ASAP - Zweite Chance auf Liebe - Axie Oh - E-Book
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ASAP - Zweite Chance auf Liebe E-Book

Axie Oh

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Beschreibung

Sori hatte ihr ganzes Leben darauf hingearbeitet, ein K-Pop-Idol zu werden, bis ihr klar wurde, dass sie nicht ewig im Rampenlicht stehen möchte. Bloß entscheidet nicht sie allein über ihre Bekanntheit, denn ihre Mutter leitet eine Unterhaltungsfirma und ihr Vater möchte Präsident werden. Während der Druck wächst, ihr makelloses Image in der Öffentlichkeit aufrechtzuerhalten, ist die letzte Person, an die sie denken sollte: ihr Ex-Freund. Nathaniel ist tabu – das weiß sie. Als Mitglied einer der größten K-Pop-Bands der Welt ist er mit einem Dating-Verbot belegt. Doch als Nathaniels Leben von einem Skandal erschüttert wird, bietet Sori ihm an, sich bei ihr zu verstecken. Wieder zurück in seiner Nähe, ist es schwer, ihre alten Gefühle zu verleugnen. Sie muss sich entscheiden: Soll sie für eine zweite Chance auf Liebe ihre Zukunft opfern?

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Für alle Leser, die eine Zugabe wollten – das hier ist für euch.

Inhalt

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

Danksagungen

Eins

Mein Handy summt, als mich der Taxifahrer an der Ecke West 32nd Street und Broadway rauslässt, wo über hell erleuchtete Schilder in Hangeul und Englisch leichter Schneefall weht. Ich lese den Text von Sekretärin Park: Eine Limousine wird Sie morgen um 11:00 Uhr von Ihrem Hotel abholen und zum Flughafen bringen. Ich werde Sie bei Ihrer Ankunft in Seoul erwarten. Bis bald.

Okay, danke, schreibe ich zurück und seufze über die Ironie, dass ich mehr mit der Sekretärin meiner Mutter kommuniziere als mit ihr selbst.

Ehe ich die Straße überquere, stecke ich das Handy ein, presse meine Einkaufstüte an die Brust und schaue mich in beide Richtungen um. Eine Gruppe erreicht den Eingang des Restaurants vor mir und ich warte, bis sie reingegangen ist. Es sind drei junge Männer in Caban- und Steppjacken über ihren NYU-Hoodies. Der letzte, ein dunkelhäutiger Typ mit Brille, bemerkt mich und hält mir die Tür auf. Ich husche hindurch und lächele ihn aus Gewohnheit an. Seine Ohren werden rot, und als er sich wieder seinen Freunden anschließt, stoßen sie ihm die Ellbogen in die Rippen und werfen mir über ihre Schulter Blicke zu.

Während ich meinen Mantel ausziehe, drehen sich ein paar Gäste an der Bar um und starren mich an. Ich trage hochhackige Stiefel, eine Designerhandtasche und einen Body mit hochtaillierter Jeans. Ich hätte mich nach der Show ja umgezogen – das letzte Event, zu dem ich während der New York Fashion Week eingeladen war –, aber das hätte gedauert und ich wollte nicht noch mehr Zeit verschwenden. Nicht heute Abend.

Auf der Suche nach einem vertrauten Gesicht blicke ich mich unauffällig im Restaurant um. Hier ist alles voller Ausländer, Amerikanern, die so schnell Englisch sprechen, dass sich mir der Kopf dreht. Die Kellnerin, die die Gruppe Studenten an einen Tisch geführt hat, kehrt zum Eingang zurück. »Eoseo oseyo«, sagt sie, als hätte sie meine Nervosität bemerkt, weil sie ins Koreanische gewechselt ist. Sofort fühle ich mich wohler. »Wie viele?«

»Ich bin hier mit jemandem verabredet«, sage ich. »Sie ist ungefähr in meinem Alter, so groß wie ich und trägt wahrscheinlich eine Baseballkappe.« Sie geht selten ohne sie aus.

»Ah.« Die Kellnerin nickt. »Ihre Freundin ist vor ein paar Minuten eingetroffen. Folgen Sie mir. Ich bringe Sie an ihren Tisch.«

Sie führt mich durch eine Seitentür und eine Treppe hinauf, an deren Geländer eine weihnachtliche Lichterkette befestigt ist, obwohl wir Februar haben. Wir lassen eine uns entgegenkommende gemischte Gruppe vorbei. Die Leute wirken, als würden sie zu einem Konzert gehen, stylishe Kleidung und viel Makeup. Ich seh so ähnlich aus, wenn ich von einer Fashion Show komme. Ein paar halten Schilder mit Botschaften in der Hand.

XOXO’s #1 Fan

Sun-oppa, heirate mich!

Ich liebe dich, Bae Jaewoo!

»Es ist immer mehr los, wenn eine Idol-Gruppe in der Stadt ist«, erklärt mir die Kellnerin. »Ich glaube, einige Fans hoffen, eines ihrer Idols in einem der Restaurants in Koreatown zu treffen.« Ich mustere ihr Gesicht, doch sie scheint es nicht gehässig zu meinen. »Es ist gut fürs Geschäft.«

»Kommen viele Idols in dieses Restaurant?«, frage ich.

»Der Besitzer stellt über der Kasse Autogramme aus. Ich hab noch nie ein Idol bedient, aber mein Chef sagt, dass letzten Monat Jun von 95D mit ein paar Freunden hier war.«

Jun-oppa! Sie bemerkt meinen Gesichtsausdruck und lächelt wissend. »Sind Sie ein Fan?«

»Ich habe ein Poster von ihm in meinem Zimmer.«

»Dann verrate ich Ihnen, dass er gute Trinkgelder gibt.«

Wir gehen die Treppe weiter hinauf in den ersten Stock. Der Raum hier ist kleiner, aber ebenso voll. Er ist wie ein Pojangmacha gestaltet und die Sitze um die runden Metalltische sehen aus wie umgedrehte Mülleimer. Dazwischen bahnen sich die Kellner ihren Weg und servieren Tabletts mit koreanischem Streetfood auf hellgrünen Plastiktellern. Auf überall im Raum verteilten großen Monitoren läuft das gleiche Musikvideo, momentan Anpanman von BTS.

Weiter hinten entdecke ich meine Freundin und tippe der Kellnerin auf die Schulter. »Ich seh sie«, sage ich. Die Kellnerin nickt und lässt mich allein.

Meine beste Freundin Jenny Go lehnt mit dem Rücken an der Wand und scrollt auf ihrem Handy herum. Ihre Dodgers-Baseballkappe – ein Geschenk ihres Vaters – hat sie sich tief ins Gesicht gezogen.

»Jenny!«, rufe ich, als ich praktisch direkt vor ihr stehe.

Sie guckt erschrocken auf. »Sori!« Jenny springt auf und wirft sich mir so schwungvoll in die Arme, dass wir fast umfallen.

Wir haben uns seit letztem Sommer nicht mehr gesehen, als sie ihren Freund in Seoul besucht hat. Wir chatten jeden Tag, aber das ist einfach nicht das Gleiche. Die paar Monate, die sie in meinem Abschlussjahr an der Seoul Arts Academy als meine Zimmergenossin verbracht hat, war wahrscheinlich die beste Zeit meines Lebens. Ich habe immer davon geträumt, in den Pausen und nach dem Unterricht mit Freunden abzuhängen und eine beste Freundin zu haben, der ich mein Herz ausschütten kann. Das alles wurde wahr, als ich sie traf. Entsetzt stelle ich fest, dass ich plötzlich Tränen in den Augen habe.

»Oh nein, Sori!«, ruft Jenny. »Dein Make-up!«

Sie schnappt sich eine Speisekarte, fächelt mir Luft zu und ich blinzele, bis die Tränen getrocknet sind.

Als ich mich wieder gefangen habe, drückt sie meine Hände.

»Du siehst unglaublich aus!«, ruft sie und gleichzeitig sage ich: »Du siehst gesund aus.«

Sie lacht.

Ich bringe sie furchtbar gern zum Lachen. Egal was ich tue, alles scheint sie zu amüsieren. Als wir uns kennenlernten, dachte ich, sie lacht über mich, aber schon bald wurde mir klar, dass sie mich aufrichtig bewundert.

Mein Leben lang haben sich alle nur wegen meines Vermögens oder meiner Familienverbindungen für mich interessiert, doch Jenny wollte meine Freundin sein, ohne etwas über meinen Hintergrund zu wissen. Sie würde sagen, dass es wegen meiner brillanten Persönlichkeit war. Was nur die halbe Wahrheit ist. Sogar ich selbst muss zugeben, dass ich ganz schön zickig sein kann.

»Sori«, sagt sie. »Hast du dich etwa für mich so schick gemacht?«

»Jenny«, erwidere ich trocken. »Ich mach mich immer schick, wenn ich vor die Tür gehe.«

Sie trägt einen bequemen Jogginganzug, auf dem der Name des Konservatoriums steht, an dem sie studiert: Manhattan School of Music.

Ich stellte die Einkaufstüte, die ich durch die ganze Stadt geschleppt habe, auf den Tisch und setze mich Jenny gegenüber hin. »Ich hab ein paar Geschenke für dich.«

»Chanel!«

Ich stütze mein Kinn auf die Hand und sehe ihr dabei zu, wie sie sich über jedes einzelne Teil freut. Es sind hauptsächlich Dinge, die ich bei den Fashion Shows bekommen habe, sowie ein paar koreanische Marken, von denen ich weiß, dass Jenny sie mag. Sie nimmt ein Lipgloss heraus, dreht den Verschluss ab, guckt auf die obsidianschwarze Wand des Restaurants wie in einen Spiegel und trägt ihn auf.

Aus einer Schale auf dem Tisch nehme ich mir einen Tortilla-Chip und betrachte ihn, bevor er in meinem Mund landet. »Wie war das Konzert gestern?« Als XOXO vor ein paar Monaten die US-Konzerte ihrer Welttour veröffentlichte, hat sie mir erzählt, sich die Band ansehen zu wollen. »Hast du in einer VIP-Box gesessen?«

Die vielen XOXO-Fans im Restaurant würden wahrscheinlich ausrasten, wenn sie wüssten, dass meine beste Freundin die feste Freundin von Bae Jaewoo ist, dem Main Vocal der Band. Sie wurden ein Paar, als die beiden zusammen mit mir und Jaewoos anderen Bandkollegen an der SAA waren – außer Sun, der seinen Abschluss schon in der Tasche hatte, als Jenny dort anfing.

»Nam hat mir Tickets besorgt«, sagt Jenny und meint damit XOXOs Manager Nam Ji Seok.

»Ah.« Mehr muss sie nicht sagen. Ji Seok würde niemals eine Freundin in eine VIP-Box setzen, wo sie zu sichtbar wäre. Idols dürfen zwar Partner haben, aber es gilt als schlechte PR, das den Fans unter die Nase zu reiben.

»Aber es waren gute Plätze«, sagt sie. »Ich hab Onkel Jay mitgenommen und er hat dauernd irgendwelche Fans angequatscht. Das war total peinlich.«

Doch während sie es sagt, beginnt sie zu strahlen und ich weiß, dass es ihr eigentlich viel Spaß gemacht hat. Ihr »Onkel« Jay war der beste Freund ihres Vaters, bevor dieser gestorben ist.

»Hast du Jaewoo gesehen?«, frage ich und nehme mir noch einen Tortilla-Chip. »Vor oder nach dem Konzert, meine ich.«

Jenny schüttelt den Kopf. »Wir hatten beide zu viele Termine, aber morgen wollen wir den ganzen Tag miteinander verbringen. Er will zu einem Baseballspiel.«

»Das klingt nett.« Und wie etwas, das Jaewoo gefallen wird. Ich kenne ihn seit der Mittelschule und er stand schon immer total auf Baseball. Tatsächlich war ich vor dieser Reise erst ein einziges Mal in New York und habe da mit ihm und Nathaniel, einem anderen Freund von uns, ein Baseballspiel angesehen. Es war der Sommer zwischen der Mittel- und Oberstufe. Ich hab mich nie besonders für Sport interessiert, aber die beiden fieberten die ganze Zeit so mit, dass ich ihre Freude mitempfand. Ich erinnere mich immer noch an dieses warme Gefühl.

»Willst du mitkommen?«, fragt Jenny und reißt mich damit aus meinen Gedanken.

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Jenny lädt mich ein, Zeit mit ihr und ihrem Freund zu verbringen?

»Ich muss morgen nach Seoul zurückfliegen«, erwidere ich und merke mir vor, Jaewoo wissen zu lassen, dass er mir was schuldet.

»Ich wünschte, wir könnten mehr Zeit miteinander verbringen«, sagt sie. Dann scheint ihr etwas einzufallen, denn sie lehnt sich begeistert vor. »Oh, warte! Ich hab ganz vergessen, es dir zu erzählen. Erinnerst du dich an das Quartett, von dem ich dir erzählt habe? Das in Tokio? Ich hab beschlossen, es zu versuchen.«

»Wirklich?« Bei der Vorstellung, sie so nahe bei mir zu haben, hüpft vor Freude mein Herz. Von Gimbo Airport fliegt man nur zwei Stunden nach Tokio. Viel kürzer als der Sechzehn-Stunden-Flug von New York nach Incheon.

Vor ein paar Wochen hat sie mir erzählt, dass ihre Schule ein Vorspiel abhält, weil für die Asientour eines Quartetts ein Cellospieler gesucht wird. Bekäme sie den Platz, wäre sie sechs Monate lang in Japan.

»Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass es klappt«, meint sie nervös und spielt mit dem Rand ihrer Baseballkappe. »Die meisten Cellisten, die vorspielen, sind älter als ich und verdienen es vielleicht eher …«

»Hör auf.« Sie guckt mich an. »Du arbeitest so hart und bist unglaublich talentiert. Du verdienst diese Chance genauso sehr wie irgendjemand sonst. Ich bin stolz auf dich.«

»Ja, okay.« Sie wird rot und nickt. »Du hast recht. Danke, Sori.«

»Das müssen wir feiern«, sage ich entschieden. »Ich bestell uns ein Getränk.«

Ich drücke auf den Rufknopf an der Seite des Tischs und über uns ertönt ein Bimmeln. Innerhalb von Sekunden erscheint ein Kellner.

»Zwei Cider bitte«, sage ich.

Als unsere Dosen mit eiskaltem Chilsung Cider kommen, öffnen wir sie und stoßen an. »Genobae!«, rufen wir gleichzeitig.

Der Cider ist süß und hinterlässt in Mund und Kehle ein Prickeln.

»Was ist mit dir?«, fragt Jenny. »Ich will alles wissen, was du in den letzten Monaten so getrieben hast. Hat deine Mutter endlich beschlossen, eine Girlgroup debütieren zu lassen?«

Meine Mutter ist keine andere als Seo Minseok Hee, Chefin von Joah Entertainment, dem Label, bei dem XOXO unter Vertrag steht, und eine von Koreas »einflussreichsten Frauen des Jahrzehnts«. Das leichte Panikgefühl, das mich seit ein paar Monaten immer wieder befällt und in den letzten Wochen schlimmer geworden ist, kehrt bei dem Gedanken an meine Mutter zurück.

»Sori?« Jenny runzelt die Stirn. »Alles okay?«

»Ich will nicht mehr debütieren.« Ich spreche die Worte zum ersten Mal laut aus. »Das hab ich mir schon vor einer Weile überlegt.«

Jenny runzelt die Stirn, unterbricht mich aber nicht.

»Ich hatte gehofft, das Gefühl würde vorbeigehen, dass es nur die Erschöpfung darüber ist, so lange Trainee gewesen zu sein …« Seit meinem Abschluss, eigentlich schon lange davor, war es mein Ziel, Idol zu werden. Früher in der Highschool bin ich jeden Tag drei Stunden vor der Schule aufgestanden, um Choreografien einzustudieren. Mein Leben lang habe ich davon geträumt. »Aber je näher dieses Ziel rückt, desto mehr Angst habe ich davor, mein Leben komplett auf andere auszurichten und für jede Kleinigkeit verurteilt zu werden.« Erinnerungen an die Mittelschule steigen in mir auf: Getuschel, das mir durch die Gänge folgt, das Geräusch einer Kamera, als einer meiner Klassenkameraden ungefragt ein Bild von mir macht.

»Ich habe immer gedacht, wenn mir die Musik nur wichtig genug ist, wäre es das alles wert, aber das ist sie eben nicht.« Ich atme tief ein.

Welchem Trainee ist die Musik nicht wichtig? Aber genau darum denke ich, dass es nicht mehr das Richtige für mich ist. Ich liebe es zu tanzen, aber ich weiß nicht, ob das noch reicht.

Ich mustere Jennys Gesicht, das die ganze Zeit über ausdruckslos geblieben ist. Was denkt sie? Musik war immer schon ihre größte Leidenschaft. Durch sie sind Jenny und Jaewoo ein Paar geworden und auch uns hat sie zusammengebracht, denn wir waren beide an der SAA. Denkt sie, dass ich einen Fehler mache?

»Ich denke, du hast recht«, sagt Jenny. »Du weißt besser als wir alle, wie es ist, mitten im Rampenlicht zu stehen. Ich kann nachvollziehen, warum du das nicht mehr willst.«

Wieder schießen mir Tränen in die Augen, aber ich weigere mich, heute Abend noch mal zu heulen.

»Es ist nichts falsch daran, seine Meinung zu ändern«, fuhr Jenny sanft fort. »Und es ist nie zu spät, etwas Neues auszuprobieren. Du wirst etwas anderes finden, das dich mehr begeistert.«

Wenn meine Mutter das nur auch so sehen würde. Aus vielerlei Gründen, und bei einigen von ihnen wüsste ich nicht mal, wie ich sie Jenny erklären soll, wird sie am meisten enttäuscht sein, dass ich meine Meinung geändert habe. Aber darüber mache ich mir erst nach meiner Rückkehr nach Korea Gedanken.

»Danke, Jenny. Tut gut, das zu hören.« Ich nehme die Speisekarte und fächele mir damit unauffällig Luft ins Gesicht. »Da haben wir uns jetzt ein halbes Jahr nicht gesehen und muntern uns wirklich erst mal gegenseitig auf?«

Sie lacht. »Wozu sind beste Freundinnen da? Aber im Ernst, Sori, lass uns bitte nicht wieder so lange warten.«

Ich drehe die Speisekarte um. »Du hast recht und ich bin am Verhungern. Sollen wir was zu essen bestellen?«

Sie grinst. »Ich dachte schon, du würdest nie fragen.«

Eine Stunde vergeht wie im Flug, dann noch eine, während sie mir von ihren Kursen und ihrer Familie erzählt, ich dagegen von unseren Freunden in Seoul und meinem jüngsten Modeljob in Singapur. Dabei verputzen wir ein paar der Gerichte, die wir in unserer Schulzeit am liebsten gegessen haben: Tteokbokki, Reiskuchen in süß-scharfer Soße und mit Mozzarella überbacken. Frittiertes Hühnchen mit klebriger Knoblauchsojamarinade. Und dicke Rollen Gimbab mit saisonalem Gemüse, in Scheiben geschnitten.

Je später es wird, desto ausgelassener benehmen sich die Gäste des Restaurants. In der Mitte des Raums veranstaltet eine Gruppe Geschäftsleute Trinkspiele und versenkt ihre Shots in Biergläsern.

»Wir sollten gehen!«, rufe ich über ihren lauten Jubel hinweg.

»Ich muss vorher noch mal schnell aufs Klo!« Jenny springt auf und bahnt sich zwischen den Tischen hindurch ihren Weg. Als sie im Treppenhaus verschwunden ist, rufe ich unsere Kellnerin, um zu bezahlen. Jenny wird schimpfen, wenn sie wiederkommt, aber wozu habe ich all das Geld, wenn ich meine Lieblingsmenschen nicht verwöhnen kann?

Einen Moment lang wird es leiser im Restaurant, weil das momentane Musikvideo endet. Als auf allen drei Monitoren das Logo von Joah Entertainment erscheint, jubeln ein paar Leute.

»Wolltest du nicht Tickets für ihr Konzert heut Abend ergattern?«, fragt ein Mädchen am Nebentisch ihre Freundin.

»Ja, aber sie sind inzwischen so beliebt, dass ich keine Chance hatte.« Sie reden Koreanisch und über die ersten Takte von XOXOs neuer Single hinweg kann ich sie gut verstehen.

Der Song beginnt mit einem Rap von Sun und Youngmin. Ihre Stimmen passen super zueinander. Dann geht es in den Pre-Chorus über, den Jaewoo kraftvoll allein singt.

Das Mädchen am Nebentisch seufzt verträumt. »Bae Jaewoo sieht so toll aus in diesem Comeback.«

Ich muss schmunzeln und frage mich, was Jenny dazu sagen würde, was diese Mädchen über ihren Freund erzählen. Aber wahrscheinlich ist sie längst dran gewöhnt.

Beim Refrain schwenkt das Musikvideo zu einer anderen Kulisse und ich gucke zum Monitor. Das Konzept ihres Comebacks ist ein albtraumhaftes Wunderland, in dem jedes einzelne Mitglied eine andere Versuchung darstellt.

»Mein Fav ist Lee Jihyuk«, sagt das andere Mädchen. Es ist der koreanische Name von Nathaniel, des anderen Sängers der Band. »Wie er seinen Körper bewegt, ist richtig unanständig.«

Ich höre ihr nur halb zu, weil ich meinen Blick nicht vom Bildschirm losreißen kann. Nathaniel steht vorn, wie immer, wenn es um eine kompliziertere Choreografie geht. Während ich ihm zusehe, überkommen mich lauter Erinnerungen: aus der Mittelschule, als er mich mit einem Frosch in der Hand über den Pausenhof jagt, und dann später der Oberstufe, wie ich ihm beim Fußballspielen zuschaue, er nach einem Tor zu mir guckt und noch später seine Hand über meine Taille wandert, die andere in meinen Haaren, und er seine Lippen an meinen Hals presst.

Jenny ist zurück und setzt sich.

»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat«, sagt sie. »Jaewoo hat angerufen.«

»Oh?« Ich nehme wieder die Speisekarte in die Hand, obwohl ich nichts mehr bestellen will. Stattdessen fächere ich mir erneut frische Luft ins Gesicht. Ich werfe einen Blick auf mein Handy, um zu sehen, wie spät es ist. XOXOs Konzert muss inzwischen vorbei sein.

Jenny spielt mit ihrer Baseballkappe und ich sehe sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an. »Was ist los?«

Plötzlich platzt es in einem Atemzug aus ihr heraus. »Die Band sollte nach dem Konzert eigentlich zurück ins Hotel, aber sie haben in letzter Minute entschieden, doch noch essen zu gehen. Sie sind in einem Restaurant nicht weit von hier. Jaewoo hat mich eingeladen.

Dich natürlich auch«, schiebt sie schnell hinterher. »Ich hab ihm gesagt, dass wir uns gerade treffen.«

Ich spüre, wie mein Herz wild zu klopfen beginnt, ein Gefühl, das ich schon so lange nicht mehr hatte, dass ich nicht genau weiß, was es eigentlich ist. Bin ich nervös?

»Und alle sind dabei«, sage ich. Es ist keine Frage, dennoch brauche ich die Bestätigung. Sun, der Älteste, Lead Rapper und Bandleader, Youngmin, der Jüngste und Main Rapper, Jaewoo, der Main Vocalist …

»Alle«, bestätigt sie.

Oder ist es … Vorfreude?

»Weißt du was?«, sagt Jenny. »Das hier ist unser Abend. Ich schreibe Jaewoo, dass wir es nicht schaffen.«

Ich lege meine Hand auf ihre. Ihre Rücksicht lässt mir das Herz aufgehen. Sie will Jaewoo sehen, denkt aber an mich. Für sie würde ich alles tun, mich sogar Nathaniel stellen – dem Lead Vocalist und Main Dancer von XOXO … und meinem Ex-Freund.

Zwei

Die Straße ist irgendwie voller als noch vor zwei Stunden, obwohl es bestimmt gleich schon elf ist. Ich hake mich bei Jenny unter und gemeinsam bahnen wir uns den Weg durch die im Stau stehenden Autos. Die Adresse, die Jaewoo mir geschickt hat, führt uns zu einem Restaurant etwas weiter die Straße herunter. Ein Blick auf die Speisekarte im Fenster verrät, dass sie hauptsächlich Hansik servieren, traditionelles koreanisches Essen.

Zwei Häuserblöcke weiter hat sich eine größere Gruppe Leute vor einem anderen Restaurant versammelt, aber sie scheinen nicht auf Plätze zu warten. Dann entdecke ich den davor parkenden Van. Die Crew und die Tänzer von XOXO scheinen dort zu essen, um die Aufmerksamkeit vom eigentlichen Aufenthaltsort der Bandmitglieder abzulenken.

Ein paar Fans werfen Jenny und mir flüchtige Blicke zu. Ich ziehe meinen Mantel enger um mich.

»Jaewoo meinte, dass es einen Seiteneingang gibt«, sagt Jenny. Wir betreten eine kleine Gasse mit einem großen Müllcontainer. An der Wand prangt ein etwas verstörender roter Streifen, bei dem es sich entweder um alte Farbe oder Blut handelt.

»Was Seitenstraßen in New York City angeht, ist das hier nicht die schlimmste«, sagt Jenny.

»Tja, dann werden wir wenigstens nicht in der schlimmsten New Yorker Seitenstraße ermordet.« Ich halte meine Handtasche mit dem Verschluss nach vorn vor mich.

»Hoffentlich ist das die richtige Tür.« Sie gibt nicht nach, als Jenny sie zu öffnen versucht. Sie tritt zurück und hält sich das Handy ans Ohr. »Wir stehen auf der Straße«, sagt sie.

Von drinnen sind Schritte zu hören, dann fliegt die Tür auf.

»Jenny!«, sagt Jaewoo atemlos. Seine Haare sind bei diesem Comeback länger und fallen ihm verwegen in die Stirn. Langsam lässt er sein Handy vom Ohr sinken, ohne Jenny aus den Augen zu lassen.

Ich erwarte, dass sie auf ihn zustürzt, aber sie bleibt stehen. Mir fällt auf, dass sie errötet. Ist sie etwa schüchtern? Das gibt’s doch nicht. Ich stoße sie leicht an und sie taumelt in Jaewoos Arme.

Während sie sich drücken, linse ich in die Gasse, um sicherzugehen, dass uns niemand gefolgt ist, dann gehen wir hinein und ich schließe die Tür.

Wir befinden uns auf einer Treppe für Angestellte. Überall stehen Kisten herum. Nach links führen Betonstufen nach oben. Dort sehe ich Ji Seok stehen. Er nickt mir zu, dann wendet er sich ab, um dem Paar ein bisschen Privatsphäre zu gönnen. Ich seufze. Was ist aus mir geworden, dass ich mich plötzlich mit XOXOs Manager identifizieren kann?

»Min Sori, es ist eine Weile her.« Ich lasse mich von Jaewoo umarmen. Es ist noch gar nicht so lange her, dass wir gleich groß waren, doch nun überragt er mich so sehr, dass er sein Kinn kurz auf meinem Kopf ablegt, bevor er mich wieder loslässt.

»Heute sollte eigentlich mein Abend mit Jenny sein«, sage ich und trete zurück. »Das werd ich dir niemals vergeben.« Es ist nur halb ein Scherz.

Er passt sich an meinen ernsten Tonfall an. »Ich schulde dir mein Leben.« Dann verzieht sich sein Mund zu diesem jungenhaften Grinsen, das Fans auf der ganzen Welt zum Schwärmen bringt. »Habt ihr Hunger? Lasst uns hochgehen.« Er führt uns die Treppe hinauf, wo sich Ji Seok vor Jenny und mir verbeugt.

»Guck mal, was mir Sori geschenkt hat«, sagt Jenny und zeigt Jaewoo den Inhalt der Einkaufstasche.

»Ich bin überrascht, dass kein Kuscheltier dabei ist.« Er lacht.

»Ich wusste, dass du in New York bist«, sagt Ji Seok, der neben mir geht. »Aber ich hätte nicht gedacht, dass wir dich zu Gesicht bekommen würden.«

Obwohl XOXO und ich beim gleichen Label arbeiten, sehen wir uns selten. Unsere Leben sind vollständig voneinander getrennt. Kurz frage ich mich, ob er meiner Mutter von diesem Treffen erzählen wird, doch ich schiebe den Gedanken wieder beiseite. Ji Seok ist zwar bei Joah angestellt, aber seine Loyalität liegt bei den Mitgliedern seiner Band.

Durch eine Seitentür kommen wir in einen langen Gang, in dem sich private Räume befinden. Als wir auf das größte Zimmer am Ende zugehen, beginnen meine Handflächen zu schwitzen. Ich stecke sie tief in meine Manteltaschen.

Wegen der Tour und meines Aufenthalts in Singapur ist dies die längste Zeit, die ich Nathaniel nach dem Abschluss an der SAA nicht gesehen habe. Die Monate nach der Trennung waren … schwierig. Mit sechzehn wurden wir heimlich ein Paar, noch vor Nathaniels Debüt. Doch nachdem ein Foto von uns beiden auf Social Media auftauchte, führte das zu einem Skandal, der die Karriere der Jungs fast zerstört hätte. Dank der hohen Tiere bei Joah, einschließlich meiner Mutter, haben wir danach gemeinsam beschlossen, uns zu trennen.

Das war eindeutig richtig so. XOXO ist inzwischen eine der erfolgreichsten Idol-Bands der Welt, und obwohl ich selbst noch nicht ganz auf diesem Level bin, habe ich eine große Zukunft in der Musikindustrie vor mir, sollte ich mich dafür entscheiden. Und dazu wäre es nicht gekommen, wenn Nathaniel und ich ein Paar geblieben wären.

Während wir auf die richtige Tür zugehen, atme ich tief durch. Auch wenn diese ersten paar Monate nach der Trennung schwer waren, haben wir es geschafft, die Highschool als Freunde abzuschließen. Schließlich waren wir ja vorher auch befreundet.

Es gibt keinen Grund, jetzt nervös zu sein. Nervosität würde bedeuten, dass noch Gefühle da sind, und das darf einfach nicht sein. Denn wenn ich Nathaniel Lee von XOXO immer noch liebe, dann war es wahrscheinlich der größte Fehler meines Lebens, mit ihm Schluss zu machen.

Jaewoo schiebt die Tür auf. Ich sehe einen Raum mit einem großen Holztisch und einem Kohlegrill. Auf der einen Seite befindet sich eine Sitzbank, auf der anderen stehen Stühle.

»Min Sori?« Es ist die tiefe Stimme von Sun, dem Bandleader, der lässig an der Wand lehnt. »Was für eine Überraschung.«

Er trägt ein weites Hemd, die langen Haare sind aus dem markanten Gesicht gestrichen. Jenny findet, dass Sun wie ein Superschurke aus einem Videospiel aussieht, aber mich erinnert er immer eher an einen Prinzen aus der Joseon-Dynastie.

»Sun-oppa«, sage ich. Jaewoo, Nathaniel und ich waren zusammen Trainees bei Joah, aber Sun kenne ich am längsten. Er ist der Enkel des Präsidenten der TK Group und so waren wir beide auf genug Banketten für ein ganzes Leben. »Ich hab grad mit Jenny zu Abend gegessen, als Jaewoo angerufen hat.«

»Ich verstehe«, sagt er. Nach diesem kurzen Austausch mit Sun fühle ich mich schon viel besser. Ich kenne alle Bandmitglieder seit der Mittelschule. Ja, jetzt sind wir alle älter, aber es gibt keinen Grund, sie anders zu behandeln.

Suns Blick richtet sich auf jemanden hinter mir und ich spüre ein Kribbeln im Nacken, wie elektrische Spannung auf meiner Haut.

»Sori.« Seine Stimme. »Warum muss ich um die halbe Welt fliegen, um dich zu sehen?«

Ehe ich mich umdrehe, zwinge ich mich zu einer ausdruckslosen Miene.

Als ich in Nathaniels dunkle Augen blicke, habe ich plötzlich Schmetterlinge im Bauch.

Ich weiß, dass es kurz vor Mitternacht ist und er gerade zwei Konzerte in New York hinter sich hat, aber er sieht unanständig aus, als wäre er gerade aus dem Bett gestolpert. Seine Haare sind für die Tour dunkelblau gefärbt und ihm fallen Strähnen in die Stirn.

»Du kannst mich jederzeit sehen.« Ich streiche mir die Haare hinters Ohr, ein nervöser Tick von mir, aber ich muss etwas mit meinen Händen tun. »Wir wohnen in der gleichen Stadt.«

Sein Blick wandert von meinem Ohr – wohin er der Bewegung gefolgt ist – zurück zu meinen Augen und in seinem Gesicht blitzt ein seltsamer Ausdruck auf.

Dieser verschwindet augenblicklich wieder, als er seine Aufmerksamkeit auf Jenny richtet, die gerade Sun begrüßt hat. »Jo, Jenny Go.« Er verhält sich ganz anders und sein berühmtes Grübchen vertieft sich. »Schämst du dich nicht? Einfach unser Abendessen zu stören?«

»Von all den verschiedenen kulinarischen Angeboten in New York sucht ihr euch einen Koreaner aus«, neckt sie ihn zurück. »Fliegt ihr nicht in ein paar Tagen eh nach Seoul zurück?«

»Was soll ich sagen?« In einer hilflosen Geste hebt er seine Hände. »Koreaner landen immer in einem koreanischen Restaurant, ganz egal in welchem Land.«

»Mir gefallen deine Haare.«

»Das Konzept dahinter war eleganter Gangster. Ein Widerspruch in sich, findest du nicht?«

»Nicht wenn du Won Bin bist«, sagt sie und spielt damit auf Ajeossi an, ihren absoluten Lieblingsfilm.

»Seine Figur war aber kein Gangster, Jenny«, erwidert Nathaniel. »Sondern ein ehemaliger Black-Ops-Soldat.«

»Ist doch das Gleiche.« Jenny zuckt mit den Schultern.

»Ist es nicht!«

Sie sprechen so schnell auf Englisch, dass ich kaum mitkomme, mein Kopf fliegt zwischen den beiden hin und her, und mir wird immer beklommener zumute.

Jaewoo schiebt sich zwischen sie und schnappt sich Jennys Hand. »Erinnern wir Jenny lieber nicht an ihre fiktiven Schwärme.«

Sie rutscht neben Jaewoo auf die Sitzbank, während sich Nathaniel auf den Platz ihr gegenüber setzt. »Zählst du mit?«, scherzt er.

Ji Seok nimmt Sun gegenüber Platz, wodurch mir der Stuhl in der Mitte bleibt, direkt neben Nathaniel.

»Wo ist Choi Youngmin?«, frage ich wieder auf Koreanisch. Jenny meinte, dass alle Mitglieder hier wären, und doch ist keine Spur von XOXOs Maknae zu entdecken.

»Er muss noch Hausaufgaben machen, also ist er ins Hotel zurück«, antwortet Jaewoo. Ich hatte vergessen, dass das jüngste Bandmitglied noch zur Schule geht.

»Das wirst du auch bald«, sagt Sun und nimmt aus dem Glas vor sich einen Schluck Bier. Ich bin überrascht, dass er Alkohol trinkt, da wir in den Vereinigten Staaten sind, doch mir fällt ein, dass er vor Kurzem einundzwanzig geworden ist. Dann wird mir klar, mit wem er spricht.

Ich drehe mich überrascht zu Nathaniel um. »Du willst studieren?«

»Du klingst überrascht.«

Ich dachte immer, wenn jemand von XOXO ein Studium dranhängt, dann Jaewoo, der in der Highschool die besten Noten hatte.

»Es ist unerwartet«, sage ich. Nathaniel, der gerade nach seinem Wasserglas greifen wollte, hält inne. Zu spät wird mir klar, wie das geklungen haben muss. Als ob meine Erwartungen an ihn so gering wären, dass es mich vollkommen verblüfft, dass er an die Uni will. »Du hast nur nie gerne gelernt«, ergänze ich daher kleinlaut.

Er lehnt sich vor und nimmt das Glas. »Menschen ändern sich.« Dann trinkt er einen großen Schluck Wasser.

Ich habe ihn verärgert. Das muss er gar nicht sagen, denn ich sehe, wie er seine Schultern leicht nach vorn zieht. Ich will ihn fragen, was er studieren will, habe aber das Gefühl, dass mir das nicht mehr zusteht. Mit meinen Essstäbchen schnappe ich mir eine einzelne schwarze Bohne und stecke sie mir schnell in den Mund.

»Und du bist wegen der Fashion Week hier?«, fragt Ji Seok, als würde ihm die peinliche Stille zwischen Nathaniel und mir gar nicht auffallen. »Hast du dir die Stadt schon angesehen? Bist zum ersten Mal hier, oder?«

Jaewoo hebt ganz leicht den Kopf und wirft mir einen Blick zu. Erst nach dem Sommer, den ich mit Jaewoo und Nathaniel in New York verbracht habe, wurde Ji Seok der Manager der Jungs.

»Ich war ständig bei irgendwelchen Shows und hatte keine Zeit für irgendwas anderes«, beantworte ich seine ersten beiden Fragen.

»Sori ist nicht impulsiv«, sagt Nathaniel. »Nicht so wie Jenny.«

Meine Wangen, die von unserem Gespräch davor bereits warm waren, glühen jetzt richtig. Was bitte soll das denn heißen?

Jenny runzelt die Stirn. »Wieso bin ich impulsiv?«

»Du bist wegen Jaewoo nach Korea gezogen.«

»Wow«, erwidert Jenny nüchtern. »Diese Aussage ist so falsch, dass ich nicht mal weiß, wo ich anfangen soll.«

Ein Klopfen an der Tür unterbricht uns. Eine Frau, die ich noch nie zuvor gesehen habe, betritt den Raum.

Ji Seok wechselt in den Managermodus und stellt sich der Frau in den Weg. »Kann ich Ihnen helfen?«

Sie schaut an ihm vorbei. »Ich war vorhin in der VIP-Box. Mein Name ist Jeon Sojin. Ich bin die Tochter von CEO Jeon von Hankook Electric.« Mehr muss sie nicht sagen. Hankook Electronics gehört zu den wichtigsten Aktionären von Joah Entertainment.

Ji Seok zögert – und in dieser kurzen Sekunde kann ich praktisch sehen, wie seine Gedanken Karussell fahren. Schließlich verbeugt er sich. XOXO kann es sich nicht leisten, die Tochter von CEO Jeon vor den Kopf zu stoßen.

Sun steht auf und verbeugt sich ebenfalls. »Möchten Sie sich uns anschließen?«

Die anderen Mitglieder von XOXO tun es ihrem Bandleader gleich, stehen auf und verbeugen sich. Jenny runzelt die Stirn. Wahrscheinlich kann sie nicht verstehen, warum wir dieser unverschämten Frau entgegenkommen, die uns beim Abendessen stört. Aber zu solchen Situationen kommt es in unserer Branche andauernd. Wir müssen Leute mit Macht zufriedenstellen, deren Einfluss gut für das Label sein kann oder sich als katastrophal herausstellen könnte, wenn sie sich gekränkt fühlen.

Sojin weist einen Kellner an, einen Stuhl neben Nathaniel zu stellen, dann lässt sie sich eine Flasche Soju und zwei Gläser für den Schnaps geben, den sie wohl zuvor bestellt hat. »Es ist wirklich sehr schwer, dich zu erreichen. Ich habe Geschenke an dein Label geschickt, teure Geschenke, und du hast sie nie getragen oder dich bedankt.« Nun ist klar, dass es sich bei ihr weniger um einen Fan von XOXO handelt, sondern sie auf unangemessene Weise an Nathaniel interessiert ist. »Verdiene ich nicht ein wenig Dankbarkeit?«

»Danke«, erwidert Nathaniel ausdruckslos. Neben mir verzieht Ji Seok das Gesicht, denn Nathaniels Tonfall war nicht gerade freundlich. Außerdem weiß der Manager, dass er diese Geschenke nie erhalten hat. Es verstößt gegen die Firmenpolitik, etwas anderes als Fanbriefe anzunehmen.

Sojin spitzt die Lippen. Wie auch immer sie sich diese erste Begegnung zwischen ihnen ausgemalt hat, aber dass Nathaniel ihre Annäherungsversuche kühl zurückweist, hat sie sich wahrscheinlich nicht vorgestellt.

»Jihyuk-ssi«, sagt sie schnell und schiebt Nathaniel die Flasche und ein Glas hin. »Lass uns anstoßen.«

»Er ist noch nicht alt genug«, protestiert Ji Seok.

»Oh, psst.« Sie schnalzt mit der Zunge. »In Korea ist er das.«

Jemand schnaubt verächtlich. Alle erstarren, dann landet unser Blick auf Jenny.

»Wie kannst du es …?« Sojin bricht mitten im Satz ab.

Mir wird auf Anhieb klar, was sie bemerkt hat. Jenny sitzt so nahe an Jaewoo, dass sich ihre Schultern berühren. Schnell rückt sie ab, aber es ist zu spät. Sojins Lippen verziehen sich zu einem Lächeln.

»Du gehst auf die Manhattan School of Music?«, fragt sie. Das zu erraten, ist keine Kunst, schließlich steht der Name von Jennys Schule auf ihrem Hoodie.

»Ja«, sagt sie unsicher. Das ist so untypisch für sie, dass ich Herzklopfen bekomme.

»Welches Instrument spielst du?«, fragt Sojin neugierig. »Ich hab das Gefühl, dich schon mal gesehen zu haben. Wie heißt du?«

Jenny zieht ihre Baseballkappe tiefer ins Gesicht und lässt die Schultern nach vorn sinken. Jaewoos Hand ballt sich auf dem Tisch zu einer Faust und er kneift die Augen zusammen. Ich weiß einfach, dass er gleich etwas sagen wird, das er sich besser verkneifen sollte.

»Was bringt Sie nach New York?«, versucht Nathaniel Sojins Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken, doch sie bleibt völlig auf Jenny konzentriert und genießt offensichtlich, wie unwohl diese sich fühlt.

»Weißt du«, hebt sie höhnisch an, »Mädchen wie du sollten nicht so dreist auftreten und sich so stark präsentieren. Das ist schamlos.«

Wut steigt in mir auf. Jeon Sojin, willst du mal was Schamloses sehen?

Ich richte mich auf und ziehe meinen Mantel aus, was ich bis jetzt vermieden habe, weil ich nicht zu viel Aufmerksamkeit auf mich lenken wollte. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Sojins Blick fällt auf mich beziehungsweise meinen hautengen Body. Langsam lasse ich meine Fingerspitzen über Nathaniels Rücken wandern. Er dreht sich mit hochgezogenen Augenbrauen zu mir um.

»Du hast mich den ganzen Abend noch nicht beachtet«, hauche ich mit Schmollmund. Obwohl ich nie ernsthaft Schauspielerin werden wollte, habe ich als Trainee ein paar Kurse belegt. Ich klimpere ein bisschen mit den Wimpern und schaue lasziv zu ihm auf. »Es ist, als wäre ich gar nicht hier.«

Nathaniel erholt sich schnell von der Überraschung und greift meine Idee auf. Ohne den Augenkontakt zu unterbrechen, sagt er: »Ich könnte niemals vergessen, dass du hier bist.«

Mein Herz setzt kurz aus. Er ist echt gut.

Ich versuche mich zu konzentrieren und hoffe, dass ich Sojin und ihre Unsicherheiten richtig gedeutet habe und sie sich nun durch mich unwohl fühlt.

»Ich hab dich vermisst«, flüstere ich und bewege meine andere Hand zu seiner auf dem Tisch. Er zögert nicht, die Innenfläche nach oben zu drehen. Als ich ihn berühre, verschränkt er seine Finger mit meinen und ich spüre seine Wärme bis in meinen Bauch.

Ich bin so froh, dass er es ist. Hier, bei mir. Es gibt niemanden, dem ich bei so einer Sache mehr vertrauen würde, mit dem ich mich sicherer fühlen würde. Ganz egal wie die Dinge gerade zwischen uns stehen, wir sind immer noch ein tolles Team.

»Ich hab dich auch vermisst«, sagt Nathaniel, aber er sieht mich nicht länger an.

Sojin springt so abrupt auf, dass sie die Soju-Flasche umwirft. Nathaniel lässt meine Hand los, um sie aufzufangen, ehe sie sich über den Tisch ergießt. »Ich habe vergessen, dass ich morgen früh eine wichtige Besprechung habe.« Bei den Worten sieht sie niemandem in die Augen. »Ich muss mich entschuldigen.« Bevor die anderen aufstehen können, um sich zu verbeugen, ist sie auch schon aus der Tür.

»Hast du sie echt eben vertrieben?«, fragt Jenny ehrfürchtig. »Gi Taek wäre so stolz auf dich.«

Ich lache. Hong Gi Taek, unser Klassenkamerad von der SAA, würde meine fiese Seite auf jeden Fall unterstützen.

»Sehr cool, Minseok Sori«, sagt Jaewoo und Sun gibt mir ein Daumenhoch.

Plötzlich höre ich, wie ein Stuhl zurückgeschoben wird. Nathaniel steht auf. »Ich glaube, der Soju ist mir nicht bekommen.«

Niemand scheint zu bemerken, dass er geht. Sun und Jaewoo überlegen, wie Jeon Sojin sie hier im Restaurant gefunden hat, und Ji Seok entschuldigt sich vielmals bei Jenny.

Als Nathaniel zurückkehrt, geht der Abend weiter, als wäre nichts vorgefallen. Danach verlassen wir das Restaurant durch die Hintertür, Sun und Ji Seok vor Jenny und mir, Jaewoo und Nathaniel hinter uns. Sie alle tragen weite Mäntel, Hüte und Masken, die komisch aussehen würden, wenn es draußen nicht gerade schneien würde.

Als ich Jenny zum Abschied umarme – wir wissen nicht, wann wir uns das nächste Mal sehen –, höre ich Nathaniel meinen Namen rufen. »Sori.«

Er hat ein Taxi angehalten und hält mir die hintere Tür auf. Der Bürgersteig ist vereist und ich ergreife dankbar seine Hand. Mir kommt es kurz so vor, als würde er meine Finger leicht drücken, dann flüstert er mir ins Ohr: »Schreib Jenny, wenn du im Hotel angekommen bist.« Sobald ich sitze, schließt er die Tür und klopft auf das Dach des Taxis. Während wir losfahren, drehe ich mich um und schaue ihm durch das beschlagene Fenster hinterher, bis die Lichter ihn verschlucken.

Drei

Danke für die Nachricht, dass du heil im Hotel angekommen bist. Ich lese Jennys Antwort nach der Dusche, als ich in einem flauschigen weißen Bademantel stecke.

Bevor ich ihr zurückschreibe, lege ich mich aufs Bett und streife die Hotelslipper ab. Wir schicken uns noch ein paar Nachrichten, dann antwortet sie nicht mehr und ich weiß, dass sie eingeschlafen ist.

Ich warte darauf, dass mein Körper und mein Kopf zur Ruhe kommen, aber genau wie in den letzten paar Nächten kann ich einfach nicht einschlafen. Auch wenn es hier in New York weit nach Mitternacht ist, scheint mein Körper zu denken, es sei später Nachmittag in Seoul.

Ich schnappe mir wieder mein Handy. Unter Jennys Nachrichten ist die von Sekretärin Park, eine Info zum morgigen Flug, und darunter eine von Lee, dem Sekretär meines Vaters, der in zwei Wochen ein Treffen mit meiner Großmutter väterlicherseits anberaumt hat. Ich mache einen Screenshot davon, scrolle zum letzten Chat mit meiner Mutter vor über einem Monat zurück und schicke ihn ihr. Wir haben früher immer über die Albernheiten der väterlichen Seite meiner Familie gelacht – meine Tante lässt Jeon Sojin wie einen Engel wirken. Kurz bevor ich auf Senden drücke, zögere ich.

In letzter Zeit ist die Beziehung zwischen meiner Mutter und ihren Schwiegereltern ziemlich … angespannt. Vielleicht würde sie so eine Nachricht nur daran erinnern, dass sie sie praktisch aus ihrem Leben verbannt haben. Obwohl mein Vater der Grund für die Trennung meiner Eltern war, wird seine Familie immer ihr die Schuld daran geben.

Ich lösche den Screenshot und antworte stattdessen Sekretär Lee, dass ich zur ausgemachten Zeit da sein werde.

Ich werfe mein Handy auf das Himmelbett und presse mein Gesicht in die Kissen. Wenn ich lange genug so bleibe, kann ich meinem Gehirn vielleicht vorgaukeln, dass ich einschlafe. Aber es scheint den gegensätzlichen Effekt zu haben. In der Dunkelheit sehe ich nichts als die Erinnerungen an mein letztes Mal in New York. Es war nicht Winter, sondern Sommer. Ich laufe in Sandalen über den Gehsteig, Zucker an meinen Fingern. Sehe Nathaniel mit einem breiten, triumphierenden Lächeln mit einem Kuscheltier im Arm auf mich zurennen. Lache mit Jaewoo, als wir in der Sitzecke einer Pizzeria Platz nehmen, Nathaniel und Jaewoo auf der einen Seite, die Plüschkuh und ich auf der anderen. Und vielleicht liegt es an der letzten Erinnerung, aber plötzlich bin ich wieder auf, ziehe mir einen Jogginganzug an und stecke Handy und Geldbörse in meine Jacke.

Eine halbe Stunde später steige ich vor Joe’s Pizzeria im Viertel Flushing in Queens aus einem Taxi.

Ich starre auf das Neonschild, das auf der stillen Straße vor sich hin summt. Durch das Schaufenster sehe ich einen Mann im mittleren Alter, der über einem Kreuzworträtsel brütet. Vielleicht Joe persönlich?

Ich betrete den Laden und über der Tür läutet eine Glocke. Als ich mich dem Tresen nähere, werde ich nervös, denn ich weiß, dass ich auf Englisch bestellen muss. Ich spreche zwar fließend Japanisch und auch ein bisschen Französisch und Mandarin, doch Englisch fiel mir schon immer schwer. Ich ziehe einen frischen Zwanzig-Dollar-Schein heraus, einen von vielen, den Sekretärin Park auf der Bank in Seoul vor meiner Abreise für mich umgetauscht hat.

»Ein Stück bitte«, sage ich langsam und bemühe mich, jede Silbe richtig zu betonen. Das L in ›Please‹ ist besonders schwierig.

Joe nickt, nimmt den Schein und gibt mir das Wechselgeld. »Sie sind nicht von hier?«

Ich verziehe das Gesicht. Ist mein Akzent so auffällig?

»Tut mir leid.« Er kratzt sich am Kopf. »Das klang unhöflich. Ich kenne die meisten Kunden in der Gegend, besonders die, die so spät am Abend vorbeikommen, und Sie habe ich noch nie gesehen.«

»Ich bin …« Ich bemühe mich, die richtigen Worte zu finden. »Eine Besucherin.«

»Ach ja? Haben Sie Familie in der Stadt? Es gibt hier eine wirklich große koreanische Gemeinde.« Er stellt einen großen Pappbecher mit dem Pepsi-Logo auf die Theke. »Geht aufs Haus.«

Ich nehme den Becher und gehe zum Getränkeautomaten. Nachdem ich ihn mit Pepsi Light gefüllt habe, bleibe ich noch ein bisschen dort stehen, bis Joe das Stück im Ofen aufgewärmt hat.

Die Pizza fettet bereits durch den Pappteller, als ich damit in der Sitzecke Platz nehme. Ich betupfe sie mit ein paar Servietten und hebe das Stück dann an meinen Mund.

Eine Erinnerung legt sich darauf. Von Nathaniel und Jaewoo, die mir gegenübersitzen. Probier schon, sagt Nathaniel aufgeregt. Ich schwöre, wenn dich Joe’s Pizza nicht überzeugt, dass New York Style Pizza die beste ist, dann wird’s keine.

Ich beiße so wie damals ab. Es schmeckt …

Ganz gut, aber nicht so wie die Pizza in Korea, deren Boden viel fluffiger ist, was ich viel lieber mag. Außerdem ist nicht mal Mais drauf. Dennoch verputze ich das ganze Stück.

Draußen fährt ein Auto vorbei und spritzt Schneematsch auf den Bürgersteig. Irgendwo in der Nachbarschaft bellt ein Hund. Ich sollte wieder zum Hotel zurück. Wenn meine Mutter, Sekretärin Park oder auch Sekretär Lee meinen Standort checken sollten, werde ich einiges erklären müssen. Es ist nur …

Der Sommer damals in New York, das waren die schönsten Wochen meines Lebens, selbst wenn der Grund für meinen Aufenthalt nicht besonders positiv war. Und ich bin hergekommen, um dieses Gefühl wieder zu verspüren. Doch in einer Winternacht allein in einer kalten Pizzeria herumzusitzen, verströmt nicht gerade Wärme.

Die Glocke über der Tür bimmelt erneut und ein weiterer Gast kommt herein.

»Ein Stück Käsepizza für mich, Joe«, sagt eine junge Frau. Ihre Stimme ist leise und melodisch. »Eins aus der Auslage reicht völlig.«

Ich drehe mich verstohlen um, doch sie steht mit dem Rücken zu mir. Sie trägt eine Lederjacke und einen stylishen Bob.

»Hier bitte, Naddy.« Joe schiebt ihr einen ganzen Pizzakarton über den Tresen zu. »Nimm die ganze Pizza mit. Teil sie mit deiner Familie.«

Als die junge Frau ihre Geldbörse herausnimmt, stehe ich auf, um meinen Müll wegzubringen.

»Sori?«

Ich blicke auf und erkenne sie. Nathaniels große Schwester Nadine. »Du bist’s ja wirklich«, sagt sie und lächelt breit. »Was machst du denn hier?«

»Ich …« Ich bin so überrumpelt, dass ich das Erstbeste sage, was mir in den Sinn kommt. »Ich wollte Pizza.«

Sie starrt mich an. »In Queens?« Sie schüttelt den Kopf. »Ich meine, was machst du in den Staaten?«

Wie stehen die Chancen, jemanden zu treffen, den ich kenne – und dann auch noch ausgerechnet eine von Nathaniels Schwestern? Allerdings ist sein Elternhaus ganz in der Nähe.

»Ich bin wegen der New York Fashion Week hier«, höre ich mich antworten. »Nicht als Model oder so«, stelle ich errötend klar. »Dazed Korea hat mich eingeladen. Das ist ein Magazin.«

»Sori, das ist ja unglaublich.« Sie legt mir eine Hand auf die Schulter. »Ich bin so stolz auf dich.« Ich spüre meine Wangen glühen.

»Wo wohnst du?« Sie wechselt ins Koreanische.

Ich sage ihr den Namen des Hotels, das Dazed für mich gebucht hat.

Sie runzelt die Stirn. »Das ist doch in Midtown, oder? Bist du mit dem Taxi hergekommen?«

Ich nicke, habe aber bereits einen Verdacht, wohin ihre Fragerei führen wird.

»So spät kannst du nicht mehr allein zurück«, sagt sie. »Du schläfst bei uns und ich fahre dich morgen früh zu deinem Hotel.«

»Das ist echt nicht nötig«, protestiere ich.

»Nein, keine Widerrede. Ich berufe mich auf meinen Eonni-Status. Ich bin zwar nicht die älteste von uns Schwestern, aber ich bin älter als du. Komm mit.« Sie winkt Joe noch einmal zu, dann verlässt sie den Laden, ohne darauf zu achten, ob ich ihr folge.

Als ich die Straße betrete, grinst sie mich an, dann geht sie ziemlich flott los. Ich ziehe schnell den Reißverschluss meines Mantels hoch und eile ihr nach.

»Bist du ausgegangen?«, frage ich. Mein Atem erzeugt in der eiskalten Luft Dampfwolken.

»Ich war in einer Bar«, sagt Nadine über das Knirschen ihrer Stiefel im Schnee. »Gut, dass meine Mutter nicht da ist, sonst wär sie ausgerastet.«

Mit einundzwanzig ist Nadine drei Jahre älter als Nathaniel und ich. Sogar als wir noch jünger waren, kam sie mir schon total erwachsen vor. Sie trug immer Schwarz und stritt sich erbittert mit ihrer Mutter und ihren Schwestern, nur um Minuten später mit ihnen zu lachen. Und sie hatte eine Freundin, die immer vorbeikam, um mit uns im Keller Mario Kart zu spielen. Ich habe nur kurze Zeit mit Nathaniels Familie verbracht, aber sie und seine anderen Schwestern haben bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Als wir das Haus erreichen, frage ich mich, wie viele von Nathaniels Schwestern daheim sind. Mit dem Keller hat das rauchgrün gestrichene Gebäude drei Stockwerke. Die unfertige Einfahrt ist bis zum Bürgersteig zugeparkt.

Nadine steigt die wenigen Stufen zur Veranda hinauf, öffnet zuerst den Windfang und schließt dann auf. Dann bedeutet sie mir, einzutreten. Im Zickzack bahne ich mir einen Weg durch den Flur, in dem kreuz und quer massenhaft Schuhe liegen. Mich überkommt der Drang, sie in ordentliche Reihen zu stellen, und platziere meine Stiefel nebeneinander an der Wand.

Der nächste Raum ist das Wohnzimmer, wo eine Lampe eine gemütliche Sitzecke mit Fernseher beleuchtet. Eine Standuhr mit römischen Ziffern tickt vor sich hin und ich stelle erschrocken fest, dass es schon fast zwei Uhr morgens ist.

»Nicht hier«, flüstert Nadine, als ich Richtung Sitzecke gehe. Dabei versucht sie ihren zweiten Stiefel auszuziehen, indem sie auf einem Fuß herumhüpft. »Du kannst in Nathaniels Zimmer schlafen.«

»Nein, ich …«, beginne ich.

»Schon gut.« Sie winkt ab. »Er ist nicht hier. Er schläft in der Suite, die sein Label für ihn gebucht hat.«

Das weiß ich, aber es ist trotzdem seltsam, im Bett meines Ex-Freunds zu schlafen. Aber wie zuvor lässt Nadine keine Widerrede zu und schiebt mich praktisch die Treppe hoch in den ersten Raum links.

»Die Bettwäsche sollte sauber sein«, sagt sie und knipst das Licht an. »Im Badezimmer sind neue Zahnbürsten und Handtücher sind im Flurschrank.«

Ich muss verloren wirken, wie ich da so in der Mitte des Raumes stehe, denn ihr Gesichtsausdruck wird ganz weich. »Schön, dich wiederzusehen, Sori. Nathaniel hat uns von der Trennung erzählt. Wir waren natürlich enttäuscht, verstehen aber, dass ihr beide das so entschieden habt.« Sie gähnt, geht zur Tür. »Ich fahre dich gleich morgen früh zu deinem Hotel zurück. Klingt das okay?«

»Ja.« Dann sollte ich genug Zeit haben, den Rest meiner Sachen einzupacken, bevor mich der Fahrer des Limousinenservice zum Flughafen bringen soll. »Danke …« Ich zögere. »Eonni.«

Sie lächelt. »Gute Nacht, Sori.«

Ich höre, wie sie durch den Flur geht, dann das Klicken einer sich schließenden Tür.

Ich bin allein. In Nathaniels Zimmer.

In einem Regal mit Baseballtrophäen und Alben tickt ein Pikachu-Wecker. Seine Bücher sind alle auf Englisch. Ich betrachte ein gerahmtes Foto von Nathaniel, Jaewoo, Sun und Youngmin. Jaewoo hat seine Arme um Nathaniels Schulter gelegt, auf der anderen Seite umarmen ihn Sun und Youngmin. Das muss vor ein paar Jahren gewesen sein, vor ihrem Debüt.

Ich stelle das Foto wieder hin und gehe in das kleine Badezimmer. Nachdem ich mir zum zweiten Mal an diesem Abend die Zähne geputzt habe, gehe ich ins Bett.

Aber genau wie im Hotel kann ich nicht einschlafen. Ein bisschen besorgt, dass ich heute Nacht überhaupt keinen Schlaf finden werde, stehe ich wieder auf und werfe einen Blick in Nathaniels Schrank. Mir ist bewusst, dass ich herumschnüffle, doch ich muss …

Im Regal auf Augenhöhe befindet sich ein Teddybär mit schwarzen Knopfaugen und einer Schleife. Ich schnappe mir das Kuscheltier und krabbele ins Bett zurück. Auf der Stelle überfällt mich die Ruhe, nach der ich den ganzen Abend gesucht habe. Der weiche Kopf des Bären passt perfekt unter mein Kinn. Er duftet herrlich, wie frisch gewaschen.

Ich döse ein und ein wunderbarer Nebel erfüllt meinen Kopf. Wie im Traum höre ich das Quietschen der Haustür, dann das Knarren der Treppenstufen, gefolgt von Schritten im Flur. Das Licht geht an und ich blinzele in die plötzliche Helligkeit.

»Sori?« Nathaniel starrt mich von der Tür aus an. »Was machst du in meinem Bett?«

Vier

»Ist das Bearemy Baggins?« Nathaniel deutet auf den Teddy, den ich an meine Brust drücke.

»Ich hab ihn im Schrank gefunden«, sage ich abwehrend.

Mir ist ein bisschen schwindlig und ich bin mir nicht sicher, ob es von Nathaniels Anwesenheit rührt oder daher, aus dem Schlaf gerissen worden zu sein. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann wir beide das letzte Mal allein gewesen sind, wahrscheinlich nicht, seit wir zusammen waren. Ich versuche den Sechzehnjährigen, der er damals war, mit dem Achtzehnjährigen zusammenzubringen, der jetzt vor mir steht. So viel an ihm hat sich verändert, zumindest körperlich. Er war immer sportlich, aber inzwischen ist seine jungenhafte Weichheit verschwunden. Sein Shirt und Sweatshirt können nicht verbergen, dass die Schultern darunter breit und seine Brust stark ist. Ich klammere mich noch fester an Bearemy.

»Warum bist du hier?«, fragt er schließlich und ich atme tief durch.

»Ich konnte nicht schlafen, also wollte ich Pizza essen gehen, dann ist mir Joe’s Pizzeria von meinem Besuch im Sommer damals wieder eingefallen, aber als ich da war, hab ich Nadine getroffen, und sie wollte mich so spät kein Taxi zurück nach Manhattan nehmen lassen, also übernachte ich hier.«

Ich starre ihn an. Er starrt mich an.

»Du magst die New Yorker Pizza doch nicht mal«, sagt er. Das ist seine Schlussfolgerung nach meiner weitschweifigen Erklärung?

»Weil es keine richtige Pizza ist«, erkläre ich. »Sie ist ohne Mais und Süßkartoffel in der Kruste.«

»Sori, das ist was Gutes.«

Nathaniel dreht sich leicht zu einem Geräusch im Flur hin. Eilig geht er zur Tür und macht sie zu.

Jetzt sind wir allein in seinem Zimmer mit geschlossener Tür. Ihm muss das auch klar sein, denn er guckt schnell von mir weg. Und reißt dann die Augen auf.