auf der Bühne.

»Schatten!«, flüsterte Mama voller Angst.

Der Fluch der Verräter.

In der Menge brach panisches Chaos aus. Die Menschen flohen furchterfüllt und fielen dabei vor lauter Eile übereinander. Das konnte man ihnen kaum verübeln, denn die Schatten saugten die Lebenskraft aus jedem heraus, mit dem sie in Berührung kamen, und ließen nur eine leblose Hülle zurück. Die Wachen leiteten die Menge zu einer Linie aus Magiesymbolen auf den Pflastersteinen. Die Schatten waren ihnen dicht auf den Fersen, doch bevor sie auch nur eine arme Seele zu fassen bekamen, erleuchteten die Symbole auf dem Boden strahlend hell. Schmerzerfüllt schreckten die Schatten zurück, wenn sie überhaupt so etwas wie Schmerz empfinden konnten.

»Wir müssen hier weg, schnell!«, rief Mama und zog die Mädchen vom Platz.

Die ganze Familie rannte. Juniper sprang hinter Mama über den Abgrund zwischen den Dächern, aber Elodie bremste abrupt ab.

»El, du musst springen!«, schrie Mama.

»Ich kann nicht!«, jammerte Elodie.

»Doch! Ich fange dich auf!«

Die Dachziegel unter Elodies Füßen fingen an zu glühen. Sie schrie und stolperte rückwärts, als sich direkt vor ihr ein Schatten aus dem Dach erhob, der sie aus mitleidlosen Feueraugen anstarrte, die voller Neid auf ihre Lebendigkeit waren.

Alles in Junipers Körper erstarrte zu Eis. »Elodie, renn!«

Doch Elodie konnte nur dastehen und starren. Die Blumen auf dem Dach, die einmal in voller Blüte gestanden hatten, verwelkten in der Gegenwart dieses Dings. Es gab ein tiefes, verzweifeltes Stöhnen von sich, und die unnatürlich langen Finger zuckten, bereit zum Schlag. Wenn das Ding Elodie auch nur berührte, würde es ihr in Sekundenschnelle die Lebenskraft entziehen.

»Elodie!«, schrie Mama und sprang zurück über den Abgrund. Juniper konnte nur hilflos zusehen, wie Mama versuchte, ihre Schwester zu fassen, doch der Schatten schlug mit beängstigender Geschwindigkeit zu. Mama duckte sich, und er verfehlte sie nur um Haaresbreite. Sie versuchte es noch einmal, doch das Ding war zu flink.

Plötzlich ergriff irgendetwas aus dem Nichts den Schatten beim Handgelenk. Es sah aus wie eine Art Seil, das allerdings aus verschlungenen Schattensträngen zu bestehen schien. Der Schatten wehrte sich und versuchte, sich zu befreien, doch ein weiteres Seil schlang sich um seinen anderen Arm und zog ihn zurück.

Nyx, oder Die Verhüllte, wie sie jetzt genannt wurde, erhob sich aus dem Dunkel auf dem Dach. Der Schatten kreischte und zappelte, doch die Magie Der Verhüllten hielt ihn fest. Sie rannte auf ihn zu und zeichnete direkt vor seinem kreischenden, leeren Gesicht hell leuchtende Symbole in die Luft. Sie wurden größer, verbanden sich miteinander und flogen wie ein Lasso um den Schatten herum, dann zogen sie sich plötzlich mit einem Blitzen zusammen. Alles, was von ihm übrig blieb, war sein schwächer werdendes Jammern, als das Ding wieder ins Jenseits hinter dem Schleier verbannt wurde.

»Meine Süße!« Mama stürmte zu Elodie und drückte sie fest an sich. »Es tut mir leid, es tut mir so leid, dass ich es nicht bis zu dir geschafft habe. Ich hab es ja versucht, aber …«

Doch Elodie hörte gar nicht zu. Ihre Augen waren weit geöffnet und glänzten. Allerdings nicht mehr aus Angst. Sie starrte Die Verhüllte voller Ehrfurcht an.

»Alles okay?«, fragte Die Verhüllte besorgt.

Elodie nickte.

»Danke!«, flüsterte Mama, und Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Vielen, vielen Dank!«

Die Verhüllte seufzte erleichtert auf und verschwand wieder in der Dunkelheit, um sich die restlichen Schatten auf dem Platz vorzunehmen.

Juniper sprang auf das Dach, kniete sich vor ihrer zitternden Schwester hin und umarmte sie.

»El! Gehts dir gut?«

»Das … war das Unglaublichste, was ich je gesehen habe«, flüsterte Elodie kaum hörbar. »Die Verhüllte … Kannst du … kannst du dir vorstellen, wie es ist, die Macht zu haben, die Leute so zu beschützen?«

»Na los, es ist nicht sicher hier.« Mama versuchte, Elodie hochzuheben, doch ihre Tochter wehrte sich und konnte die Augen nicht von Der Verhüllten abwenden, die sich jetzt wieder unten auf dem Platz befand.

»Ich möchte den Menschen auch auf diese Art helfen«, sagte sie atemlos. »Ich möchte auch etwas bewegen. Ich möchte Arkanistin werden!«

Juniper wollte gerade etwas erwidern, doch Mama warf ihr einen warnenden Blick zu. Sie mussten schnell von hier weg.

»Wenn irgendjemand eine gute Erbin abgeben würde, dann du, El«, sagte Mama, die Elodie zum Gehen überreden wollte. »Aber wir müssen jetzt wirklich los.«

Juniper schluckte heftig. Jedes Kind in Arkspire träumte davon, ein Arkanist zu werden. Man musste nur beweisen, dass man das Zeug dazu hatte: Es brauchte Mut, Entschlossenheit und ein reines Herz. Eigentlich hatte jeder in Arkspire die Chance, ein Jemand zu werden.

Doch Juniper kannte die Wahrheit. Tatsächlich wurden nur Kinder aus mächtigen, reichen Familien aus den Uppers auserwählt. Dregger wie die Bell-Schwestern hatten da keine Chance, das wusste Juniper trotz ihres jungen Alters schon genau. Ihr war klar, wo sie hingehörten, und das war nicht oben in die Türme der Arkanisten.

Trotzdem brachte sie es nicht übers Herz, Elodie das Ganze zu erklären, zumindest nicht mehr heute Abend. Die Verhüllte hatte das Herz ihrer Schwester mit Hoffnung und Inspiration erfüllt, und Juniper wollte auf keinen Fall diejenige sein, die ihr diese Gefühle wegnahm.

In den folgenden Jahren würde sie sich noch an diesen Augenblick erinnern.

1

DER FEIND MEINES FEINDES

Zwei Jahre später

Juniper Bell wurde verfolgt.

Der Mann war ihr schon einige Straßen zuvor aufgefallen. Sie hatte ihr Bestes gegeben, ihn abzuhängen, und sich geschickt durch die drängelnde Menschenmenge auf dem lebhaften Markt des Iris-Distrikts geduckt und geschlängelt, doch der Mann klebte an ihr wie ein ekliger Gestank.

Er verstand sein Handwerk, das musste Juniper ihm lassen.

Er war vorsichtig. Er hielt sich in den langen Schatten, die die tief stehende Nachmittagssonne warf, und mied die speerförmigen Sonnenflecken, die sich ihren Weg durch die hoch aufragenden Gebäude links und rechts der Straßenschlucht bahnten. Die heruntergekommenen Marktstände nutzte er für die Deckung. Er schlich sich zwischen den brüllenden Verkäufern, die lauthals ihre Waren anpriesen, hindurch und blieb dabei immer hinter dem Rauch von köchelndem Essen und Räucherstäbchen verborgen. Sein Gesicht wurde von der weiten Kapuze eines langen Umhangs verhüllt. Wahrscheinlich hat er ganz dunkle, geheimnisvolle Augen, dachte sich Juniper, eine dicke fette Narbe auf der Stirn und einen Dolch am Gürtel. Alles, was man als mysteriöse Gestalt so braucht.

Ja, er verstand sein Handwerk. Nur, dass Juniper Bell ihres noch ein bisschen besser verstand.

Ganz bestimmt war er ein Reliktjäger, genau wie sie, der ihr folgte und hoffte, ihr das verlockende Zielobjekt wegzuschnappen, hinter dem sie schon den ganzen Nachmittag her war.

Nicht mit mir, Freundchen, dachte sich Juniper.

Sie richtete den Blick wieder nach vorne auf ihr Ziel, einen mechanischen Wagen, in dem drei ziemlich abgerissene Passagiere saßen. Sie hielten die Köpfe gesenkt, hatten ihre Halstücher bis über die Nase gezogen und trugen Hüte mit einer breiten Krempe, die tief nach unten hing. Offensichtlich wollten sie nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Doch die Art und Weise, wie sie ihre Revolver unter ihren Mänteln festhielten, kam Juniper ziemlich verdächtig vor. Sie waren so angespannt und nervös und betrachteten jeden, der vorbeiging, wie einen Feind, mit dem sie schon lange gerechnet hatten. Das konnte Juniper ihnen nicht vorwerfen. Man munkelte, dass diese Gruppe sich in die Badlands begeben hatte, das Ödland mit seinen verlassenen Ruinen, das Arkspire umgab, so weit das Auge reichte. Jeder wusste, dass man die seltensten, wertvollsten arkanen Relikte nur in diesen vergessenen Bezirken finden konnte.

Wenn man denn jemanden überzeugen konnte, da rauszugehen und zu suchen. Eigentlich ging man nur in die Badlands, wenn man (a) sich so richtig verlaufen hatte, oder (b) komplett lebensmüde war. Allerdings sah es ganz so aus, als wären diese Typen da in einem Stück wieder rausgekommen (wenn man mal ganz von ihrem gequälten, leeren Blick absah) und wahrscheinlich auch ein bisschen reicher. Unter der Plane auf ihrem Wagen vermutete Juniper jede Menge fette Beute.

Da mischte sich ein anderes Geräusch in das Gebrüll auf dem Markt: das Knacken und Summen der Phonograph-Sprecher, die in der ganzen Stadt angebracht waren. »Denkt daran, Bürger von Arkspire! Alle arkanen Gegenstände oder Relikte, die möglicherweise Magie besitzen, müssen bei euren freundlichen Wachen vor Ort gemeldet werden«, ertönte die vornehme Stimme des Sprechers, die den Bewohnern von Arkspire nur allzu vertraut war. »Die Wachen der fünf Orden der Arkanisten sind da, um zu helfen. Sicherheit geht vor. Nicht vergessen: Schmuggelwaren bedeuten Chaos!«

Ein großer, bewaffneter mechanischer Wagen schob sich direkt vor Juniper über die Kreuzung. Auf der Seite stand in protzigen Lettern das Wort REQUISITION geschrieben. Obendrauf saßen schwer bewaffnete Wachen mit langen grauen Umhängen, auf denen das Eulenwappen des Ordens der Iris prangte, und mit Gewehren, die im staubigen Licht glänzten.

Wenn man in Arkspire mit einem verbotenen, magischen Relikt erwischt wurde, war das ein ziemlich schweres Verbrechen. Also durfte man sich einfach nicht erwischen lassen.

Das wussten auch die Schmuggler, denen Juniper auf den Fersen war. Sie fuhren nur noch im Schneckentempo, damit sie nicht in die Nähe der Patrouille gerieten. Als Juniper sich näherte, kam plötzlich ein Mädchen aus der Menge gelaufen und rempelte sie an. Das Mädchen trug eine Tunika aus zusammengenähten Stoffresten und darunter eine verwaschene, blaue Arbeiterhose. Ihr breites, freundliches Gesicht mit einer Stupsnase wurde von kurzem, schwarzem Haar umrahmt.

»Tut mir voll leid!«, sagte sie.

»Kein Ding.« Juniper zog sich ihre große Mütze tiefer über die Augen, um sich nicht anmerken zu lassen, dass sie das Mädchen kannte.

Das war Thea, Junipers beste Freundin und Komplizin.

Juniper langte in die Tasche ihres abgewetzten Mantels und zog das Stück Papier heraus, das Thea dort reingesteckt hatte. Es war in Form einer Ratte gefaltet, dem Symbol ihrer Bande. Sie nannten sich die Misfits, die Unpassenden. Im Moment bestanden sie zwar nur aus zwei Mitgliedern, aber das zählte trotzdem als Bande, oder? Juniper faltete das Papier auf und sah sich die Bilder an, die darauf gezeichnet waren. Ein Strichmännchen mit zerzaustem Haar wie Junipers, dahinter sechs weitere Strichmännchen mit zornigen Augen und scharfen Zähnen. Thea wollte sie warnen, dass sie nicht nur von einem, sondern gleich von sechs Männern verfolgt wurde. Junipers Zielobjekt war noch begehrter, als sie angenommen hatte.

Was auch immer sich auf dem Wagen befand – es musste was irre Besonderes sein.

Ganz unten auf dem Zettel war ein Pfeil aufgemalt, der ihr zeigte, dass sie das Blatt umdrehen sollte. Auf der anderen Seite war eine Zeichnung von einem freundlichen Bären, der das Juniper-Strichmännchen in den Arm nahm. Das war megasüß und megacool.

Juniper steckte die Notiz wieder ein. Also sechs Reliktjäger, fünf davon versteckt, die alle ebenfalls hinter ihrem Schatz her waren. Jetzt musste sie sich schnell etwas einfallen lassen.

Juniper bewegte sich geschickt wie eine Katze durch die Menschenmenge. Unauffällig checkte sie das Spiegelbild in einem Schaufenster und sah den Mann im Umhang hinter sich. Er folgte ihr noch auf Schritt und Tritt und kam immer näher. Eine weitere dunkle, geheimnisvolle Gestalt stand an einem Marktstand, und ein anderer Mann tat so, als würde er die Zeitung lesen. Bei einem von ihnen konnte sie ein Hai-Tattoo erkennen, der andere trug einen Bullenkopf als Kettenanhänger. Das waren verfeindete Banden, die sich noch nicht gegenseitig entdeckt hatten, soweit Juniper wusste. Sie hatten ihre Tücher hoch über die Nase gezogen und bedeckten ihre Gesichter mit Kapuzen oder Hüten.

Könnte interessant werden, dachte Juniper. Aber sie konnte die Situation bestimmt für sich ausnutzen.

Sie holte tief Luft und rannte auf den mechanischen Wagen zu. Der am nächsten stehende Schmuggler bemerkte gar nicht, dass Juniper nach seinem Ärmel griff, so fokussiert war er auf den Requisitions-Wagen, der sich auf der Straße entfernte. Als er ihre Berührung bemerkte, wurden seine Augen groß, und seine Revolverhand zuckte.

»Was machst’n du hier, Göre?«, motzte er. »Verzieh dich gefälligst!«

Junipers Herz pochte heftig in ihrer Brust, doch sie versuchte, Ruhe zu bewahren.

»Bitte, mein Herr, ich will Sie nur warnen!«, sagte sie im besorgtesten Tonfall, den sie hinbekam, und ließ ihre Augen groß und glänzend erscheinen wie die eines Kätzchens.

Der Schmuggler sah aus, als wollte er sie gleich an den Rinnstein treten, während seine Kumpel ihm mit fiesen Blicken zusahen. »Hör mal, du Zwerg, ich warne dich nicht noch mal.«

»Bitte, er steht gleich da vorne!« Sie deutete auf die Gestalt im Umhang, die mitten auf der Straße plötzlich stehen blieb. »Der Typ da, mit der Kapuze, der hat Sie verfolgt!«

»Red keinen Quatsch!« Trotzdem beobachteten die Schmuggler nun den Mann mit der Kapuze, um sich selbst ein Bild zu machen.

»Ich hab gesehen, dass er ein Tattoo von einem Hai hat, und meine Mama hat immer gesagt, ich soll mich von Menschen mit Hai-Tattoos fernhalten«, beharrte Juniper.

»Hai-Tattoo?«, wiederholte eine Schmugglerin und kniff die Augen zusammen.

Das hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt.

Juniper hatte keine Ahnung, ob ihr Verfolger tatsächlich zur Haizahn-Gang gehörte, aber mindestens einer der unheimlichen Typen auf dem Marktplatz war bestimmt ein Mitglied. Außerdem wusste sie schon, dass diese Schmuggler zu ihrem Boss Tungsten gehörten. Der Gangsterboss Tungsten beherrschte den Schwarzmarkt für Relikte und hasste die Haizähne mehr als alle anderen.

Langsam zog sich die Gestalt in der Kapuze zurück, was Junipers Anschuldigung noch glaubhafter erscheinen ließ.

Großer Fehler, Kumpel, dachte sich Juniper. Wärst du mal lieber cool geblieben.

Die Schmuggler hoben ihre Revolver und beobachteten den Mann misstrauisch – ganz wie Juniper sich erhofft hatte. Sie hatte sich darauf verlassen, dass die Schmuggler genau so nervös waren, wie sie aussahen.

Da rannte der Mann in der Kapuze plötzlich los.

Ein Schmuggler feuerte Schüsse auf ihn ab.

Und dann brach die Hölle los.

Die Kugeln sausten über die Straße und rissen Holz- und Putzstückchen mit sich. Die anderen fünf Reliktjäger hatten ihre Pistolen gezogen und schossen nun zurück auf die Schmuggler. Panik brach unter den Menschen auf dem Markt aus. Die Schmuggler suchten hinter ihrem Wagen Deckung und feuerten weiter auf ihre Angreifer. Juniper tat es ihnen gleich und drückte sich mit dem Rücken eng an den Wagen, während die Kugeln ringsum vom Metall abprallten.

»Tut mir leid, aber ich habs euch ja gesagt«, meinte Juniper an den Schmuggler gewandt, den sie hatte warnen wollen.

»Hau ab, ich sags nicht noch mal!« Er hob die Waffe über den Wagen und feuerte, ohne überhaupt hinzusehen.

»Aber … Na gut!«, antwortete Juniper. »Ts, da versucht man einmal, jemandem zu helfen …« Sie sprang auf, kletterte in den Wagen und ließ sich auf die Jutedecke fallen, die über der Beute ausgebreitet lag.

»He, raus da!«, rief der Schmuggler.

In dem Moment stieß das Getriebe des Wagens weißen Rauch aus, und die magischen Symbole auf dem Motor erwachten zum Leben. Genau das hatte Juniper erwartet. Thea hatte die Ablenkung genutzt, um sich auf den Fahrersitz zu schwingen und die Zündhebel zu betätigen. Die Misfits arbeiteten zusammen wie eine gut geölte Maschine – schnell rein und wieder raus, ohne langes Zögern.

Gehorsam tat der Wagen mit quietschenden Zahnrädern einen Satz nach vorn.

Wutentbrannt rannten die Schmuggler hinterher, aber die Staubwölkchen der Pistolenkugeln erinnerten sie schnell daran, in welcher Gefahr sie sich befanden, und sie gingen wieder in Deckung.

»Kommt zurück!«, rief ein Schmuggler, als hätte das jemals funktioniert.

»Ich dachte, ihr wolltet, dass ich abhaue?«, rief Juniper zurück.

Die Schmuggler schrien ihr nach, während der Wagen die Straße hinunterfuhr, doch ihre Stimmen wurden schon bald vom Getöse des Motors übertönt. Wahrscheinlich riefen sie nichts als Nettigkeiten und wünschten ihnen alles Gute, dachte sich Juniper. Zum Dank winkte Juniper ihnen noch zu, bevor sie um eine Ecke bog und sie aus den Augen verlor.

2

UNTER DEN AUGEN DER EULE

Einige Straßen weiter stand neben einer ruhigen, staubigen Gasse stolz eine riesige, hölzerne Eulenskulptur. Zu ihren Füßen waren Kerzen abgestellt worden, außerdem lagen dort Bronzemünzen, Äpfel und andere Opfergaben. Es war ein Schrein für Die Beobachterin, die Arkanistenherrscherin über den Iris-Distrikt. Im lauten Gewühl des Marktes war dies ein Ort des Friedens und der inneren Einkehr. Zumindest war er das gewesen, bis der Wagen vorbeigerauscht und in die Gasse geschlittert war und dabei die Ecke eines Hauses demoliert hatte. Schließlich war er in einer Rauchwolke und einem Haufen kaputter Mauersteine zum Stehen gekommen.

»Ups!«, sagte Thea und sprang vom Fahrersitz. »Da hat wohl jemand eine Wand hingestellt.«

In der dunklen, engen Gasse roch es faulig, doch selbst das konnte dem Grinsen auf Junipers Gesicht nichts anhaben. »Die Wand sollte sich lieber um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, lass dir von ihr ja nichts anderes einreden. Du warst der Hammer, Thea!«

»Wenn du nicht so schnell geschaltet hättest, hätte ich das nie geschafft«, sagte Thea, und die beiden Freundinnen vollführten ihren perfekt choreografierten Siegeshandschlag, bei dem man jede Menge schnelle Handbewegungen ausführen, auf einem Bein hüpfen und einander Fünf geben musste, während man in entgegengesetzte Richtungen schaute.

Grinsend stemmte Juniper die Hände in die Hüften. »Ich denke, ich nenne dieses Betrugsmanöver: Der Feind meines Feindes ist mein Freund (oder so).«

Thea nickte. »Gefällt mir. Kann man sich gut merken.«

»Mann, was für eine Flucht, Thea!« Juniper trat einen Schritt zurück, um den Wagen zu betrachten, den sie erstaunlicherweise nur ein bisschen verbeult hatten. »Wie du um die ganzen Leute rumgekurvt bist … Du so: wuuuuuuuuusch, brrrrrrrrrrruuum!«

»Gab ganz schön viel Geschrei, was?«

»Ja, aber es sind immerhin alle rechtzeitig aus dem Weg gesprungen, oder? Heute gab es trotzdem viiiieeeel Geschrei, das stimmt schon«, räumte Juniper ein, »sogar mehr als letzte Woche in Rust Lanes …«

»Immerhin hatten wir es heute mit nicht annähernd so vielen Schwellkröten zu tun«, meinte Thea.

»Ja, stimmt. Ich hab immer noch Schleim in meinen Stiefeln.« Juniper schüttelte sich bei dem Gedanken an diesen klebrigen Diebstahl. »Wie auch immer. Sollen wir mal nachschauen, wofür wir eigentlich so mutig Kopf und Kragen riskiert haben?« Sie zog die Abdeckung hinten auf dem Wagen herunter und gab Thea den Vortritt. »Nach ihnen, gnädige Dame.«

»Oh, wie überaus freundlich.«

Thea kletterte auf die Ladefläche des Wagens und stieß einen leisen Pfiff aus, als sie sah, was sich dort befand. Alles war vollgestopft mit Beute, frisch aus den Badlands. Bücher, Pergamentrollen, Flaschen und Relikte, die vermutlich einmal den großen (und schrecklichen) Verrätern gehört hatten. Der Legende nach hatte Der Besucher einst einhundert Menschen magische Kräfte verliehen doch nur fünf hatten sich als dieser Gabe würdig erwiesen – die Arkanisten. Die übrigen fünfundneunzig … na ja. Die Geschichten erzählen von all den fürchterlichen, bösen Dingen, die die Verräter mit ihren beängstigenden arkanen Waffen angestellt hatten. Einfach albtraumhaft.

Juniper konnte es kaum abwarten, sie zu Gesicht zu bekommen.

Sofort durchsuchten die Mädchen den Haufen. Juniper griff sich einige Flaschen: Eine davon hatte ein Auge auf dem Etikett, die andere einen Stern. Sie entfernte die Korken von beiden, schnupperte daran und verzog das Gesicht.

»Eine Fälschung. Wertlos. Sieht aus, als hätten unsere Schmugglerfreunde eine kleine Einkaufstour in der Innenstadt gemacht …«

»Ich bin immer wieder erstaunt, was die Leute alles kaufen, um sich ein bisschen mehr wie die Arkanisten zu fühlen«, sagte Thea.

Juniper warf die Flaschen hinter sich und schnappte sich eine andere mit einem Herz auf dem Etikett. »Ah, ein selbst gemachter Liebestrank. Ich wusste doch, dass ich mindestens einen von euch hier finden würde. Weißt du, was ich wirklich lieben würde? Diese Dinger nicht überall zu finden! Meinst du, der Zaubertrank kann mir da helfen?«

»›Was ist das Leben anderes als Liebe und Sandwiches?‹, wie meine Omama immer sagt«, zitierte Thea.

Juniper nickte, als würde sie je verstehen, was Theas Oma mit ihren Sprüchen meinte. »So weise.«

»Was das hier wohl ist?« Thea hielt einen kleinen, spitzen Stab in die Luft. »So was Hübsches, könnte das vielleicht eine Art Zauberstab sein?«

»Das ist Primroses patentierter Pickel-Platzer«, antwortete Juniper und durchwühlte die nächste Kiste.

»Woher weißt du das denn?«

»Weil ich gesehen hab, wie Primrose das Ding letzte Woche vorgeführt hat.«

Thea überlegte einen Moment, ob sie das eklig finden sollte, steckte den Stab dann aber zufrieden in die Tasche. Juniper hob sich eine Glaskugel vors Gesicht und schüttelte sie kräftig. Im Inneren erleuchteten wie aus dem Nichts zwei Kugeln und verschmolzen zu einem Drachen, der hell wie die Sonne strahlte. Der Drache flog mit unheimlicher Eleganz durch die Reliktkugel, die mit jedem seiner Flügelschläge leicht pulsierte.

»Na, diesem Relikt kommt die Magie ja förmlich aus den Ohren wieder raus!«, sagte Juniper. »Sieht auch nicht gefährlich aus. Ab in meine Tasche damit!«

»Das hier ist auch echt.« Thea hielt eine vibrierende Halskette aus Ton hoch, in deren Mitte sich ein Kristall befand. »Das Ding hat gute Schwingungen.« Plötzlich spuckte der Kristall grüne Energiefunken. »Au!«, sagte sie, als sie getroffen wurde. »Au! Au! Au! Au! Vielleicht leg ich das doch lieber wieder weg.«

Junipers Grinsen wurde immer breiter, je länger sie die Beute durchstöberten. Eine ewig brennende Kerze, deren blaue Flamme sich kalt anfühlte. Ein Buch, das keine Wörter, sondern Gerüche enthielt. Ein Fernglas, das beim Hindurchsehen einen komplett anderen Ort zeigte. Lauter unglaubliche, unmögliche Dinge, wie sie die Dregger dank der wachsamen Augen und flinken Finger der Requisition nur selten zu Gesicht bekamen.

»So. Ein. VOLLTREFFER! Und dieses Zeug sieht gar nicht so schlimm aus. Keine Ahnung, warum die Leute sich so ins Hemd machen!«

Ein Gegenstand fiel Juniper besonders ins Auge.

In einer strohgefüllten Kiste lag einsam eine kleine, abgenutzte Truhe. Juniper öffnete sie und erwartete einen Schatz, stattdessen fand sie zu ihrer Überraschung nur eine zerbrochene Spiegelscherbe. Sie zog die Augenbrauen zusammen. Die Scherbe war ungefähr so groß wie ihre Hand, ziemlich alt und staubig. Im Vergleich zum Rest der Beute war das ganz schön langweilig, doch irgendwie fesselte die Scherbe Junipers Aufmerksamkeit und ließ sie nicht mehr los. Sie betrachtete sie genauer und sah ihr eigenes Spiegelbild und die dreckige Gasse hinter ihr. Wie man das von einem Spiegel erwartete.

Aber Moment, was war das?

Im Spiegelbild war ein Schemen zu sehen … etwas, das sich hinter ihr bewegte. Sie drehte sich um und befürchtete schon, dass sie entdeckt worden waren. Doch sie entdeckte nichts als Thea, die gerade an einem Ring mit einer eingelassenen Blume herumspielte, und die Gasse. Juniper blickte wieder in den Spiegel, aber auch dort war nichts mehr zu sehen. Dabei hätte sie schwören können, dass sie etwas gesehen hatte …

Mit einem Schulterzucken wickelte sie die Scherbe in ein Tuch und ließ sie in ihre Manteltasche gleiten. Darüber würde sie sich später Gedanken machen. Jetzt mussten sie erst einmal ihre Arbeit beenden.

»Das ist bestimmt die größte Beute, die wir je gemacht haben! Das bringt uns sicher suuuuperviel Knete ein. Kein Wunder, dass sich die Reliktjäger so darum gekloppt haben.«

»Da kriegt man fast ein schlechtes Gewissen, wenn man das alles klaut …«, sagte Thea und lud sich die eigene Tasche voll. »Aber nur fast.«

»Ich finde, wir haben das Zeug eigentlich gerettet«, meinte Juniper. »Es ist bei uns besser aufgehoben als bei den gierigen Gangs auf dem Schwarzmarkt oder im Tresor der Requisition, während wir zu Hause verhungern. Also, je mehr leckere Relikte, desto mehr Nom-nom-nom-nom!«

Thea nickte. »Hast recht. Vor allem das mit dem ›Nom‹. Ich kann mir allerdings kaum vorstellen, dass deine Schwester damit einverstanden ist.«

Junipers Lächeln verschwand kurz. »Mach dir um Elodie keine Gedanken. Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß.«

Die Mädchen schlichen sich mit prall gefüllten Taschen aus der Gasse. Als sie an einem Checkpoint der Wachen vorbeikamen, summten die Symbole auf den Pflastersteinen leise. Zum Glück hielten die Wachen die Mädchen nicht für Schatten und ließen sie zurück auf die belebten Marktstraßen, wo die Spätnachmittagssonne ihnen die Gesichter wärmte.

Über dem Gemurmel der handelnden, feilschenden Menge ertönte laut eine Phonographennachricht. »Die Verräter sind zwar nicht mehr unter uns, aber das heißt nicht, dass sie hier keine Anhänger mehr haben. Haltet stets die Augen nach etwas Verdächtigem offen. Denkt dran: Wenn das Auge warnt, wird der Spion enttarnt.«

Jeder Distrikt von Arkspire war direkt an den Turm des dort regierenden Arkanisten gebaut – das waren kolossale Festungsberge, viele Meilen breit und so hoch, dass sie die Wolken am Bauch kratzen konnten. Juniper blickte nach oben zu der gigantischen, eisernen Plattform, auf der sich hoch oben die Uppers befanden und allen anderen die Aussicht auf den Himmel versperrten.

Die unteren Teile der Stadt, die Dregs, wie sie (beinahe) liebevoll genannt wurden, klammerten sich daran wie Seepocken an ein Boot, wie Pilze an einen Baum oder wie ein riesiger Haufen Müll, den jemand am Fuß einer Marmorstatue abgeladen hatte.

Juniper und Thea kamen an vielen Händlern vorbei, die vor ihren Läden standen und ohrenbetäubend schrien: »Hier gibt es legale Relikte! Schätze, von denen die Arkanisten wollen, dass ihr sie besitzt! Talismane, die sich nicht austricksen lassen!«

»Kreide für magische Symbole! Kauft hier eure Kreide für magische Symbole! Habt ihr Ärger mit den Schatten? Setzt ihnen eine Grenze mit unserer patentierten Symbolkreide! Sie bietet nachweislich Schutz gegen Schattenangriffe, oder ihr bekommt euer Geld zurück!«

»Wollt ihr eure Treue gegenüber Der Beobachterin zeigen? Kauft hier eure Eulen-Broschen, solange der Vorrat reicht!«

Eine Katze flitzte an den Mädchen vorbei, gefolgt von einer besonders mutigen Ratte.

Der Erfinder-Distrikt hatte seine Werkstätten und Fabriken, der Glanz-Distrikt funkelnde Lichter und Bibliotheken, und der Iris-Distrikt hatte wilde Tiere, die auf der Straße herumstreunten.

Ganze Rudel von streunenden Hunden, Banden neugieriger Katzen, Schwärme fiepsender Ratten, kreischender Krähen und gurrender Tauben. Die meisten Distrikte gaben sich alle Mühe, solche Bewohner fernzuhalten, doch nicht der Iris-Distrikt. Die Beobachterin konnte durch die Augen anderer Wesen schauen, vor allem die der Tiere. Dass man sie seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatte, hieß noch lange nicht, dass sie nicht da war. Das sagten zumindest die alten Leute. Sie erzählten sich sogar Geschichten davon, dass man manchmal mit etwas Glück mitbekommen konnte, wie einen Die Beobachterin durch Tieraugen betrachtete: Wenn eine Katze einen mit besonders glühendem Blick ansah oder die Augen einer Möwe violett funkelten.