Aspira - Kurd Laßwitz - E-Book

Aspira E-Book

Kurd Laßwitz

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Beschreibung

Fast schon erkenntnisphilosophisch ist der Roman - die Betrachtung des Menschen aus der Sicht einer Wolke: Aspira ist die Tochter des Königs Migro. Sie bricht aus dem Spiel der Wolken aus, will mehr wissen von den Menschen und geht einen ungewöhnlichen und gefährlichen Weg. Zum unbestrittenen Kanon der Weltliteratur gehört dieses Meisterwerk des Begründers der deutschsprachigen Science-Fiction-Romane Kurd Laßwitz mit anhaltendem und vielfältigem Einfluss auf den lesenden Menschen und die Literaturgeschichte - bis heute. Spannend und unterhaltend, vielschichtig und tiefgründig, informativ und faszinierend sind die E-Books großer Schriftsteller, Philosophen und Autoren der einzigartigen Reihe "Weltliteratur erleben!".

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Kurd Laßwitz

   Aspira

Der Roman einer Wolke

Inhaltsverzeichnis
Aspira
Wolken
Legende
Berggeister
Menschenstolz
Nach dem Tunnel
Der Ingenieur
Zu den Menschen
Die Silberquelle
Die Braut
Undine
Im Laboratorium
Wieder zur Höhe
Bei Gneis und Kalk
Im Tunnel
Über der Erde
Abgeschnitten
Die gefangene Wolke
Im Eise

Fügsam und stumm gehorcht die Natur dem Menschenverstande,Doch mit lebendigem Wort grüßt sie das fühlende Herz.

Gotha, 11.7.1905

K. L.

Wolken

Heiß hatte die Sonne des langen Sommertags über dem Hochtal gebrütet. Nun krochen die ersten Bergschatten über die grüne Rasenfläche, und die bunten Blumenköpfchen schlossen ihre Blüten.

Es war schwül. Denn die Luft lag feucht über den quelldurchrieselten Matten. Dort weilte Aspira, die Wolke, ganz aufgelöst in die unsichtbaren Teilchen ihres Elements. So ruhte sie am liebsten, noch ungestaltet, regungslos, in Luft zerflossen. So schlummern die Wolken und träumen.

Aspira träumte.

Vom Firnfeld am Blankhorn zog eine wache Wolke herüber. Weiß leuchtend streckte sie ihr kugeliges Haupt in den Sonnenschein, dunkel und grau schwebte ihr breiter Fuß in dem Tale.

»Komm herauf, Aspira!« rief sie hinunter. »Schon lange genug verbirgst du dich dort auf dem Wiesengrund und am Waldhang. Komm herauf und laß uns spielen. Die feurigen Bälle werfen wir hinab und lachen dazu, daß Onkel Blankhorn dröhnend den Ton uns zurückgibt.«

»Laß die Torheiten, Turgula,« antwortete es aus dem Tale. »Ich habe keine Lust zum Spiel. Soll ich mich sammeln und aufsteigen, nur um wieder herabzuregnen?«

»Du bist langweilig. Was ist's denn mit dir? Aber wenn du nicht magst – sieh, wie ich wachse, wie ich mich dehne! Bald kann ich allein blitzen. Sieh dort die frechen Menschen. Sie ärgern mich schon lange mit ihrem Hämmern am Felsen. Ich will nach ihnen zielen.«

»Das wirst du nicht! Ich will weiter sehen, was sie tun,« rief Aspira.

»Haha! Was geht's uns an? Warte nur, bald will ich sie vertreiben.«

Da stieg's von Wald und Wiese wie leichte Nebel und zog sich empor und wurde dichter. Aspira erhob sich in raschem Schweben und breitete ihren Wolkenschleier schützend über das Tal. Schwärzer aber ballte Turgula sich darüber und warf den feurigen Ball lachend hinab. Und ihr Lachen rollte zurück von der Felswand am Langberg und hinüber bis zum Blankhorn.

Doch Aspira fing den Blitz auf, der sich in ihrem feuchten Wolkenleib unschädlich verteilte.

»Ich will es nicht,« rief sie. Und schneller dehnte sie sich und stieg, bis sie Turgula erreichte und umschlang. Die Wolken durchdrangen sich. Da entwich Turgula ihre Kraft.

»Warum hinderst du mich?« fragte sie.

Zürne mir nicht, Turgula. In deinem Spiel will ich dich nicht stören. Ziehe hinauf in die wilden Gründe oder wo es dir sonst gefällt. Aber sieh, die Menschen dort unten, gerade diese, habe ich schon im vorigen Jahre beobachtet, und nun wieder, und ich will sehen, was da wird.«

»Du willst sehen was wird? Das kommt ja von selbst, das wirst du doch sehen. Ob ich hier blitze oder nicht, es kommt irgend etwas. Und was, das ist doch gleich. Das ist eben da. Und dann kommt wieder etwas.«

»Du verstehst mich nicht. Es ist wohl so, wie du sagst; aber bei den Menschen ist es anders. Es kommt etwas, jedoch – wie soll ich es dir erklären? Es kommt etwas Bestimmtes.«

»Bestimmtes? Erklären? Ja, ich verstehe dich wirklich nicht, Aspira. Was soll das heißen?«

»Wenn ich es wüßte, so wär' ich froh. Dann zög' ich wieder umher in der weiten Welt und freute mich. Dann läg' ich nicht hier und wartete des Kommenden. Ich weiß nur dies. Die Menschen sind nicht bloß die kurzlebigen, kriechenden Wesen, deren wir lachen. Es muß etwas anderes in ihnen sein. Sie tun etwas, und damit können sie bewirken, daß etwas anderes geschieht, was sie wollen.«

»Aber das können wir doch auch?«

»Nicht so. Sieh, wir steigen jetzt empor, und die Sonne erwärmt uns, und unsere Tröpfchen lösen sich auf. Klar ist die Luft und wir schweben darin unsichtbar weiter und wollen, was wir tun. Und was wir wollen, das tun wir. Aber können wir bewirken, daß außer in uns selbst etwas geschieht, was wir wollen? Daß der Felsen dort zerbricht? Daß er sich wieder aufbaut zur Gestalt eines Hauses? Und das kann der Mensch.«

»Aber du konntest doch machen, daß ich nicht mehr blitze, wie du es wolltest. Du kannst auch den Felsen zerbrechen, wenn ihn dein Blitz trifft, und kannst die Trümmer häufen, wenn du den Gießbach anschwellst.«

» Wenn ich ihn treffe! Wenn es so kommt! Wollen kann ich es schon und vielleicht treffen. Der Mensch jedoch kann es bestimmt, genau so, wie er will. Eben dies Bestimmen, daß es so sein muß, das kann ich nicht verstehen. Das ist eine Wunderkraft. Höre, was ich sah. Jene Menschen hatten ein Papier bei sich, darauf war die Gegend abgemalt. Sie maßen alles nach und steckten Stangen in den Boden. Und genau, wie sie es zeichneten, geht jetzt der Weg durch den Wald, wird der Fels durchbohrt, legt sich die Brücke über den Fluß. Woher wußten sie im voraus, daß dies so kommen mußte, genau so? Das können wir nicht.«

»Haben's auch nicht nötig. Wir sind freie Wolken. Laß die Tierchen da unten. Quäle dich nicht, Aspira, mit solchem Zeug!«

»Ich muß dahinter kommen. Denn es muß etwas Großes sein. Denke daran –vor tausend, tausend Jahren – nichts war hier als Schnee und Eis und drunter der Wald, den das Wasser brach im Frühjahr und den der Schutt vermurte, und immer wieder sprossen aus der Wildnis Gras und Blumen. Und jetzt sieh, wie sie uns die Berge eingeengt haben, wie sie immer näher herandrängen. Dort glänzen die hohen Häuser von Schmalbrück. Schon ist weit drüben der Mittelstein durchbohrt, und nun arbeiten sie hier am Langberg. Bald werden die schnellen Wagen bis dicht an das Blankhorn laufen. Wer sagt dir, was sie beginnen, ob sie nicht in das Blankhorn selbst hineinhacken? Und wir können nichts dagegen tun. Wir stürzen die Lawinen hinunter, aber sie errichten Mauern und Dächer, und vergebens rütteln unsre Stürme an ihren festen Bauten. Wer gibt ihnen diese Macht über die Elemente?«

»Wenn sie wirklich so etwas haben, dann wird's ihnen wohl der Hohe geben. Was geht's mich an?« sagte Turgula.

»Das denk' ich wohl auch,« fuhr Aspira fort, »was geht's mich an? Aber es ist in mir wie ein Schmerz, eine Qual, die mit den Atem nimmt, daß es eine Welt gibt, die mir fremd ist, in die ich nicht schweben und dringen kann. Über das Blankhorn steig' ich empor und bis in die Höhen des Äthers, zur Wohnung meines königlichen Vaters, dehn' ich mich in kleinster Kristalle unbegrenzter Feinheit. In die tiefsten Höhlen der Erde schleich' ich hinein und dampfe unzerstörbar in der Glut der Gesteine. Über Länder und Meere zieh' ich, ich löse mich auf und bin wieder da, ich zerteile und balle mich, unverletzlich in meiner Freiheit. Und hier gibt es ein Übermächtiges, Unerreichliches, das Vergangenheit und Zukunft zusammenbindet – – Was künftig geschieht, ist schon hier im Schoße der Gegenwart, und doch unbemerkbar für mich, die Lebendige. Die Menschen müssen das sehen können, was ich nicht sehe, die geheimen Fäden des Lichts, mit denen der Hohe die Sterne zusammenzieht, daß sie morgen gehen wie heute, daß sie dem folgen, was er sich aussinnt. Und wenn es so wäre, und wenn auch ich folgen müßte einer Bestimmung – –«

»Unsinn, ich folge nicht,« rief Turgula. »Sieh, wie ich glühe im Abendstrahl – – und nun verschwimme ich. Leb wohl, auf Wiedersehen am Morgen!«

Zarter und zarter wurde Turgula, ein schmaler, rosafarbener Schleier umschlang sie die höchsten Spitzen, und dann war sie verschwunden.

Von der Spitze des Blankhorns zuletzt unter all den andern Eisgipfeln des höchsten Gebirgs war der letzte Dämmerstrahl verschwunden. Über den Höhen der Erde, in den Tiefen des Weltraums schritten leuchtende Sterne den gewohnten Weg.

Aspira blickte zu ihnen empor, wie sie es immer getan, in der heiligen Scheu einer unbewußten Ehrfurcht. Aber auch unter ihr glommen jetzt helle Sterne auf. Sie waren nicht so fern, nicht so alt. Aspira konnte sie erreichen, umhüllen, daß sie nur in die Nähe hineinleuchteten. Ja früher konnte sie sogar ihr Licht ausblasen, wenn sie einherstürmte in der Nebelnacht; jetzt ging das nicht mehr.

Waren diese Sterne mächtiger geworden? Sie wußte, daß es die Sterne der Menschen waren, die sie in Schmalbrück anzündeten und überall, wo sie sich niederließen. Durfte sie auf die Sterne verächtlich hinabblicken? Oder verdienten sie auch Ehrfurcht? Waren sie nicht vielleicht den hohen Himmelsleuchten näher verwandt als sie selbst, die bewegliche Tochter der Luft, des Höhenkönigs Migro frei wallendes, schwebendes Kind? Denn das war das Wunderbare, worüber sie nicht hinwegkam, seit ihr einmal Menschenwerk die holde Freiheit des Spiels gestört hatte: Es gab etwas, das sich ganz genau im voraus bestimmte, das dann gerade so kommen mußte und nicht anders. Nur noch die Sterne waren so unbegreiflich bestimmt.

Der Fels und das Wasser stürzten und der Gletscher zerbarst, aber niemals wußte man genau, wann und wo und wie und in welcher Form. Jedes Frühjahr ergrünte das Tal und die bunten Blumenaugen schauten in die Sonne und badeten sich in den Tropfen des Taus. Aber nie konnte man wissen, wo und wieviele Augen sie im nächsten Jahre aufschlagen würden, und kein Blättchen und kein Tröpfchen war genau so groß und genau so gelagert wie vorher. Aber Menschenwerk das konnte bestimmt sein wie die Sterne.

Menschen! Sollten sie wirklich den Sternen verwandter sein als sie, die freie Wolke?

Und langsam zog Aspira dem mächtigen Bergriesen zu und schmiegte sich an das Massiv des Blankhorns. Mit weichen Armen umschmeichelte sie des Schlummernden eisige Schultern. Da träumte er von warmem Sonnenschein, und von seinem Schneehaupt löste sich eine weiße Locke, die rollte abwärts, und donnernd stürzte eine Lawine in die Schwarzschlucht.

Unwillig erwachte er aus seiner Ruhe und brummte:

»Nun, nun? Was soll's? Was hat sich die Lawine zu rühren?«

»Zürne nicht,« sagte Aspira bittend, »daß ich dich störte. Ich barg mich bei dir.«

»Du bist es, Aspira? Du weißt doch, daß ich jetzt keinen Besuch empfange. Komm morgen wieder.«

Da löste Aspira ihren Wolkenarm von seinen Schultern, und große Tropfen fielen auf seinen Scheitel.

»Nun, nun!« raunte der Berg sanfter. »So weine nur nicht gleich! Was hast du denn, daß du jetzt nicht Ruhe hältst?«

»Mir ist so bang.«

»Dummes Zeug. Das mag ich schon gar nicht. Nur keine Aufregung. Ich bin zu breit unten. Wenn ich mich aufrege, steigt mir der Druck nach dem Kopfe.«

»Aber ich fürchte mich.«

»Nun, nun! Und du willst eine Wolkenprinzessin sein? Fürchten? Das geht ja auf was Künftiges. So was kümmert doch Wolken nicht?«

»Das ist's ja eben, daß es mich kümmert. O sag mir, Gewaltiger, der du in der Erde wurzelst bis weit unter die Wohnungen der Menschen, sag mir, gibt es etwas, das über das Kommende bestimmen kann?«

»Bestimmen? Nun, nun! Das gibt es vielleicht, das weiß der Hohe allein. Aber was hast du deswegen zu fürchten, du freie Wolke? Du bist, wie du bist. Was kümmert dich das Kommende?«

»Wenn's aber etwas gibt, das auch mich bestimmen kann? Wenn eine Macht wäre, in mir zu wirken, daß ich müßte, wie andere wollen? Wenn mich etwas zwingen könnte, zusammenzufließen zum See, daß ich nicht wieder hinaufzugelangen vermöchte zur Höhe? Wenn ich tun müßte, was vorher bestimmt ist und nicht anders sein kann? Wenn sie mich einsperrten in die großen Fässer, die drunten liegen, und hinwegführten in den engen Wagen?«

»Was redest du da für Zeug? Was wollten sie mit dir anfangen? Und wer denn?«

»Wer? Die Menschen.«

»Die Menschen? Glimmer und Schwefelkies! Die Menschen?«

»Ich denke nur so, ich weiß nicht, was sie können. Ich möchte nur von dir erfahren, was das für eine Macht in ihnen ist, schon heute zu wissen, was sie morgen tun werden; zu wissen, was an dieser Stelle werden wird, ein Haus, eine Brücke, ein Weg, genau so, wie es dann wirklich da ist Was ist das für eine Macht?«

»Nun, nun!« sagte das Blankhorn. Dann schwieg es lange. Aber am leisen Rieseln des Schnees von seinem Haupte merkte Aspira, daß etwas in ihm vorging.

»Nun, nun!« sagte es noch einmal. »Die Menschen! Spalten und Gletscherschliff! Da könntest du recht haben. Gestern sind mir wieder drei auf dem Kopfe herumgekrabbelt. Haben auf mir herumgehackt. Sieh mal da links an der Eiswand, dicht über dem Sprung im Felsen, da müssen noch die Stufen sein. Bitte, wasche sie mir nachher ein bißchen ab. Und jetzt erinnere ich mich. Der Nachtwind sagte mir's, als er vom Gletscher heraufkam und sich bei mir empfahl. An der Hütte am Schmalstein hatte er sie sitzen sehen – es war noch Nacht – mit ihren Lichtern und hatte sie belauscht. Der Blonde war wieder dabei, der mich schon lange ärgert, weil er mir immer mit seinem Strick und Beil auf dem Leibe herumkriecht.«

»Über den Westgrat kommen wir leicht,« hat er gesagt, »aber hinter dem Kamin ist eine Eiswand, da müssen wir Stufen hauen.« »Viele?« fragte einer. »Nun, so einige vierzig können's werden.« Und sieh einmal nach, Aspira, wieviel es sind. Doch – du kannst so viel nicht zählen. Aber ich – es regt mich nur auf, das ist dumm! Doch ich tu's! Gleite darüber hin mit deinem Nebelhändchen, mein Aspirchen, da kann ich's zählen. So – so – noch ein paar, weiter oben! Es sind zweiundvierzig! Bei allen Zirbelkiefern! Woher konnte diese Fleischklümpchen, diese Schmiernasen, diese benagelten Zweibeiner das wissen, das doch noch gar nicht war, als sie dort sprachen? Das ich gar nicht erlaubt hatte?«

»Du verstehst es nicht?«

»Nein, ich versteh's nicht. Aber du hast schon recht. Bedenklich ist es. Wir dürfen uns nicht alles gefallen lassen. Mir paßt das nicht. Unter meinen Beinen mögen sie meinetwegen in ihren Gruben herumzappeln, das ist ein kleiner Spaß, das ist gesund für unser einen. Aber hier oben auf mein ehrwürdiges Haupt sollen sie mir keine Mauern bauen, noch Türmchen setzen.«

»Aber was willst du tun?«

»Nun, nun!«

»Du weißt es auch nicht?«

»Sieh, Aspira, wie sollen wir freien Geister der Elemente so was wissen? Nicht wahr, das brauchen wir nicht? War auch sonst nicht – das ganze Menschengesindel ist was Neumodisches.«

»Aber dann können wir auch nichts dagegen tun.«

Das Blankhorn überlegte. »Wenn es nun mal so ist, so wird es wohl von dem Hohen so bestimmt sein. Dann ist es ein großes Geheimnis, das nur der Hohe weiß. Dann weiß er vielleicht auch, was uns gegen die Menschen zusteht. Es gibt ja allerlei Mittel. Man kann Schnee und Eis und Felsen hinabstürzen. Du kannst die ganze Gesellschaft ertränken, wenn du mit deinen Geschwistern dich über sie hermachst. Ich könnte mit meinem Fuße wackeln. Aber das regt auf. Man hält's nicht lange aus. Es hilft nicht für die Dauer, das Gewürm kommt wieder. Du hast schon recht, man muß hinter ihre Kniffe kommen, man muß sehen, aus welch breiigem Stoff der Hohe sie gemacht hat. Nur der Hohe weiß es.«

»Der Hohe! Was nutzt das uns?«

»Ja, der Hohe. Du mußt ihn fragen.«

Aspira schauerte zusammen und zog sich dicht um den Berggipfel.

»Wie kann ich das?« fragte sie in ängstlicher Spannung.

»Du kannst es. Nur eine Wolke kann's. Wir vermögen's nicht, die wir im Boden wurzeln. Aber du schwebst.«

»Was hab' ich zu tun?«

»Steige! Steige, meine Aspira, bis du ausgedehnt bist aufs allerfeinste. Bis deine kleinsten Teilchen an der Grenze des Luftmeeres zittern, wo König Migro herrscht, dein erhabener Vater. Du allein kannst straflos sein Reich durchschweben und hineintauchen in den unendlichen Äther.«

»Und dann?«

»Der Hohe wird es dir offenbaren, wenn er will. Ich kann nichts weiter dazu tun. Es regt mich auch auf. Nun, nun! Fürchte dich nicht. es ist alles, wie es ist. Laß mich noch ein wenig schlafen, ehe die Sonne kommt. Leb' wohl, Aspira. Steige! Steige!«

Das Blankhorn entschlummerte, und droben im Äther wandelten die Sterne.

Legende

Aspira stieg. Im Schattenkegel der Erde stieg sie hinauf in den unendlichen Weltraum. Immer weiter zerstreuten sich die feinen Eiskristalle. Die sich sonst im glitzernden Streifen der Federwolke geschart hatten, waren schon meilenweit voneinander. Aber ihre Einheit war nicht getrennt. Noch war sie Aspira, noch fühlte sie die gemeinsame Ordnung, die ihr Wolken-Ich durchzog und band. Schon lag das Reich des Vaters hinter ihr, wo Migro die Grenzen des Planeten hütete. Immer leichter und freier wurde ihr zumute. Wann kam sie zum Hohen?

Niemand kann ihn sehen, den Urewigen, den Unendlichen, dessen Wohnung der dunkle Äther ist. Würde er reden? Konnte eine Wolke ihn verstehen?

Und nun trat sie aus dem Erdschatten hinaus. Der Lichtdruck der Sonnenstrahlen trieb ihre Teilchen hinweg vom umfassenden Arm der Erde. Aufgelöst war sie in die Spannung des freien Äthers, eins mit dem unergründlichen Weltraum. Nur wer den höchsten Lüften verwandt ist vom Geschlecht der Planetengeister, vermag dahin zu gelangen. Da schwinden die Grenzen des Stoffs, da strahlt das Geheimnis des Unbegriffenen in die ungeschiedenen Seelen des Allebendigen. –

Und die heilige Sehnsucht der ewigen Frage durchschauerte Aspiras Seele. In ihrem bebenden Herzen sprach die Bitte nach Erleuchtung:

Uralte Weisheit wag' ich zu suchen.Uralte Weisheit, fühl' ich, umfließt mich.Uralte Weisheit künde mir, Hoher!

Ehrfurchtsvoll lauschte sie auf eine Antwort.

Da klang es zu ihr mit einer Stimme, die keine Stimme war, aber unwiderleglich wie der Gang der Zeit und das Licht der Sonne:

Uralte Weisheit gibt es nirgend.Uralte Weisheit kann man nicht fühlen.Uralte Weisheit läßt sich nicht künden.

Uralte Weisheit kann man nicht fühlen. Uralte Weisheit läßt sich nicht künden. »Wenn ich es nenne, so wird die Sehnsucht dich ergreifen, den Weg zu wandeln. Und die Sehnsucht wird deinen leichten Wolkenleib hemmen und dein glückliches Spiel in den freien Lüften. Darum erbitte es nicht.«

»Die Sehnsucht hemmt mich schon, die Furcht ergriff mich vor der Macht der Menschen. Kann ich, eine freie Wolke, dazu gelangen, das Geheimnis des Menschen zu erfassen, so nenne das Wort!«

»Das Wort weist nur den Weg, noch nicht die Weisheit.«

»Nur den Weg suche ich.«

»Es ist ein schwerer Weg und ein schweres Wort, ein heiliges Wort, das die Macht der Welt in die Seele legt –«

»Nenne das Wort!«

»Aber mit der Macht auch das Leid, das erhabene Leid des Schöpfers um sein Werk, daß seine Seele erbebt in ihrer Tiefe, die zur Tiefe der Welt wird.«

»Nenne das Wort!«

»Das Gesetz!«

Als dieses Wort in der Leere des Raumes vernommen ward, da war kein Ton und keine Stimme, und dennoch war das Wort und schauerte durch alles Leben der Kreatur. Denn es war das Wort, vom dem gesagt ist, daß es im Anfang war – das Gesetz – die Bestimmung des Gesetzes.

Und ehe Aspira sich bewußt wurde, was ihr Neues gegeben ward, klang in ihr wieder milde die Stimme des Hohen, die keine Stimme war: »Vernimm, Aspira, das Geheimnis des Gesetzes, soweit du vermagst. Frei in deiner Seele entstand die Frage nach dem, was anders ist als das Jetzt, entstand der Zweifel. So hast du ein Recht errungen zu hören vom Gesetz. Denn nur wer zweifeln kann, der kann erkennen. Ihr Geister der Natur kennt nicht den Zweifel, darum bedürft ihr nicht der Erkenntnis. Du aber hast nun eine Macht gewonnen, die über das Wolkenreich hinausführt.

Ich künde dir die Legende.

Das Gesetz war vereint mit Zeit und Raum. Und in ihnen war die Fülle der Welt.

Da entsprossen zwei Kinder. Weil hieß der eine, und Will der andre.

Weil konnte nur rückwärts blicken und nahm alles, was gewesen war, das hielt er fest mit der Kraft seines Vaters, des Gesetzes. Denn er sah nur, wie alles Geschehene in ihm bedingt war.

Will schaute nur voran und forderte alles, was in Zukunft geschehen sollte, das bestimmte er als Ziel mit der Macht seines Vaters, des Gesetzes. Wie aber etwas geschah, das wußte er nicht. Denn er kannte nur, was geschehen solle nach dem Gebot.

Da entstand Streit zwischen den Brüdern, und sie gaben ihrem Vater, dem Gesetze, verschiedene Namen. »Notwendigkeit« nannte es Weil, »Freiheit« aber nannte es Will. Und jeder sagte, daß die Welt nur ihm allein gehorche. Und sie klagten beim Vater.

Der Vater schied, um den Streit zu schlichten, alles Lebendige in zwei Teile, in das Reich des Werdens und in das Reich des Sollens.

Das Reich des Werdens nannte er »Natur« und gab es dem Weil, der nur das Geschehene sah, wie es ward, und nicht das Ziel, wohin es strebte. Darum nannte er das Gesetz die »Notwendigkeit«, und alles mußte so sein, wie es ist.

Das Reich des Sollens aber nannte er »Idee« und gab es dem Will, der nur das Ziel sah, aber nicht verstand, wie es werden mußte. Darum nannte Will das Gesetz »Freiheit«, und alles wollte anders sein, als es ist.

Der Vater aber sprach weiter zu den Geistern alles Lebendigen: »Gehet hin und wählet das Reich, darin ihr leben möget; in jedem von ihnen findet ihr das Glück; weil nur ein Gesetz in euch ist, werdet ihr nichts vom Gesetze mehr merken. Geht ihr in das Reich der Natur, so lebt ihr nach dem Gesetze der Notwendigkeit. Aber da ihr nicht wißt, daß ihr auch anders sein könntet, so nehmt ihr das Leben ohne zu fragen hin, wie es eben kommt. Nach dem eignen Wesen lebt ihr glücklich, ohne Enttäuschung, sorglos und frei. Euer Leben ist ein Spiel, denn das Gesetz ist in euch, ohne daß ihr es wißt.

Geht ihr in das Reich der Idee, so werdet ihr euch stets erblicken, wie ihr wollt, und ihr werdet auch glücklich sein. Denn euer Ziel setzt ihr euch nach Gefallen und wißt nichts von den Hindernissen, die entgegenstehen. Eure Wünsche sind euer Leben. Ihr lebt in der Idee und seht das Gewollte als erfüllt, das Erfüllte wie ein Gewolltes. So seid auch ihr glücklich und sorglos ohne Enttäuschung. Euer Leben ist ein Spiel, denn das Gesetz ist euer Wille.

Aber wenn ihr glücklich bleiben wollt, so hütet euch, in beide Reiche zu dringen, in beiden leben zu wollen. Von einem Reiche zum andern führt der Weg der Macht, doch er ist eine Brücke. Wer sie betritt, der unterliegt dem Gesetze beider Reiche.

Wer aus dem Reiche der Natur kommt in das der Idee, der lernt die Freiheit kennen, der fordert für sich, was er nicht hat. Da strebt er nach dem Unerreichbaren. Da sieht er, daß er notwendig bedingt ist, seine Freiheit däucht ihm ein Schein, und seine Macht sinkt zusammen im Leide der Sehnsucht.

Wer aber aus dem Reiche der Idee in das der Natur tritt, dem scheint es, daß er seiner Freiheit beraubt werde. Denn will er die Macht erreichen über das, was geschieht, so muß er sich dem Gesetze der Notwendigkeit unterwerfen. Sich selbst muß er ansehen als bedingt durch das, was war, und vorausbestimmt für alles, was sein wird. Und der Stolz der Freiheit sinkt ihm zusammen im Leide der Sehnsucht.

Darum hütet euch, die Brücke zu betreten.

Die Brücke aber heißt: Erkenntnis.

Wer nur lebt in der Reiche einem, der weiß nichts vom Geheimnis der Welt. Er lebt nur unter einem Gesetz, und so weiß er nichts davon, daß es zwei Seiten hat, die Notwendigkeit und die Freiheit. Er kennt das Leben nur in einem Gefühl ohne Grund, ohne Widerstand.

Wer aber die Brücke der Erkenntnis betrat, dem hallt das Wort entgegen, das am Anfang war, dem wird die Seele erschüttert vom Zweifel und der Sehnsucht in der Wonne des Stolzes und der Macht. Das ist das erhabene Leid des Schöpfers um sein Werk.

Du stehst auf der Brücke, Aspira, du hast das Wort vom Gesetze vernommen. Aber noch steht dir frei, zurückzutreten in dein Reich.

Du weißt nicht, welches dein Reich ist? Freilich kannst du es nicht wissen, da du nur das eine kennst. Und die nur das eine kennen, sind glücklich im freien Spiel. Denn unglücklich macht nur der Zwang. Der Zwang aber entsteht für den, der beide kennt, die Notwendigkeit und die Freiheit.

So vernimm, was weiter geschah.

Die Geister des Lebendigen trennten sich voneinander, die einen zogen zu Weil, die andern zu Will.

Die zu Weil zogen, waren die Gewaltigen des Raumes. Das waren die Riesen des Äthers, die von Sonnen zu Sonnen ihre Strahlenleiber strecken. Das waren die Sonnen selbst und die Planeten. Und auf der Erde waren es die Geister der Elemente, die im Innern des Erdballs glühn und die sich in den Bergen zur Höhe steifen, die in den Schluchten rauschen und in den Lüften ziehen. Und ihr Wolken seid die feinsten, die höchsten, die beweglichsten von ihnen. Daher kann es geschehen, daß eine von euch sich über ihr Reich verliert bis zur Brücke der Erkenntnis.

Die aber zu Will zogen, das waren die Geister, die sich die kleinen, mühsamen Zellenleiber bauten. Die schwimmen im Meer und wachsen am Fels, die kriechen und summen und fliegen und klettern, und teilen sich und sterben, aber leben wieder auf in ihren Teilen. Und auch sie sind verschieden, und viele von ihnen reichen bis an die Grenze, wo die Brücke der Erkenntnis steht. Und die höchsten von ihnen sind die Menschen.«

Lange schwieg Aspira. Dann wagte sie zu sagen:

»Die Menschen! Um ihretwillen kam ich zu dir, ihr Geheimnis zu vernehmen. So ist es ihr Geheimnis und ihre Macht, daß sie nicht zum Reiche der Notwendigkeit gehören, wie wir Wolken, sondern zum Reiche der Freiheit?«

»Nein, das ist es nicht. Der Menschen gibt es zweierlei. Solange sie jung sind und Kinder, ob nun die einzelnen, ob ganze Völker, so leben sie noch allein im Reiche der Freiheit und willen nichts von den beiden Reichen. Und sie sind glücklich, aber machtlos. Wenn sie jedoch älter werden –«

»So gewinnen sie die Macht?«

»Die Macht und das Leid. Denn sie treten auf die Brücke der Erkenntnis und können nicht wieder zurück.«

»Was ist Erkenntnis?«

»Das eben ist die Macht, aus dem Reiche der Freiheit in das der Notwendigkeit zu treten und das Gesetz zu verstehen, wie aus dem Geschehenen das Künftige werden muß.«

»Und das ist das Geheimnis der Menschen?«

»Das ist eines der Geheimnisse, es ist ihre Macht.«

»Ich will auf die Brücke der Erkenntnis treten. Ich will ihre Macht gewinnen. Denn das ist das Geheimnis, das ich suche.«

»Erinnerst du dich, was ich von der Weisheit sagte? Weisheit kann nicht geschenkt werden, sie kann nur erworben werden in mühevoller Arbeit. Und Erkenntnis ist ein Teil der Weisheit. Sie zu erringen kann dir nicht gelingen mit deinem geschmeidigen, dehnsamen Wolkenleibe. Dazu müßtest du ein Mensch werden.«

»Ein Mensch! Ich? Kann ich das?«

»Es gibt auserwählte Geister in beiden Reichen, denen es gestattet ist, aus dem einen in das andre Reich zu tauchen. Dann enthüllt sich ihnen das Gesetz in seiner doppelten Gestalt als der eine Vater alles Lebendigen. Mitunter können auch Menschen hineinschweben in die Tiefe der Natur und das Gesetz in seiner Einheit erblicken.«

»So könne sie Wolken werden?«

»Nein. Ihr Leib muß ein Menschenleib bleiben. Denn nur die Zellenwesen haben im Bau ihres Hirns die Fähigkeit, nicht nur mitzuschwingen und mitzuerleben, was die Welt im Verborgenen durchflutet, sondern auch es nachzubilden und mitzuteilen. So könne sie mit euch schweben in allen Höhen und Tiefen und hinaus bis in die Unendlichkeit des Äthers und mitfühlen das Geheimnis der Welt. Dichter heißen sie unter den Menschen. Ihr aber, die ihr nicht schon wohnt im Reiche der Freiheit, könnt in der Menschen Gedankenreich nur hineintauchen, wenn ihr einen Menschenleib gewinnt.«

»O gibt ihn mir, Hoher, o laß mich ein Mensch werden! Wie ist das möglich?«

»Der die Bewegung kennt aller Strahlen und Atome der Erde, wird es dir sagen. Schwebe zurück, Aspira, aus den Höhen des Raumes und frage deinen Vater. Will er's gestatten, so magst du ein Mensch sein.«

Berggeister

Noch lange zögerte Aspira, aufgelöst in den verschwindenden Weiten. Sie lebte in Erwartung des Zukünftigen, in Stolz und zagender Ungewißheit, und hoffte auf ein weiteres Wort der Erklärung. Aber die Stimme des Hohen war nicht mehr zu vernehmen.

Da zog sie ihre Teilchen zusammen und ward wieder schwer und sank hinab zur Erde. Und sie kam in das Reich des Vaters.

Wo das Atem des Erdballs sich verdünnt zur Leere des Weltraums, an den Grenzen des Luftmeers wohnt König Migro. Dort umspannt er das Rund der Erde, der Pförtner der Strahlung, die Erde und Sonne und all die Welten des weiten Himmels verbindet. Von dort wandern schwingende Boten zum dauernden Austausch der Kräfte rastlos ums Erdenrund. Tief unter ihm schweben Dünste und Wolken, unter ihm zucken von den Polen die glimmenden Lichter, ihn trifft ungeschwächt die Fülle der Sonnenbotschaft. Und er verteilt die Gaben des beherrschenden Glutballs an die Stoffe des Planeten, daß sie wallen und wandern in der Elemente Gewalt und sich einen und lösen im feinsten Gliederbau geordneter Zellen.

Der Vater empfing Aspira mit freundlichem Ernste.

»Vom Hohen kommst du«, so sprach er, »mit wundersamer Bitte, mit seltener Erlaubnis.«

»Ja, Vater, der Hohe erlaubt mir, in das Reich der Freiheit zu treten aus meinem Reiche der Notwendigkeit, wenn du mir den Menschenleib gewähren willst, dessen ich bedarf.«

»Wisse, mein Kind, was mir von den Menschen bekannt ist, das ist nur das Spiel der Stoffe und Kräfte in den Zellen ihres Leibes. So weiß ich auch nur, wie du dich mit diesem Leibe verschmelzen kannst. Dein Wolkenkörper ist durchstrahlt von einem schwingenden Äther, dessen Spannung deine Teile zu einer Einheit verbindet, und mögen sie durch die Räume der Welt verstreut sein. Ihr nennt ihn das Wolkenherz, und in ihm liegt dein Leben als Wolke. Dieses Wolkenherz kann sich verschmelzen mit dem Menschenhirn, das des Menschen Leib und Leben regiert. Und ich weiß, wie sie sich wieder trennen können, ja auch, daß sie noch vereint bleiben können, wenn dein Leib wieder die Form der Wolke angenommen hat.«

»So kann ich auch eine Wolke sein mit der Seele des Menschen?«

»Was das bedeutet, weiß ich nicht. Was in der Seele des Menschen vorgeht, kann ich nicht verstehen und es geht mich nichts an. So weiß ich auch nicht, was deine Seele fühlen mag, wenn du ein Mensch bist. Denn mein Reich ist das der Notwendigkeit und nicht der Freiheit. Und ich weiß nur, daß die getrennten Reiche verbunden sind durch die Brücke der Erkenntnis, wie der Hohe dir offenbarte. Die Menschen können sie betreten und dadurch Macht gewinnen über unser Reich. Dann zürnen ihnen unsre Geister. Was aber die Menschen dabei erleben, ist uns unbekannt. Vielleicht will der Hohe, daß auch wir erfahren von dem unbekannten Leben der Menschenseele. Dazu muß einer der Unsern Mensch werden. Das aber können nur die Königswolken. Und auch diese nur, wenn in ihnen die Sehnsucht rege geworden ist nach dem Reiche der Freiheit, wenn sie mutig genug sind die Brücke der Erkenntnis zu betreten. Es ist eine seltene Gnade, die der Hohe dir gewährt. Doch was dann an Leid oder Lust die Seele durchbebt, das weiß niemand von uns Geistern der Natur.«

»Der Hohe selbst hat mich gewarnt. Doch, Vater, wenn ich es darf, so will ich es. Ich habe den Mut.«

»Zwei Tage mußt du warten und still ruhen, um dich zu prüfen. Und beharrst du dann in deinem Entschlusse, so magst du am Morgen des dritten Tage hinabgehen als Mensch zu den Menschen.«

»Ich werde gehorchen. Doch sage mir, wie alles geschehen soll!«

»Ich will es dir künden. Mit deinem Wolkenherzen wirst du hineinziehen in den Leib eines Menschen, der im Schlafe der Erstarrung dich aufnimmt. Dann wird der Leib des Menschen dein sein mit alles, was der Mensch durch sein Leben erworben hat, soweit dein Wolkenherz ihn zu durchdringen vermag. Und soweit wird auch seine Seele die deine sein. Dann bist du ein Mensch unter Menschen.«

»Und kann ich wieder zurückkehren als Wolke?«

»Du kannst es, so oft du willst, doch nur auf kurze Zeit. Dann mußt du dich niederlegen mit deinem Menschenleibe an verborgener Stelle dieses Bergreichs, das deine Heimat ist, und in den Schlaf der Erstarrung versinken. Und dein Atem wird entweichen als Wolke zugleich mit der Menschenseele. Und du wirst sein eine Wolke mit der Seele einer Wolke und dem Geiste eines Menschen zugleich. Der Leib des Menschen aber liegt inzwischen erstarrt in den Bergen. Darum hüte dich, daß du nicht zu lange als Wolke säumst, damit nicht etwa inzwischen der Leib des Menschen Schaden nimmt; sonst kannst du nicht wieder Mensch werden. Und hüte dich, daß von deinem Wolkenherzen nichts verloren geht; sonst kannst du nicht wieder eine reine Wolke werden. Denn wenn du wieder frei sein willst in unserm Reiche, so mußt du dem Menschen alles zurückgeben, was du mit deinem Wolkenherzen vermischt hattest. Kannst du das nicht, so stirbt der Mensch und du bleibst eine Menschenwolke.«

»O mein Vater, es ist ein gefährliches Wagnis.«

»Darum hast du Bedenkzeit. Und wisse noch dies: Es ist dir verboten, den Menschen zu verraten, daß du eine Wolke bist.«

»Warum das?«

»Der Hohe will's.«

»Und was für ein Mensch werde ich sein, o Vater?«

»Einer von denen, die in der Frühe des dritten Tages heraufkommen in die Berge. Ich sage dir, daß ich die Seelen der Menschen so wenig kenne, wie irgend einer von uns Geistern der Natur. Darüber vermag ich nichts. Doch seinen Leib können wir beschützen. Auch dich, meine Tochter, werden wir hüten mit unsrer Macht, solange du in Menschengestalt wandelst. Du wirst einen andern Namen haben als Mensch, uns aber bleibst du Aspira. Migros Segen geleitet dich. Und faßt dich ein Leid um der Menschen Not, so fliehe zurück in unser Reich. Und nun ziehe hin, mein Kind, und entschließe dich. Am Morgen des dritten Tages werde ich dich wieder hören.«

Da sank Aspira hinab in die Schlucht am Blankhorn und barg sich vor den ersten Strahlen der Sonne, die das weiße Haupt des Bergriesen vergoldete.

Wieder leuchteten die hohen Schneeberge im Sonnenschein.

An der dunkeln Felswand, die zum Firnfeld des Blankhorns abstürzt, erwachte der Nachtreif und begann mit feuchtem Augenaufschlag ins Tal hinabzuglänzen. Unter den Schneeresten wurde ein kleines Rinnsal lebendig; das tropfte leise auf die Streifen der gelbbraunen Flechten hernieder.

»Sehr ihr nichts?« knurrte der Fels.

»Es sind Wolken über dem Gletscher,« sagte der Nachtreif schüchtern.

»Das weiß ich selbst. Aber ob Aspira darunter ist, das kann ich nicht unterscheiden. Wozu seid ihr denn naß, wenn ihr nicht zwischen dem Wolkengewimmel hindurch sehen könnt?«

»Wen meinen Sie denn mit dem »ihr«,« tönte es von den Flechten. »Wir sind nämlich auch hier und wir sind auch naß, aber etwas mehr Höflichkeit möchten wir uns doch ausbitten.«