Asche - Sven Heuchert - E-Book

Asche E-Book

Sven Heuchert

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Beschreibung

"Manchmal denke ich noch an den Mann ohne Beine, aber dann ist es, als sei es gar nicht wirklich passiert. Als sei das etwas, das mir jemand anders erzählt hat, und das ich dann jemand anderem erzähle. Es ist seltsam, aber so ist es." 15 Stories in knapper, verdichteter Sprache über Verlierer und Desillusionierte, über Träumer und Vergessene. Und über Wunden, die sich nicht mehr schließen wollen.

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Seitenzahl: 206

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 Über das Buch:

"Manchmal denke ich noch an den Mann ohne Beine, aber dann ist es, als sei es gar nicht wirklich passiert. Als sei das etwas, das mir jemand anders erzählt hat, und das ich dann jemand anderem erzähle. Es ist seltsam, aber so ist es." 15 Stories in knapper, verdichteter Sprache über Verlierer und Desillusionierte, über Träumer und Vergessene. Und über Wunden, die sich nicht mehr schließen wollen.

Sven Heuchert

Asche 

Erzählungen

Edel Elements

Inhalt

Sag den Frauen, wir kommen nie wieder

Belgische Schokolade

Sonnenscheinkind

Das Herz der Samstagnacht

Bitumen

Ein paar Schritte in ihren Schuhen

Randgeschehen

Folgen des Unfalls

Die schönen Frauen aus Hangelar

Schatten an einer Stadionwand

Stadt voller Mädchen

Dinge, die man mehr und mehr verliert

Asche

Tage wie wilde Hengste

Die seltsamen Dinge, die auf See passieren

Edel Elements Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2015 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

https://www.edel.com/de/home/https://edelelements.de/https://www.facebook.com/EdelElements/�

Copyright © 2015 by Sven Heuchertwww.sven-heuchert.dewww.facebook.com/svenheuchert/twitter.com/svenheuchert Vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München

Der Titel ist im Print (ISBN 978-3945426081) beim Bernstein-Verlag erschienen. www.bernstein-verlag.de

Covergestaltung: Guter Punkt Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-215-4

Sag den Frauen, wir kommen nie wieder

„Auf uns Polenkinder!“, sagt er und gießt die Gläser voll. Wir sitzen in der Küche, in der kleinen Nische direkt neben Heizung und Tisch, hier ist es dunkel, und es riecht noch ein wenig nach Bratenfett. Die Glut unserer Zigaretten leuchtet kirschrot, ein letzter Zug, dann trinken wir, natürlich auf Ex. Der Wodka brennt in meiner Kehle, ich hatte seit Monaten keinen Schnaps mehr. Polenkind – das habe ich lange nicht mehr gehört, nicht mit diesem Unterton. Tomasz klopft mit dem Glas auf den Tisch, es macht ein dumpfes, hohles Geräusch, danach zieht er Luft durch seine Zähne und sieht mich mit leicht zusammengekniffenen Augen an. Für einen Moment herrscht Stille. „Das Viertel hat sich nicht verändert“, sagt er schließlich und zündet sich eine frische Zigarette an. Er klingt fast ein wenig stolz. Stillstand in der Johannisstraße, nur die restliche Welt redet über Fortschritt. Ich muss lächeln, ich kann nicht anders. Er klopft mir auf die Schulter – und auch das ist wie früher. „Du siehst deinem Vater immer ähnlicher“, sagt er, er bemerkt meinen Gesichtsausdruck und lacht. Ich wollte nie so aussehen wie mein Vater. Der zweite Wodka brennt nicht mehr so stark.

Die Kinder spielen im Wohnzimmer, die Frauen sitzen auf dem Balkon und rauchen; ich kann ihre Stimmen hören, bestimmt reden sie über ihre Ehemänner, ihre Versorger, über uns.

„Manchmal geht mir das Geschnatter auf den Sack“, sagt Tomasz leise, und ich sehe ihn an, aber seine Züge bleiben hart.

„Da kommste von der Maloche, und dann …“, er zuckt mit den Achseln, zieht an seiner Zigarette, schüttelt den Kopf, „da haste zwei Blagen in die Welt gesetzt, reißt dir den Arsch auf, machst und tust, und … keine Ahnung, irgendwie habe ich mir das anders vorgestellt.“

Ich nicke. „Ja, ist nicht immer einfach, oder?“, sage ich schließlich. Er beobachtet mich eine Weile durch den Dunst seiner Zigarette. Dann richtet er sich auf und fragt: „Bock auf ’ne kleine Tour?“

Ich verstehe nicht ganz, was er meint, und sehe ihn nur kopfschüttelnd an.

„Mann, komm, mal ’n bisschen was raus“, sagt er und ballt seine Hände zu Fäusten, „’ne Runde um den Block, ’n paar Bierchen beim Pitter – wie früher … “, flüstert er in mein Ohr, „und ohne dieses beschissene Gekreische. Was meinste?“ Seine Augen leuchten, und dann spüre ich die Euphorie. „Was sagen wir den Frauen?“

„Ach!“, sagt er und macht eine abfällige Handbewegung, „sag den Frauen einfach, wir kommen nie wieder!“

Und er hat Recht: Es hat sich nichts verändert. Es ist Sommer, doch man sieht und spürt die Sonne kaum, immer ist es ein wenig düster, und die Menschen, sie stehen in Hauseingängen, die Hände tief in den Taschen, den Blick verschlagen, in ihren Mündern feuchte Zigarettenstummel.

„Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen, Alter? Drei, vier Jahre?“, fragt Tomasz, er geht vor mir her, er rennt fast, ich kann kaum Schritt halten, „na, lange genug auf jeden Fall, Mann!“

Wir gehen über den Innenhof, ältere Männer stehen in Gruppen zusammen, sie tragen Sakkos aus Cord und Schnurrbärte, ihre Hände fest hinter dem Rücken verschränkt. Sie reden, und das inmitten von Glasscherben und Müll, inmitten von Resten, den Resten von irgendetwas, von Träumen vielleicht. Nein, Träume sind es nicht. Alle starren mich an. Ich bin nur auf Besuch. Dann, endlich, der Kiosk. Pitter begrüßt mich wie einen alten Freund, er umarmt mich, fragt mich nach meinem Vater, und ich bin erstaunt, dass Pitter immer noch lebt. Ich kenne ihn nur als Kettenraucher.

„Ich hab’ Durst, Pitter“, sagt Tomasz, „gib’ mal sechs Flaschen raus“, und als Pitter sechs Flaschen Bier auf die Theke stellt, schüttelt Tomasz den Kopf und lacht: „Nein, Mann, sechs für jeden!“

Wir setzen uns auf die Bank neben dem Kiosk. Tomasz nimmt das erste Bier aus der Tüte und trinkt, setzt ab und trinkt weiter, bis die Flasche leer ist.

„Hab’ ich gebraucht.“ Er rülpst laut und schüttelt den Kopf. „Ach weißte“, sagt er, „irgendwie, keine Ahnung. Nur noch Maloche, von früh bis spät, du kommst zu nichts mehr. Ich fahr’ drei Schichten, wenn ich nach hause komm’, fress’ ich was, mach’ mir ’n Bier auf und tja, meistens schlaf’ ich vor der Kiste ein.“ Er lacht trocken und macht die nächste Flasche auf. „Und bei dir?“

„So im Großen und Ganzen …“, beginne ich, doch er unterbricht mich.

„War klar – dir hat schon immer die Sonne aus dem Arsch geschienen!“, sagt er und steht auf, guckt durch die Bierflasche wie durch ein Fernrohr und schmeißt sie gegen die Wand des Kiosk. Die Scherben bleiben auf dem Asphalt liegen, sie schimmern wie Perlen. Pitter kommt aus der Bude gerannt, schreit, wir seien asoziale Schweine, und Tomasz stößt ihn weg und schreit auch. Ich schiebe mich zwischen die beiden, und für einen Moment sehe ich in Tomasz’ Augen und sehe, wie sich die Muskeln unter seinem T-Shirt anspannen, doch dann atmet er die Wut einfach aus.

„Komm, Mann, wir hauen ab, lass den Wichser doch rumbrüllen, was will der schon? Nimm nur das Bier mit, ja?“

Wir sitzen auf den Treppen an der Bahnstation, und Enge ist spürbar, Enge und Wut, direkt unter der Oberfläche. Ich kenne dieses Gefühl, ich kenne es sehr gut, und das Unerträgliche daran ist – die Wut findet hier immer Nahrung, einfach überall, die Wut ist wie eine zähe und gefräßige Ratte, sie überlebt immer. Die Maloche, die Fabrik, die Kollegen, die Familie, tagein, tagaus … zuerst nur ein Nagen, dann beständiger Schmerz, der sich seinen Weg suchen wird. Nicht heute, nicht morgen, irgendwann. Ich öffne das erste Bier und trinke langsam, der Alkohol steigt mir sofort in den Kopf – was ist aus mir geworden? Lina hat es nicht gerne, wenn ich trinke, das ist es. Sie mag mich dann nicht, ich werde ihr zu sentimental und zu laut. Ich kann sie verstehen. Sie kennt die Geschichten. Jeder Mann hat welche, und sie hat vielleicht ein paar zu viele gehört. Und schließlich bin ich Vater. Tomasz starrt auf den Boden und trinkt. Er sieht nicht den Vater in mir, nicht den Ehemann – für ihn bin ich ein Artgenosse, der seine Leiden kennt, der seine Geschichte teilt.

„Was machen deine Kinder?“, fragt er, ich leere die erste Flasche.

„Alles in Ordnung“, antworte ich.

„Ich wünscht’, wir hätt’n die verdammten Blagen nie bekommen, ganz ehrlich!“, sagt er und öffnet das nächste Bier, „die verdammte Brut frisst mir die Haare vom Kopf, und nie haste ’ne Minute Ruhe, du kannst nich’ mal in Ruhe ’n Spiel im Fernsehen sehen, nichts mehr.“

Im Grunde hat er Recht.

„Du hast es gut“, lacht Tomasz, „du lebst jetzt in diesem Vorort und mähst jedes Wochenende deinen Rasen … ach komm, guck’ nich’ so, du warst schon immer ’n schlaues Kerlchen und nich’ so ’n Idiot wie ich. Ich kann nur in der beschissenen Fabrik arbeiten, wie mein Alter und deiner auch, sieh dir meine Hände an!“ Er stellt die Bierflasche auf den Boden und zeigt mir seine Hände. Mein Vater hat solche Hände gehabt, sein Leben lang.

„Ich hab’ einfach Glück“, sage ich zu Tomasz, und er lächelt schmallippig und antwortet: „Ich hab’ den Blick von deiner Kleinen gesehen, als wir gegangen sind, chlopak, und ich sage dir: Glück haben is’ nich’ das Gleiche wie Glücklichsein!“

„Welchen Blick meinst du?“

„Du weißt, welchen Blick ich meine“, sagt er und steht auf, „und jetzt scheiß was drauf, wir wollen doch in Ruhe ’n Bierchen kippen, und nich’ schon wieder von dieser Scheiße reden, oder?“

Ich folge Tomasz, der die Tüte mit dem Bier trägt und rastlos durch die Blocks läuft. Niemand hält das lange aus, Bahn, Fabrik, Bahn, Bett, Bahn, Fabrik, Bahn, Bett – ein Mann geht ein, oder er wird verrückt. Ich habe einfach nur Glück gehabt, es ist genauso wie ich gesagt habe. Glück: Nach unserer Heirat hat Linas Vater mir einen neuen Job besorgt, und es ist ein guter Job – keine schmutzige Arbeit, ordentliche Bezahlung, es gibt sogar Zulagen, Urlaubs- und Weihnachtsgeld, und auch die Zeiten sind vernünftig. Dieser Job hat mich vor der Fabrik bewahrt, und von dem Geld, das ich mit diesem Job verdiene, konnten wir uns die neue Wohnung und das Auto überhaupt erst leisten. Tomasz bleibt vor einem Spielgerüst stehen und zeigt mit dem Finger auf zwei Mädchen, die neben dem Sandkasten auf einer Bank sitzen.

„Ach, guck mal an – die zwei Fötzchen da!“, sagt er kopfschüttelnd, „rauchen und saufen tun sie auch schon, diese kleinen Schlampen … da fällt dir nichts mehr ein!“

Er blinzelt mir zu und stößt mir in die Rippen, wie es alte Kumpel eben tun. „Komm, lass uns mal zu denen rüber, ’n bisschen Spaß haben.“

„Die sind kaum älter als deine Tochter“, sage ich, ich sage es im Scherz, „ich denke, das is’ nich’ so ’ne gute Idee.“

„Ach klar, red’ doch keine Scheiße“, antwortet er, er lacht und wischt sich den Mund ab, „die warten nur auf so was, die schauen doch die ganze Zeit schon zu uns rüber, Mann.“

Dann legt er seine Hand auf meine Schulter, beugt sich nach vorne und flüstert: „Nur ’n bisschen reden, was is’ schon dabei?“

„Das sind noch halbe Kinder“, sage ich, ich sehe sie mir genau an, sie sind nicht älter als fünfzehn. Tomasz lächelt bitter. „Ist dir der Schwanz abgefault oder was? Wir gehen rüber, trinken ’n Bier und reden was, und das is’ alles!“

Ich sehe Tomasz, sehe die Mädchen an.

„Wenn sie alt genug sind, um zu rauchen und zu saufen, sind sie alt genug, oder?“, sagt er noch und lässt mich stehen.

Tomasz setzt sich neben die Mädchen und holt seine Zigaretten aus der Hosentasche. „Wollt ihr ’ne Kippe?“

„Wir haben selber welche, danke!“, antwortet die eine, und beide kichern.

„Das sehe ich – dann lieber ’n Bier?“ Tomasz hält die Tüte hoch, man hört das Klirren der Bierflaschen.

„Nee, lass mal, wir trinken das hier“, antwortet sie und nimmt einen Schluck aus einer dieser bunt bedruckten Flaschen. Tomasz zuckt mit den Achseln. „Was treibt’n ihr so hier ganz alleine?“

Die Mädchen sehen sich an und verdrehen die Augen. „Kannst du uns nich’ einfach in Ruhe lassen?"

„Is’ ’n freies Land, ich kann mich hinsetzen, wo ich will, klar?“, sagt Tomasz und nimmt einen Schluck Bier, „ich lass mir doch von so ’ner Göre wie dir nichts verbieten, klar?“

„Is’ klar!“, sagen sie, und dann stehen sie auf und gehen. Tomasz bleibt auf der Bank sitzen, starrt ihnen hinterher und dann auf das Spielgerüst. Er trinkt sein Bier in langsamen Schlucken und schüttelt den Kopf. „Kleine Fotzen …“, sagt er, „was wissen die schon?“

„Reg dich nicht auf“, beruhige ich ihn, „die sind eben jung.“

„Jung!“, wiederholt er. „Die sind nich’ jung, das sind vorlaute Fotzen, die keine Ahnung haben, die haben keine Erziehung“, sagt er und drückt die leere Flasche in den Sand, „die reißen ihre Fressen auf, als wüssten sie genau, was Sache is’.“ Tomasz schließt die Augen. „Ich bin einfach nur müde“, sagt er, er sagt es ganz leise, ich kann ihn kaum verstehen, dann schlägt er sich mit der Faust auf die Brust und atmet aus. „Da is’ einfach nichts mehr.“ Er schlägt fester, härter, die Schläge verursachen einen dumpfen Klang in seinem Oberkörper. „Ich pisse, scheiße, arbeite, und dann? Kannst du das verstehen?“

„Ich verstehe das“, sage ich, und er lächelt und steht auf und klopft sich den Sand von den Klamotten. Seine Bewegungen sind langsam, das erste Mal an diesem Tag, und dann starrt er für einen Moment ins Nichts, ist völlig weggetreten und ich denke, jetzt ist es vorbei, jetzt gehen wir einfach wieder nach Hause, doch dann ist da wieder dieses Funkeln in seinen Augen, und dieses Mal verschwindet es nicht, dieses Mal bleibt es, und er schiebt mich aus dem Weg und sagt: „Ich greif’ mir jetzt diese Fotzen!“

„Tomasz!“, rufe ich, einmal, zweimal, lauter, „Tomasz, verdammt!“, aber es ist sinnlos. Er beginnt zu rennen, und ich versuche ihn einzuholen, aber er ist zu schnell, er war immer schneller als ich, und schließlich verliere ich ihn. Ich bleibe stehen und muss fast kotzen, so außer Atem bin ich. Ich will mir nicht vorstellen, was passieren wird. Ich verweigere mir das ganz einfach und gehe weiter, ganz langsam. Die Siedlung ein Labyrinth, verworren und eng, die betonierten Wege Serpentinen, die ins Nichts führen, und irgendwo da drin ist Tomasz, Tomasz und diese Mädchen, diese Fötzchen, die ihr Maul jetzt bestimmt nicht mehr so weit aufreißen, die bestimmt netter sind, und sei es nur ein kleines bisschen.

Ich biege um die Ecke und gehe über den Innenhof. Die alten Männer sind fort, nur der Müll ist geblieben, und alles ist noch trostloser, und dann entdecke ich Tomasz vor einem der Silos. Er zieht eines der Mädchen an den Haaren hinter sich her, sie schreit und tritt um sich, aber sie tritt nur in die Luft. Ich kann genau erkennen, wie ihre Füße mit den Wildlederstiefeln hochschnellen. Tomasz schleift sie zu einer der Treppen, die zu den Waschküchen führen, packt sie am Nacken und stößt sie vorwärts. Mich erinnert das alles an irgendetwas, aber es sind nur flüchtige Bilder, die ich in keinen Zusammenhang bringen kann. Alles passiert so schnell, ich komme kaum hinterher, kann nicht klar denken. Ich bleibe auf dem Treppenabsatz stehen.

Tomasz hält sie fest. Seine große Hand auf ihrem Mund, die andere an ihrem Hals, und in ihren Augen nichts als Angst.

„Lass sie gehen“, sage ich ganz ruhig, seine Schultern zucken, er sackt in sich zusammen, lacht und nickt.

„Ich lass sie ja gehen, klar lass ich sie gehen“, antwortet er, seine Stimme klingt verstellt, ich erkenne sie kaum wieder, sie ist seltsam hoch, fast wie die einer Frau, und dann sieht er mich an und sagt: „Aber vorher lutscht sie meinen Schwanz.“

„Tomasz“, rufe ich, und er lacht wieder, „Tomasz!“, noch einmal, und das Mädchen zieht mit einem Ruck den Kopf zur Seite und fängt sofort an zu schreien. Tomasz flucht und schlägt zu, und dann ist es ganz still. Er packt ihren Kopf, drückt ihn nach unten und öffnet mit der anderen Hand den Reißverschluss seiner Jeans. Sie fängt wieder an zu schreien, leiser diesmal, und Tomasz verpasst ihr noch ein Ding, ihr Kopf wird von der Wucht nach hinten geschleudert, und dann schiebt er ihr seinen Schwanz in den Mund.

Ich stehe auf dem Treppenabsatz und sehe dabei zu, wie er ihren Mund fickt. Die Adern an seinem Unterarm sind herausgetreten, Schweißtropfen an seiner Stirn, und er stößt zu und schreit sie an, schreit: „Na los, reiß dein Maul auf, los komm schon, na los!“, und plötzlich muss ich kotzen, ich kann es nicht aufhalten, es spritzt einfach so aus mir heraus, direkt auf mein Hemd und auf die Schuhe. Die Kotze riecht scharf, das Bier und der Wodka, und mir wird kurz schwarz vor Augen. Dann lässt Tomasz das Mädchen los, und sie taumelt nach hinten an die Wand, ihr Gesicht verschmiert mit Mascara und Blut und Sperma. Tomasz macht sich die Hose zu und spuckt auf den Boden.

„Reißt du jetzt dein Maul immer noch so auf?“, fragt er und schiebt sein Gesicht ganz nah an ihres, und sie zuckt und fängt an zu weinen. „Was machen wir jetzt mit der kleinen Schlampe?“

Ich schüttele den Kopf. „Keine Ahnung.“

Tomasz stemmt die Hände in die Hüften und schnauft durch. Sein Atem rasselt, er klingt wie ein alter Mann, denke ich, und dann zieht er das Mädchen an den Haaren hoch – sie muss so leicht sein wie eine Puppe – und schlägt ihren Kopf gegen die Wand.

„Muss ich wieder die Drecksarbeit machen?“, schreit er und sieht mich mit wirrem Blick an, „muss ich sie wieder machen, ja? Dir geht es ja nicht gut, du musst erstmal kotzen, dich auskotzen, und ich, ich muss die Drecksarbeit machen, ja!“, und dann, ihr Kopf gegen die Wand, noch einmal, Lippe und Augenbraue platzen auf, das Blut fließt und färbt ihr Gesicht rot. Tomasz lässt sie los, sie gleitet auf den Boden und bleibt regungslos liegen, und er kommt ganz langsam die Treppe herauf, Stufe für Stufe. Ich spüre seine Nähe, den Arm, der sich um meine Schulter legt, das Gewicht seines Kopfes, das Geräusch des leisen Weinens.

„Gehen wir nach Hause?“, flüstert er, und ich nicke, schließe die Augen und sage: „Ja, Tomasz, wir gehen nach Hause.“

Belgische Schokolade

Er ging an den Lastwagen vorbei, die Kabinen verlassen und dunkel. Namensschilder waren hinter die Frontscheiben geklemmt: Manni, Herbert, Hansi. Der Sprinter stand auf dem letzten Parkplatz. Im Seitenspiegel tauchte ein Gesicht auf. Durchschnittlich, aber da war auch Finsternis. Er blieb stehen und betrachtete das Gesicht einen Moment lang. Dann klopfte er gegen die Tür.

„Du bis’ der Neue?“

Er nickte.

„Issen dein Name?“

„Gary“, sagte er, er sprach es Gerri aus, mit hartem r, das am Rand des Rachens vibrierte. Nein, es war nicht sein echter Name. Er hatte in diesem Moment einfach an Gary Cooper denken müssen. Vor langer Zeit hatte er einmal einen Film mit ihm gesehen, aber eigentlich wusste er nicht, wie er ausgerechnet auf diesen Schauspieler gekommen war. Vielleicht hatte er den Film nicht einmal gut gefunden, er konnte sich nicht mehr erinnern. Sein Vater hatte immer was für Filme übrig gehabt, sie waren oft gemeinsam ins Kino gegangen, danach auf ein Kölsch ins Golden Kees. Gary. Gerri.

„Ich bin Bodo“, sagte der Mann und sah ihn abwartend an; er war jetzt Gerri. Gerri nickte und dachte: Gerri. Dann saßen sie beide nebeneinander in der Fahrerkabine. Hier roch alles neu, und Gerri kam das falsch vor. Eine alte Ausgabe des Express lag auf dem Boden, der Sportteil war aufgeschlagen. Daneben eine zerdrückte Schachtel Marlboro und ein Kaffeebecher von Gilgens – ein Stillleben des Alltäglichen.

„Zigarette?“, fragte Bodo und hielt ihm eine neue Schachtel hin. „Woher kennste Costa?“

Gerri kaute auf dem Filter.

„Von ganz früher“, sagte er und zündete sich die Zigarette an.

„Ich kenn’ ihn aus’m Knast“, sagte Bodo.

Gerri nickte und sagte: „Ja.“

„Dann kann ich mich auf dich verlassen“, sagte Bodo. Es war eine Feststellung, da war sich Gerri sicher. Costa. Bodo. Gerri. Ihm gingen diese Namen durch den Kopf. Hinter diesen Namen standen Geschichten, lange Geschichten, und oft schmutzige. Er schloss die Augen. Da war etwas Schweres in ihm, er spürte, wie es auf seinen ganzen Leib drückte.

„Auch ’n Schluck?“, fragte Bodo und hielt ihm einen Flachmann hin, aber Gerri schüttelte den Kopf. Eigentlich wollte er, nein – brauchte er einen Schluck. Er hatte lange nichts mehr getrunken, ein paar Monate jetzt schon, und er hatte nicht vor, wieder damit anzufangen. Doch wenn der Geschmack erst einmal an den Lippen klebte, konnte er für nichts mehr garantieren, dessen war er sich bewusst.

„Wir ham’ noch Zeit“, sagte Bodo und nahm einen tiefen Schluck, „die laufen uns nich’ weg.“

Gerri sah ihn an. „Wie viele sind es?“

Bodo schraubte den Flachmann zu und steckte ihn in die Innentasche seiner Jacke. „Nie mehr als zehn“, sagte er, „was hat Costa dir sonst noch gesagt?“

„Nicht viel“, sagte Gerri, „wirklich nicht viel.“

Bodo nickte. „Brauchst auch nich’ viel zu wissen, das Wichtigste is’ sowieso die Schokolade.“

„Die Schokolade?“

Bodo lächelte. „Haste Frau und Kind?“

Gerri schwieg.

„Bring denen Schokolade mit“, sagte Bodo und schnippte die Zigarette aus dem geöffneten Seitenfenster, „belgische Schokolade is’ die beste, ich sag’s dir.“

Gerri sah ihn an: „Belgische Schokolade.“

„Ganz genau“, sagte Bodo, und dann startete er den Motor.

Sie fuhren stadtauswärts. Die Straßen füllten sich langsam mit Leben. Die Ampeln waren durchgehend grün, sie mussten nicht einmal anhalten. Gerri sah aus dem Fenster. Er kannte die Gegend. Er hatte eine Weile in einem ramponierten Altbau an der Mülheimer Freiheit gewohnt – damals noch die Gegend der Künstler, der Boheme. Eine gute Zeit. Man lebte in den Tag hinein, ein paar Geschäfte hier und da, nichts Großes, nichts Gefährliches. Da waren noch ein paar Erinnerungen übrig: Jiri Kubitza, der verrückte Maler, Zero Kraus mit seinen traurigen Liedern, die blaue Lola. Als sie die Zoobrücke hinter sich gelassen hatten, fragte er ihn.

„Wo kommen die her, weißte das?“

Bodo zuckte mit den Schultern und behielt den Blick auf der Straße. „Mal so, mal so“, sagte er, „Curryfresser, Nigger, Schlitzaugen – da kannste alles bei haben.“

Dann sah er ihn an. „’ne bunte Mischung eben.“

Gerri nickte.

Bodo lachte. „Is’ doch auch scheißegal, oder? Hast’ sowieso nix mit denen zu tun, die holste ab, schmeißt die in der Süd raus, und jut is’.“

Gerri wartete darauf, aber Bodo sagte es nicht. Bodo sagte nichts mehr. Ganz einfach. Das waren Costas Worte gewesen: Ganz einfach. Nur zwei Worte, und sie klangen ehrlich: Es war einfach, da gab es nichts.

„Na, kannste dich noch erinnern?“, fragte Bodo und zeigte auf das Ausfahrtsschild. Gerri las den Namen der Stadt, er weckte keine Erinnerungen. Bodo formte zwei Finger zu einer Pistole und steckte sie sich in den Mund.

„Ich scheiß’ auf mein Leben“, sagte er und lachte.

„Ach ja“, sagte Gerri, und dann schwiegen sie wieder. Ihm kam das entgegen, das Schweigen; er mochte Bodo nicht. Er konnte nicht einmal sagen, warum. Vielleicht, weil er ihn so leicht durchschaut hatte: die Frau, das Kind – konnte man ihm das alles ansehen? Bodo konnte. Kein gutes Zeichen, das wusste er. Not macht einen Mann leichtsinnig. Dann dachte er an sein kleines Mädchen – sie war ihm immer noch fremd, und sie hatte etwas Hinterhältiges an sich, etwas Verschlagenes. Es fiel ihm auf, wenn er sie so ansah, wie es ein Vater tun sollte.

„Wo hasten gesessen?“, fragte Bodo. Gerri sah ihn an. Bodo wirkte müde, abgekämpft, seine Finger krampften sich um das Lenkrad, die Knöchel waren schon weiß geworden.

„In Siegburg.“

Gerri räusperte sich, ihm gingen viele Dinge durch den Kopf: Kinder ab sechs Jahre zählen aus Platzgründen als Erwachsene.

„Und? Boxerbude?“

„Geht“, sagte Gerri, „aber nur Wikingerrisotto da.“

Bodo lachte. „Kenn’ ich“, sagte er, „gehste als Knochen raus.“

Gerri erinnerte sich eigentlich nur noch an den letzten Tag so richtig: Abends noch mal Umschluss, auf der Zelle mit Khaled, dem Gitterrambo. Khaled hatte er nie wieder gesehen – man hatte es sich natürlich anders versprochen. Khaled. Ein Blöff vor dem Herren. Redete ständig darüber, wie er es den geilen Hasen besorgt, wenn er erst mal wieder draußen ist. Die ersten Nächte hatte er heimlich im Bett geweint.

„Was haste an Para rausgekriegt?“, fragte Bodo.

„Um die achthundert“, sagte Gerri, „ham’ mir was abgezogen, hatte ’nen Spiegel kaputtgemacht, ganz am Anfang.“

Bodo nickte. „Die Schweine … ’n Kackspiegel.“

Gerri zuckte mit den Achseln.

„Weswegen bisse’ einjefahren?“

Gerri antwortet nicht sofort. „’n geklauter Apfel schmeckt immer besser als ’n gekaufter, oder?“, sagte er schließlich und nahm sich noch eine Zigarette. Sie schwiegen wieder, irgendwann stellte Bodo das Radio an – Popmusik und Nachrichten – und einmal, während die Fußballergebnisse durchgesagt wurden, drehte er kurz lauter. Landschaft war vorhanden, aber Gerri nahm sie nicht wahr. Die Zeit verflog. Sie hielten an einer Autobahnraststätte.

„Muss mal pissen“, sagte Bodo. Gerri stieg aus. Die Luft war kalt, er atmete tief durch.

„Noch ’ne Tass’ Kaffee? Wat meinste?“

Gerri nickte. „Ich geh’ schon mal vor“, sagte er.