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„Warum den ‚Atem anhalten‘? Weil es Ereignisse im Menschenleben gibt, die nur im Zustand größter Konzentration und Anspannung zu begreifen sind, in äußerster Verzweiflung beispielsweise oder angesichts irrwitzigster Schönheit. Und wo, frag ich, wäre beides (Schönheit und Verzweiflung) besser aufgehoben als im Gedicht?“
Gerlind Reinshagen hat in fünfzig Jahren viele Theaterstücke, Hörspiele, Romane und Geschichten geschrieben - und immer auch Gedichte. Zum ersten Mal gesammelt, zeigt sich, daß sie einen integralen Bestandteil ihres Werks bilden – beherzte und hoch empfindsame lyrische Nahaufnahmen von Figuren, von Situationen und Stimmungen, die uns, so oder ähnlich, nicht nur in der Welt ihrer Texte begegnet sind.
„Gewaltig und rein zugleich ist aber das Gedicht ‚Annäherung an eine Person‘, eine scheue und doch entschlossene Reise in das Schloß der Seele, wie das die Teresa von Avila genannt-und-umrissen hat… Dieses Gedicht ’hörte‘ ich simultan gesungen, in einer noch unentdeckten Schubert-Melodie, unhörbar und umso hörbarer, weder Bariton noch Sopran, leiser noch als ‚auf leisen Sohlen‘ -“
Peter HandkeDas E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 55
Gerlind Reinshagen
Atem anhalten
Gedichte
Suhrkamp Verlag
Leicht gefügt scheint
Die erste Wand
Überwindlich
Im Vergleich zur nächsten
Von den folgenden
Nicht mehr zu reden
Wie überhaupt
Dem ganzen Gebäude
Das er
Oder sie
Unter Unbilden
Schwitzend
Tagtäglich sich schichtet
Kunstvoll
Die Puppe
Die Muschel
Oder auch dieses japanische Haus
Mit den beweglichen Wänden
Klug erdacht
Von der verletzlichen Kreatur
Veränderbar
Um sich nicht finden zu lassen
Nicht zu zerstören
Möchte ich kommen
Und niemals
Entlarven
Was so
Unter Schmerzen
Gewachsen ist
Lieber
Eintreten höflich
Lieber auf leisen Sohlen
Schnell
Durch die Vorhallen
Flure
Den Nachbarn suchen
In seinem Haus
Nachgehn
Der Wärme
Dem Duft
Dem verhallenden Schritt
Und nicht anhalten
Auch wenn es enger wird
In den Wendelgängen
Ohne Angst
Vor den Winkeln
Den Spinnenhecken
Mit Geduld
Auf der Spur bleiben
Bis einmal
Vielleicht
Oder nie
Vor dem letzten Gelaß
In der innersten Kammer
Plötzlich
Hör ich dich atmen
Leise
Im Dunkeln
Hinter verschlossener Tür
Manchmal bei Sturm
Fliegt mir ein Sandkorn
Aus der alten Stadt ins Auge
Ritt huckepack auf einem Hundsgebell
Auf einem Glockenbimmeln her und brennt
Ich spürte — wann — einst Aschefunken so
Das stammt nicht vom Gesims des Doms
Vom Fuß der klugen Jungfraun nicht
Auch nicht von Rolands Schild
Kein Gegenwärtiges hätt solche Kraft
Ein heißeres Erinnern jagts auf
Aus wildem Strauchwerk
Einer Fahrradfelge
Aus alterskrummem Schornstein
Schilferndem Geländer
Einem Kinderschuh
Wer schleicht sich auf den Abend zu ins Haus
Und tischt mir Lügen auf von Krieg und Tod und Untergang
Wer will mich wecken
Da ich doch nicht schlafe
Ein Schriftgelehrter möcht mich
Glauben machen daß ich träume
Ich zeige ihm mein wundgeriebenes Auge
Manch einen muß man nichts lehren
Zum Beispiel die größeren Mädchen
Beherrschen die Schauspielerei perfekt
Wir Kleinen mit den Teufelsmützen
Schleichen uns an
Kauern hinter den Buchen im Wäldchen
Belauern sie
Wenn sie mit ihren hübschen
Blitzblanken Uniformierten sich küssen
Schaun durch Schlüssellöcher horchen an Wänden
Erzählen ohne Wimpernzucken den noch Kleineren
Ein paar ganz unschuldige zotige Witze
Verleumden unsere unbescholtenen Schwestern
Prahlen mit Liebesabenteuern die wir uns
Aus verbotenen Büchern
Zusammenstahlen
Wir lauschen wir lauern wir üben
Wie vor uns die Schwestern
Die Schauspielerei
In Puppenwinkeln und Kinderhecken
Die Schritte die Gesten die Augenaufschläge
Bis wir es auch können
Und so
Spielen wir uns durch die lausigen Zeiten
Wir spielen Abschied nehmen auf Urlaub kommen
Wir spielen Hochzeit mit dem Bräutigam
Dreitausend Kilometer fern
Vielleicht im Ural vielleicht schon tot
Aber wir natürlich noch immer im Schleier
Wir spielen mit den Hochzeitskleidern
Unserer Mütter
Mit den Witwenhüten
Wir spielen Beine abnehmen auf Krücken gehen
Wir mischen Tinte mit Kreide
Und spielen verbranntes Gesicht
Wir spielen Bruder begraben
Eltern begraben
Liebsten begraben
So spielend überstanden wir den Krieg
Und nebenbei legten wir uns eine Sammlung
Eindrucksvoll gezackter
Interessant gerissener Eisenteile zu
Zeigten für Geld unsere Exponate
Bombensplitter
Kunstvoll vom Feuer geschwärzte Knöchelchen
Exemplare ohne Seltenheitswert
Die Standuhr zählt
Holt aus
Und schlägt
Hier trocknet Tinte
Ganz unvermerkt fiel vom Hibiskus
Eine Knospe ab
Durchs Licht fließt Staub
Im Schrank vergilbt der Brief
Am Grund der Tasse
In einer Farbe
Nie
Noch nirgendwo verwirklicht
Entdeckt es plötzlich
Schimmernd in der Milch
Beim Trinken
Aschenputtels Schuh
Ganz klein
In den
Schlüpft es hinein
Erst mit dem Fuß
Dann mit dem Leib
Dann ganz
Umschlossen
Was aber keinesfalls
Zu definieren ist als Flucht
Frühkindlich
Intrauterin und so
Von einem plumpen Schoß kann nicht
Die Rede gehen
Weil es exakt
Eindeutig nur
Der Schuh von Aschenputtel ist
Ganz klein
Aus Seide und
Am Grund der Tasse
O du Unsterbliche
Blindschleiche
Im Watteverband
Endlos belegte Zunge
Du
Unterm Bleidach
Verkochst du die Zeit
Zu Sülze
Mahlst mein Herz
Mir zu Staub
Meine Liebe zu Kreide
Für meine Lieder
Ist nur noch
In der Latrine Platz
Für den Sprung aus dem Fenster
Bist du
Zu flach
Endlich
Im Hof die Erde geebnet
Und auch der letzte
Verdächtige Hügel entfernt
Jedes
Meint wieder heiter
Nichts als sich selbst
Die kleinen schwarzglänzenden Burgen im Gras
Erklären sich durch die Arbeit des Maulwurfs
Was sich sanft verstohlen
In Platanenstämmen spiegelt
Ist der Frühling
Das noch immer helle Fenster gegenüber
Bezeugt unverborgen die Ruhe der Nacht
Nur der verschollene Freund
Heute plötzlich an der Straßenecke
War eine Sinnestäuschung
Im Gegenlicht
Lange vor uns waren die Geister da
Hockten im Fachwerk und wollten heraus
Affe und Teufel nebeneinander
Bock Hahn und Hund
Was hats zu bedeuten
Lauernd in Winkeln
Am Katzenplan
In der alten Vogtei
Im Zwicken Drachenloch Düsterngraben
Am Bullerberg in der Ochsenkopfstraße
Gaukler Spieler und Knecht
Die wilden Männer von der Kommisse
Weh uns wenn sie los sind
Das wissen alle Liebespaare
In der Stadt
Wenn sie zur Nacht
Stumm in die Mauern wachsen
Und Kinder wissen es
Schuster Johanni hats gewußt
Der abends noch
Roswithas kleinen Fuß
In seinen Pranken wärmte
Und sich vor Morgengraun zu Tode trank
Im Westendorf ging Joss der Irre
Auf mich los
Und tippt mich an
Als wären wir verwandt
Weh uns
Unmerklich machten sich die ersten frei
Wutgeist und Neidgeist
Scherbengeist
Die hatten wir schon einmal
Wann
Vor fünfmal hundert Jahren
Da jagten sie den Rummel Goldstein
Und Isaak und Esther aus der Stadt
Da fauchten sie die Pest ins Land
Jetzt ist der Sammy Landmann mit der Nickelbrille
Aus dem Thierschweg weg
Verschwunden in der Nacht
Ward niemals mehr gesehn
Die Geister grinsten dürr
Und zogen sich ins Holz zurück
Weh uns
Die nächsten malten Kreuze an die Türen
So wie an Bäume
Die zu fällen sind
(Da war schon Krieg)
Kein junger Sohn ging mehr hindurch
Auch Vater Freund und Liebster nicht
Die nächsten hießen
Haßgeist und Galgengeist und Schlagetot
Die hängten Helle Stickroths Bruder
An den Strick und führten
Thielmanns Tochter
Mit Blechmusik zum Fischmarkt hin
Dort schert man ihr den Kopf
Und Änne die aus Karten lesen konnte
Und sagt voraus was wahr ist
Die legt Pique sieben für das Vaterland
Sich selbst dazu
Man fand sie am Burchardianger morgens tot
Verrätergeist schaut zu und lacht sich eins
Der letzte schließlich
Der brach aus
Drei Tage vor Montgomery dem Retter
Fuhr durch die Luft
Pfiff himmelhoch vergnügt
Und blies zum Zapfenstreich
Da brannten Häuser Bäume Kirchen
In der Stadt
Und Bücher
Bilder brannten
Brot brannte
Briefe
Angefangene Geschichten
Und Menschen tausendfach
Die waren puppenklein
Als wir sie fanden
Und endlich brannte
So hoch fuhr Feuer auf
Auch er
Hei lichterloh
Der Geist des Untergangs
Der mußte selber mit
So dachte ich
Und sprach ein Dankgebet