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Halbjährlich kommen die Pfarrer des Bezirks Winterthur zum Pfarrkapitel zusammen. Als Referent ist dieses Mal Thomas Staudinger geladen, der zu künstlicher Intelligenz forscht. Doch anstatt vorzutragen, rast Staudinger mit seinem weißen Tesla ungebremst in die Mauer der Winterthurer Zwinglikirche. Pfarrschaft und Medien fragen aufgeregt: Werden selbstfahrende Autos zu Todesfallen? Ist das die logische Konsequenz, wenn die Menschen Gott spielen wollen? Aber Roger Gabathuler erfährt: Das Auto wurde manipuliert, Staudinger eiskalt ermordet. Und während sich Gabathuler seelsorgerisch um Angela Friedrichs, Assistentin an Staudingers Institut, kümmert, meldet sich ein rätselhafter Herr Marchand: Er kennt nicht nur Friedrichs, sondern weiß auch über Staudingers Todesumstände bestens Bescheid. Außerdem scheinen sich zahlreiche Geheimdienste für diesen Marchand zu interessieren. Für den ehemaligen Kantonspolizisten Gabathuler sind Geheimdienste Neuland. Statt weiter in seine Rolle als Vater eines neugeborenen Sohns hineinzufinden, wird der Pfarrer zum Mittelsmann zwischen Wissenschaftlern und schweizerischem Nachrichtendienst.
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Seitenzahl: 314
Benjamin Stückelberger
Ein Fall für Pfarrer Gabathuler
Kriminalroman
Atlantis
»Noah Felix Wildgruber, ich taufe dich auf den Namendes Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.«
Gabathuler blickte liebevoll auf das kleine Wesen, das er sorgsam in seiner linken Armbeuge hielt. Während er diese Worte sprach, tauchte er dreimal die Finger der rechten Hand in die Schale mit dem Taufwasser, und jedes Mal zeichnete er ein Kreuz auf die Stirn des Kleinen. Danach hielt er die Hand segnend über das Kind und sagte: »So spricht Gott: Meinen Bogen stelle ich in die Wolken, der soll ein Zeichen des Bundes zwischen mir und der Erde sein. Nie wieder soll eine Sintflut kommen, um die Erde zu verderben.« Dann gab Gabathuler das Kind zurück in die Arme der Mutter.
Wie immer bei diesem urtümlichen Ritual verfolgte die Gemeinde gespannt das Tun des Pfarrers. Das Zeichen der Taufe hatte etwas Magisches. An dem neugeborenen Kind wurde ein Ritual vollzogen, in dem so vieles zusammenkam. Staunen und Hoffen, Dank und Verantwortung, die Freude am Neuanfang und das Wissen um die Grenze. Der Taufe haftete etwas Geheimnisvolles an. Sie gehörte in die Reihe jener Rituale, wie sie seit Menschengedenken in allen Kulturen begangen wurden, wenn ein neuer Mensch auf die Welt kam.
Heute waren die Männer und Frauen besonders andächtig. Denn Pfarrer Gabathuler taufte sein eigenes Kind.
Bei den Gemeindegliedern, die regelmäßig den Gottesdienst besuchten, hatte es sich längst herumgesprochen, dass der Pfarrer Vater würde. Dass Gabathuler nicht verheiratet war, versuchte man als aufgeschlossene Gemeinde selbstverständlich zu akzeptieren. Seine Partnerin Barbara Wildgruber lebte im Südtirol, wo sie einen eigenen Weinberg bewirtschaftete. Aber sie kam natürlich zu Besuch nach Winterthur-Ganterwald. Und so konnte die Gemeinde mitverfolgen, wie der Bauch von Frau Wildgruber immer runder wurde. Für die Wintermonate hatte Barbara zudem ihr Gut im Südtirol zugemacht und ihre Zelte in der Schweiz aufgeschlagen. So kam es, dass Noah Felix Ende Januar im Kantonsspital Winterthur geboren worden war.
Nun, am Sonntag nach Ostern, hatte das Paar den Kleinen zur Taufe gebracht. Als Patin hatte Gabathuler seine Halbschwester Bettina Zumbühl angefragt. Seinen besten Freund aus Polizeitagen, Frank Herzog, konnte er für das Amt des Paten gewinnen. Auf Barbaras Seite hatten ihr jüngerer Bruder Alexander und Veronika Pichler, eine Winzerfreundin aus dem Südtirol, diese Rollen übernommen.
Es lag in der Natur der Sache, dass Taufgottesdienste meist etwas besser besucht waren. Die Tauffamilien drückten die Besucherzahl nach oben und den Altersdurchschnitt nach unten. Heute schien es etwas anders gelagert zu sein. Zwar hatten auch Barbara und Gabathuler Freunde und Verwandte eingeladen. Gabathuler konnte aber sehen, dass auch die sogenannten normalen Gemeindeglieder in erhöhter Zahl gekommen waren. Und die Kirchenpflege war gut vertreten. Der neue Pfarrer brachte seinen Sohn zur Taufe. Da wollte, nein, da musste man dabei sein.
Nach dem Gottesdienst fand ein Kirchenkaffee statt. Viele nutzten die Gelegenheit, dem jungen Pfarrer und seiner Partnerin zu ihrem Sohn zu gratulieren. »Jetzt noch persönlich«, wie es immer wieder hieß. Denn bereits zur Geburt hatte Gabathuler viele Zuschriften und Geschenke aus seiner Gemeinde erhalten. Es war ein heiteres Zusammensein nach dem Gottesdienst. Auch Barbara fühlte sich sichtlich wohl. Die vielen Hände, die ihr gratulierten und ihr zumeist völlig unbekannt waren, nahm sie Mal für Mal aufrichtig dankend entgegen.
Anschließend zog die kleine Familie weiter in den Torkel. Bald nach Gabathulers Ankunft in Ganterwald hatten sich Barbara und er mit Angelika Schubert, der Inhaberin dieses exquisiten Restaurants, angefreundet. Gabathuler liebte ihre Küche, und Barbara hatte in Angelika eine Fachfrau gefunden, mit der sie sich auf Augenhöhe über Weine austauschen konnte. Und beide freuten sich an ihrer unkomplizierten Heiterkeit.
Die Gesellschaft stieß mit einem guten Glas Wein aus Barbaras Weinberg auf den neuen Erdenbürger und die junge Familie an. Angelika Schubert wäre als Freundin der beiden natürlich zum Essen im Familien- und Freundeskreis eingeladen gewesen. Aber sie hatte dankend abgelehnt. In ihrem eigenen Lokal hätte sie nicht in Ruhe am Tisch sitzen und sich den Gesprächen hingeben können. Sie ließ es sich aber nicht nehmen, jeden Gang persönlich zu servieren. So war sie wenigstens auf Distanz immer wieder Teil der Taufgesellschaft.
Die Nachricht von Barbaras Schwangerschaft hatte Gabathuler umgehauen. Die Gefühlslandschaften, die er an jenem Samstagabend und in den Tagen danach durchwandert hatte, umfassten freudige Höhen, aber auch dunkle Täler. Viel unromantischer als via Textnachricht hätte Barbara ihn über seine bevorstehende Vaterschaft nicht informieren können. Zudem erreichte ihn diese inhaltsschwere Botschaft doch ziemlich unvermittelt. Der Kurzmitteilung waren viele Wochen des Schweigens von ihrer Seite vorangegangen. Andererseits erfüllte ihn die Aussicht, Vater zu werden, mit großer Freude. Und mit Stolz. Ein Geschenk des Lebens erwartete ihn, eine herausfordernde, schöne Aufgabe. Dann wiederum musste er feststellen, dass diese Aussicht so gar nicht in ihren Lebensplan passen wollte. Denn sie hatten gar keinen Plan – ihre gemeinsame Zukunft stand bis eben noch grundsätzlich infrage. Und nun waren sie in einer Weise aneinandergebunden, dass sie sich gar nicht ausweichen konnten.
Gabathuler wartete ein paar Tage, bis er Barbara anrief. Danach telefonierten sie regelmäßig und lange. Mit der Zeit gingen sie dazu über, per Videotelefonie miteinander zu sprechen. Das war doch sehr ungewohnt für Gabathuler. Schließlich pflegte er sonst bei längeren Telefongesprächen durchs Büro oder die ganze Etage zu wandern. Er lernte es zwar zu schätzen, Barbara und ihren werdenden Bauch sehen zu können. Andererseits suggerierte das Bild eine Nähe, die so nicht existierte. Die Körpersprache war doch nur eingeschränkt lesbar. Und so konzentrierte er sich lieber auf ihre Stimme, um zu hören, was genau sie zu sagen hatte.
Nachdem sie sich für einen gemeinsamen Weg entschieden hatten, galt es für sie herauszufinden, wie denn dieser aussehen sollte. Zum einen mussten rechtliche Fragen geklärt werden. Weiter mussten sie sich überlegen, wie Gabathuler das Kind sehen und eine Beziehung zu ihm aufbauen konnte. Sie diskutierten auch die Möglichkeit, dass Barbara definitiv nach Winterthur ziehen könnte. Doch wurde schnell klar, dass dies keine wirkliche Option war. Barbara wollte ihren Weinbaubetrieb im Südtirol nicht aufgeben. Und Gabathuler sah für sich erst recht keine berufliche Zukunft auf ihrem Hof. Weiter stellte sich die Frage, inwieweit er sein Haus für ein Kleinkind einrichten musste. Mit dem werdenden Kind rückte schließlich ganz grundsätzlich die Familie ins Blickfeld, und sie stellten fest, dass Gabathuler Barbaras Eltern und Bruder noch gar nicht kannte. Die Adventszeit hatten sie dafür genutzt, Besuche zu machen. So lernte er Monika und Thomas Wildgruber beim Schein der Adventskerzen und in Gegenwart ihres noch ungeborenen Enkelkindes kennen. Auch Alexander, Barbaras jüngerer Bruder, war zugegen. Der nicht sehr gesprächige Enddreißiger lebte immer noch allein, arbeitete in der IT-Abteilung einer Schweizer Regionalbank und schien mit sich und der Welt zufrieden.
So saß nun eine schöne Runde an einem langen Tisch im Torkel und genoss das Essen, das Angelika Schubert und ihr Team vorbereitet hatten. Für Gabathuler war es eine seltsame Erfahrung. Zusammen mit Barbara und dem kleinen Noah war er so etwas wie der Mittelpunkt der Gesellschaft. Diese Rolle war ihm zwar nicht unbekannt. Aber heute saß er nicht als Chef einer Ermittlungsgruppe beim Bier in einer Beiz und auch nicht als Pfarrer an einem Sitzungstisch. Er befand sich vielmehr an einer großen Tafel mit weißen Tischtüchern, umgeben von Freunden und Verwandten, die sich nicht kannten und doch zusammengehörten. Noah verband sie alle. Er fügte sie zu einer Familie zusammen.
Gabathuler hatte eine kleine Ansprache vorbereitet. »Eines ist klar am heutigen Tag«, sagte er. »Keiner weiß, wohin die Reise geht. Am allerwenigsten der kleine Noah Felix. Wir sind froh und dankbar, dass ihr unsere Reisegefährten seid.« Dann erhob er das Glas, und wenig später wurde die Vorspeise serviert.
Es dauerte ein wenig, bis die Reisegruppe sich angewärmt hatte. Doch je länger sie aßen und tranken, desto freier wurde die Atmosphäre. Die Gespräche kamen in Gang.
Irgendwann während des Hauptgangs hielt Gabathuler inne und blickte in die Runde. Er sah, wie Barbaras Eltern gemeinsamen Boden mit Frank und dessen Frau Ursina gefunden hatten. Barbaras Vater und Kevin, der Sohn von Frank und Ursina, hatten Gefallen aneinander gefunden, während Franks Tochter Livia immer wieder zum Kinderwagen schlich und den kleinen Noah bestaunte. Bettina hatte es geschafft, dem etwas einsilbigen Alexander ein paar vollständige Sätze zu entlocken.
Das war nun also sein neues Leben. Er hatte eine Familie! Er, der als Einzelkind groß geworden war und vor einigen Jahren seine Eltern begraben hatte, feierte nun im großen Kreis die Gründung seiner eigenen Familie.
Gabathuler blickte zu Barbara. Ihr langes schwarzes Haar fiel über ihre Schultern. Ein Haarreif hielt ihr dezent geschminktes Gesicht frei. Und in ihrem Ohr steckte eine goldgefasste Perle. Sie sah wunderbar aus. Ruhiger Stolz und große Freude strahlten aus ihrem Gesicht.
Ja, so ein Anfang hat etwas Zauberhaftes, dachte Gabathuler bei sich.
Den Montag, den er als Pfarrersonntag hochhielt, konnte er noch in aller Ruhe mit Barbara und Noah begehen. Dann hatte ihn das Tagesgeschäft wieder.
»Wir befinden uns an einer Zeitenwende, vergleichbar mit der Französischen Revolution«, hatte Gabathuler dem kleinen Kreis erklärt, der in seinem Wohn-Esszimmer Platz genommen hatte. »Jedenfalls, wenn wir der Astrologin meiner Coiffeuse glauben dürfen.«
Gabathuler hatte zum Pfarrtreff eingeladen. Um die Möglichkeiten des geräumigen Pfarrhauses zu nutzen und den Austausch unter den Kolleginnen und Kollegen zu fördern, hatte er für das Winterhalbjahr diesen monatlichen Treff ins Leben gerufen. Er sorgte jeweils für ein kleines, aber feines Nachtessen und lud stets einen Referenten oder eine Referentin dazu. Das konnten Fachpersonen aus dem Bereich Kirche und Theologie, aber auch aus Wirtschaft, Politik und Kultur sein.
Ein Schmunzeln ging nach diesem prägnanten Einstieg durch die Runde. Daniele Rosso, Pfarrer an der Stadtkirche, lächelte besonders freundlich aus seinem südländischen Gesicht. Das Thema künstliche Intelligenz interessierte ihn. Er hatte erst kürzlich über seine Online Gaming Community eine virtuelle Kirchgemeinde kennengelernt, in der sich Menschen aus aller Welt mittels ihrer Avatare trafen und Gottesdienst feierten. Selbstredend war die Gottesdienstsprache dort Englisch, was den gebürtigen Italiener vor die Herausforderung stellte, nach der deutschen Sprache nun auch die englische lernen zu müssen.
Neben Rosso hatte Esther Wälti auf dem Sofa Platz genommen. Sie war Seelsorgerin an der psychiatrischen Klinik Winterthur, ging auf die sechzig zu und war über die Patientinnen und Patienten mit dem Thema in Berührung gekommen. Auch am Lebenshorizont von Susanne Kneubühler, der Dekanin des Pfarrbezirks Winterthur, tauchte die Pensionierung auf. Sie freute sich, dass ein Pfarrkollege aus eigener Initiative das Gespräch mit den anderen Fakultäten förderte, und war deshalb regelmäßiger Gast bei den Pfarrtreffs. Auf der Chaiselongue saß Werner Aeschbacher. Er war einer der wenigen, die unabhängig von den Themen am Pfarrtreff teilnahmen. Als Pfarrer im kleinen Dägerlen freute er sich über den wiederkehrenden Austausch mit Kolleginnen und Kollegen. Sein Kopf war ebenso rund wie sein Bauch, und es war offensichtlich, dass ihm auch Gabathulers Speisen zusagten. Denn nachdem seine Frau samt den Kindern vor etwas über einem Jahr ausgezogen war, war der Kühlschrank zu seinem wichtigsten Gegenüber geworden.
»Man kann von dieser astrologischen Ansage halten, was man will«, fuhr Gabathuler fort. »Aber manchmal treffen solche Beobachtungen mit anderen zusammen und verstärken einen Eindruck. Der Zufall nämlich wollte es, dass ich noch am selben Abend auf CNN zwei aufeinanderfolgende Interviews sah. Im ersten sprach die Interviewerin mit Cat Stevens alias Yusuf Islam über sein neustes Album. Dabei fiel mir auf, wie sehr Yusuf die spirituelle Dimension der Musik hervorhob und die Bedeutung von Jesus für alle religiösen Menschen unterstrich. Danach folgte ein Interview mit einem Experten für künstliche Intelligenz. Darin wurde einerseits die Bedeutung der gegenwärtigen Entwicklung betont und gleichzeitig vor den unvorhersehbaren Konsequenzen dieser Technologie gewarnt.«
Das Schmunzeln des Pfarrkreises war nun einer gespannten Aufmerksamkeit gewichen. Dafür hatte sich ein wissendes Lächeln auf dem Gesicht des Referenten breitgemacht, den Gabathuler nun vorstellte.
Thomas Staudinger war Dozent an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften, kurz ZHAW. Sein Forschungsgebiet war die künstliche Intelligenz.
Staudinger bedankte sich für die Einladung und begann sein Referat, indem er sagte: »Künstliche Intelligenz gibt es nicht.« Er führte aus, dass das, was gemeinhin künstliche Intelligenz genannt wird, im Grunde einfach sehr leistungsfähige Maschinen seien, die Intelligenz vortäuschten. An mehreren Beispielen zeigte er auf, wie sehr die sogenannte künstliche Intelligenz bereits Teil unseres Alltags geworden sei. »Das beginnt mit dem Autokorrekturprogramm in Ihrem Computer oder Smartphone. Siri, das Spracherkennungsprogramm, das man als persönlichen Assistenten befragen kann, gehört dazu – oder die Fahrunterstützung im Auto bis hin zum Selbstfahrprogramm.« Aber auch in der Medizin, zum Beispiel bei der Analyse von CT-Bildern, werde bereits KI eingesetzt, ebenso wie bei Bewerbungsschreiben oder bei der polizeilichen Gesichtserkennung. »Das sind alles Gebiete, in denen künstliche Intelligenz bereits zum Einsatz kommt«, schloss Staudinger seine Aufzählung. »Grundsätzlich aber«, hielt er fest, »weiß heutige KI nur, was man ihr vorher gesagt hat. Dann ist sie zwar unglaublich schnell. Aber selbstständig lernen kann sie nicht. Insofern ist KI viel K und wenig I, wenn Sie so wollen«, fasste er zusammen. »Sie braucht zum Beispiel eine Million Bilder, um eine Katze als solche zu erkennen, und noch einmal so viele, um sie von einem Hund zu unterscheiden. Ein Kind aber muss nur einmal eine Katze knuddeln, dann weiß es, was eine Katze ist, unabhängig davon, welche Farbe ihr Fell hat. Und es muss einmal einen Hund streicheln, um zu wissen, was ein Hund ist. Es wird für den Rest seines Lebens nie einen Hund mit einer Katze verwechseln.«
Nun unterbrach ihn Dekanin Kneubühler mit der naheliegenden Frage: »Weshalb gibt es denn zurzeit einen so großen Hype rund um die KI?«
»Weil mit ChatGPT an den Tag gekommen ist, wie leistungsfähig diese Instrumente geworden sind. Das hat die ganze KI-Community geschockt.«
»Mir macht das Angst«, warf Esther Wälti ein. »Ich habe gehört, dass die KI jetzt schon Gedanken lesen kann.«
Und Kneubühler fragte: »Hat das nicht enorme Auswirkungen auf die Arbeitswelt?«
»Natürlich. Ärzten zum Beispiel wird die Arbeit erleichtert, weil sie gewisse Berichte nicht mehr selber schreiben müssen. Oder ich als Wissenschaftler werde ungemein Zeit einsparen können. Die Flut an Publikationen, die ich eigentlich lesen müsste, kann ich unmöglich bewältigen. Die kann ich nun alle bei ChatGPT eingeben mit dem Auftrag, sie zusammenzufassen. Das ist eine enorme Steigerung der Effizienz.«
»Es geht aber noch weiter«, wandte nun Daniele Rosso ein. »Im Fernsehen werden bereits Wettermoderatorinnen künstlich erzeugt. Denen speist man den Text ein, und sie präsentieren das Wetter erstaunlich lebensecht.«
»Das glaub ich jetzt nicht«, sagte Wälti entsetzt. »Stimmt das?«
»Das stimmt. Solche Anwendungen werden bald auch an Hotelrezeptionen, am Empfang bei Firmen oder in Gemeindehäusern kommen.«
»Schön wäre es, wenn die für mich die Predigt halten könnten«, meinte Aeschbacher mit einem Lachen.
»Online-Kirchen gibt es jedenfalls schon.« Wieder schien das südländische Lächeln aus Rossos Dreitagebart hervor.
»Dazu müssen Sie bald gar nicht mehr in eine Online-Community. Die Technik ist bald so weit, dass man Ihr Hologramm auf die Kanzel abbilden kann. Dann müssen Sie dem Hologramm nur noch sagen, was es predigen soll. Die Predigt können Sie sich ebenfalls von KI schreiben lassen, und schon können Sie sonntags ausschlafen, und die Gemeinde feiert trotzdem Gottesdienst.«
»Wollen wir in einer solchen Welt leben?« Wälti wurde zunehmend unwohl.
»Das ist die falsche Frage«, meinte Staudinger, »denn wir leben bereits in dieser Welt. Die Frage muss lauten: Wie wollen wir uns darauf einstellen, und welche Rahmenbedingungen wollen oder müssen wir setzen. Welche gesetzlichen Regulierungen müssen wir einrichten, damit diese neue Technologie uns nicht aus den Händen gleitet.«
Die Gespräche wurden intensiv. Alle begannen zu ahnen, dass sich da tatsächlich gerade eine Revolution abspielte, die in ihren gesellschaftlichen Konsequenzen noch nicht erfasst werden konnte.
Gegen Ende des Abends meinte Kneubühler schließlich, an Staudinger gerichtet: »Sie wären die Lösung für mein Problem.«
Staudinger sah sie fragend an.
»Am kommenden Dienstag haben wir Pfarrkapitel. Die Referentin vom Zentrum für Kirchenentwicklung hat heute Nachmittag abgesagt. Sie ist krank. Könnten Sie da einspringen?«
»Das wäre mir eine Ehre«, meinte Staudinger. »Wir brauchen gesellschaftliche Kräfte wie die Pfarrschaft, die die Ethik im Blick behalten.«
Am nächsten Morgen sprach Gabathuler als Erstes per Videotelefonie mit Barbara. Natürlich wollte er auch unbedingt den kleinen Noah Felix sehen. Sie beschlossen, dass er über Mittag nach Andelfingen kommen und sie dort gemeinsam essen würden. Barbara war zwar nach Winterthur gekommen und hatte auch hier ihren gemeinsamen Sohn zur Welt gebracht. Aber es behagte ihr immer noch nicht, im Pfarrhaus zu übernachten. Zu stark war die Erinnerung an die tote Jelena, die an jenem Sonntag in ihrem Blut gelegen hatte. Deshalb hatten sie vereinbart, dass sie tagsüber gerne im Pfarrhaus sein könne, abends aber nach Andelfingen in Gabathulers Elternhaus gehe. Dann checkte er seine Mails. Es lag wenig Aufregendes im Eingang. Eigentlich fiel ihm nur eine Mail von Markus Engelhart auf, dem Sekretär der Gemeinde. Eine Frau, die neu nach Ganterwald gezogen war, wünschte einen Besuch des Pfarrers. Gabathuler schaute sich den Namen an. Pia Konrad hieß sie. Der Name sagte ihm etwas. Der Gemeindekartei konnte er entnehmen, dass sie erst seit einem Monat hier wohnte. Sie war dreiunddreißig Jahre alt und hatte einen Sohn. Als Zivilstand war »verwitwet« angegeben. Das half ihm nicht weiter. Er dachte weiter nach.
Die Gemeinde schickte allen neu Zugezogenen ein Begrüßungsschreiben. Per Antwortkarte konnten sie den Besuch eines Pfarrers wünschen. Frau Konrad hatte dies getan. Ungewöhnlich war am ehesten ihr Alter. So junge Menschen suchten in der Regel nicht von sich aus den Kontakt mit dem Pfarrer. Außer sie wollten heiraten oder ein Kind taufen lassen. Beides schien in diesem Fall nicht in der Luft zu liegen. Konrad. Pia Konrad. Woher kannte er diesen Namen?
Die folgende Woche war bereits gut belegt. Gabathuler nahm sich vor, bei Frau Konrad anzurufen und einen Termin frühestens in vierzehn Tagen zu vereinbaren. Dann setzte er sich an die Predigt für den Sonntag. Das Thema lautete »Barmherzigkeit«, und der biblische Text, den er für seine Predigt aussuchte, stand im Propheten Hesekiel.
Um dreizehn Uhr traf er in Andelfingen ein. Gabathuler erkundigte sich zuerst nach Noah. Der hatte sein Mittagessen schon bekommen und schlief nun friedlich in seinem Bettchen. Vorsichtig, als könne er mit bloßem Auge etwas zerbrechen, blickte er auf seinen schlafenden Sohn. Gabathuler musste lächeln. Auch das hatte sich im Laufe der Evolution tief in die Gene der Menschen eingeschrieben. Der Anblick eines ergeben schlafenden Kleinkindes berührte jede Menschenseele.
Danach setzte sich Gabathuler hungrig an den Tisch. Das war noch tiefer in den Genen eingeschrieben: Der Mensch muss essen. Barbara hatte Hühnerschenkel an einer raffinierten Currysauce gemacht und dazu einen Pinot Grigio aus dem Südtirol geöffnet. Allerdings trank nur Gabathuler Wein, denn Barbara stillte noch.
Nach dem Essen hatten sie noch Zeit, bis Noah wieder wach werden würde. Diese Zeit nutzten sie für etwas Weiteres, das tief in den Genen programmiert war.
Eine Dreiviertelstunde später gab Noah zu verstehen, dass er Hunger hatte. Barbara gab ihm die Brust. Dann machte sich die junge Familie auf zu einem Spaziergang durch den frühlingshaften Samstagnachmittag, der Mühe bekundete, sich für einen Wettermodus zu entscheiden. Wieder zu Hause erfreuten sie sich vor allem an ihrer Dreisamkeit. Die Erwachsenen tranken Kaffee, der Kleine bekam, was er brauchte. Noah wurde bald wieder müde, und während Barbara ihn ins Bett brachte, machte Gabathuler ein kleines Abendbrot parat. Trockenfleisch, Käse, Brot und eine Flasche Rotwein. Sie plauderten viel, freuten sich an ihrem Kind, genossen den Moment. Über ihre Zukunft sprachen sie nicht. Dann ging Gabathuler zurück nach Ganterwald. Er wollte zu Hause sein, wenn er am Sonntagmorgen aufstand und sich für den Gottesdienst vorbereiten musste.
Gabathuler hatte sich angewöhnt, morgens die Zeitung zu lesen. Was er früher eher bei Gelegenheit tat, hatte er nun zu einem täglichen Ritual werden lassen. Morgens nach dem Frühsport machte er sich Kaffee und griff sich die Zeitung. Er hatte sich bewusst für die Papierform entschieden, da er nicht noch mehr an den elektronischen Geräten hängen wollte. Er schätzte zunehmend die Sinnlichkeit des Papiers und die größere Ruhe beim Lesen. Umblättern der Seiten brauchte mehr Zeit als Scrollen und Swipen.
Weder die Sonntagszeitung noch das Radio hatten besondere Neuigkeiten zu berichten. Einzig der Arbeitsbesuch des US-amerikanischen Verteidigungsministers hatte auf den Inlandsseiten für ein gewisses Aufsehen gesorgt und lieferte auch heute Material für die Kommentarspalten. Ein solcher Arbeitsbesuch bei der neutralen Schweiz war ungewöhnlich. Die Zeitungen rätselten über den Grund. Die Rede war von engerer Zusammenarbeit in Sachen Cybersecurity. Die Stellungnahmen aber blieben vage. Den Rest der Zeitung überflog Gabathuler und legte sie dann beiseite.
Das blieb auch in der folgenden Woche so. Gabathuler konnte sich gut auf seine Arbeit konzentrieren. Er rief bei der Neuzuzügerin Pia Konrad an. Sie war Assistenzärztin am Kantonsspital Winterthur. Es dauerte eine Weile, bis sie einen Termin für seinen Besuch gefunden hatten.
Das halbjährliche Kapitel, zu dem die Pfarrer des Bezirks Winterthur jeweils zusammenkamen, fand diesmal im Gemeindesaal der Winterthurer Zwinglikirche statt. Zuerst wurden im Verein die Tagesordnungspunkte abgehakt sowie gemeindeübergreifende Fragen und Projekte besprochen. In der Kaffeepause nahmen sich alle Zeit, um sich mit den Kolleginnen und Kollegen auszutauschen. So stand auch Gabathuler an einem Stehtischchen und trank den mäßig schmackhaften Filterkaffee, während er darum bemüht war, die Gipfeli-Konfetti nicht allzu weit zu streuen. Kollege Lauber kam hinzu und meinte: »Das ist ja cool, dass der Staudinger jetzt gleich reden wird!« Lauber war Pfarrer in einer aufgeweckten, freikirchlich orientierten Gemeinde. Er gab sich alle Mühe, hip und modern zu wirken. Und da war »cool« das Wort der Stunde, wenn die Begeisterung ihn gepackt hatte.
»Wie seid ihr nur an diesen KI-Forscher herangekommen?«
»Ich habe ihn für den Pfarrtreff engagiert«, erklärte Gabathuler, »und Susanne Kneubühler fand dann, dass das ein Thema fürs Kapitel sei.«
»Ihr müsst unbedingt auch mal an die Pfarrtreffs kommen«, schaltete sich Esther Wälti ein. »Vor Staudinger hat der CFO des größten Schokoladeproduzenten der Welt referiert. Den konnten wir dann mit Fragen zu fairem Handel und zur Kinderarbeit löchern.«
»Und war nicht auch der Forschungsleiter einer international agierenden Solartechnikfirma bei dir?«, fragte nun Kerstin Caduff, eine weitere Pfarrkollegin mit ihrem klaren Bündner Dialekt.
»Das war im letzten November«, bestätigte Gabathuler.
»Das finde ich gerade so spannend an diesen Pfarrtreffs«, setzte Wälti wieder ein. »Du kommst ins direkte Gespräch mit Verantwortungsträgern, die an Themen arbeiten, die uns in der Kirche ja ebenfalls beschäftigen.«
»Am Freitagabend ist für mich leider immer ungünstig«, bedauerte Caduff.
»Ja, es ist immer unglaublich viel los«, doppelte Kollege Raeber nach. »Es fehlt mir einfach die Zeit!«
Auch Christian Weber, Pfarrer in Hegglingen, stand dabei und nickte bestätigend, schwieg aber, weil er gerade mit dem zweiten Gipfeli und der dritten Tasse Kaffee beschäftigt war.
Auch Gabathuler nahm einen Schluck und überlegte sich währenddessen, was er nun sagen sollte. Lauber unterstrich noch einmal: »Ich würde ja gerne kommen, aber eben die Zeit ist schon ein Problem.«
Diese Vorlage brauchte Gabathuler, um seinen Punkt zu machen. »Interessant war für mich einfach«, sagte er, »dass in der Adventszeit, in der wir ja besonders belastet sind, plötzlich alle einen Abend freimachen konnten, als der Präsident unserer Landeskirche über Stellenstreichungen und Lohnkürzungen bei den Pfarrern sprach.«
»Ja, da ging es doch für uns um die Existenz!«, wehrte sich Kerstin Caduff.
»Genau«, fügte Gabathuler an. »Und bei Fragen von Kinderarbeit geht es ja nur um die Existenz des Nächsten.« Diese sarkastische Bemerkung war nicht fein. Das wusste Gabathuler. Aber er hatte sie sich nicht verkneifen können. Zu sehr hatte ihn das Verhalten der Kollegenschaft geärgert. Das Gespräch versiegte. Nach und nach wechselten Lauber, Caduff und schließlich auch Weber zu den Nebentischen und begannen, sich mit anderen Kolleginnen und Kollegen auszutauschen.
Esther Wälti blieb bei Gabathuler. »Mich treibt das um«, meinte sie. »Was ist nur aus unserer Kirche geworden? Nach dem Studium bin ich mit Begeisterung und Elan in den Pfarrberuf eingestiegen. Ich war überzeugt, dass die Kirche eine gesellschaftliche Kraft ist, die die Welt braucht.«
»So kann man sich täuschen«, sagte Gabathuler und zwinkerte Wälti zu.
Sie aber gab nicht auf. »Findest du denn nicht, dass die Bibel dieser Welt etwas zu sagen hat?«
»Natürlich hat die Bibel etwas zu sagen«, bestätigte Gabathuler.
»Aber schau dir doch die Kollegen an, die gerade noch hier gestanden sind. Die interessieren sich für alles Mögliche, aber ganz sicher nicht für die Gesellschaft, in der sie leben.«
»Weil sie spüren, was letztlich wir alle ahnen: Wir haben nichts mehr zu sagen, das die Menschen um uns herum beschäftigen würde.«
Wälti sah ihn schräg von der Seite an. »Du klingst mächtig desillusioniert für einen Pfarrer, der erst seit achtzehn Monaten im Amt ist.«
»Ich bin Quereinsteiger, Esther. Dadurch habe ich einen etwas anderen Blick auf die Kirche.«
»Aber was hält dich denn noch hier? Was treibt dich an?«, fragte Wälti.
Doch Gabathuler konnte nicht mehr darauf antworten, denn in diesem Moment sah er eine junge Frau den Raum betreten, die keine Pfarrerin war. Das sah man sogleich. Er ging auf sie zu und stellte sich vor.
Sie lächelte ihn freundlich, fast schon erleichtert an. »Mein Name ist Angela Friedrichs. Ich bin Assistentin am Institut von Herrn Staudinger. Ich bin wegen seines Referats hier.«
»Aber wenn Sie seine Assistentin sind, wird er Sie wohl kaum mit neuen Thesen überraschen«, sagte Gabathuler mit charmantem Lächeln.
»Ich bin nicht seine Assistentin«, korrigierte ihn Friedrichs. »Ich bin Assistentin an seinem Institut.« Gabathuler sah nicht recht, worin der Unterschied bestand. Aber bevor er nachfragen konnte, fuhr Friedrichs fort: »Mich interessiert, was die Pfarrschaft Winterthurs zum Thema künstliche Intelligenz zu sagen hat.«
»Das überrascht und freut mich gleichermaßen«, meinte darauf Gabathuler ganz ehrlich.
»Wieso? Bei dem, was mit der KI auf uns zurollt, brauchen wir dringend Stimmen, die aus religiöser und ethischer Perspektive etwas zu sagen haben.«
Gabathuler schaute sie einen Moment verwundert an und sagte dann: »Darf ich Sie meiner Kollegin vorstellen?« Er führte die junge Frau an das Tischchen, an dem Esther Wälti von Weitem die Begegnung von Gabathuler und Friedrichs verfolgt hatte.
»Esther, darf ich dir Frau Friedrichs vorstellen? Sie ist hierhergekommen, weil sie sich von der Pfarrschaft Winterthurs Orientierung beim Thema KI erhofft.«
Die beiden Frauen gaben sich die Hand.
»Ich arbeite am Institut von Thomas Staudinger«, ergänzte Friedrichs.
»Und da sind Sie nicht gleich miteinander gekommen?«, fragte Wälti.
»Ich kam mit dem Fahrrad. Thomas wollte mit dem Auto kommen. Er muss nachher noch weiter.«
»Er wird bestimmt jeden Moment eintreffen«, meinte Wälti.
Dann gab es einen fürchterlichen Knall.
Wie recht Wälti hatte!
Gabathuler schaute um sich und blickte in erschrockene und fragende Gesichter. Dann kam Bewegung in die Kaffeegesellschaft. Gabathuler reagierte als Erster und rannte nach draußen. Als er auf dem Kirchplatz ankam, sah er, was geschehen war. Ein weißer Tesla war offensichtlich ungebremst in die Mauer der Kirche gerast. Die Front des Wagens war komplett eingedrückt. In der Fahrerkabine war lediglich der weiße Ballon des Airbags zu sehen.
»Oh mein Gott«, hörte Gabathuler eine Stimme hinter sich rufen. »Das ist Staudingers Tesla!«
Es war Angela Friedrichs. Sie hielt sich vor Schreck die Hände vor den Mund. Kurz darauf stand nahezu das ganze Pfarrkapitel auf dem Platz vor der Kirche. Wieder war für den Bruchteil einer Sekunde alles erstarrt. Dann sagte Gabathuler zu einem Kollegen neben sich: »Ruf die Polizei!« Er eilte zum Tesla und versuchte die Tür an der Fahrerseite selbst zu öffnen. Er rüttelte heftig daran. Erst nach mehreren Versuchen und mithilfe eines weiteren Kollegen gelang es ihm, die Tür so weit aufzustemmen, dass er an Staudinger herankam. Der hing reglos in seinem Gurt. Gabathuler hielt zwei Finger an seinen Hals. Er spürte keinen Puls.
»Wir müssen ihn herausholen«, sagte er schnell und versuchte irgendwie, an Staudinger vorbei den Sicherheitsgurt zu lösen. Da spürte er eine Hand auf seiner Schulter und eine Stimme, die sagte: »Lass es, Roger. Lass es.« Es war Weber, der gerade eben noch ganz mit Kaffee und Hörnchen beschäftigt gewesen war. »Lass es«, wiederholte er. »Das ist zu heikel. Das müssen die Profis von der Feuerwehr machen.« Gabathuler sah seinen Kollegen an, der ihm schon beim Öffnen der Fahrertür geholfen hatte. Dann schaute er noch einmal auf den reglosen Staudinger.
»Du hast recht.« Gabathuler ließ von Staudinger ab.
Wieder war es einen Moment lang still. Nun übernahm die Dekanin das Wort.
»Also. Christian und Roger bleiben hier beim Verunfallten. Alle anderen gehen bitte zurück in den Kapitelsaal.«
Langsam begaben sich die Pfarrer und Pfarrerinnen zurück in den Saal, während Weber sich neben Staudinger hinkniete und dessen linke Hand, die schlaff herunterhing, in seinen Händen barg. Gabathuler ging zur Straße und hielt Ausschau nach Polizei und Feuerwehr. Als er zurück zur Unfallstelle blickte, sah er Friedrichs, die nicht mit den Pfarrern und Pfarrerinnen in den Saal zurückgegangen war und nun etwas verloren auf dem Kirchenplatz stand. Er ging zu ihr hin und nahm sie in den Arm. Sie begann zu weinen.
»Kommen Sie«, sagte Gabathuler und führte sie zu einer kleinen Mauer, auf die sie sich setzen konnte.
»Schauen Sie mich an.« Er blickte in ihre verstörten Augen. »Hilfe ist unterwegs. Wenn jemand Herrn Staudinger helfen kann, dann die Profis von Feuerwehr und Sanität.« Er schnippte mit den Fingern, sah ihr in die Augen und erklärte ihr eindringlich: »Wichtig ist, dass Sie jetzt hier sitzen bleiben. Ich bin gleich zurück.«
Sie nickte.
Dennoch behielt Gabathuler Friedrichs mit einem Auge im Blick, nachdem er sich wieder an die Straße gestellt hatte und auf die Blaulichtfahrzeuge wartete. Dabei fiel ihm der Verkehr auf, der sich unmittelbar vor der Kirche abspielte. Und er fragte sich, wie Staudinger seinen Wagen so sehr hatte beschleunigen können, dass er mit solcher Wucht in die Kirchenmauer gedonnert war. Denn vor der Kirche befand sich eine dicht befahrene Kreuzung, die eigentlich eine derartige Beschleunigung unmöglich machte. Bevor er aber weiter grübeln konnte, hörte er die Sirenen der sich nahenden Rettungsfahrzeuge. Er wies den Polizeiwagen ein.
Die Polizistin, die als Erste aus dem Wagen stieg, informierte er über das Geschehen, während ihr Kollege auf die Straße trat und die nun eintreffende Feuerwehr und Sanität zu sich lotste.
Kneubühler hatte in der Zwischenzeit mit der Winterthurer Pfarrschaft ein kurzes Gebet für Thomas Staudinger gesprochen und schließlich alle gebeten, über den Hinterausgang das Gebäude zu verlassen und in ihre Gemeinden zurückzukehren.
Als Gabathuler mit Friedrichs den Konferenzsaal betrat, war der Raum nahezu leer.
»Kann ich euch mitnehmen?« Esther Wälti war noch da.
Gabathuler war froh, dass er nicht mit Friedrichs in den Bus steigen musste. »Gerne«, sagte er dankbar.
Wälti ging mit Friedrichs voraus zum Hinterausgang.
Gabathuler packte derweil seine Tasche und griff sich die Jacke. Instinktiv verließ er auf der anderen Seite den Saal und sah, wie Polizei, Feuerwehr und Sanität ihre Arbeit taten. Das Autowrack war aufgebrochen und leer. Zwei Sanitäter standen neben der Krankentrage. Der Körper, der auf der Trage lag, war vollständig zugedeckt.
»Ich muss zurück an die Hochschule«, meinte Friedrichs, als Gabathuler sich zu ihr ins Auto gesetzt hatte. Also fuhr Wälti die zwei ins Zentrum. Bei einer Bushaltestelle ließ sie die beiden aussteigen.
Als Gabathuler mit Friedrichs die Büroräumlichkeiten der School of Engineering an der ZHAW betrat, wurden sie von der Dame am Empfang mit »Ach gut! Sie sind zurück« begrüßt. »Bei uns ist heute der Teufel los! Das neue Putzinstitut ist hier, obwohl sie erst nächste Woche kommen wollten. Komische Typen! Anstatt einfach vors Gebäude zu fahren, haben sie fein säuberlich in der Tiefgarage geparkt und müssen nun alles Gerät hochschleppen. Zu allem Überfluss wollten sie dann auch noch, dass wir die Gebühren fürs Parkhaus übernehmen! Und dann«, sie schaute kurz auf, fuhr aber in geschäftigem Ton fort, »kennen Sie einen Herrn Schulz?« Petra Gummersbach nahm den Blick jeweils nur kurz vom Bildschirm, der vor ihr stand.
»Schulz?«, fragte Friedrichs zurück.
»Ja, er sagte, er sei ein Forscherkollege aus Düsseldorf und wolle Sie treffen.«
»Wo ist er jetzt?«
»Ich habe ihn in Ihr Büro geschickt. Habe ihm aber gesagt, dass er unter Umständen lange warten müsse. Ist alles okay bei Ihnen?« Endlich war Gummersbach der abwesende Gesichtsausdruck Friedrichs’ aufgefallen. Durch die dicken Brillengläser erschienen Gummersbachs Augen riesig. Ihre mit Haarspray gebändigte Frisur, die sich rund um ihr Gesicht rankte, betonte die etwas altmodische Erscheinung.
»Ja. Das heißt, nein«, stammelte Friedrichs. »Ich erzähl’s Ihnen später. Dieser Herr Schulz ist nun also in meinem Büro?«
»Nicht mehr«, sagte eine Stimme hinter ihnen.
»Das ist John Ha«, stellte Friedrichs den Mann Gabathuler vor. »Er ist der Assistent von Staudinger. Wir arbeiten im selben Büro.« Ha war vielleicht fünfunddreißig Jahre alt. Seine asiatischen Gesichtszüge erklärten den seltsamen Nachnamen und ließen vermuten, dass zumindest seine Eltern nicht in der Schweiz geboren waren.
»Er saß im Büro, als ich von der Pause zurückkam«, nahm Ha das Thema wieder auf. »Wir plauderten ein wenig. Kurz darauf entschuldigte er sich und ging. Er wird sich wieder bei dir melden.« Ha sprach ein einwandfreies Zürichdeutsch.
Friedrichs schien beruhigt. »Kann ich euch bitte kurz sprechen? Im Sitzungszimmer? Alle.«
»Was ist denn geschehen, dass wir dafür ins Sitzungszimmer müssen?«, fragte Gummersbach. Und Ha fügte mit Verweis auf Gabathuler an: »Und wer ist er?«
»Entschuldigung. Das ist Pfarrer Gabathuler. Ich habe ihn bei der Pfarrerkonferenz kennengelernt, bei der Staudinger reden sollte.« Das Sitzungszimmer war nun kein Thema mehr. »Staudinger hatte einen Unfall. Ich weiß nicht, ob er überlebt hat.«
»Hat er nicht«, meinte Gabathuler.
»Scheiße!«, entwischte es Ha.
»Mein Gott!« Gummersbachs Mund blieb offen, und ihre Augen erschienen noch größer, als duldeten sie die Konkurrenz des Mundes nicht. »Wie konnte das nur geschehen?«
»Ich kann jetzt nicht mehr sagen. Sagen Sie alle Termine von Staudinger ab. Ohne Begründung. Und meine auch gleich. Und du«, sagte sie an Ha gewandt und überlegte einen Moment. »Ich weiß auch nicht. Mach, was du für gut befindest.« Wieder an Ha und Gummersbach gerichtet, meinte sie: »Wir drei treffen uns heute Nachmittag und besprechen das weitere Vorgehen. Die Zeit gebe ich noch bekannt.«
Gabathuler staunte, wie klar die Anweisungen Friedrichs’ waren. Er fragte sich, welche Stellung sie in dieser Abteilung hatte. Friedrichs ging in ihr Büro. Gabathuler folgte ihr. Sie setzte sich an den Computer und weckte den Bildschirm. Die Arbeitsfläche ihres Pults war nahezu leer. Wohl deshalb fiel Gabathuler das Buch auf, das neben ihrer Maus lag. Es war eine Bibel. Erst recht staunte er, als er beim Blick in das kleine Bücherregal in ihrem Rücken noch eine Bibel entdeckte. Eine alte, dicke Ausgabe. Zudem entdeckte er auf dem Regal eine kleine Kirche aus Kunststoff und eine ähnlich kleine Bibel. Gabathuler wollte eine Bemerkung fallen lassen, aber Friedrichs schaltete in diesem Moment unvermittelt den Bildschirm aus und sagte: »Ich muss etwas essen.« Sie nahm Handy und Geldbeutel und stand auf.
»Soll ich Sie begleiten?«
»Sie müssen«, antwortete Friedrichs, wiederum überraschend deutlich. Sie ging zur Tür und meinte zu Ha, der etwas ratlos hinter seinem Bildschirm saß: »Ich bin in der Mensa. Um vierzehn Uhr im Sitzungszimmer. Einverstanden?«
»Ich sag’s Petra.«
Friedrichs wandte sich zum Gehen. Da fiel ihr Blick auf die Schlüsselbox neben dem Türrahmen. Sie stand offen. »Wieso ist die nicht geschlossen?«
Ha fühlte sich angesprochen und sagte: »Keine Ahnung. Vielleicht hatte Staudinger es eilig.«
»Der Schlüssel ist drin. Aber die Box ist nicht zu. Seltsam. Das passt nicht zu Staudinger.«
Sie drückte die Box zu, drehte am Zahlenschloss alle Zahlen auf null und ging. Gabathuler folgte ihr.
»Morgen werden die Zeitungen voll davon sein. ›Selbstfahrend in den Tod!‹, ›Ist die KI ein Monster?‹, ›Wann übernimmt die KI die Macht?‹« Friedrichs stocherte in ihrem Salatteller.
»Darauf müssen wir nicht bis morgen warten.« Gabathuler checkte gerade die Onlinenachrichten. Vor allem die Boulevardmedien berichteten über den ›Horrorcrash von Winterthur‹, spekulierten über einen möglichen ›Selbstmord von Professor S.‹ oder über ein schreckliches Versagen des ›Selbstfahrmodus bei Tesla‹. Sie gaben wieder, was sogenannte Augenzeugen zu berichten hatten. Das war inhaltlich wenig bis nichts, ansonsten aber bestens geeignet, Aufmerksamkeit zu generieren.
»Die haben ja keine Ahnung!«, sagte Friedrichs erbost.
Sie saßen in der Kantine der ZHAW und waren einigermaßen ungestört. Gabathuler hatte wie Friedrichs einen Salatteller vor sich stehen.
»Haben Sie ihn gut gekannt?«
»Ich arbeite nun seit etwas mehr als einem Jahr hier. Da lernt man sich schon ein wenig kennen.«
»Sie betonen immer, dass Sie nicht seine Assistentin seien.«
»Bin ich auch nicht. Marchand ist mein Chef.«
»Wer?«
»René Marchand. Er ist der führende Forscher in der Schweiz beim Thema künstliche Intelligenz.«
»Und der ist auch hier an der ZHAW?«
»Nein, er hat seine eigenen Forschungseinrichtungen. Er ist privat finanziert.«
»Und weshalb forschen Sie hier?«
»Ist etwas kompliziert. Jedenfalls zog es Marchand vor, dass ich nicht in seinen Räumlichkeiten arbeite.«
»Ich verstehe.«
»Wirklich?«
»Ich verstehe, dass Sie mir nicht alles sagen können. Oder wollen.«
»Es ist eben, weil …« Friedrichs zögerte. Dann sah sie Gabathuler an und fragte: »Sie sind doch Pfarrer, nicht?« Gabathuler nickte. »Dann unterstehen Sie dem Amtsgeheimnis oder so. Sie dürfen also nicht weitergeben, was ich Ihnen anvertraue.«
»So ist es«, bestätigte Gabathuler.
»Das ist gut. Ich muss nämlich mit jemandem reden, nach dem, was heute Morgen geschehen ist.«
»Was denken Sie denn, was heute Morgen geschehen ist?«
»Keine Ahnung. Meinen Sie, es war Selbstmord?«
Gabathuler zuckte leicht mit der Schulter. »Ich habe keine Bremsspuren gesehen.«
Friedrichs dachte nach. »Ich kann einfach nicht glauben, dass er das getan hat.«
Wenn ich einen Franken bekommen hätte für jedes Mal, wo jemand das zu mir gesagt hat, wäre ich jetzt reich, ging es Gabathuler durch den Kopf. Er versuchte es seinerseits mit einem Standard: »Man weiß nie wirklich, was in einem Menschen vorgeht.«
Friedrichs legte die Gabel beiseite, packte Geldbeutel und Handy und stand auf. »Ich kann jetzt nicht reden. Ich muss ins Büro.«
Gabathuler begleitete sie. »Kann ich noch irgendetwas für Sie tun?«
»Ja«, antwortete Friedrichs, ohne zu zögern. »Ich mache um fünf Feierabend. Hätten Sie dann nochmals Zeit für mich? Wir könnten einen Kaffee trinken.«
Gabathuler ging in Gedanken seine Agenda durch. Es stand kein Termin im Weg.
»Klar. Wo?«
»Wieder in der Mensa. Vielleicht können wir ja draußen sitzen.«