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Pfarrer Gabathuler staunt nicht schlecht, als er den Beamten des Krematoriums unter den Trauergästen entdeckt. Normalerweise übergibt Boris Vucotic die Urne nur und nimmt nicht am Gottesdienst teil. Aber der Mann muss mit dem Pfarrer sprechen - unter vier Augen. Er hat nämlich etwas Ungewöhnliches in der Asche der Toten gefunden! Gabathulers Neugier ist geweckt. Immerhin war er, bevor er als Quereinsteiger zur reformierten Kirche kam, zwölf Jahre lang bei der Kantonspolizei, wo er gegen Frauenhandel und Prostitution kämpfte. Als er das Pfarrhaus in seiner Gemeinde Winterthur-Ganterwald bezog, wollte er dieses Leben eigentlich hinter sich lassen. Sogar Barbara, die Gabathuler noch von der Polizei- schule kennt, ist bei ihm eingezogen - auf Probe. Doch der Polizist in ihm kommt nicht zur Ruhe, erst recht nicht, als ihm der Witwer erzählt, welche Rolle die russische Mafia beim Tod seiner Frau spielte. Um an die Hintermänner heranzukommen, bedient Gabathuler sich unkonventioneller Methoden: Er bucht kurzerhand eine ihrer Escortdamen. Doch mit diesen Gegnern ist nicht zu spaßen. Wenn er nicht aufpasst, ist auch Gabathuler dem Himmel schneller ein Stück näher, als ihm lieb ist.
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Seitenzahl: 299
Benjamin Stückelberger
Asche zu Asche
Ein Fall für Pfarrer Gabathuler
Kriminalroman
atlantis
»Schauen Sie nur – ihre Haare!«
»Die sind wunderschön!« Gabathuler wandte seinen Blick kurz zu dem Herrn, der mit zärtlichem Blick auf seine Frau schaute. Ihr schönes, toupiertes kastanienbraunes Haar ließ die große Sorgfalt erkennen, mit der sie es Tag für Tag bedachte. Der Mann liebte seine Frau, und er liebte besonders ihr schönes Haar. Es war halb neun Uhr abends, und Gabathuler war müde.
Nach den turbulenten Ereignissen in der Zeit vor Weihnachten sehnte sich Gabathuler danach, nun endlich ganz normal als Pfarrer arbeiten zu können und seine Vergangenheit als Ermittler hinter sich zu lassen. Und das neue Jahr hatte sich gut angelassen. Vor einer halben Stunde war er aus dem Konfirmandenunterricht nach Hause gekommen und hatte sich auf den Feierabend gefreut. Ein langer Arbeitstag sollte sein Ende finden. Er hatte sich ausgemalt, wie er mit Barbara im Wohnzimmer sitzen und über den zu Ende gehenden Tag plaudern würde. Anschließend würde er noch ein paar Takte fernsehen. Spiel mir das Lied vom Tod kam an diesem Abend, und ein paar seiner Lieblingsszenen sollten es schon sein. Doch dann hatte er den Anrufbeantworter blinken sehen und pflichtbewusst den Knopf gedrückt. Ein Herr mit russischem Akzent war zu hören, der ihn in umständlichen, aber eindringlichen Worten bat, so schnell wie möglich zu ihm nach Hause zu kommen. Gabathuler hatte die Adresse notiert und sich auf den Weg gemacht.
Als ihm Herr Golubew öffnete, erkannte Gabathuler dessen Gesicht sogleich, konnte sich aber zuerst nicht erinnern, wo er ihm schon einmal begegnet war. Erst als er Golubews Frau sah, fiel bei ihm der Groschen. Die gedrungene rundliche Figur der Frau und das äußerst gepflegte Haar waren ihm damals schon aufgefallen. Golubew und seine Frau hatten die vergangene Christnachtfeier besucht. Gabathuler blieb damals beim Blick in die Gemeinde immer wieder an den betont freundlichen Gesichtern der Golubews hängen. Herr Golubews Miene war jetzt deutlich ernster, weshalb Gabathuler wohl einen Moment gebraucht hatte, die Schublade in seinem Hirn zu finden, in der ihre erste Begegnung abgelegt war. Die Golubews hatten ihm auf Russisch frohe Weihnachten gewünscht, was ihm der Kirchenpfleger Tillmann Kunz hatte übersetzen müssen.
Und nun standen also er und Golubew im ehelichen Schlafzimmer und betrachteten Golubews Frau. Neben ihr saß der Arzt Dr. Rinderknecht auf der Bettkante und untersuchte sie mit achtsamen, aber routinierten Handgriffen. Frau Golubew war tot.
»Sie sagen, sie sei einfach so zusammengebrochen?«
»Ich war in Küche. Und sie wollte in Stube ein Buch holen. Da hörte ich Rumpeln. Ich ging hin, um zu sehen. Da lag sie«, antwortete Golubew in gebrochenem Deutsch. Tränen standen in seinen Augen. Gabathuler wandte seinen Blick wieder auf Frau Golubew. Eine rote Stelle, die sich über der rechten Augenbraue abzeichnete, deutete darauf hin, dass ihr Kopf ungebremst aufgeschlagen sein musste.
»Ja, die Sache scheint mir eindeutig zu sein. Herzschlag! Ihre Frau hatte ja schon länger ein schwaches Herz. Mein Beileid, Herr Golubew.« Rinderknecht stand auf und drückte dem Witwer die Hand. »Ich stelle Ihnen noch schnell den Totenschein aus. Ihre Frau hieß Ljudmila?«
Golubew nickte.
»Gut«, fuhr Doktor Rinderknecht fort. »Mit dem Totenschein müssen Sie morgen auf das Bestattungsamt. Dort wird man Ihnen das weitere Vorgehen erklären.« Auch jetzt nickte Golubew nur.
Der Arzt sah auf seine Uhr. »Zur Jass-Runde sollte ich es noch schaffen«, sagte er und fuhr an Gabathuler gewandt fort: »Wenn Menschen in Not rufen, dann stehen wir auf der Matte, nicht wahr, Herr Pfarrer?«
»So ist es«, bestätigte Gabathuler.
»Aber am Donnerstag ist Jassen angesagt. Meine Kollegen haben nun schon gegessen. Mit Jassen werden sie jedoch nicht ohne mich beginnen. Da müsste ich schon sterbenskrank sein«, sagte er. Und mit Blick auf Golubews Frau: »Oder tot.«
Gabathuler wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Er empfand Rinderknechts Äußerungen zum Jass-Abend in Gegenwart der Verstorbenen und des Witwers als pietätlos. Er konnte verstehen, dass für einen altgedienten Arzt die Feststellung eines Todes zur Routine wurde. Dennoch hätte er sich gewünscht, Rinderknecht hätte etwas mehr Rücksicht an den Tag gelegt.
»Ich müsste mich kurz an einen Tisch setzen. Darf ich dafür in Ihr Wohnzimmer?«, fragte der Arzt.
»Natürlich«, sagte Golubew abwesend. Doch dann schien er aus seiner Gedankenwelt zu erwachen und meinte schnell: »Besser Sie gehen in Küche. Ich zeige Ihnen.« Golubew ging hinaus, der Arzt folgte ihm. Gabathuler blieb bei der Toten.
Wenig später hörte er, wie sich Rinderknecht verabschiedete und die Tür ins Schloss fiel. Danach trat Golubew wieder ins Schlafzimmer. »Kommen Sie, gehen wir in Küche«, sagte der Witwer zu ihm. Dort holte Golubew zwei Schnapsgläser aus dem Schrank und goss ein. Sie stießen an. Mit einer ruckartigen Bewegung leerte Golubew sein Glas. Er schenkte sich nach und sah enttäuscht zu Gabathuler, der seine Portion deutlich ruhiger angegangen war. Schnäpse waren nicht so sein Ding, und Wodka schon gar nicht. Nach dem zweiten Glas machte auch Golubew eine Pause und sah traurig ins Leere. »Mein herzliches Beileid«, konnte Gabathuler endlich sagen.
»Ja, ist schlimm«, sagte der Witwer. »Über vierzig Jahre wir waren zusammen. Wir haben geheiratet sehr jung.«
»Warum haben Sie mich gerufen?«
»Ich möchte, dass Sie Beerdigung machen.«
»Das kann ich gerne übernehmen, nur warum ich? Sie sind doch bestimmt russisch-orthodox.«
»Na, bin ich Christ. In Russland ich war orthodox. Sicher. Aber hier?« Er zuckte mit den Schultern. »Sie haben schöne Weihnachtsfeier gemacht. Und dachte ich: Würde Ljudmila gefallen, wenn Sie machen Beerdigung.«
Gabathuler vereinbarte mit Golubew einen Termin für das Trauergespräch und die Vorbereitung der Abschiedsfeier, drückte ihm noch einmal die Hand und ging.
»Ein Glas Wein?«, fragte Barbara, als er endlich nach Hause kam.
»Liebend gern!«, antwortete Gabathuler mit einem Seufzer.
Schon bald im neuen Jahr hatten sie ins Pfarrhaus einziehen können, und Barbara hatte mit großem Geschick aus den möblierten Zimmern bewohnbare Räume gezaubert. Erstaunlich schnell hatten sich auch gewisse Rituale ergeben, die ihnen ein schönes Maß an Zweisamkeit verschafften. Eines davon war das gemeinsame Glas Wein, mit dem sie den Tag beschlossen. Irgendwann zwischen sieben und zehn Uhr abends trafen sie sich im Wohnzimmer und stießen an. Barbara, die Winzerin, verstand es, Gabathuler auf die unterschiedlichen Duftnoten der Weine, ihre Textur und ihren Abgang aufmerksam zu machen. Nach dem zweiten oder dritten Schluck jedoch gingen ihre Gespräche meist über in einen Austausch über die Ereignisse des Tages. Und an guten Abenden mündeten sie in ein gemeinsames Nachdenken und Erzählen, bei dem sie Neues über sich erfuhren. Die Geschichte mit der Ermordung Jakovlevs, eines russischen Mafiabosses, der als Asylbewerber im Pfarrhaus gewohnt hatte, und der Tod von drei weiteren dunklen Gestalten, die bei einer Explosion mitten auf dem Kirchenplatz von Winterthur-Ganterwald ums Leben gekommen waren, all diese unschönen Ereignisse rückten mehr und mehr in den Hintergrund. Barbara hatte zwar auch die Polizeischule besucht – von da kannten sich die beiden ursprünglich –, hatte dann aber den Dienst quittiert und das Weingut ihrer Eltern im Südtirol übernommen.
Bei einer Art Sabbatical, das Gabathuler vor rund sieben Jahren im Südtirol verbracht hatte, waren sich die beiden wieder begegnet und hatten einen Sommer lang eine wunderbare Romanze genossen. Vor einem knappen halben Jahr dann hatte Gabathuler sie wieder einmal besucht, oder besser gesagt: Er war bei ihr untergetaucht. Die »unschönen Ereignisse« begannen damals nämlich ihren Lauf zu nehmen. Da hielt er es für besser, eine Zeit lang nicht in Winterthur zu sein. Jedenfalls fühlte es sich bei Barbara so an, als wäre er nie weg gewesen. Seither erkundeten die beiden, ob eine feste Beziehung, eine Art von gemeinsamen Leben möglich war. Die Zeit war insofern günstig, als Barbara in den Wintermonaten auf ihrem Weingut nicht viel Arbeit hatte und darum zu Gabathuler nach Ganterwald ziehen konnte. Während Gabathuler sich nun zunehmend mit den pfarramtlichen Aufgaben von Winterthur-Ganterwald vertraut machte, hatte Barbara Zeit, sich um die Einrichtung des Hauses zu kümmern. Zudem las sie viel und erkundete in ausgedehnten Spaziergängen die Gegend.
Dennoch mussten sie in absehbarer Zeit die Frage beantworten, wie ihre gemeinsame Zukunft aussehen könnte. Denn Gabathuler, der eben erst die Ausbildung zum Pfarrer abgeschlossen und die Stelle in Winterthur-Ganterwald angetreten hatte, konnte und wollte nicht einfach alles sausen lassen und ins Südtirol ziehen. Ebenso wenig aber stand Barbara der Sinn danach, ihren erfolgreichen Weinbaubetrieb aufzugeben und definitiv bei Gabathuler einzuziehen. Was sollte sie hier arbeiten? Einfach die Frau des Pfarrers zu geben, war nicht ihr Ding. Und wieso sollte sie hier ein Weingut übernehmen, wenn sie doch im Südtirol einen gut gehenden Betrieb hatte und über ein funktionierendes Netzwerk verfügte?
»Weißt du, dass der Weinberg in der Bibel für die Geliebte steht?«, fragte Gabathuler.
»Das wusste ich nicht.«
»Wenn damals einer von seinem Weinberg zu erzählen begann, dann wussten alle: Jetzt wird’s interessant, denn jetzt erzählt er von seiner Angebeteten.«
»Ein schönes Bild«, sagte Barbara und nahm einen Schluck aus ihrem Glas.
»Ich habe kürzlich von einem Weinberg geträumt.«
»Tatsächlich?«
»Es war dein Weinberg im Südtirol, aber es war eben irgendwie auch unser gemeinsamer. Und er sah ganz anders aus als dein tatsächlicher Weinberg. Du weißt ja, wie das in Träumen ist.« Barbara nickte. »Das Besondere war«, fuhr Gabathuler fort, »dass wir gemeinsam über dem Weinberg schwebten und den Hang hinunter blickten. Wir sahen bis ins Tal. Es war wunderschön. Und eben – wir schwebten!«
»Wow! Und was meinst du, was der bedeutet?«, fragte Barbara.
»Der vorherrschende Eindruck beim Erwachen war das Gefühl des Schwebens. Das war schon sehr besonders. Und es erinnerte mich an das Bild des auferstandenen Christus vom Isenheimer Altar. Kennst du das Bild?«
»Ich glaube nicht«, antwortete Barbara.
»Diese Darstellung ist unter anderem darum so berühmt, weil man beim Betrachten des Bildes wirklich den Eindruck bekommt, dass dieser Christus schwebt. Der steht nicht in der Luft, der schwebt.«
»Und wir sind nun dieser Christus, der Erlöser der Welt?«, fragte Barbara skeptisch.
»Wir hielten uns an der Hand, und die jeweils freie Hand hatten wir tatsächlich ähnlich wie der Auferstandene im Altarbild segnend in die Höhe gehoben.«
»Jetzt komm aber mal runter! Wir sind doch nicht Christus, Roger. Auch nicht, wenn wir uns zusammentun!« Barbara war sichtlich irritiert.
»Darum geht es gar nicht«, sagte Gabathuler. »Das Entscheidende ist: Wir waren erfüllt von derselben Leichtigkeit des Auferstandenen!«
»Das geht mir zu weit. Da komme ich nicht mehr mit«, seufzte Barbara.
»Ich verstehe den Traum so, dass ich unsere gemeinsame Zeit als wunderschön erlebe und vor allem als etwas Neues, als eine Art Neuanfang oder eben Auferstehung.«
»Das Alte aber lässt sich nicht so einfach ablegen, Roger«, wandte Barbara ein.
»In gewisser Weise lässt es sich gar nie ablegen. Auch der Auferstandene im Altarbild ist ja immer noch von den Wundmalen der Kreuzigung gezeichnet.«
»Kein Ostern ohne Karfreitag, also?«
»Genau.«
»Und du meinst, wir haben unseren Karfreitag hinter uns?«, fragte Barbara skeptisch.
»Ganz offensichtlich erlebe ich das zumindest so«, meinte Gabathuler.
Nach dem Zähneputzen sah Gabathuler, dass Bettina ihm eine SMS geschickt hatte. Werner Stucki von der Polizei war hier. Hat unangenehme Fragen gestellt. Habe improvisiert. Bettina, so hatte Gabathuler in den dramatischen Wochen vor seiner Einsetzung als Pfarrer von Ganterwald herausgefunden, war seine Halbschwester. Sie hatte ihm schließlich auch dabei geholfen, die Killer der russischen Mafia auszuschalten, die es auf ihn abgesehen hatten: drei Typen, die mit ihrem Auto in die Luft gesprengt worden waren. Allerdings hatte sie nicht wirklich gewusst, welche Rolle sie bei dieser Aktion spielte. Gabathuler hatte sie bewusst in Unkenntnis gelassen. Das schien ihm damals notwendig, hatte ihm im Nachhinein aber leidgetan. Nun war Bettina offensichtlich auf Stuckis Radar aufgetaucht, und das machte ihr Angst. Das konnte Gabathuler verstehen. Ihm war es eher lästig. Ich ruf dich gleich morgen früh an, tippte er in sein Handy und ging zu Bett.
Gabathuler war ein Frühaufsteher. Er begann seinen Tag gerne mit einer ausführlichen Joggingrunde und einem anschließenden Krafttraining. Danach trank er Kaffee. Barbara dagegen genoss ihre freie Zeit und damit die Tatsache, dass sie nicht so früh aus den Federn musste. So lag sie auch an diesem Morgen noch im Bett, als Gabathuler leise und frisch geduscht die Tür des Pfarrhauses hinter sich zuzog. Eine Frau aus der Gemeinde hatte ihn gebeten, sie an diesem Morgen am Bahnhof zu treffen. Er wollte zu Fuß dorthin gehen und von unterwegs mit Bettina telefonieren. Vor dem Haus aber passte ihn Werner Stucki ab.
Der junge Polizist mit dem stets ungeordneten blonden Haarschopf hatte den Auftrag bekommen, sich die Akte Jakovlev vorzunehmen. Ursprünglich war es nur darum gegangen, Daten für die Asylbehörden aufzubereiten. Doch dann war Jakovlev einem Attentat zum Opfer gefallen, und Stucki hatte die Akten mit anderen Augen gelesen. Dabei waren ihm Unstimmigkeiten im Abschlussbericht einer missglückten Festnahme aufgefallen, weshalb er begonnen hatte, Fragen zu stellen. Als wenige Wochen später auch noch drei offensichtlich finstere Gestalten durch eine mächtige Explosion auf dem Kirchenplatz ums Leben gekommen waren, war der tüchtige Stucki definitiv auf Gabathuler aufmerksam geworden. Und Stucki war hartnäckig. Was Gabathuler grundsätzlich als positive Eigenschaft eines Ermittlers angesehen hätte, nervte ihn in diesem Zusammenhang.
Gabathuler musste sein Gespräch mit Bettina also verschieben.
»Du bist natürlich ganz zufällig hier, nicht wahr«, meinte Gabathuler leicht mürrisch zur Begrüßung und lenkte seine Schritte ganz selbstverständlich in Richtung Bahnhof.
»Zufällig ist gut«, antwortete Werner Stucki. »Ich habe mir die Handydaten von jenem Abend geben lassen.« Stucki hatte Mühe, mit der sportlichen Schrittkadenz Gabathulers mitzuhalten, ließ sich aber nichts anmerken. »Du weißt schon«, fuhr er fort, »damals, als die drei Männer vor deiner Kirche getötet wurden.«
»Und die Daten hast du erst jetzt analysiert?«
»Mein Fehler. Ich weiß. Da hätte man früher draufkommen sollen. Aber daran erkennst du, dass ich noch neu im Geschäft bin.«
Das stimmte allerdings, Werner Stucki war noch jung und erst vor Kurzem zum Ermittlerteam gestoßen. Aber er war begabt, und dass er erst jetzt auf die Idee gekommen war, sich die Handydaten von jenem Abend geben zu lassen, war in Gabathulers Augen eher die Schuld seiner Vorgesetzten. Die hätten ihn darauf hinweisen müssen.
»Wie auch immer«, fuhr Stucki fort, »ich habe gesehen, dass du an jenem Abend zum Zeitpunkt der Explosion mit Bettina Zumbühl telefoniert hast. Genauer, sie hat mit dir telefoniert.«
»Na und?«
»Worüber habt ihr denn gesprochen?«
»Nun, sie ist meine Schwester. Da werden wir wohl ein innerfamiliäres Gespräch geführt haben.«
»Abends um zehn Uhr?«
»Einen geschäftlichen Anruf hätte ich um diese Zeit nicht mehr entgegengenommen.«
»Die Daten, die wir bekommen, sagen ja auch, wo die Telefonierenden zu diesem Zeitpunkt waren.«
»Die Technik macht’s möglich.«
»Da habe ich mich gefragt: Was macht Frau Zumbühl an einem Freitagabend bei der Kirche von Ganterwald?«
»Was hat sie dir gesagt?«
»Sie sagte«, Stucki zögerte einen Moment, fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes Haar und meinte schließlich: »Sie habe dort einen Klienten vom Sozialamt getroffen, mit dem sie etwas zu besprechen hatte.«
»Ja, diese Sozialfälle sind zuweilen seltsame Gestalten!«
»Sie wollte mir den Namen des Mandanten nicht nennen.«
»Amtsgeheimnis. Das wirst du doch verstehen.«
»Frau Zumbühl muss das Auto mit den drei Männern gesehen haben. Hat sie dir etwas davon gesagt?«
»Wieso sollte sie? Es ist ja nicht verboten, dort zu parken«, meinte Gabathuler.
»Das hat sie auch gesagt«, meinte Stucki nachdenklich.
Sie waren mittlerweile am Bahnhof angekommen. »Ich muss zu einem Treffen«, sagte Gabathuler. »Hast du noch etwas Dringendes für mich?«
»Nein, das ist, glaube ich, alles für den Moment«, sagte Stucki und wandte sich zum Gehen. Auch Gabathuler war schon fast weg, als Stucki sich nochmals umdrehte und sagte: »Das heißt, eine Frage hätte ich noch …«
Genau! Der Columbo! Den habe ich schon fast vermisst, ging es Gabathuler durch den Kopf. Er drehte sich um.
»Wieso trifft sich Frau Zumbühl, die Assistentin des Vorstehers des Sozialamts der Stadt Zürich, mit einem Klienten? Das ist doch gar nicht ihre Aufgabe. Und dann noch in Winterthur?«
»Gute Frage«, gab Gabathuler zu. »Aber auch dazu kann ich wenig sagen. Das hast du bestimmt Bettina selber schon gefragt.«
»Eben nicht«, bekannte Stucki. »Ich bin wirklich noch wenig erfahren in diesem Business.« Er seufzte und trottete davon, dieses Mal endgültig.
›Alles beginnt mit einem Bahnhof‹, ging es Gabathuler durch den Kopf, als er durch die Unterführung schritt, um auf die andere Seite der Gleisanlagen zu kommen. Das war eines dieser Zitate aus Spiel mir das Lied vom Tod, die sich ihm eingebrannt hatten. Und es passte nun auch für seine erste Begegnung mit einer Frau Grether.
Ein klassisches Bahnhofsbuffet gab es schon länger nicht mehr am Winterthurer Hauptbahnhof. Das Lokal, das die Dame am Apparat gemeint haben musste, hieß Rice up. Es bot Asian Fusion an, was bedeutete, dass die Grundlage der Menüs stets Reis war. Gabathuler gefiel das Wortspiel im Namen. Denn in »Rice Up« klang auch »rise up« an. Und »to rise up« meinte nicht nur das Aufgehen der Sonne, sondern auch Auferstehung. Er schmunzelte und dachte sich: Ein guter Ort für ein Treffen mit dem Pfarrer.
»Sie werden mich schon erkennen«, hatte sie am Telefon gemeint. Und tatsächlich musste Gabathuler nicht lange suchen. Die Beschreibung, die Frau Grether ihm am Telefon gegeben hatte, war ziemlich klar. Zudem saßen nur wenig Menschen im Restaurant. Frau Grether hatte grau meliertes Haar, war ansonsten unauffällig gekleidet und trug eine Brille. Als er sich auf ihren Tisch zubewegte, erkannte auch sie ihn und winkte ihn zu sich.
»Danke, dass Sie Zeit gefunden haben«, sagte sie zur Begrüßung. »Ich nehme an, Sie werden nicht häufig zu einem Gespräch ins Bahnhofsbuffet gebeten.«
»Nun, ich bin ja noch nicht lange im Amt. Insofern ist alles neu für mich.«
»Ich muss gleich mit dem Zug nach Zürich und wollte gerne vorher noch mit Ihnen reden.«
Sie hatten also wenig Zeit. Daher fragte Gabathuler ohne Umschweife: »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich habe lange gezögert, Sie anzurufen, aber dann habe ich mir gesagt: Ich war ein Leben lang Mitglied der Kirche, da darf ich schon auch mal den Pfarrer beanspruchen.«
Gabathuler meinte nur: »Selbstverständlich«, und gab seinem Gegenüber den Ball sogleich wieder zurück.
Frau Grether schien es aber schwerzufallen, das Kind beim Namen zu nennen. Nachdem sie wegen Zeitmangels den ersten Schritt des Kennenlernens und Anwärmens überschreiten mussten, konzentrierte sich Gabathuler darauf, den Auftrag seines Gegenübers einzuholen. Daher wiederholte Gabathuler seine Frage in abgeänderter Form: »Was kann ich für Sie tun?«
»Beten Sie für mich«, platzte es nun aus ihr heraus. Das war ein klarer Auftrag.
»Das kann ich gerne machen«, antwortete Gabathuler. »Können Sie mir noch mehr dazu sagen? Was beschäftigt Sie?«
»Ich bin auf dem Weg ins Triemlispital in Zürich. Mein Arzt hat einen Verdacht und will, dass ein befreundeter Kollege sich das genauer ansieht.« Frau Grether hielt kurz inne. »Krebs«, schob sie schließlich nach. Und: »Ich habe Angst.«
»Das verstehe ich bestens«, sagte Gabathuler betroffen. Und nach einer kurzen Pause fragte er: »Können Sie mir sagen, wofür genau ich beten soll?«
»Am liebsten wäre mir natürlich, dass gar nichts ist. Oder dass alles geheilt werden kann oder so«, antwortete sie. »Vor allem aber habe ich Angst. Ich bin allein.« Dann erzählte sie, dass ihr Mann sie vor drei Jahren verlassen und sie sich seither nicht mehr zurechtgefunden habe. Ihr ganzes Beziehungsnetz sei ihr fremd geworden, denn alle Freunde seien ja auch mit ihrem Ex-Mann verbunden. »Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ich glaube schon«, antwortete Gabathuler. »Haben Sie Kinder?«
»Einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn lebt in Bern und meldet sich zu Geburtstag und Weihnachten. Mit meiner Tochter spreche ich häufiger. Ihr Mann arbeitet viel, und sie kümmert sich um die Kinder. Da stört die Großmutter nur.«
Gabathuler nickte. Die Frau tat ihm leid. Ihr Leben war auseinandergebrochen, und es schien niemanden zu geben, der ihr beim Einsammeln und Neuordnen der Einzelteile helfen konnte. »Wie geht es nun weiter?«, fragte er.
»Nun, die werden mich heute untersuchen. Irgendwann bekomme ich Bescheid, und dann werden wir sehen, wie’s weitergeht.« Sie sah Gabathuler an. »Ich bin nicht sehr gläubig. Ich habe nie gebetet. Und jetzt weiß ich nicht recht, wie das geht. Und da dachte ich mir: Für etwas hat man ja einen Pfarrer.«
Gabathuler musste schmunzeln und sagte dann: »Ich bin froh, dass Sie mich angerufen haben. Genau dafür bin ich da.«
Frau Grether atmete tief durch. »Danke.« Dann meinte sie wieder unruhiger: »Mein Zug kommt gleich. Ich melde mich, wenn ich mehr weiß.« Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke nach oben und ergriff ihre Handtasche. »Nochmals danke«, sagte sie und reichte Gabathuler die Hand. »Auf Wiedersehen, Herr Pfarrer.«
Auf dem Rückweg dachte Gabathuler über das Beten nach. Auch seine Eltern hatten irgendwann aufgehört, mit ihm am Bett zu beten. Dennoch war es für ihn stets selbstverständlich, dass man betete. Die Gottesdienstbesuche mit den Eltern mochten dazu beigetragen haben. Aber er wusste auch, dass seine Eltern beteten, ohne dass er das je mitbekommen hätte. Und das führte dazu, dass auch er ganz selbstverständlich betete. Früher stets im Bett vor dem Einschlafen. Später wurde es mehr zu einem steten, alltäglichen Gespräch mit Gott. Gabathuler beschloss, das Gebet im Konfirmandenunterricht zum Thema zu machen.
Dann kam ihm Bettina wieder in den Sinn.
»Endlich rufst du an!«, begrüßte sie ihn genervt.
»Stucki hat mich abgepasst, und danach hatte ich ein Seelsorgegespräch.«
»Du hast Nerven! Was soll ich Stucki sagen, wenn er das nächste Mal auftaucht?«
»Die Geschichte mit dem Sozialfall, den du treffen wolltest, ist nett, aber keine gute Lüge.«
»Ich bin halt nicht so gut im Vertuschen eines Verbrechens.« Bettina war ungehalten. Gabathuler verstand das und versuchte sie zu beruhigen, indem er einen sachlichen Ton anschlug. »Sag ihm das nächste Mal doch einfach, wir hätten uns verabredet, aber ich sei nicht erschienen.«
Bettina überlegte und antwortete dann: »Das ist gut. Denn es wird mir nicht schwerfallen, das mit einem gewissen Ärger rüberzubringen. Dann stimmt auch die Emotion.«
Damit hatten sie tatsächlich eine Lösung gefunden, die plausibel schien und nicht weiter überprüft werden konnte.
Die nächsten Tage hatte Gabathuler ein wenig Ruhe. Er konnte sich aufs Tagesgeschäft konzentrieren. Er machte Besuche, hielt den Sonntagsgottesdienst und nahm an den unvermeidlichen Sitzungen teil. Schließlich galt es, die Beerdigung von Ljudmila Golubew vorzubereiten.
Winterthur-Ganterwald hatte einen kleinen Friedhof, der sich ziemlich genau auf halber Strecke zwischen Pfarrhaus und Kirche befand. Gleichzeitig verfügte die Stadt Winterthur über einen großen Zentralfriedhof, den Friedhof Rosengarten. Um den zu erreichen, musste er eine halbe Stunde einrechnen. Er benutzte den öffentlichen Verkehr. Denn er schätzte es, wenn er sich im Bus mit der bevorstehenden Trauerfeier beschäftigen konnte und sich nicht aufs Fahren konzentrieren musste. Bei den Meldungen vom Bestattungsamt hatte Gabathuler daher immer genau darauf zu achten, wo denn nun die Beerdigung durchgeführt werden sollte. Zur rechten Zeit auf dem falschen Friedhof zu erscheinen, wäre ihm mehr als peinlich gewesen. Allerdings hatte er noch nicht durchschaut, wann eine Beerdigung im Rosengarten und wann sie in Ganterwald stattfand.
Ljudmila Golubew fand im Rosengarten ihre letzte Ruhestätte. Gabathuler erwartete nur einen sehr kleinen Kreis von Trauernden, denn die Golubews waren erst vor wenigen Jahren nach Winterthur gezogen. Ihre Tochter, so hatte Herr Golubew ihm beim Trauergespräch erzählt, lebte noch in Russland. Hier in Winterthur hatten sie keine Verwandten und nur wenige Bekannte. Als Gabathuler auf dem Friedhof ankam, war dann auch nur Golubew da, lose umringt von einer Handvoll Menschen, die wohl seine Nachbarn waren. Niemand sprach mit dem Witwer.
Gabathuler ging auf Golubew zu, gab ihm die Hand und wechselte ein paar Worte mit ihm. Danach entschuldigte er sich und stieg die Treppe zur Abdankungskapelle hoch. Gabathuler hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, vor einer Beerdigung der Organistin wenigstens kurz die Hand zu schütteln. »Schnauzenkontakt« nannte er diesen Brauch. Zudem konnte man bei dieser Gelegenheit noch allfällige Fragen klären.
Noch bevor er die kleine Kirche betrat, drangen schöne Orgelklänge an sein Ohr. Karin Flückiger traf er auf der Empore in einen Choral vertieft an.
»Alles in Ordnung?«, fragte Gabathuler, als sie ihr Orgelspiel beendet hatte.
»Alles bestens. Ist ja nichts Außerordentliches heute.«
»Es ist eine eher kleine Trauergemeinde. Kräftigen Gesang werden wir nicht erwarten können.«
»Also wie immer.«
»Genau.«
Gabathuler begab sich ins Pfarrzimmer, wo er den Talar anzog und seine Unterlagen bereitlegte. Anschließend ging er zurück zum Eingang des Friedhofs und stellte sich neben Golubew, der ziemlich verloren wirkte. Dann begrüßte er Ali Öztürk, den Friedhofsbeamten, der sie zum Grab begleiten und die Urne tragen würde. Gabathuler schätzte Ali sehr. Er arbeitete schon seit vielen Jahren auf dem Friedhof und verstand es, unauffällig die Führung zu übernehmen, wenn es darum ging, eine Gesellschaft zum Grab und von dort zur Kirche zu lotsen. Ebenso diskret verhielt er sich während der Feier in der Kapelle. Aufmerksam bediente er die Mikrofonanlage, und wenn es gewünscht war, setzte er zur richtigen Zeit die Musik im CD-Player in Gang. Er war da, wenn es die Situation erforderte, und schien unsichtbar, wenn man ihn nicht brauchte. Nach der Trauerfeier leerte er die Kollektentöpfe und übergab dem Pfarrer das Geld, bevor er sich für den nächsten Einsatz vorbereitete.
Heute stand ein weiterer Beamte dabei, den Ali als Boris Vukotic vorstellte. »Er ist vom Krematorium und hat die Urne geliefert«, erklärte ihm Ali. Sie kamen kurz ins Plaudern. Dabei sagte Ali zu seinem Kollegen vom Krematorium: »Roger war früher bei der Polizei.«
»Ah, ja? Wo hast du da gearbeitet?«, fragte Ali interessiert.
»Ich habe vor allem ermittelt. Frauenhandel und so.« Gabathuler hatte keine Lust, lange über seine Polizeivergangenheit zu reden. Zudem musste er sich auf die bevorstehende Trauerfeier konzentrieren. Er verabschiedete sich von Boris und begab sich mit Ali zu den Trauernden. Kurz danach setzte sich die kleine Gesellschaft Richtung Grab in Bewegung. Nach der Beisetzung der Urne wechselten sie in die Kapelle, wo noch einmal in kurzen Stationen das schöne, aber unspektakuläre Leben von Ljudmila geschildert wurde. Aufgewachsen in Sotschi, geheiratet in Sotschi. Gelebt mit Mann und Tochter in der Nähe von Sotschi. Im Vorfeld der Olympischen Winterspiele von Sotschi alle Zelte abgebrochen und mit Mann nach Westeuropa gezogen, während die Tochter in Russland blieb. In Winterthur wollten sie den Lebensabend verbringen. Im zweiten Teil der Feier legte Gabathuler Wert darauf, den Blick auf das Leben ohne Ljudmila zu lenken. Deshalb richtete er sich besonders an die anwesenden Nachbarn, Herrn Golubew doch erleben zu lassen, dass er nicht alleine sei. Dabei sah er auch immer wieder zu Herrn Golubew. Er sah dessen Trauer. Er sah seinen Gesichtszügen aber auch an, dass ihn noch eine andere Geschichte beschäftigte.
Schon damals, als er an Ljudmila Golubews Totenbett gerufen worden war, hatte Gabathuler den unbestimmten Eindruck, dass es da noch etwas anderes geben würde, das die Gedanken des Witwers beschäftigte. Als würde noch ein zweites Programm in seinem Hirn abgespielt werden. Denselben Eindruck hatte er auch jetzt, als er den Mann alleine in seiner Kirchenbank sitzen sah. Es war da etwas in seinen Augen, das ihn zu hindern schien, sich ganz seiner Trauer und der Abschiedsfeier hinzugeben. Gabathuler nahm sich vor, Golubew beim nachfolgenden Seelsorgegespräch darauf anzusprechen.
Zudem erstaunte ihn, dass während der Trauerfeier hinten in der Kirche neben Ali auch Boris Vukotic Platz genommen hatte. Das war unüblich. Denn normalerweise lieferten die Kremationsbeamten die Urne beim Friedhof ab und kehrten unmittelbar danach wieder zurück an ihren Arbeitsplatz. Überdies schien Vukotic der Feier interessiert zu folgen, während Ali das Ganze professionell, aber innerlich unbeteiligt begleitete. Warum nur war Boris geblieben?
Gabathuler stimmte das »Unser Vater« an. Die wenigen Anwesenden stimmten ein. Dann sprach er den Segen. Während des anschließenden Ausgangsspiels verließ die kleine Schar die Kapelle. Gabathuler tat es ihnen gleich und begab sich ins Pfarrzimmer, wo Vukotic bereits auf ihn wartete. Zwei Becher Kaffee standen vor ihm auf dem Tisch.
»Das war eine schöne Trauerfeier«, sagte Vukotic und schob Gabathuler einen Becher hin.
»Danke«, sagte Gabathuler mit leicht gerunzelter Stirn, legte seinen Talar ab und setzte sich zu Boris. »Das habe ich noch nie erlebt, dass ich nach einer Trauerfeier mit einem heißen Kaffee empfangen werde.«
»Gewöhn dich nicht daran. Ist eine Ausnahme heute.«
»Musst du nicht wieder ins Krematorium?«
»Die werden auch mal ohne mich auskommen«, entgegnete Boris und nahm einen Schluck.
Gabathuler tat es ihm gleich. »Und was verschafft mir die Ehre?«
»Ich wollte den neuen Pfarrer kennenlernen.«
»Und das machst du bestimmt bei jeder Pfarrperson!« Gabathuler glaubte Vukotic nicht.
Vukotic sah Gabathuler in die Augen. Dann blickte er wieder auf seinen Kaffee. »Weißt du, die Arbeit im Krematorium ist schon sehr speziell«, begann er. »Du hast es immer mit Menschen zu tun. Aber eben immer mit toten Menschen. Und manchmal sehe ich mir ihre Gesichter an und frage mich, wer das wohl war. Ich meine, die haben ein ganzes Leben gelebt und nun liegen sie da und sollen verbrannt werden. Was war bis dahin geschehen? Und wer trauert um diesen Menschen?«
»Und heute wolltest du sehen, wer um Frau Golubew trauert.«
»Ist ja nicht gerade ein alltäglicher Name!«, meinte Vukotic.
Gabathuler nickte, sagte aber nichts weiter.
»Kennst du die Golubews näher?« Vukotic kam langsam auf den Punkt.
»Ich wurde zum Totenbett gerufen und hatte später ein Trauergespräch mit Herrn Golubew.«
»Du warst an ihrem Totenbett?« Vukotic war sichtlich erstaunt.
»Das geschieht nicht mehr häufig. Aber eben doch hin und wieder.«
»Du hast die tote Frau Golubew auf ihrem Bett liegen sehen?« Vukotics Staunen war nicht weniger geworden.
»Weshalb verwundert dich das so sehr?«
»Wer war sonst noch da?«
Vukotics Art zu fragen irritierte Gabathuler. Dennoch antwortete er: »Herr Golubew und ich waren allein. Zu Beginn war noch der Hausarzt da.«
»Der Arzt war also auch da? Das ist erstaunlich!«
»Das ist überhaupt nicht erstaunlich. Einer muss schließlich den Totenschein ausstellen«, wandte Gabathuler ein. »Nun sag mir endlich, weshalb dich das so interessiert.«
»Wie gesagt«, begann Vukotic, »im Krematorium sind wir uns sehr bewusst, dass wir nicht irgendein Material verbrennen, sondern Menschen kremieren.«
»Und du hast offensichtlich die sterblichen Überreste von Frau Golubew verbrannt«, versuchte Gabathuler die Erzählung etwas zu beschleunigen.
Vukotic legte den Kopf schief und presste die Lippen aneinander. »Nicht ganz«, sagte er schließlich. »Weißt du, nach der Kremation wird die Asche sorgfältig aus dem Ofen geholt und in die Urne getan.«
»Das scheint eine gewisse Logik zu haben.« Gabathuler verstand immer noch nicht, worauf sein Gegenüber hinauswollte.
»Das war bei Frau Golubew mein Job.«
»Okay.«
»Wir machen das mit einer langen Eisenstange. Einer Art Rechen. Wir sammeln die Asche ein, die sich am Boden des Ofens angesammelt hat. Dabei finden wir natürlich manchmal auch Sachen, die nicht in die Urne gehören.«
»Wie künstliche Hüftgelenke zum Beispiel«, meinte Gabathuler, der in diesem Zusammenhang an die Geschichte einer Kollegin denken musste. Da sollte bei einer Abschiedsfeier der Inhalt der Urne irgendwo ausgeschüttet werden. Die Pfarrerin tat ihr Sprüchlein, und auf ihr Zeichen hin öffnete der Friedhofsgärtner die Urne, um sie zu leeren. Doch als er die Urne umdrehte, geschah nichts. Das hatte etwas Gespenstisches. Die Tote wollte nicht heraus! Die rationale Erklärung war ein künstliches Hüftgelenk, das die Öffnung versperrte. Das tat der Andacht natürlich einigen Abbruch. Vor allem, weil der Friedhofsgärtner das Gelenk nur mit Mühe aus der Urne bekam. Spätestens seit dieser Geschichte war Gabathuler klar, dass solche Gegenstände nicht in eine Urne gehörten.
»Wir finden aber nicht nur künstliche Gelenke aller Art«, bestätigte Vukotic. »Zuweilen verirrt sich schon auch mal ein Skalpell oder eine Operationsschere im Leib eines Verstorbenen. Nur«, sagte Vukotic gedehnt, »was ich in der Asche von Frau Golubew entdeckt habe, war auch für mich neu.«
»Nämlich?«
»Ich war dabei, die Asche aus dem Ofen zu holen. Da hörte ich einen hellen, metallischen Ton. Vorsichtig ging ich der Sache nach und fand schließlich die Ursache des feinen Geräuschs.« Vukotic machte eine Kunstpause.
»Und?«
»Du wirst nie glauben, was ich gefunden habe.«
»Nun sag schon!« Gabathuler wurde ungeduldig.
Vukotic griff in seine Jackentasche und holte einen Gegenstand hervor, der zwischen zwei Fingern Platz hatte. Er legte das kleine silbern glänzende Etwas auf den Tisch. »Das hier habe ich in der Asche von Frau Golubew gefunden.« Gabathuler erkannte den Gegenstand sogleich. Es war das nahezu makellose Projektil einer Gewehrpatrone.
Wenn man erst einmal weiß, dass man einem Betrug aufgesessen ist, dann ist es einfach, weitere Hinweise zu sehen, die einem schon vorher hätten auffallen können. So erinnerte sich Gabathuler daran, dass Golubew sowohl den Arzt als auch ihn in die Küche gebeten hatte, anstatt sich mit ihnen in die bequemere Stube zu setzen. Dort war seine Frau zusammengebrochen. Und offensichtlich waren noch nicht alle Spuren beseitigt, sodass Golubew ihn und Rinderknecht in die Küche lotste. Zudem, wie hätte Golubew den Körper seiner Frau alleine von der Stube ins Schlafzimmer und aufs Bett hieven sollen? Golubew war zwar kein gebrechlicher Mann. Aber seine Frau war, wie Golubew auch, übergewichtig. Es musste ihm jemand geholfen haben. Gabathuler ahnte nun, welches andere Programm während der Trauerfeier in Golubews Kopf abgelaufen sein musste.
Es trieb Gabathuler um, dass er nun erneut in ein Verbrechen verwickelt war. Hätte Vukotic nichts erzählt, wäre Gabathuler im Anschluss an die Trauerfeier nach Hause gegangen und hätte sich seinen pfarramtlichen und privaten Aufgaben gewidmet. Alles wäre in bester Ordnung gewesen. So aber konnte er den dunklen Mächten nicht ausweichen. Er musste hinschauen. Dass die Golubews rein zufällig seine Christnachtfeier besucht hatten, entsprach ganz offensichtlich nicht der Wahrheit. Und darum musste es auch andere Gründe geben als jene Weihnachtsfeier, die Golubew dazu bewogen hatten, ihn ans Totenbett zu rufen. Es war Golubews Glück, dass sein Hausarzt seine Frau nur oberflächlich untersucht und somit vorschnell die Todesursache festgestellt hatte. Trotzdem mussten Golubew und sein Helfer beim Abdecken der Schusswunde gute Arbeit geleistet haben. Hätte Rinderknecht auch nur die geringste Menge Blut gesehen, hätte er die Tote sehr viel sorgfältiger untersucht.
Einen Reim auf das alles konnte Gabathuler sich allerdings nicht machen. Hatte Golubew etwa seine eigene Frau erschossen? Aber weshalb hätte er das tun sollen? Der Mann hatte seine Frau zu sehr geliebt. Zugegeben, er hatte sich damals auch nicht vorstellen können, dass Jakovlevs Frau aufrichtig um ihren Gatten trauern würde.
Doch die jetzige Situation war anders gelagert. Das Projektil machte den Unterschied. Ein Schuss, der innerhalb der Wohnung auf Ljudmila Golubew abgefeuert worden wäre, hätte ihren Körper durchschlagen, und das Projektil wäre somit nicht in der Kremationsasche aufgetaucht. Erst recht nicht bei einem Gewehrschuss. Daraus folgte, dass Golubews Frau aus großer Distanz erschossen worden sein musste. Aber wieso?
Gabathuler gefiel nicht, wo das hinführte.
Nachdem Vukotic das Projektil vor ihn hingestellt hatte, war Gabathuler erst einmal sprachlos. Sein Hirn arbeitete auf Hochtouren, während Vukotic Gabathulers Reaktion auskostete und sich genüsslich in seinen Stuhl zurücklehnte. Dann stand er auf, um einen weiteren Kaffee für sie beide zu holen. Gabathulers Ermittlerinstinkt war geweckt. Deshalb fragte er Vukotic, als er mit dem Kaffee zurückkam: »Kann ich das behalten?«
»Diese Frage habe ich erwartet.«
»Es ist nur, ich denke … ich möchte dem nachgehen.«
»Schon klar, dass du damit mehr anfangen kannst als ich«, antwortete Vukotic mit ruhiger Stimme. »Ich habe mich nur gefragt, ob man damit nicht zur Polizei gehen sollte.«
»Nein!«, platzte es aus Gabathuler heraus. Vukotic zog die Brauen hoch. »Ich meine«, fügte Gabathuler schnell an, »da muss man selbstverständlich die Polizei einschalten. Aber lass mich das machen. Ich kann dafür sorgen, dass es auf direktem Weg zu den richtigen Leuten gelangt.« Gabathuler steckte das Projektil ein, und der Kremationsbeamte ließ es geschehen. »Ja«, sagte er langsam, während seine Augen mitverfolgten, wie das silberne Ding in Gabathulers Jackettasche verschwand, »du weißt bestimmt besser, wem man das übergeben muss.« Dann sah er Gabathuler wieder in die Augen. »Und in gewisser Weise habe ich es ja auch der Polizei übergeben.«
Gabathuler widersprach nicht.
»Zudem«, fuhr Vukotic fort, »liest man ja vielleicht wieder in der Zeitung darüber.«
Nun sah Gabathuler den Kremationsbeamten mit prüfendem Blick an. Wer bist du? Was willst du von mir?, schoss es ihm durch den Kopf. Und als hätte er Gabathulers Gedanken gelesen, sagte Vukotic: »Ich will nicht in ein Verbrechen verwickelt werden. Ich will aber auch nicht einfach wegschauen.«
»Mir kannst du vertrauen«, sagte Gabathuler und versuchte seine Stimme dabei besonders warm klingen zu lassen.