Das Mädchen, das in den Wellen verschwand - Axie Oh - E-Book
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Das Mädchen, das in den Wellen verschwand E-Book

Axie Oh

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Beschreibung

Zwischen Sturm und Schicksal Jedes Jahr wüten in Minas Heimat tödliche Stürme. Und jedes Jahr wird das schönste Mädchen in die Fluten geworfen. Denn eines Tages, so die Legenden, soll die wahre Braut des Meeresgottes auserwählt werden und den Unwettern ein Ende bereiten. Doch dieses Jahr greift Minas Bruder in das Ritual ein und gerät dabei in Lebensgefahr. Um ihn zu retten, opfert Mina sich freiwillig. Im Reich der Geister stellt sie allerdings fest, dass auf dem Meeresgott ein Fluch liegt. Und ihr nur dreißig Tage bleiben, um ihn zu brechen und die Stürme für immer zu beenden … Tauche ein in die atmosphärische Fantasywelt dieses New York Times-Bestsellers! Mit dieser fesselnden Geschichte entführt uns Axie Oh in die koreanische Mythologie und eine Welt voller Magie, Wunder und Romantik und erweckt dabei die GeisterweltKoreas für ihre Leser*innen zum Leben. Ein bewegendes Retelling der Sage um Shim Cheong mit Female Empowerment, Abenteuer und ein Highlight für alle Fantasyfans!

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Seitenzahl: 422

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INHALT

Kapitel 1 – In den Legenden …

Kapitel 2 – Während ich in …

Kapitel 3 – Drei maskierte Gestalten …

Kapitel 4 – Die Elster in …

Kapitel 5 – Vor dem Palast …

Kapitel 6 – Wir verlassen die …

Kapitel 7 – Als ich noch …

Kapitel 8 – Ich taste über …

Kapitel 9 – Mit einer Kerze …

Kapitel 10 – Weder Shin noch …

Kapitel 11 – Zwei Boote verlassen …

Kapitel 12 – Wie kann es …

Kapitel 13 – Zu Fuß durchschreiten …

Kapitel 14 – Der Saal des …

Kapitel 15 – Wir verlassen den …

Kapitel 16 – Am nächsten Morgen …

Kapitel 17 – Wir lassen das …

Kapitel 18 – Zurück in Haus …

Kapitel 19 – Shin stürzt in …

Kapitel 20 – Der Todesgott ist …

Kapitel 21 – »Mina, pass auf!« …

Kapitel 22 – Dai wird in …

Kapitel 23 – Ich erwache zu …

Kapitel 24 – Shim Cheong trägt …

Kapitel 25 – Shin, Namgi und …

Kapitel 26 – Mein Leben lang …

Kapitel 27 – Auf Kirins Anweisung …

Kapitel 28 – Als ich später …

Kapitel 29 – Shin und ich …

Kapitel 30 – Ich folge dem …

Kapitel 31 – Obwohl der Meeresgott …

Kapitel 32 – Zuerst kommt Mask …

Kapitel 33 – Shin wartet in …

Kapitel 34 – Zurück in der …

Kapitel 35 – Als ich aufwache, …

Kapitel 36 – Am Morgen laufen …

Danksagung

Gedicht: Tief unten im Meer der Drache schläft

Für meine Mom,

1

In den Legenden meines Volkes heißt es, dass nur eine wahre Braut des Meeresgottes seinem unersättlichen Zorn ein Ende bereiten kann. Wenn vom Ostmeer her die Stürme der anderen Welt aufziehen, Blitze den Himmel zerreißen und Wasser die Küste sprengt, wird eine Braut auserwählt und ihm geschenkt.

Oder geopfert, je nachdem, wie groß dein Glaube ist.

Jedes Jahr aufs Neue ziehen die Unwetter auf – und jedes Jahr aufs Neue wird ein Mädchen hinaus auf die See gebracht. Unweigerlich frage ich mich, ob Shim Cheong an die Legende von der Braut des Meeresgottes glaubt. Ob sie Trost darin findet, bevor sie sich ihrem Ende stellt.

Wobei es auch möglich ist, dass sie diesen Moment als Anfang betrachtet. Schließlich kann das Schicksal viele Wege einschlagen.

Da wäre zum Beispiel mein eigener – der buchstäbliche Pfad unter meinen Füßen, der sich schmal durch die wasserdurchtränkten Reisfelder zieht. Wenn ich diesem Weg folge, wird er mich letztendlich an den Strand bringen. Wenn ich kehrtmache, führt er mich zurück ins Dorf.

Welche dieser Möglichkeiten ist mein Los? Welche das Schicksal, das ich mit beiden Händen ergreifen werde?

Selbst wenn es zur Wahl stünde, könnte kaum ich selbst die Entscheidung treffen. Denn obwohl ein beträchtlicher Teil von mir sich nach der Sicherheit meines Zuhauses sehnt, ist das Drängen meines Herzens unendlich viel stärker. Es zieht mich hinaus aufs offene Meer, hin zu dem einen Menschen, den ich mehr liebe als jedes Schicksal.

Meinen Bruder Joon.

Blitze zucken durch die Gewitterwolken, zersplittern den geschwärzten Himmel. Eine halbe Sekunde später grollt über den Reisfeldern lauter Donner.

Der Pfad endet, wo die Erde auf den Sand trifft. Ich ziehe die durchweichten Sandalen aus und werfe sie mir über die Schulter. Trotz der Sturzflut entdecke ich das Boot, das von den Wellen hin und her geworfen wird. Es handelt sich um eine kleine, ausgehöhlte Nussschale mit einem einzelnen Mast, die Platz für etwa acht Männer bietet – und für eine Braut des Meeresgottes. Schon hat sich das Schiff ein gutes Stück vom Strand entfernt, sein Ziel aber noch nicht erreicht.

Ich raffe meinen vom Regen getränkten Rock und rase auf die tosende See zu.

Als ich mich der ersten Welle entgegenwerfe, dringt ein Schrei aus dem Boot. Sofort werde ich unter Wasser gezogen. Die Eiseskälte raubt mir den Atem. Wie ein Spielball werde ich von der Strömung erst brutal nach links, dann nach rechts geschleudert. Ich kämpfe, will wenigstens mit dem Mund an die Oberfläche, doch die Wellen ergießen sich in und über mich.

Ich bin keine schlechte Schwimmerin, aber ebenso wenig eine besonders gute. Und obwohl ich mich nach Kräften anstrenge, das Boot zu erreichen und zu überleben, fällt es mir ungeheuer schwer. Vielleicht werde ich es nicht schaffen. Ich wünschte, es würde nicht so wehtun – die Wellen, das Salz, das Meer.

»Mina!« Kräftige Hände schließen sich um meine Arme und ziehen mich aus den Fluten. Unsanft lande ich auf dem wogenden Deck des Schiffchens. Vor mir steht mein Bruder, dessen vertraute Züge zu einer düsteren Miene verzogen sind.

»Was hast du dir nur dabei gedacht?«, schreit Joon gegen den heulenden Wind an. »Du hättest ertrinken können!«

Da rammt eine gewaltige Welle das Boot und ich verliere das Gleichgewicht. Joon greift nach meinem Handgelenk, damit ich nicht über Bord geworfen werde.

»Ich bin dir gefolgt!«, rufe ich ebenso laut. »Du solltest nicht hier sein. Krieger dürfen die Braut des Meeresgottes nicht begleiten.« Als ich meinen Bruder nun mustere – sein vom Regen gepeitschtes Gesicht und den trotzigen Ausdruck darauf –, könnte ich in Tränen ausbrechen. Ich will ihn ans Ufer zerren und nie wieder zurückblicken. Wie konnte er sein Leben bloß derart aufs Spiel setzen? »Wenn der Gott bemerkt, dass du hier bist, wirst du sterben!«

Joon zuckt zusammen und späht zum Bug des Schiffs, wo eine schlanke Gestalt steht, deren Haare heftig im Wind wehen.

Shim Cheong.

»Du verstehst das nicht«, sagt Joon. »Ich konnte … ich konnte sie das einfach nicht allein durchstehen lassen.«

Seine Stimme bricht und bestätigt so, was ich schon lange vermutet habe; wovon ich gehofft habe, es wäre nicht wahr. Ich stoße einen leisen Fluch aus, doch Joon bemerkt es nicht einmal. Denn er konzentriert sich mit Leib und Seele allein auf sie.

Die Ältesten erzählen sich, die Göttin der Schöpfung persönlich habe Shim Cheong erschaffen, damit sie die letzte Braut des Meeresgottes wird – diejenige, die all seine Qualen lindert und in unserem Reich eine neue Ära des Friedens einläutet. Ihre Haut sei geschmiedet aus reinsten Perlen. Ihr Haar geknüpft aus dunkelster Nacht. Ihre Lippen gefärbt von Menschenblut.

Vielleicht spricht aus diesem letzten Detail mehr Bitterkeit als Wahrheit.

Ich erinnere mich noch an meine erste Begegnung mit Shim Cheong. Gemeinsam mit Joon stand ich am Fluss. Es war die Nacht des Papierschiffchenfests vor vier Sommern, als ich zwölf und Joon vierzehn war.

In den Küstendörfern ist es Tradition, Wünsche auf Zettel zu schreiben, bevor man daraus sorgfältig kleine Boote faltet, die man dann auf den Fluss setzt. Dem Glauben nach tragen diese Papierschiffchen unsere Wünsche ins Reich der Geister, zu unseren Vorfahren, die dort mit den weniger wichtigen Göttern darüber verhandeln können, ob sie unsere Träume und Sehnsüchte erfüllen.

»Shim Cheong mag das schönste Mädchen im Dorf sein, aber ihr Gesicht ist ein Fluch«, hat Joons Stimme mich an jenem Tag des Fests aufsehen lassen.

Ich folgte seinem Blick zu der Brücke, die den Fluss überspannte. Genau in deren Mitte stand ein Mädchen.

Im Mondlicht, das ihr Gesicht erleuchtete, erinnerte Shim Cheong selbst mehr an eine Göttin als an ein Mädchen. Auch sie hielt ein Papierschiffchen in der Hand, das aus ihren geöffneten Fingern ins Wasser fiel. Während ich zusah, wie das Boot den Fluss hinabschwamm, wunderte ich mich, was eine solche Schönheit sich noch wünschen könnte.

Damals habe ich noch nicht gewusst, dass Shim Cheong bereits dazu ausersehen war, die Braut des Meeresgottes zu werden.

Als ich jetzt im strömenden Regen auf dem Boot stehe und die Donnerschläge mir durch Mark und Bein gehen, fällt mir auf, dass die Männer Abstand zu ihr wahren. Als wäre sie bereits geopfert, getrennt von uns anderen durch ihre überirdische Schönheit. Sie gehört dem Meeresgott. Das war allen im Dorf bewusst, seit sie das entsprechende Alter erreicht hatte.

Ich frage mich, ob sich unser Schicksal innerhalb eines Tages ändern kann. Oder ob es länger dauert, bis uns das eigene Leben gestohlen wird.

Ich frage mich, ob Joon diese Einsamkeit in ihr gespürt hat. Denn seit Shim Cheong zwölf war, seit sie dem Meeresgott versprochen ist, haben alle in ihr jemanden gesehen, der uns eines Tages verlassen würde. Mein Bruder dagegen war und ist der Einzige, der will, dass sie bleibt.

»Mina.« Joon zieht an meinem Arm. »Du musst dich verstecken.«

Ich beobachte, wie Joon auf dem schutzlosen Deck nervös nach einer Möglichkeit sucht, mich zu verbergen. Dass er selbst eine der drei Regeln des Meeresgottes gebrochen hat, mag ihm egal sein, aber um mich macht er sich Sorgen.

Die Regeln sind einfach: Keine Krieger. Keine Frauen – außer der Braut des Meeresgottes. Keine Waffen. Joon hat gegen die erste Regel verstoßen, indem er heute Nacht mitgekommen ist. Ich habe die zweite gebrochen.

Und die dritte. Meine Hand legt sich um das Messer, das unter meiner kurzen Jacke versteckt ist, die Klinge, die einst meiner Ururgroßmutter gehört hat.

Das kleine Schiff muss das Auge des Sturms erreicht haben, denn der Wind hört auf zu heulen, die Wellen schlagen nicht länger auf das Deck und selbst der unermüdliche Regen fällt weniger heftig.

In jeder Richtung ist es dunkel, da die Wolken den Mond verdecken. Ich rücke näher an den Rand des Boots, um über die Kante zu blicken. Ein Blitz zuckt und in seinem Licht sehe ich ihn. Auch die Fischer, deren Schreie von der Nacht verschluckt werden, haben ihn entdeckt.

Unter uns bewegt sich ein gewaltiger silberblauer Drache.

Sein schlangenförmiger Körper umkreist das Boot, sodass die Zacken seines von Schuppen bedeckten Rückens die Wasseroberfläche durchbrechen.

Der Blitz erlischt und wieder legt sich Dunkelheit über alles. Außer dem endlosen Rollen der Wellen ist nichts mehr zu hören. Ich zittere, während mir sämtliche grauenvolle Schicksale durch den Kopf gehen, die uns erwarten könnten – entweder durch Ertrinken oder indem uns der Diener des Meeresgottes verschlingt.

Das Boot ächzt, als der Drache direkt neben dem Rumpf auftaucht. Was soll das? Was hat sich der Meeresgott dabei gedacht, seinen entsetzlichen Diener zu schicken? Stellt er den Mut seiner Braut auf die Probe?

Blinzelnd begreife ich, dass meine Wut den Großteil meiner Angst vertrieben hat. Mein Blick wandert über das Schiff. Shim Cheong steht nach wie vor am Bug, aber sie ist nicht länger allein.

»Joon!«, rufe ich, während sich mein Herz zusammenzieht.

Mein Bruder reißt den Kopf zu mir herum und lässt Shim Cheongs Hand abrupt los.

Hinter ihm schiebt sich fast lautlos der Drache aus den Fluten, sein langer Hals reckt sich in den Himmel. Meerwasser strömt von seinen dunkelblauen Schuppen und Tropfen fallen wie Münzen aufs Deck.

Die schwarzen, unergründlichen Augen des Drachen sind allein auf Shim Cheong gerichtet.

Es ist so weit.

Ich weiß nicht, was nun geschieht, nur dass dies der Moment ist, auf den wir alle gewartet haben. Shim Cheong hat auf ihn gewartet, seit sie erfahren hat, dass sie zu schön ist, um am Leben zu bleiben. Dies ist der Moment, in dem sie alles verliert. Auch den Jungen, den sie liebt – was vermutlich das Schrecklichste des Ganzen ist.

Und in ebendiesem Moment zögert Shim Cheong.

Sie wendet sich von dem Drachen ab und schaut stattdessen Joon in die Augen. Sie schenkt ihm einen Blick, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen habe: erfüllt von Qual, von Angst und einer solch verzweifelten Sehnsucht, dass es mir das Herz zerreißt. Joon stößt einen erstickten Laut aus, tritt einen Schritt auf sie zu, dann noch einen, bis er vor ihr steht und die Arme schützend vor ihr ausbreitet, seine Hände leer.

Mit dieser schlichten Geste hat er sein Schicksal besiegelt. Der Drache wird ihn niemals gehen lassen, nicht nach diesem offenkundigen Ungehorsam. Wie um meine Befürchtung zu bestätigen, stimmt das gewaltige Wesen ein ohrenbetäubendes Brüllen an, das jeden, der sich bislang noch auf den Beinen gehalten hat, in die Knie zwingt.

Abgesehen von Joon. Meinem stürmischen, trotzigen Narren von einem Bruder, der dasteht, als könnte er seine große Liebe im Alleingang vor dem Zorn des Meeresgottes bewahren.

In mir steigt sengende Wut auf, von meinem Bauch aus krallt sie sich einen Weg in die Höhe, um mir die Kehle zuzuschnüren. Die Götter haben entschieden, unsere Wünsche nicht zu erfüllen – die vom Papierschiffchenfest und all die kleinen, die wir Tag für Tag äußern. Wünsche nach Frieden, nach Fruchtbarkeit, nach Liebe. Die Götter haben uns im Stich gelassen. Der Gott aller Götter, der Meeresgott, will die Menschen, die ihn lieben, leiden lassen – will nehmen und nehmen, ohne je zu geben.

Die Götter mögen uns keine Wünsche gewähren. Aber ich könnte es. Für Joon. Seinen Wunsch könnte ich wahr machen.

Ich haste zum Bug des Boots und springe auf den Rand. »Nimm mich an ihrer Stelle!« Schwungvoll ziehe ich mein Messer und schneide mir tief in die Handfläche, bevor ich sie hoch über meinen Kopf halte. »Ich werde die Braut des Meeresgottes. Ich schwöre ihm ewige Treue!«

Der Drache reagiert auf meine Worte mit absoluter Reglosigkeit. Und sofort überkommen mich Zweifel. Warum sollte der Meeresgott mich anstelle von Shim Cheong nehmen? Ich besitze weder ihre Schönheit noch ihre Eleganz. Alles, was ich vorzuweisen habe, ist meine Sturheit, von der meine Großmutter immer sagt, dass sie einmal mein Verderben sein werde.

Doch dann senkt der Drache den Kopf und dreht ihn zu mir, sodass ich ihm direkt in eins der schwarzen Augen blicken kann. Es ist so unergründlich wie die See.

»Bitte«, flüstere ich.

In diesem Moment fühle ich mich nicht schön. Ebenso wenig komme ich mir mit meinen zitternden Händen besonders tapfer vor. Doch meine Brust ist erfüllt von einer Wärme, die mir nichts und niemand nehmen kann. Und daraus schöpfe ich Kraft, denn trotz meiner Angst weiß ich, dass dies meine Entscheidung ist.

Ich nehme mein Schicksal in die eigenen Hände.

»Mina!«, ruft mein Bruder. »Nein!«

Der Drache erhebt sich aus dem Wasser und lässt einen Teil seines massigen Körpers zwischen Joon und mir auf das Boot fallen, sodass wir voneinander getrennt werden. In der Stille, ganz umgeben von dem Drachen, zögere ich, während ich überlege, wie viel er verstehen kann.

Ich suche nach den richtigen Worten. Nach der Wahrheit.

Dann atme ich tief durch und recke das Kinn. »Ich bin die Braut des Meeresgottes.«

Der Drache schiebt seinen Körper vom Schiff und gibt den Blick frei auf eine Lücke im brodelnden Wasser.

Ohne mich noch einmal umzusehen, springe ich in die Fluten.

2

Während ich in den Wellen verschwinde, verstummt mit einem Mal das Tosen der See und alles ist still. Über mir und um mich herum kreist der lange, geschmeidige Körper des Drachen, der mich umgibt wie ein gewaltiger Strudel.

Gemeinsam sinken wir hinab ins Meer.

Seltsam, doch zu keinem Zeitpunkt habe ich das Bedürfnis, Luft zu holen. Mein Fall ist beinahe … gelassen. Friedlich. Das muss ich dem Drachen zu verdanken haben. Mit seiner Magie bewahrt er mich vor dem Ertrinken.

In meinem Hals bildet sich ein Kloß und mein Herz pocht vor Erleichterung – all die Bräute vor mir, sie haben überlebt.

Hinab in die Dunkelheit gleiten wir, bis die See über mir zum Himmel wird, an dem wir – der Drache und ich – zwei Sternschnuppen sind.

Als der Drache seine Kreise allmählich enger zieht, erhasche ich an seinen näher rückenden Gliedern vorbei einen Blick auf ein halb geschlossenes Auge, in dem ein Ring aus Mitternacht funkelt. Die Zeit verlangsamt sich. Die Welt bleibt stehen. Sobald ich die Hand ausstrecke, lösen sich blutrote Tropfen aus meiner Wunde, wie um zwischen uns eine Spur aus Edelsteinen zu legen.

Der Drache blinzelt, ein einziges Mal, und unter mir tut sich ein Riss auf.

Durch diese Kluft falle ich in tiefe Finsternis.

Meine Großmutter hat mir viele Geschichten über das Reich der Geister erzählt, einen Ort zwischen Himmel und Erde, der von allerlei wundersamen Kreaturen bevölkert wird: Göttern, Geistern und Fabelwesen. Sie sagte, sie hätte diese Geschichten von ihrer eigenen Großmutter gehört. Denn zwar sind nicht alle Geschichtenerzähler Großmütter, doch alle Großmütter sind Geschichtenerzählerinnen.

Meine Großmutter und ich sind oft gemeinsam den kurzen Weg durch die Reisfelder hinab zum Strand gelaufen, zwischen uns eine zusammengefaltete Bambusmatte, die wir mit vereinten Kräften trugen. Nachdem wir diese Matte auf den Kieseln und dem Sand ausgebreitet hatten, setzten wir uns Arm in Arm darauf und tauchten die Zehen ins kalte Wasser.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie das Meer am frühen Morgen aussah. Die Sonne spitzte am Horizont hervor und malte eine goldene Schneise auf das Wasser. Die Seeluft hauchte uns salzige Küsse aufs Gesicht. Und ich schmiegte mich eng an meine Großmutter, um mich in ihrer beständigen Wärme zu bergen.

Jedes Mal begann sie mit solchen Geschichten, die einen Anfang und ein Ende haben. Doch während sich die orangen und purpurnen Farbtöne des frühen Morgens allmählich ins leuchtende Blau des Nachmittags verwandelten, fing sie an abzuschweifen, wobei ihre Stimme wie eine tröstende Melodie klang.

»Das Geisterreich ist ein weiter und magischer Ort, aber das größte all seiner Wunder ist die Stadt des Meeresgottes. Manche behaupten, der Meeresgott sei ein sehr alter Mann. Andere erzählen sich, er sei ein Mann in den besten Jahren, groß wie ein Baum und mit einem Bart so schwarz wie Schiefer. Andere glauben gar, er sei ein Drache, erschaffen aus Wind und Wasser. Doch welche Form der Meeresgott auch annimmt, die Götter und Geister des Reichs gehorchen ihm, denn er ist der Gott der Götter und Herrscher über sie alle.«

Mein Leben lang war ich stets umgeben von Göttern. Es gibt sie zu Tausenden: den Gott des Brunnens in der Mitte unseres Dorfs, dessen Gesang im Quaken der Frösche erklingt, die Göttin des Westlichen Windhauchs bei aufgehendem Mond, den Gott des Bachlaufs in unserem Garten, dem Joon und ich früher immer Opfergaben in Form von Dattelküchlein und Lotoskuchen gebracht haben. Die Welt ist voll von kleinen Göttern, da jeder Teil der Natur einen eigenen Hüter hat, der über ihn wacht und ihn beschützt.

Eine kräftige Meeresbrise fegte übers Wasser. Meine Großmutter musste ihren Strohhut festhalten, damit er nicht in den Himmel gerissen wurde, der über uns immer düsterer wurde, obwohl es noch früh am Tag war. Wolken, prall gefüllt mit Regen, ballten sich zusammen.

»Großmutter«, fragte ich, »warum ist der Meeresgott mächtiger als die anderen Götter?«

»Unser Meer ist sein Inbild«, antwortete sie, »und er ist das Meer. Er ist mächtig, weil das Meer mächtig ist. Und das Meer ist mächtig …«

»… weil er es ist«, beendete ich den Satz für sie. Meine Großmutter redet gern in Kreisen.

Am Himmel grollte leiser Donner. Die Kiesel zu unseren Füßen rutschten ins Wasser und wurden von der Flut fortgespült. Am Horizont braute sich ein Unwetter zusammen. Wolken aus aufstiebendem Staub und Eiskristallen wirbelten in einem finsteren Trichter in die Höhe. Ich schnappte nach Luft. Eine erwartungsvolle Ahnung erfasste meine Seele.

»Es beginnt«, sagte meine Großmutter. Schnell standen wir auf und rollten die Bambusmatte ein, bevor wir mit langen Schritten auf die Dünen zueilten, die den Strand vom Dorf abschnitten. Im Sand rutschte ich aus, doch meine Großmutter ergriff meine Hand, damit ich nicht stürzte. Als wir oben auf dem Hügel standen, schaute ich ein letztes Mal zurück.

Der Ozean lag in tiefen Schatten. Am Himmel sperrten Wolken das Sonnenlicht aus. Das Meer wirkte wie nicht von dieser Welt, so vollkommen anders als am Vormittag, dass ich es auf einmal schrecklich vermisste, obwohl ich noch einen Herzschlag zuvor am Wasser gesessen hatte. In den kommenden Wochen würden die Stürme immer schlimmer werden, sodass es unmöglich wäre, sich dem Strand zu nähern, ohne von den Wellen verschlungen zu werden. Unzähmbar würden sie wüten – bis zu dem Morgen, an dem die Wolken aufreißen und einen schmalen Sonnenstrahl hindurchlassen würden. Ein Zeichen dafür, dass die Zeit reif war, eine Braut zu opfern.

»Was macht den Meeresgott so wütend?«, fragte ich meine Großmutter, die stehen geblieben war, um auf das dunkle Wasser hinauszuschauen. »Ist er böse auf uns?«

Da wandte sie sich mir zu, die braunen Augen erfüllt von Emotionen. »Der Meeresgott ist nicht wütend, Mina. Er ist verloren. Er wartet, in seinem weit entfernten Palast jenseits dieser Welt. Auf jemanden, der den Mut hat, ihn zu finden.«

Ich setze mich auf und schnappe gierig nach Luft. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass ich durch das Meer gefallen bin. Trotzdem bin ich nicht länger unter Wasser. Es ist, als sei ich im Innern einer Wolke erwacht. Weißer Nebel bedeckt die Welt, sodass ich unterhalb meiner Knie kaum etwas erkennen kann.

Als ich aufstehe, verziehe ich das Gesicht, weil mir mein Kleid, getrocknet und spröde vom Salz, unsanft über die Haut reibt. Aus den Falten meines Rocks purzelt das Messer meiner Ururgroßmutter und landet mit einem dumpfen Laut auf den hölzernen Bodenbrettern. Ich will es gerade aufheben, da fällt mein Blick auf ein Wallen von Farbe.

Um meine linke Hand – über die Wunde, die ich mir selbst zugefügt habe, als ich dem Meeresgott meinen Eid leistete – ist ein Band gewickelt.

Ein Band aus tiefroter Seide. Das eine Ende schlingt sich um mein Handgelenk, doch das andere verliert sich im Nebel.

Ein Band, das in der Luft schwebt. Obwohl ich so etwas noch nie gesehen habe, weiß ich, worum es sich handeln muss.

Den Roten Faden des Schicksals.

Glaubt man den Geschichten meiner Großmutter, knüpft der Rote Faden des Schicksals einen Menschen an seine Bestimmung. Manche sind sogar davon überzeugt, dass er einen an die eine Person bindet, nach der sich das Herz am meisten sehnt.

Joon, der alte Romantiker, glaubt fest daran. Er sagt, von dem Moment an, als er Cheong zum ersten Mal begegnete, wusste er, dass sein Leben sich für immer verändert hatte. In der Art, wie seine Hand ihn geradezu von selbst in ihre Richtung zog, meinte er, den sanften Sog des Schicksals gespürt zu haben.

Doch in der Welt der Sterblichen ist der Rote Faden des Schicksals unsichtbar. Das leuchtende Band vor mir dagegen ist eindeutig nicht unsichtbar, was bedeutet …

… ich bin nicht länger in der Welt der Sterblichen.

Als hätte es meine Gedanken erraten, zerrt das Band plötzlich fest an mir. Jemand – oder etwas – zieht irgendwo im Nebel am anderen Ende.

Furcht will von mir Besitz ergreifen, aber mit einem trotzigen Kopfschütteln zermalme ich sie. Die anderen Bräute haben das hier ertragen, also muss ich es auch, wenn ich ein würdiger Ersatz für Shim Cheong sein will. Zwar hat mich der Drache akzeptiert, doch solange ich nicht mit dem Meeresgott gesprochen habe, werde ich nicht wissen, ob mein Dorf wirklich in Sicherheit ist.

Zumindest bin ich besser vorbereitet als die meisten, bewaffnet mit meinem Messer und den Geschichten meiner Großmutter.

Flatternd in der Luft, lockt das Band mich vorwärts. Als ich den ersten Schritt tue, beginnt es, in meiner Hand wie unter dem Funkeln von Sternen zu erstrahlen. Nachdem ich mein Messer in meiner kurzen Jacke verstaut habe, folge ich dem Faden in den weißen Nebel.

Rings um mich herum ist die Welt vollkommen still und stumm. Meine nackten Füße gleiten über glatte Bodenbretter. Als ich die Hand ausstrecke, streifen meine Finger etwas Festes – ein Geländer. Offenbar befinde ich mich auf einer Brücke. Der Pfad fällt leicht ab und geht in eine Pflasterstraße über.

Hier ist die Luft dicker, wärmer, erfüllt von einem Aroma, bei dem mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Aus dem Nebel ragt eine Reihe von Karren. In dem, der mir am nächsten steht, türmen sich Bambusdämpfer, randvoll mit Teigtaschen. In einem anderen entdecke ich gepökelte Fische, die an ihren Schwänzen von einer Leine hängen. Ein dritter ist gefüllt mit Süßigkeiten: kandierte Walnüsse und Fladen mit Zucker und Zimt. Jeder der Wagen steht verlassen da. Von den Händlern ist nichts zu sehen. Ich kneife die Augen zusammen und versuche, in den dunkleren Umrissen etwas zu erkennen, doch jeder Schatten stellt sich nur als weiterer Karren heraus; sie bilden eine ganze Kette, die sich bis in den Nebel erstreckt.

Ich lasse die Wagenkolonne hinter mir und betrete eine lange, von Restaurants gesäumte Gasse. Aus Kochstellen steigt Rauch auf und weht durch offene Türen. Als ich in das nächstgelegene Lokal spähe, entdecke ich einen Raum mit eingedeckten Tafeln voller Essen – von kleinen Schälchen mit Gewürzen bis hin zu großen Platten, auf denen gebratenes Geflügel und Fisch serviert werden. Um die Tische herum liegen bunte Sitzkissen verstreut, als hätten es sich darauf noch vor Minuten Feiernde bequem gemacht, um ihre Mahlzeit zu genießen. Am Eingang stehen, fein ordentlich aufgereiht, Paare von Sandalen und Pantoffeln. Offenbar haben Gäste dieses Restaurant betreten, ohne wieder herauszukommen.

Ich weiche ein Stück zurück. Karren ohne Besitzer. Kochstellen ohne Köche. Schuhe ohne Menschen.

Eine Geisterstadt.

Der Hauch von leisem Gelächter streift mein Genick. Aber als ich mich abrupt umdrehe, ist da niemand. Trotzdem habe ich das Gefühl, Blicke auf mir zu spüren, verborgen und aufmerksam.

Was ist das für ein Ort? Er ist anders als in all den Geschichten, die mir meine Großmutter über die Stadt des Meeresgottes erzählt hat – ein Ort, an dem sich Geister und niedere Gottheiten treffen, um ausgelassen zu feiern. Wie ein Mantel hüllt der Nebel dieses Reich ein, dämpft Sicht wie auch Klänge. Ich überquere kurze gewölbte Brücken und durchschreite verlassene Straßen. Um mich herum ist alles farblos und trist, abgesehen von dem Band, das schmerzhaft grell den Nebel durchschneidet.

Wie haben sich wohl die anderen Bräute des Meeresgottes gefühlt, als sie in einer Welt aus Nebel erwachten, mit nichts anderem als einem Faden, der ihnen den Weg wies? So viele sind schon vor mir hierhergekommen.

Zum einen Soah mit ihren wunderschönen Augen, eingerahmt von dunklen Wimpern, die wie von einer dicken Rußschicht bedeckt zu sein schienen. Zum anderen Wol, die so groß war wie ein Mann und ausdrucksstarke, attraktive Gesichtszüge besaß – und einen Mund, der viel lachte. Außerdem Hyeri, die den Großen Fluss zweifach durchschwimmen konnte und hundert Herzen gebrochen hat, als sie fortzog, um den Meeresgott zu heiraten.

Soah. Wol. Hyeri. Mina.

Neben ihnen, diesen Mädchen, die mir immer überlebensgroß erschienen sind, klingt mein Name klein. Von weit her waren sie für ihre Hochzeit mit dem Meeresgott angereist, aus Dörfern, die der Hauptstadt näher sind – im Fall von Wol sogar aus der Hauptstadt selbst. Sie alle waren Mädchen, die es niemals in unser kleines, verschlafenes Nest verschlagen hätte, in keinem anderen Leben als in dem, das sie zu opfern gezwungen waren. Ein jedes dieser Mädchen, jede dieser jungen Frauen, war älter als ich, nämlich genau achtzehn, als sie aufbrach, um eine Braut zu werden. Sie sind über denselben Pfad gelaufen, den auch ich nun gehe. Ich frage mich, ob sie nervös waren oder Angst hatten. Oder ob die Hoffnung sie alle zum Narren gehalten hat.

Nachdem ich gefühlt Stunden gegangen bin, biege ich um eine Ecke und betrete eine breite Prachtstraße. Hier ist der Nebel lichter. Endlich kann ich sehen, wohin das Band mich führt. Es flattert über den Platz, schwebt die Stufen einer herrschaftlichen Treppe hinauf und verschwindet durch die offen stehenden Flügel eines gewaltigen rot-goldenen Tors. Mit den kunstvollen Säulen und dem vergoldeten Dach kann es sich um nichts Geringeres handeln als um den Eingang zum Palast des Meeresgottes.

Ich eile los. Das Band beginnt, zu funkeln und zu summen, als könne es spüren, dass ich mein Ziel fast erreicht habe.

Schließlich gelange ich an die Treppe, betrete die erste Stufe, dann die nächste. Doch als ich über die Schwelle des Tors schreiten will, dringt ein Laut an mein Ohr. Das leise Läuten einer Glocke, so schwach, dass ich es vermutlich nicht einmal wahrgenommen hätte, wäre die Welt nicht in diese dicke Decke aus Stille gehüllt. Das Geräusch kam von irgendwo links von mir, aus dem Labyrinth aus Straßen unterhalb der Treppe.

Mein ältester Bruder Sung findet, dass alle Windspiele gleich klingen. Aber ich glaube, ihm fehlt nur die Geduld, genau hinzuhören. Das Scheppern von Bronzekugeln gegen Muscheln hat nichts gemein mit dem Schellen von Blech und Kupferglocken. Auch der Wind spielt unterschiedlich temperamentvoll damit. Ist er wütend, erzeugen die Windspiele einen durchdringenden, schrillen Klang. Ist er dagegen glücklich, klirren sie in einem lebhaften Tanz gegeneinander.

Doch dieser Laut hat sich anders angehört. Tief. Wehmütig.

Ich steige die Treppe wieder hinab. Statt sich zu wehren, dehnt sich das Band und weht mir hinterher.

Ich höre die Stimme meiner Großmutter in meinem Ohr. In der Welt der Geister gelten Regeln, Mina. Überlege dir gut, welche du brichst. Es gibt einen Grund, weshalb diese Stadt von Nebel verhüllt ist. Warum ich sie allein mithilfe eines Schicksalsfadens durchwandern kann. Trotzdem, das Läuten des Windspiels war ganz nah, und um die Wahrheit zu sagen, glaube ich, es nicht zum ersten Mal gehört zu haben.

Das Geräusch führt mich zu der Tür eines kleinen Ladens etwas abseits der Prachtstraße. Ich schiebe den groben Vorhang beiseite, um einzutreten, und der wundersame Anblick dahinter lässt mich nach Luft schnappen. Das Geschäft ist zum Bersten gefüllt mit Hunderten und Aberhunderten von Windspielen. Sie bedecken die Wände und hängen wie Tränen von der Decke. Einige sind rund und klein, gebaut aus Muscheln, Eicheln und Blechsternen; andere wiederum erscheinen wie große Wasserfälle aus goldenen Glöckchen.

Kein Lüftchen weht in diesem Laden, der mitten im dicken weißen Nebel liegt.

Dennoch hätte ich schwören können, etwas gehört zu haben. Mein Blick wird von der gegenüberliegenden Wand angezogen, in deren Mitte sich eine Lücke auftut. In dieser ist ein einzelnes Windspiel ausgestellt. Aufgefädelt an einem dünnen Bambusfaden, hängen daran ein Stern, ein Mond und eine Kupferglocke. Eine sehr einfache Konstruktion.

Und ich erkenne sie sofort wieder.

Den Stern habe ich aus einem Stück Treibholz geschnitzt und den Mond aus einer schönen weißen Muschel, die ich am Strand gefunden hatte. Die Glocke habe ich einem reisenden Händler abgekauft, dem ich auf die Nerven gefallen bin, weil ich jede einzelne Glocke auf seinem Karren ausprobierte, eine nach der anderen. Meine Wahl traf ich erst, als ich den perfekten Klang gefunden hatte.

Eine ganze Woche verbrachte ich damit, dieses Windspiel zu basteln. Ich wollte es über der Wiege meiner Nichte aufhängen, damit sie den Wind hören konnte.

Doch sie wurde zu früh geboren. Wäre sie im Herbst zur Welt gekommen, hätte sie es geschafft. Aber wie jeder weiß: Alle Kinder, die während der Unwetter geboren werden, leben nie länger als bis zum ersten Atemzug.

Sung war am Boden zerstört.

Erfüllt von einer Wut, wie ich sie nie zuvor gekannt hatte, rannte ich damals mit dem Windspiel rauf zu der Steilküste vor unserem Dorf und schleuderte es in die Tiefe. Ich schaute zu, wie es nach unten stürzte und auf den Felsen zerschellte. Als ich dieses Windspiel zum letzten Mal vor mir gesehen habe, lag es in Trümmern und wurde ins Meer gespült.

Nun beginnen sämtliche Windspiele um mich herum – trotz der reglosen Luft – zu klimpern, bis in dem Laden ein heilloser Lärm herrscht.

Wenn Windspiele ohne Wind ertönen, dann sind Geister am Werk.

Mit dem hellen Getöse in den Ohren verlasse ich das Geschäft. Falls mich wirklich unsichtbare Geister beobachten, welches Bild mag ich ihnen bieten?

Ich beschleunige meinen Schritt. Die Nacht ist lang und das Band wiegt schwer auf meiner Hand. Hinter dem Tor tut sich ein prächtiger Innenhof nach dem anderen auf. Keinen davon sehe ich mir näher an. Nach dem fünften renne ich.

Sobald ich das letzte Tor durchquert habe, steige ich die steinerne Treppe hinauf und betrete den Thronsaal des Meeresgottes. Erst hier halte ich inne, um zu Atem zu kommen.

Durch Lücken in der Balkendecke sickert Mondlicht und fällt gebrochen in den großen Saal. Das trübe Zwielicht des Nebels tritt hier in den Hintergrund, doch die unheimliche Stille währt weiter. Keine Bediensteten eilen herbei, um mich zu begrüßen. Keine Wachen verstellen mir den Weg. Der Rote Faden des Schicksals kräuselt sich. Langsam verändert er die Farbe von einem leuchtenden, funkelnden Karmesin zu einem tiefen Blutrot. Er führt mich zum anderen Ende des Raums, wo auf einem Podest ein Thron steht, eingerahmt von einem gigantischen Wandgemälde. Es zeigt den Drachen, der hoch am Himmel einer Perle nachjagt.

Auf dem Thron sitzt zusammengesunken der Meeresgott, sein Gesicht überschattet von einer herrschaftlichen Krone. Er trägt wunderschöne blaue Roben, über deren Stoff gestickte silberne Drachen klettern. An seinem linken Handgelenk endet mein Band.

Ich warte auf den Funken der Erkenntnis in meiner Seele.

Der Legende nach knüpft der Rote Faden des Schicksals einen Menschen an seine Bestimmung. Manche sind sogar davon überzeugt, dass er einen an die eine Person bindet, nach der sich das Herz am meisten sehnt.

Ist der Meeresgott in irgendeiner Form an mein Schicksal geknüpft? Sehnt sich mein Herz nach ihm?

Ein stechender Schmerz durchzuckt meine Brust, aber Liebe ist es nicht.

Das Gefühl ist dunkler, heißer und unendlich mächtiger.

Ich hasse ihn.

Einen Schritt trete ich auf ihn zu. Dann noch einen. Meine Hand, an der das Band sitzt, wandert an meine Brust und greift nach dem Messer.

Wie würde die Welt ohne den Meeresgott aussehen? Würden wir weiterhin unter Stürmen leiden, die aus dem Nichts aufziehen, um unsere Boote zu versenken und unsere Felder zu ertränken? Würden wir trotzdem unsere Liebsten an Hunger und Krankheit verlieren, weil die kleineren Götter aus Furcht vor dem Zorn des Meeresgottes unsere Gebete nicht erhören können oder wollen?

»Was würde passieren, wenn ich Euch jetzt töte?«

Während die Worte durch den gewaltigen Saal hallen, wird mir bewusst, dass es die ersten sind, die ich seit meiner Ankunft im Reich des Meeresgottes ausgesprochen habe.

Und es sind Worte des Hasses. Wie eine unaufhaltsame Flut wogt meine Wut empor. »Ich könnte Euch töten und den Faden kappen, der unser Schicksal aneinanderbindet.«

Meine Worte sind kühn. Wer bin ich schon, einem Gott die Stirn zu bieten? Doch in mir wütet ein schrecklicher Schmerz, der es einfach wissen muss …

»Warum habt Ihr uns verflucht? Warum wendet Ihr Euch ab, wenn wir weinen und Euch um Hilfe bitten? Warum habt Ihr uns im Stich gelassen?« Die letzten Worte presse ich erstickt hervor.

Die Gestalt auf dem Thron antwortet nicht. Die prächtige Krone ist ihm so tief in die Stirn gerutscht, dass ihr Schatten seine Augen verdeckt.

Mit wenigen letzten Schritten habe ich das Podest erreicht. Ich strecke die Hand aus und nehme dem Meeresgott die Krone vom Kopf, bevor sie mir aus den Fingern gleitet, um mit einem dumpfen Schlag auf dem seidenen Teppich zu landen.

Dann hebe ich den Blick, um dem Gott aller Götter ins Gesicht zu sehen.

Der Meeresgott ist …

… ein Junge. Nicht älter als ich selbst.

Seine Haut ist glatt, ohne jeden Makel. Sein Haar fällt ihm in die Stirn, lockt sich um zarte Ohren, von denen eines mit einem goldenen Dorn durchstochen ist. Ungewöhnlich lang fallen seine Wimpern auf seine Wangen, dunkel und beschlagen von Nebeltau. Ich beobachte, wie sein Mund sich sacht öffnet und er leise seufzend ausatmet.

Er … schläft.

Die Hand am Griff meines Messers verkrampft sich. Was ich erwartet habe, kann ich selbst nicht sagen, jedenfalls nicht ihn, einen Jungen, der so … menschlich wirkt, dass er ein Nachbar oder Freund sein könnte. Eine Träne rinnt ihm übers Gesicht und bleibt an seiner Lippe hängen, ehe sie über sein Kinn rollt und an seinem Hals entlanggleitet.

»Warum weint Ihr?«, knurre ich. »Glaubt Ihr, Eure Tränen werden mich umstimmen?«

Ich fühle, wie mein Wille bröckelt. Ich bin nicht wie Joon, der ein weiches Herz hat. Ich kann trotzig und grausam sein. Grimmig und nachtragend. Und all das will ich jetzt sein, damit ich den Mut nicht verliere. Damit ich meine Wut nicht verliere. Habe ich nicht das Recht, wütend zu sein, nach all dem, was er meinem Dorf, meiner Familie angetan hat?

Doch der Ausdruck auf dem Gesicht des Meeresgottes gleicht dem von Shim Cheong auf dem Boot. So viel Einsamkeit liegt darin und eine tiefe, unerträgliche Traurigkeit.

Ein verräterischer Gedanke zuckt mir durch den Kopf und ich frage mich …

Seid Ihr es, der die Welt zum Weinen bringt, oder ist es die Welt, die Euch die Tränen in die Augen treibt?

Meine Knie werden weich und ich sinke zu Boden.

In einer einzigen Nacht ist so viel geschehen, angefangen damit, dass ich Joons Verschwinden bemerkt habe und ihm im Regen hinterhergejagt bin, bis hin zu meinem Sprung in die Wellen. Inzwischen wird Joon mit Cheong ins Dorf zurückgekehrt sein und unserer Familie berichtet haben, was ich getan habe. Ich weiß, meine Schwägerin wird weinen, und mir blutet das Herz, weil ich ihr noch mehr Leid zugefügt habe. Mein ältester Bruder wird das Meer nach mir absuchen, weil er es nicht erträgt, dass er mich nicht länger beschützen kann. Was meine Großmutter betrifft – sie wird darauf vertrauen, dass ich die Welt der Geister erreicht habe und just in diesem Moment auf dem Weg bin, dem Meeresgott gegenüberzutreten.

»Und was tut die Braut des Meeresgottes, wenn sie ihn erst gefunden hat?« Ich stand mit meiner Großmutter in dem kleinen Tempel am Meer. Es war die erste Nacht der Stürme und der Regen prasselte auf die Lehmziegel des Dachs.

»Sie offenbart ihm ihr Herz.«

Ich runzelte die Stirn. »Und wie macht sie das?«

»Wenn du dem Meeresgott dein Herz offenbaren würdest, wie sähe es aus?«

Mein Blick fiel auf die seltsame Ansammlung von Dingen, die man auf dem Schrein zurückgelassen hatte, Opfergaben der Kinder aus dem Dorf: eine Muschel, ein Windröschen, ein eigenartig geformter Stein.

Ich griff nach der Schwanzfeder einer Elster.

»Die meisten Bräute bringen dem Meeresgott keine Geschenke mit«, schalt meine Großmutter. »Nutze deine Stimme.«

»Aber ich habe nichts zu sagen! Beendet die Stürme. Beschützt meine Familie. Behütet uns alle. Nichts von alldem hat er getan.« Heiße Tränen sammelten sich in meinen Augenwinkeln.

Meine Großmutter klopfte auffordernd auf die Schilfmatte und ich ließ mich neben ihr auf die Knie sinken. Behutsam umfasste sie meine Hände. »Du erinnerst mich so sehr an mich selbst, als ich in deinem Alter war. Nachdem ich viel verloren hatte, waren Trauer und Verzweiflung fest in meinem Herzen verwurzelt. Damals hat mich meine Großmutter zu genau diesem Schrein gebracht. Sie war dir sehr ähnlich, genauso unglaublich leidenschaftlich, und sie opferte sich auf für die, die sie liebte.«

Nicht zum ersten Mal verglich mich meine Großmutter mit ihrer und instinktiv griff ich nach dem Messer, das tröstend an meiner Brust lag.

»Sie war es, die mir das Lied beigebracht hat, das ich nun an dich weitergebe.«

Jetzt, im Saal des Meeresgottes, erhebe ich mich. Die Melodie, die meine Großmutter mir damals vorgesungen hat – nun singe ich sie für den Meeresgott.

Tief unten im Meer der Drache schläft.

Wovon nur mag er träumen?

Tief unten im Meer der Drache schläft.

Wann nur wird er erwachen?

Auf die Perle eines Drachen

Wird dein Wunsch gleich springen.

Auf die Perle eines Drachen

Wird dein Wunsch gleich springen.

Das Echo meiner Stimme erfüllt den Saal. Über meine Wangen rinnen Tränen, die ich mit dem Rücken meiner Faust wegwische.

In den Legenden meines Volkes heißt es, dass allein eine wahre Braut dem unersättlichen Zorn des Meeresgottes ein Ende bereiten kann. Ich mag dafür nicht auserwählt worden sein, aber ist es zu viel verlangt, dennoch hoffen zu dürfen, dass ein Mädchen wie ich – eines, das nichts außer sich selbst zu geben hat – die wahre Braut des Meeresgottes sein könnte?

Aus dem Augenwinkel erhasche ich eine kaum wahrnehmbare Bewegung. Die Finger des Meeresgottes zucken, ganz leicht nur.

Ich will nach seiner Hand fassen. Der Rote Faden des Schicksals spannt sich, als spüre er die immense Bedeutung dieses Moments, und während in mir Hoffnung aufflattert wie ein Vogel, frage ich mich, ob sich mein Leben gleich für immer verändern wird.

Eine Stimme durchschneidet die Stille. »Es reicht.«

3

Drei maskierte Gestalten haben sich in einem Halbkreis, der an die Sichel eines Mondes erinnert, vor dem Podest aufgestellt.

Der Saal ist so groß wie ein Höhlengewölbe, dennoch habe ich kein Geräusch gehört, während die Fremden näher gekommen sind. Über uns ziehen Wolken vorbei, die das Licht aussperren und einen Schleier aus Dunkelheit über den Raum legen. Die zwei Maskierten, die dem Thron am nächsten stehen, verdeckt er jedoch nicht. Im Gegensatz zur dritten Gestalt, die abseits der anderen verharrt. Das Letzte, was ich von ihr sehe, bevor die Dunkelheit sie vollends verschluckt, ist der Ansatz einer blassen Wange.

»Was haben wir denn da?« Die Person rechts von mir wirft einen Dolch in die Luft und fängt ihn wieder auf. »Eine Elster, die sich im Sturm verflogen hat? Oder ist das die nächste Braut für den Meeresgott?« Die tiefe Stimme wird von der Stoffmaske gedämpft. »Bist du eine Braut oder ein Vogel?«

Ich lecke mir über die Lippen, schmecke Salz. »Bist du ein Freund oder ein Feind?«

»Wenn ich ein Freund bin …?«

»Dann bin ich eine Braut.«

»Und wenn ich ein Feind bin …?«

»Bist du?«

»Womöglich bin ich ein Feind, der gern ein Freund wäre.« Er legt den Kopf schief und eine dunkle Locke fällt ihm ins Auge. »Und vielleicht bist du eine Elster, die gern eine Braut wäre.«

Das ist so dicht dran an der Wahrheit, dass ich das Gesicht verziehe. Die Ältesten meines Dorfs haben ein Sprichwort: Eine Elster mag davon träumen, ein Kranich zu sein, wird aber niemals einer werden.

»Verstehe«, murmelt die Gestalt links von mir. Genau wie der erste Maskierte ist auch dieser schwarz gekleidet und seine Haare reichen ihm bis über die Schultern. Seine Augen, die von einem merkwürdig hellen Braun sind, fokussieren zuerst meinen geflochtenen, halb aufgelösten Zopf, dann mein grobes Baumwollkleid. »Du wurdest gar nicht dafür ausgesucht, die Braut des Meeresgottes zu sein.« Anders als der junge Mann mit den Locken trägt er keinerlei Waffen bei sich. Stattdessen hat er – seltsamerweise – einen hölzernen Vogelkäfig an einem Seil über die Schulter geschlungen. »Die Ältesten deines Dorfs wählen die Braut immer ein Jahr vor dem Ritual aus. Sie ist stets etwas Besonderes, entweder außergewöhnlich begabt oder außergewöhnlich schön.«

»Vorzugsweise beides«, wirft der Junge mit dem Dolch ein.

»Es ist keine Ehre, die den Gewöhnlichen, Schwachen oder Leichtsinnigen zuteilwird. Also verrate mir eins, Niemandes Braut, wer hat dich ausgesucht?« Während der gelockte Mann eine Klinge als Waffe führt, schwingt der Fremde mit den kalten Augen Worte.

Zwar bin ich mit vielen Dingen gesegnet – einer liebevollen Familie, Mut und Gesundheit –, Schönheit oder ein besonderes Talent habe ich jedoch tatsächlich nicht zu bieten.

Ich kann mir gut vorstellen, wie die Ältesten vor Unglauben getobt und meinen Eigensinn verflucht haben, als Joon und Cheong zurückkehrten. Doch sie waren nicht dabei, auf dem Boot. Sie haben die beißende Gischt nicht gespürt, nicht die erstickende Angst um einen geliebten Menschen, der in Gefahr schwebte. Ich mag leichtsinnig sein. Vielleicht auch gewöhnlich. Aber schwach bin ich nicht.

»Ich habe mich selbst ausgesucht.«

Da verlagert die dritte Gestalt im Hintergrund ihr Gewicht. Weil ich mich vor ihr besonders hüte, entgeht mir die winzige Bewegung nicht. Merkwürdigerweise bemerken es auch die beiden, die mich ins Kreuzverhör genommen haben, obwohl sie mit dem Rücken zu dem Dritten stehen. Sie neigen den Kopf und warten … auf ein Zeichen? Als die Gestalt jedoch nichts sagt, entspannen sie sich wieder.

Der erste junge Mann verschränkt die Arme und klemmt den Dolch seitlich an seine Brust. »Findest du das nicht romantisch, Kirin? Eine junge, gewöhnliche Elster hofft, ihr Volk vor einem schrecklichen Drachen bewahren zu können, also willigt sie ein, ihn zu heiraten. Nach einer Weile findet sie heraus, dass er mit einem mächtigen Zauber belegt wurde – die Ursache seiner zerstörerischen Natur. Die tapfere, schlaue Elster findet einen Weg, den Fluch zu brechen, und verliebt sich dabei in den Drachen, der ihre Liebe erwidert. Am Himmel, an Land und im Meer kehrt Frieden ein. Die wohl eindrucksvollste Geschichte, die ich je gehört habe. Ich nenne sie Der Drache und die Elster.«

»Nein, Namgi«, entgegnet der Fremde mit den kalten Augen – Kirin – lang gezogen, »das finde ich nicht romantisch.«

Namgi reagiert mit einer Beleidigung und Kirin wirft ihm im Gegenzug ebenfalls etwas Unverschämtes an den Kopf. Anscheinend machen die beiden das öfter, denn ihr Austausch wird ziemlich derb.

Ich ignoriere die zwei und konzentriere mich stattdessen auf die Geschichte, die Namgi gerade erzählt hat. Meine Großmutter hat mir immer eingeschärft, Geschichten aufmerksam zuzuhören, da sich in ihnen oft Wahrheiten verbergen.

»Dann liegt es also an einem Fluch?« Namgi und Kirin unterbrechen ihren Streit und wenden sich mir zu. »Der Meeresgott hat die Menschen nicht im Stich gelassen. Er wurde mit einem Fluch belegt.«

Darüber, wie andere meinen Wert bemessen, habe ich keine Kontrolle, doch mit Geschichten und Legenden kenne ich mich aus. Geschichten und Legenden liegen mir in Blut und Atem.

Und für diese hier erkenne ich bereits ein Muster, das sich wie eine Melodie durch den Mythos zieht. Der Drache erscheint, um die Bräute des Meeresgottes sicher in dessen Reich zu führen. Dieses liegt in dichtem Nebel, aber der Rote Faden des Schicksals führt sie zum Palast.

Nur warum hat noch keine der Bräute ihre Aufgabe erfolgreich erfüllt? Es ist beinahe, als wäre die Melodie abrupt verstummt. Als hätte sich in dem Moment, in dem die Bräute ankamen, um die Geschichte zu beenden, ein Feind erhoben, der sie davon abgehalten hat.

Der Meeresgott stößt einen Schrei aus. Ich keuche auf, als sich ein unbekanntes Gefühl um mein Herz legt, wie ein Knoten, der sich stetig enger zieht. Der Rote Faden des Schicksals in meiner Hand wird heiß. Hinter mir knarrt eine Bodendiele. Ich fahre herum.

Namgi und Kirin haben sich bewegt. Ihre Körperhaltung ist unverändert, Namgi steht mit vor der Brust verschränkten Armen da und Kirin reglos mit seinem Vogelkäfig, doch sie sind mir drei Schritte näher gekommen.

Ich war vollkommen darauf konzentriert, mich dafür zu rechtfertigen, wer ich bin, eine Fremde in einer fremden Welt … Doch wer sind sie? Was für Männer tragen Masken? Solche, die wollen, dass man sich nicht an sie erinnert. Diebe.

Auftragsmörder.

»Es ist an der Zeit«, sagt Kirin zu Namgi.

Namgi löst seine verschränkten Arme, um den Dolch an seiner Seite anzuheben. »Tut mir leid, kleine Elster. Du solltest dich nicht zu sehr auf Geschichten verlassen.«

Ich halte noch immer mein Messer in der Hand. Mit der Klinge im schrägen Winkel auf die Bedrohung gerichtet nehme ich die Abwehrhaltung ein, die meine Großmutter mich gelehrt hat. »Keinen Schritt weiter.«

Noch enger zieht sich der unsichtbare Knoten um mein Herz, sodass ich vor Schmerz die Zähne zusammenbeiße. Ich kann nicht mehr klar denken. Haben sie all die Bräute vor mir umgebracht? Meine Hand zittert. Im Notfall kann ich mit einem Messer recht gut umgehen, aber ich bin keine Kriegerin. Zwei gegen eine, drei, wenn man die Gestalt bedenkt, die sich nach wie vor im Schatten verbirgt.

Kirin wendet voller Zurückweisung das Gesicht ab. »Du hättest niemals herkommen sollen, Niemandes Braut.«

Warum geschieht das? Der Meeresgott … lehnt er mich ab? Weil ich nicht Shim Cheong bin? Weil ich nicht die Braut des Meeresgottes bin? Das Ganze hat mit ihr begonnen. Joon hat sein Leben riskiert, weil er sich nicht damit abfinden konnte, sie zu verlieren. Und ich meins, weil ich mich nicht damit abfinden konnte, ihn zu verlieren. Und Shim Cheong … womit konnte sie sich nicht abfinden?

Deutlich sehe ich sie vor mir, wie sie auf dem Boot stand und sich ihrem Schicksal in der Gestalt des Drachen stellte, der sich aus dem Meer erhob. Ein Schicksal, um das sie nie gebeten hatte. Ein Schicksal, dem sie sich verweigerte.

Der jugendliche Gott wirft sich auf seinem Thron hin und her. Er schläft noch immer, seine Augen fest geschlossen. Der Rote Faden des Schicksals schlägt wie eine Peitsche um sich und versengt mich.

Mit einem verzweifelten Satz strecke ich mich nach dem Meeresgott aus. Im selben Moment ertönt hinter mir ein Ruf. Doch ich schenke ihm keine Beachtung, sondern greife nach der Hand des Meeresgottes und packe fest zu. Zwischen uns verschwindet der Rote Faden des Schicksals, bevor ich unerwartet in blendend helles Licht gezogen werde.

Ein Durcheinander an Bildern strömt auf mich ein, viel zu schnell, als dass ich einen Sinn darin erkennen könnte: eine Steilküste am Meer, eine goldene, brennende Stadt im Tal, purpurne, von Blut getränkte Roben auf der Erde, ein gigantischer Schatten.

Ich blicke auf. Vor mir steigt der Drache aus dem Himmel, in einer seiner gewaltigen Krallen eine Perle, die er trägt, als halte er den Mond.

Schon werde ich aus diesen Bildern wieder herausgerissen, während meine Hand aus der des Meeresgottes gezerrt wird. Der dritte Attentäter packt mich am Unterarm und beinahe kommt es mir so vor, als befände ich mich weiterhin in den Träumen des Meeresgottes. Denn in den dunklen Augen des Maskierten scheint sich der Drache zu spiegeln.

Im nächsten Moment lässt er mich los und tritt einen Schritt zurück. Ich bemühe mich, mir die Traumbilder einzuprägen – oder waren es Erinnerungen? Steilhänge wie diese kenne ich, sie erstrecken sich entlang der gesamten Küste. Bei der Stadt muss es sich um unsere Hauptstadt gehandelt haben. Allerdings berichten sämtliche Boten, die durch unser Dorf kommen, immer nur von den Siegen des Eroberers, nie von Krieg und Verwüstung. Und was die Roben angeht – die des Meeresgottes sind silbern und blau …

»Diese Bilder.« Kopfschüttelnd versuche ich, mich zu konzentrieren. »Es war, als würde ich sie durch die Augen des Meeresgottes sehen.«

Der Fremde überrascht mich, indem er antwortet: »Sie stammen aus seinem Albtraum. Jedes Jahr hat er denselben.«

»Dann besteht also tatsächlich eine Verbindung zwischen dem Meeresgott und der Braut. Sie hat die Macht, ihn von seinem Fluch zu erlösen.«

»Vor wenigen Minuten noch wolltest du ihn töten.«

Ich werfe dem Mann einen schneidenden Blick zu. Er und die anderen müssen bereits im Saal gewesen sein, als ich ankam, wenn sie beobachtet haben, wie ich mein Messer gegen den Gott erhob. Warum haben sie mich nicht aufgehalten? Ich glaube nicht, dass sie dem Meeresgott schaden wollen, sonst hätten sie ihn längst überwältigt, so hilflos, wie er in seinem Schlaf ist.

Wie Namgi und Kirin trägt auch der Dritte im Bunde dünne Baumwollroben, deren Blau so dunkel ist, dass es fast schwarz wirkt. Selbst die Maske kann nicht verbergen, wie jung er noch ist – glatte Haut, ein kräftiger, schlanker Körper. Er kann kaum älter als siebzehn sein.

»Habe ich nicht allen Grund, wütend zu sein?«, sage ich barsch. »Mein Volk leidet unermessliche Qualen, weil der Meeresgott uns im Stich lässt. Und weil er es tut, haben sich auch die anderen Götter von uns abgewandt.«

Ich denke an meine Großmutter, die mich immer zum Beten an den Schrein gerufen hat. Ich denke an das auf den Felsen zerschellende Windspiel, das ich für meine Nichte gebastelt hatte. Und dann steigt tief aus meinem Innern eine andere Erinnerung auf, an einen dunklen Wald und einen gewundenen Pfad.

Ich schüttle den Kopf, um die Bilder zu vertreiben. »Aber das war, bevor ich hierhergekommen bin, wo nichts ist, wie ich es erwartet hatte. Nicht einmal er