Kleiner Glanz - Sven Heuchert - E-Book

Kleiner Glanz E-Book

Sven Heuchert

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Beschreibung

"Er sitzt auf der Hollywoodschaukel, die sich nicht bewegt, die stillsteht. Ich spüre das kurz geschnittene Gras unter meinen nackten Füßen. Er lächelt, als ich mich neben ihn setze. Der Plastiküberzug der Kissen drückt sich kalt gegen meinen Rücken. Ich atme den Rauch seiner Zigarette ein. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Die Glühbirne gibt ein leises Summen von sich, und irgendwo draußen in der Dunkelheit bellt ein Hund." Ein Trinker, der ziellos durch die Nacht fährt, auf der Flucht vor der Vergangenheit und dem ersten Schluck. Ein Rentner, der sein Dasein in einem Billardsalon fristet, um dort ein Spiel nach dem anderen zu verlieren. Ein junges Mädchen, das sich auf der Suche nach Liebe und Zuneigungin einer düsteren Sackgasse verirrt. Sven Heuchert erzählt verknappt und prägnant. Schlaglichter, minimalistische Charakterstudien, einfühlsame Porträts, die sich zu einem großen Ganzen​ zusammenfügen. Geschichten über Niederlagen, die niemand sieht, und über den Stolz, einfach weiterzumachen.

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verlag duotincta

Kleiner Glanz

Sven Heuchert
Sven Heuchert, geboren 1977 in der rheinländischen Provinz. 1994 dann Lehre, seitdem in Arbeit. Erste Kurzgeschichte „Zinn 40“ noch in der Schule. Mit neunzehn Umzug nach Köln. Liebe, Reisen, kleine Niederlagen, große Niederlagen. Rückkehr in die Provinz. Mehrere Veröffentlichungen bei Ullstein und Bernstein. Einen Preis.
www.sven-heuchert.de

He could not take the fear away. It was always there. Somewhere, like he had been hurt and lost a long time ago.David Adams Richards

Time, distance, sweat, and muscle only teach you what you already know, but don't want to.Robert Olmstead

Stillness, which was the god of being eleven or twelve on the edge of the town, just before someone you love calls you home and home being the god of this place, disappears.Steve Scafidi

Am Engk vun der wieße Ling

Ich bin seit ein paar Wochen raus aus der Eschenberg-Wildpark und habe gedacht, diesmal bleibe ich weg vom Saft. Aber es kriecht in mir hoch wie schlechter Atem. Vor Jahren hat mir ein stationärer 35er gesagt, er setze sich in Bewegung, wenn der Saufdruck kommt. Weglaufen vor dem ersten Schluck. Kannst ja nicht immer mit Flacker in den Pfoten rumsitzen, die Wände anstarren oder tote Fliegen zählen. Dein Gehirn schiebt dir irgendwann doch wieder die alte Floppy Disk rein – und da ist noch alles drauf, jeder süße Nektar, von dem du jemals gekostet hast.

Meine Mutter sitzt in der Küche, auf dem Tisch der Stadt-Anzeiger und eine Tasse Kaffee. Sie zuckt mit der Schulter und sagt: »Ich seh’ nur was aus dem Fenster.«

Ich nehme eine Zigarette aus ihrer Schachtel, sie raucht Peer 100. »Mach das manchmal auch, einfach so Leute beobachten«, sage ich, obwohl das nicht stimmt. In letzter Zeit starrt sie für meinen Geschmack zu oft aus dem Fenster, außerdem übertreibt sie es mit dem Melissengeist. Ich sehe die Flaschen nie, die hält sie in ihrem Schmuckschränkchen versteckt, und damit ich nicht auf Gedanken komme, schließt sie die Schlafzimmertür ab, selbst wenn sie Zigaretten unten vom Büdchen holt. In ihrem Atem, da rieche ich die Dosis, die sie jeden Morgen löffelt.

»Was möchtest du von mir?« Sie streicht sich mit der Hand über den Kopf, eine Strähne löst sich aus dem Haarknoten im Nacken.

»Nur den Wagen«, sage ich und sehe sie nicht an dabei, ich sehe woanders hin, in die Spüle, die voller gebrauchter Kaffeebecher und schmutziger Teller ist.

»Wofür brauchste den Wagen?« Sie murmelt die Worte, als sei sie unendlich müde, und dann sehe ich sie doch an.

»Was durch die Gegend fahren. Nur so.«

»Nur so?«, wiederholt sie und hebt die Augenbrauen. Da ist ein Rest Lidstrich, wie eilig weggewischt.

»Ja«, sage ich. »Bisschen auf andere Gedanken kommen. Geh’ doch kaputt, wenn ich immer nur in der Bude häng’.«

Sie atmet aus und legt ihre schmale Hand auf die Zigaretten. »Wie lange willst du noch bleiben?« Sie hält die Hand so auf der Schachtel, dass ich nur die 100 erkennen kann. Was für eine Zahl, denke ich, einhundert. Hundert Bier. Hundert Kippen. Hundert schlechte Ficks, halb besoffen auf durchgelegenen Matratzen. Hundert Tage, solange war ich im Rattenbau, belagert von Weißkitteln und Pappenschmeißern, und alle wollten was von mir, alle wollten einen Teil aus mir herausreißen, um ihn für sich zu behalten.

»’ne Woche«, sage ich, »dann wird’s schon gehen.«

Sie fährt mit dem Ellenbogen über die Tischplatte, und das Geräusch macht mir eine Gänsehaut. »Schlüssel ist im Flur, du weißt ja wo. Und hier!«, sie hebt den Zeigefinger, spricht dann leise weiter, »Du weißt, was ich meine, ne?«

»Nee, was denn?«

»Nich auf dumme Gedanken kommen, ja?« Eine weitere Haarsträhne löst sich, jetzt sieht sie wie ein Mädchen aus, ein ganz junges mit zwei lustigen Zöpfen, und wenn ich die Augen zusammenkneife und durch die Wimpern schaue, wenn ich alles wie durch Milchglas sehe, glaube ich für einen Moment tatsächlich daran. Aber die Wahrheit ist, dass ihr Haar verloren und farblos neben den Ohren hängt, wie etwas Totes.

»Könnt’ mir was beim Büdchen auf der Kaldauer holen«, sage ich und nicke Richtung Fenster. Das Büdchen ist im gleichen Block, unten an der Ecke, ich brauche fünfzig Schritte, dann stehe ich vor einem der summenden Kühlschränke. Schon wieder so eine Zahl – fünfzig. Fünfzig Schritte, ich habe sie gezählt. Fünfzig Bier. Fünfzig Mal den gleichen Song hören. Mit fünfzig Stundenkilometern vor die Wand fahren. »Brauch ich kein Auto für, is gleich hier, schon isses passiert.«

Sie öffnet die Zigarettenschachtel, tippt mit der Zeigefingerspitze einmal auf jeden Filter und klappt sie wieder zu. »Ich mein’ ja nur.«

»Bin ich mit fertig, endgültig«, sage ich. Der Kühlschrank gibt ein hohles, metallisches Klacken von sich, und das ist das Signal, dass es irgendwie weitergehen muss.

»Ach«, macht meine Mutter, sie sitzt auf einmal ganz steif da, »der Lupo hat angerufen. Wegen der Stelle bei Lüghausen.«

Ich lehne mich in den Türrahmen. »Hat er was gesagt?«

»Sollst ihn zurückrufen«, sagt sie und verzieht ihre Mundwinkel. »Und dann noch die Frau Gaspary.«

»Wer?«

»Frau Gaspary«, sie spricht den Namen langsam und deutlich aus, ich mache eine Handbewegung und sage: »Ach so, die«, als sei die ganze Sache unwichtig.

Sie räuspert sich, öffnet wieder die Zigarettenschachtel, und diesmal nimmt sie eine heraus. »Weißt du ganz genau.«

Ich sehe aus dem Fenster, draußen in der Einfahrt steht der alte Göke und kehrt Laub zusammen, ich tue so, als denke ich darüber nach, über Frau Gaspary und ihren Anruf, lasse ein paar Augenblicke verstreichen und sage dann: »Ich ruf’ zurück, wenn ich wieder da bin, ja?«

Meine Mutter zündet sich die Zigarette an. »Ja«, sagt sie, Rauch kriecht aus den Nasenlöchern, »wenn du wieder da bist«, ihre Stimme wird immer leiser, die letzten Wörter sind kaum zu verstehen. Ich gehe in den Flur, und sie bleibt sitzen, raucht, starrt weiter aus dem Fenster. Der Autoschlüssel liegt auf einer Kommode, einem altmodischen, schweren Teil, mit Schubladen und einem Fach für Schuhe. Ich rieche die Holzpolitur – da ist sie eigen, meine Mutter, einmal in der Woche werden die Oberflächen poliert, damit die Möbel auch lange halten. Sie hustet, spuckt in die Spüle und dreht den Hahn auf. Ich stecke den Schlüssel in meine Hosentasche und ziehe die Wohnungstür zu.

Im Hausflur stehen zwei Müllsäcke, einer ist offen, ganz oben liegen Knochenreste, ich höre leises Rascheln, und als ich den Sack mit den Fingern ein Stück weit aufziehe, fallen ein paar Maden auf den Fußboden. Ihre weißen, fetten Körper winden sich hin und her, wie blind sind sie, nur auf der Suche nach Fressen. Dann höre ich wieder meine Mutter, und durch die geschlossene Tür klingt ihr Husten fast wie Bellen. Wie das Bellen eines räudigen Hundes.

Das Auto steht in einer der Garagen zwischen den Genossenschaftshäusern. Es sind ein paar Meter zu gehen, ich nehme den Trampelpfad über die Wiese. Bettlaken hängen an halb verrosteten Wäschespinnen, türkische Frauen sitzen auf den Holzbänken vor den Häusern, es riecht nach Weichspüler und Scheiße – ich weiß, dass nachts die Penner kommen, weil fast alle Kellerschlösser kaputt sind und keiner sie repariert. An einer Straßenlaterne, in drei Metern Höhe, da klebt ein Aufkleber, auf dem steht: Zieht mit! Wählt Schmidt!

Die Kiste meiner Mutter ist ein Corsa, Baujahr 1992. Auch schon zwanzig Jahre alt. Knappe sechzigtausend runter. Hat sie damals einem Rentner abgekauft, der kurz danach gestorben ist. Der Corsa riecht neu, das liegt an dem Duftbaum, der vom Rückspiegel baumelt.

Der 35er, der mir den Ratschlag gegeben hat, war ein polytoxikomaner Typ namens Torben. Zweiundzwanzig Jahre alt und siebenmal chemisch gereinigt. Einmal ganz ums Absitzen gekommen, eine Reststrafe in LZT umgewandelt gekriegt. Kannte die Paragrafen, war ein richtiger Kalfaktor. Der Erste, wenn es was zu holen gab, der Erste beim Verteilen. Nie was kassiert in der Boxerbude, schön wie ’n Mädchen geblieben. Im Wildpark waren die 35er bei den Spritfressern auf Station gefürchtet, weil die sich immer zusammenrotteten und in Gruppen auf den Gängen rumstanden. Das verbreite eine bedrohliche Atmosphäre, meinten die Schluckis, selbst natürlich alles Hemdchen.

Im Schritttempo aus der Garage. Langsam, wie mit’m Trinken, so fängste auch an, Gas, Bremse, Gas und Bremse, bisschen mehr, noch was mehr, bis es richtig läuft, bis es ganz locker läuft, wie geschmiert, sag ich dir, und dann spürst du’s, wenn du einmal auf Level bist, spürst du’s, ich seh’ nach vorn, alles wird zu Schatten in den Augen, Häuser, Fabriken, Häuser, Menschen, klein, verzerrt, Sekunde, Sekunde, Sekunden, alles in einer Blende …

Hauptschule Innere Stadt, fünfte, sechste Klasse, da gab es diesen Jungen, ich habe seinen Namen vergessen, sehe ihn aber vor mir, wie er da in der letzten Reihe sitzt, der Stuhl neben ihm immer leer: Colabodenbrille, fussige Haare, aufgetragene Klamotten. Einmal nach dem Sportunterricht hat er Maden gegessen. Alle starrten auf seine dünnen Finger, wie er sie sich aus dem Mülleimer schnappte. Eins der Mädchen kotzte ins Gebüsch.

Ich selbst war immer für die Verdopplung und keiner, der sich dosiert hat, aber eigentlich denke ich nicht an Torben oder den Madenjungen, das erzähle ich nur so.

An der Stiftsgarage halte ich auf dem Seitenstreifen, steige aus und kaufe in dem Büdchen gegenüber eine Schachtel Marlboro und eine Halbliterflasche Coke light. Was ich trinke, muss eiskalt sein, sonst krieg’ ich’s nicht runter. Was Kaltes, das durch die Kehle fließt, und eine Wirkung – dass es dir in die Augen fährt, dich kitzelt, irgendwas. Ich prüfe zehn Flaschen, bevor ich eine aus dem Kühlfach nehme, der Typ hinter der Kasse guckt schon komisch.

Als ich wieder in der Kiste sitze und am Bertha-von-Suttner-Platz vorbeifahre, im Schritttempo wegen des Feierabendverkehrs, da muss ich mich konzentrieren. Ab in den nächsten Laden, die Kaschemmen liegen ja nur so vor einem, aufgereiht wie die Perlen einer Kette. Bla, Nachtrock, Doppelzentner. Rein, und einfach was an die Lippen hängen, das ist immer eine Möglichkeit, immer ein Ausweg. Direkt Vollgas, denn wenn du einmal am Ende der weißen Linie warst, geht nur das.

Gerhardt-Domagk-Straße. Früher standen hier Nutten und boten ihre heroinverseuchten Körper feil. Ich habe mal eine mit Geschwüren am Arsch gefickt, in den Büschen hinter einem der Universitätsgebäude. Danach erzählte sie mir die alte Leier, dass sie als Kind vom Pferd gefallen sei und ach ja – der Unfall, die Schmerzen, das hätte sie dann an die Pumpe gebracht.

Ich halte auf dem Parkplatz vorm REWE, schraube die Colaflasche auf und zünde mir eine Zigarette an. Im Radio läuft eine alte Nummer von den Kinks, ich drehe lauter und lehne mich im Sitz zurück. Der erste Schluck, da zieht es mir die Kehle zusammen. Ich muss an meine Mutter denken, an Torben und an Frau Gaspary. Frau Gaspary. Das letzte Mal habe ich vier Monate auf einen Therapieplatz gewartet. Nach der Entgiftung sitzt du dann da und kannst nichts mit dir anfangen. Wirst jeck im Kopf. Und irgendwann rennst du nicht mehr hin, es gleicht sich ja alles an, man redet immer dasselbe Zeug, die gleiche Scheiße, sie weiß es, und du weißt es auch. Die hat keinen Plan davon, wie das ist – auf’m Trockendock hängen, da wirst du dir selbst Ohr und Mund. Die sitzt hinterm Schreibtisch und nicht davor, das ist der große Unterschied. Die kassiert ’n Monatslohn, der ist es scheißegal, wann du wieder im Dreck landest.

»Kannst mich mitnehmen?« Ihre Stimme klingt hell und dünn. Sie ist jung, keine zwanzig. Sie trägt einen dieser Röcke, die gerade so die Zuckerfabrik bedecken. Laufmaschen in den Nylons. Stiefel mit Tape geflickt. Sie wackelt mit ihrem Arsch und lehnt sich ins offene Seitenfenster. Ich beuge mich nach vorne. Sie hat einen großen Mund, mit dieser besonderen Art Lippen – Lippen, die immer so geformt sind, als würden sie dich gleich küssen wollen.

»Mitnehmen«, wiederholt sie, sie spricht leiser und sieht dabei aus der Frontscheibe, mit einem gelangweilten Blick.

»Wohin mitnehmen?«

Sie dreht ihren Kopf und sagt: »In die Stadt natürlich.«

Ich zeige auf die Straße, den Hauptbahnhof, ich kann die Züge hören, die verzerrten Durchsagen aus den Lautsprechern. »Hier ist die Stadt.«

Sie schaut auf die Kleinwagen, die über die Kreuzung fahren. »Irgendwohin halt.« Dann reibt sie sich über den Mund, und ich starre auf ihre Fingerspitzen, wie sie das weiche Fleisch der Lippen berühren.

»Haste dir was reingezogen?«

»Nein«, sagt sie. »Nein, hab’ ich nicht.« Sie schiebt sich die Ärmel hoch und zeigt mir ihre Armbeugen.

»Ich nehme keine Drogen oder so.« Danach macht sie etwas, streicht mit dem Handrücken ihr Kinn entlang, ganz beiläufig. »Bin von zu Hause abgehauen, ja?«

»Abgehauen«, wiederhole ich. »Ist nicht meine Sache.«

Sie streckt die Hand aus, berührt das Polster des Beifahrersitzes. »Was durch die Gegend fahren.«

»An der nächsten Ampel willst du mir ’n Zwanni für französisch ohne abluchsen und quatschst mich voll, und dann werd ich dich nich mehr los, ich kenn euch doch.«

Sie schnalzt mit der Zunge und zieht ihr Top zurecht, für einen Augenblick sehe ich ihre Nippel, klein und dunkel. »Seh’ ich so aus, als würd’ ich anschaffen?«

»Kannst den Leuten nur bis vor die Stirn gucken.«

Sie atmet aus und wirft ihren Kopf in den Nacken. »Haste wenigstens ’n bisschen Geld?«

»Sehe ich so aus, als hätte ich was zu verschenken?«

»Hab seit zwei Tagen nichts gegessen«, sagt sie.

Ich hole die Coke light aus dem Seitenfach, reiche sie ihr aus dem Fenster und unsere Hände berühren sich für einen Moment. »Is ’n Anfang«, sagt sie und setzt die Flasche ab. »Haste auch ’ne Kippe?«

Ich ziehe eine Zigarette aus der Schachtel und halte sie ihr hin. »Was treibste dich hier rum?«

»Wollt was im REWE klauen. Detektive da ham’ nix drauf. Nich, dass du das Falsche denkst oder so – ich kauf’ auch immer was, also wenn ich die Kohle hab. So ist es nicht nur klauen. Ich nenn’ es klaufen.«

»Klaufen?«

»Ja, ne Mischung aus klauen und kaufen.«

»Und was haste geklauft?«

»Zu voll der Laden, und hab’ ja auch kein Geld.«

Sie öffnet die Tür und setzt sich auf den Beifahrersitz, lässt aber einen Fuß auf dem Asphalt. Sie nimmt noch eine Zigarette aus der Schachtel und klemmt sie sich hinters Ohr.

»Kannst fragen?«

»Sorry.«

»Davon kann ich mir keine neuen Kippen kaufen, von deinem Sorry.«

»Klingst wie mein Alter«, sagt sie und verdreht dabei die Augen. Vielleicht ist sie auch erst sechzehn. Sie drückt ihren Kopf gegen die Nackenstütze und richtet ihren Blick nach oben. Sie macht Kringel aus Rauch.

»Wie lange bist du unterwegs?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Paar Wochen.«

»Machste Platte?«

»Hab bei Freunden gepennt. Ging aber nich mehr klar. Wurde richtig asozial. Alle Pillen am poppen und rosa Paste, die Bude total verdreckt, so ekelhaft. Und der eine, Marco hieß der, der wollte mich die ganze Zeit flachlegen. Sagt der, er hätt’ noch nie ’ne Frau gefickt mit ’nem so schmalen Becken. Hat’s probiert, als ich kurz vorm Einpennen war. Der hat aber auch hundert Löcher im Hirn vom vielen Ballern.«

Wir schweigen eine Zeit lang. Sie schnippt die Kippe auf den Boden und lässt eine Hand auf ihren Brüsten liegen. »Die alten Säcke springen immer drauf an.« Ihre Hand gleitet weiter über den Bauch, und als sie den Rocksaum anhebt und den Stoff hochzieht, sehe ich ihre rasierte Möse, ein langer, rosa-farbener Schlitz.

Für eine Sekunde denke ich darüber nach, diese kleine Schlampe einfach durchzuficken. Gleich um die Ecke ist ein Industriegebiet, da würde es gehen, da geht es, da ist jetzt keiner mehr, alles leer, das denke ich, und dann sehe ich es vor mir, das läuft ab wie ein Film, komplett in Farbe und gestochen scharf: Wie ich sie packe, ich packe sie im Nacken, sie ist leicht, sie macht nichts, sie lässt alles mit sich machen, ich stopfe ihr Maul über meinen Schwanz, rein, tiefer rein, ihr läuft der Speichel raus, sie würgt – ich höre das, wie sie würgt, wie sie fast kotzt, die kriegt kaum Luft, ich drücke sie wieder runter, lutschen soll sie, nur lutschen, und dann ziehe ich ihr den Rock hoch bis zum Bauchnabel, sie macht die Beine breit, zeigt mir alles, ich rotze auf die Möse, diese kleine Hurenmöse, in der tausende Schwänze waren, sie alle haben dieses Loch ausgespritzt.

Dann greife ich ihren Arm, ihr Fleisch ist weich, elastisch, kühl.

»Mach, dass du rauskommst.« Ich sehe an ihr vorbei auf die Straße, auf den Beton, auf die Leerstelle zwischen den Parkplätzen, und sie legt ihre Hand auf meinen Schenkel, auf einmal ist da Wärme, es ist ihre Wärme, ich spüre sie durch den Stoff hindurch.

»Fahr’ auf den Parkplatz bei KNAUBER, da ist jetzt keiner mehr«, sagt sie, ihre Stimme klingt wie die eines Kindes, dem noch nichts passiert ist. Dann fällt mir der Name wieder ein: Klaus. Klaus hat die Maden gegessen damals. Klaus, Klaus, Klaus, und ich weiß auch, was aus ihm geworden ist: verheiratet, drei Kinder, arbeitet bei der Sparda in Augustin. Ihre Hand wandert über meinen Oberschenkel, wandert und wandert, wir haben Klaus mal ein paar Kügelchen, die wir aus dem Chemieunterricht geklaut hatten, von hinten ins T-Shirt gekippt, das war auf dem Nachhauseweg an den Bahnschienen, sie lässt die Hand auf meinem Schwanz liegen, aus den Augenwinkeln sehe ich, dass sie grinst, ihre Zähne sind klein und weiß, und die Kugeln, die waren ganz glatt, wie aus flüssigem Metall, haben mit der Haut reagiert, ich weiß gar nicht, wie ich das sagen soll, die ätzten sich durch bis auf den Knochen, Klaus lag im Krankenhaus, einen ganzen Monat, von uns hat jeder jeden verraten.

»Ich blas’ dir einen«, ihre Hand drückt fester, ihr Atem weht herüber, ich sage: »Verpiss dich«, diesmal lauter, viel lauter, für eine Sekunde ist es absolut still, da ist nichts, keine Gleisdurchsagen, kein Hupen, keine Motoren, nichts.

»Ich hab’ gesagt, du sollst dich verpissen«

Sie schüttelt den Kopf, öffnet den Mund, und jetzt sehe ich sie an, starre sie an, starre auf ihre Lippen, auf diese großen, weichen Lippen, dann hole ich aus und verpasse ihr eine; dumpfes Klatschen, ein Spritzer Blut auf ihrer Wange, »Die R9 nach Siegen heute von Gleis …« – die letzten Worte gehen in einem Rauschen unter. Ein kleiner Junge fährt mit seinem Skateboard an uns vorbei, die Kugellager tickern, klick-klick-klick, sie hat es noch immer nicht begriffen, sie wartet auf etwas. Klaus wartet auch, wir haben uns nie bei ihm entschuldigt, in all den Jahren nicht.

Im Rückspiegel sehe ich, wie sie am Straßenrand steht, eine verlassene und einsame Nutte, und dann muss ich auf einmal an Torben denken. Das letzte Mal habe ich ihn im Don-Bosco-Haus gesehen, als ich einen anderen Freund besucht habe, der grade raus war, Untersuchungshaft, Verdunkelungsgefahr. Wie lange ist das her? Vielleicht ein Jahr. Das stelle ich mir vor: Wie er tot im Bett liegt, das Gesicht ruhig, schön, die Haut ganz hell. Das Gesicht eines Toten, mit kalten Augen ohne Glanz, und ganz allmählich wird daraus mein eigenes Gesicht. Ich drehe die Musik lauter, es ist ein altes Tape, James McMurtry, Son Volt, Drive by Truckers, und alles passiert von selbst, das Lenken, das Schalten, Gas, Bremse, grüne Welle, über die Kennedybrücke, die Lichter glitzern auf dem Rhein, die 66 überholt mich links, rauscht an mir vorbei, die Wagons leer, nur ein paar Gestalten sitzen in den Vierern, mit hängenden Köpfen und hängenden Schultern. Über die 560 fahre ich zurück, James McMurtry singt etwas über Buffalo, und die Zeit beginnt sich auszudehnen.

Ich starre auf den Lichtkeil, den die Scheinwerfer auf die Straße werfen, die Mittelstreifen morsen mir ins Gehirn, simm, simm, simm, die Autobahn wird länger, länger, wie schwarzes, heißes Gummi. Dann vertraute Schemen im Halbgrau, Häuser erheben sich aus der Dunkelheit, Ampeln. Ich fahre noch ein Stück, parke an der Mundorf-Tanke und stelle den Motor ab. Das Don-Bosco-Haus liegt gegenüber, unauffällig in zweiter Reihe. Ich steige aus, gehe über die Straße, es riecht nach Benzin und Zuckerwatte. Die Luft brennt auf meiner Haut. Auf den Treppen vor dem Haus sitzen zwei Typen und rauchen, ich sehe von ihnen nur die Umrisse. Dann geht das Licht des Bewegungsmelders an, ich kneife die Augen zusammen, und die beiden lachen. Einer von ihnen hält zwei Tortenböden in den Händen. Sein Gesicht ist knallrot. Ich nicke ihm zu. »Is der Torben noch hier?«

»Torben kennt auch jeder, wa?«, sagt er und sieht zu dem anderen Typen, der vollkommen weggetreten auf den Boden starrt.

»Isser denn da?«

»Kennst doch Torbens Leibgericht.«