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Liebe mit Eifelblick. Humorvoll, leicht und voller Sprachwitz. Liane hat ihre Erbschaft spontan in ein marodes Ferienhaus in der Eifel gesteckt – sehr zum Ärger ihres Freundes Matthias. Kurzerhand lässt sie den Beziehungsstress hinter sich und nimmt eine Auszeit in ihrem Haus am Maar. Ein Flirt mit Makler Joop und eine Begegnung mit den herrlich verschrobenen Eifelhexen zeigen ihr, wie befreiend es ist, einfach sie selbst zu sein. Doch dann steht Matthias überraschend vor ihrer Tür, und Liane wird klar, dass sie einige weitreichende Entscheidungen treffen muss ...
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Seitenzahl: 495
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Carla Capellmann, 1963 in Jülich geboren, lebt im Rheinland. Neben ihrer Arbeit als Informatikerin gilt ihre Leidenschaft dem Schreiben. Bei Emons hat sie in der Reihe »Sehnsuchtsorte« bereits mehrere Kriminalromane veröffentlicht. »Auf Eifelwolke Nummer sieben« ist ihr erster Liebesroman.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2024 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung eines Motivs von picture alliance/imageBROKER | Alexander Schnurer
Lektorat: Julia Lorenzer
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-200-0
Roman
Originalausgabe
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Freitag, 12.April
April, April?
1
Wolkenweg 7. Wir halten vor meinem neuen Grundstück.
Meinem neuen Garten.
Meinem neuen Haus!
Wir halten, doch was nicht zu halten ist, ist mein Herz. Es hüpft und tanzt. Ich steige aus und stelle mir vor, wie es hier bald sein wird – wenn der Kirschbaum blüht. Ob man das Haus dann überhaupt noch sieht? Vielleicht sollte ich meinen Kölner Freunden lieber erzählen, dass ich ab sofort stolze Besitzerin eines Baumes mit Haus dahinter bin. Ein Windstoß fährt mir in die offene Jacke. Ich lache. Macht nichts, dass der April macht, was er will. In meinen Gedanken liege ich schon in der Hängematte unterm Baum, schwinge sanft hin und her und schaue durch die Blüten nach oben in ein tiefes, intensives Blau. Ein Photoshop-Blau, ein Kindheitshimmelblau – ein Blau, das es nur noch auf dem Land gibt. In der Eifel halt. Eifelhimmelblau.
»Mensch. Sie strahlen ja, als wären Sie verliebt!« Der Makler tritt neben mich und reicht mir ein Glas Sekt.
»Und ob!« Ich nehme es, obwohl es auch so schon überall in mir drin prickelt, und wir stoßen an.
Auf das Haus, auf den Baum, auf die Eifel. Auf meinen Kauf, die schnelle Entscheidung, den Blitztermin beim Notar. Auf den Makler, der das alles möglich gemacht hat. Auf Liebe auf den ersten Blick. Denn so war es. Ich kam, sah und liebte. Und seufze. Abgrundtief und aus ganzem Herzen. Weil das Herz so voll ist und ich nicht weiß, wie ich meine Freude in Worte fassen soll. Am liebsten würde ich juchzen und um den Baum herumspringen wie ein kleines Kind. So glücklich habe ich mich lange nicht mehr gefühlt, dabei bin ich nicht unglücklich, vielleicht ausgelaugt, ein wenig müde, immer mal wieder traurig. Kein Wunder. Ein Jahr ist es her, dass meine Mutter gestorben ist. Und jetzt dieser Baum. Wie der, den wir früher hinter unserem Haus stehen hatten.
»Ich liebe diesen Baum«, sage ich schließlich und wundere mich über mich selbst.
»Umarmen Sie ihn ruhig, wenn Ihnen danach ist. Da wären Sie nicht die Einzige, die Bäume haben sich bestimmt schon dran gewöhnt.« Aufmunternd sieht der Makler mich an, doch ich bleibe, wo ich bin. Mit einem Zwinkern in den Augen breitet er die Arme aus. »Sie können aber auch gern mich umarmen.«
Ich muss lachen. Er würde sich bestimmt gut anfühlen, groß und kräftig, gerade gewachsen, ein kraftvoller Stamm. Mit wunderbaren Lachfalten in den Augenwinkeln.
»Sie haben ja recht.« Seine Lachfalten werden noch ein bisschen tiefer. »Einen x-beliebigen Makler würde ich auch nicht umarmen.«
»Lass uns doch Du sagen. Ich bin Liane.« Ich hebe mein Glas, und er stößt mit mir an.
»Joop.«
Anschließend geben wir uns gegenseitig Küsschen auf die Wangen. Das hat er sich verdient. Und ich mir auch. Verdammt, wann bin ich das letzte Mal so spontan gewesen?
»Na, wenn ich mir dich so anschaue, wirst du bestimmt öfter herkommen als nur am Wochenende.«
Und sei es, um Joops herrliches niederländisches Deutsch zu hören, das noch dazu eine leichte Einfärbung von Dialekt hat – isch, misch, disch. Mein Kopf macht sich selbstständig. Das muss ein Glückseligkeitsrausch sein, mir ist schon ganz schwindlig vor Freude – oder vom Sekt. Ich kichere und schüttele den Kopf, als Joop die Flasche hebt und mich fragend anguckt.
»Alkoholfrei«, setzt er hinzu, und ich lasse ihn mein Glas auffüllen. Währenddessen greift er unser Gespräch von vorhin wieder auf. »Also was? Wochenendhäuschen? Ferienwohnung? Oder ziehst du, sorry, zieht ihr ganz her?«
Bei seiner letzten Frage verschlucke ich mich fast, weil das Nein schon rauswill, bevor der Sekt runter ist. Das hier wird mein Refugium, wenn ich es in Köln nicht mehr aushalte. Wenn Matthias andere Pläne hat, beruflich irgendwo außerhalb ein Projekt betreuen muss, mit seinen Kumpels auf Tour ist. Wobei – das macht er nur noch selten. Zu viel zu tun. Genau wie ich. Dafür taucht er aber gern richtig ab. Im Unterschied zu mir findet er die Unterwasserwelt total faszinierend. Wenn er also wie jetzt Tauchurlaub auf den Malediven macht, werde ich in meinem Häuschen wohnen. Arbeiten kann ich auch von hier aus. Und in der übrigen Zeit werde ich es vermieten.
Zufrieden nicke ich und erkläre Joop, dass ich noch mal in mein Haus will.
»Klar. Maß nehmen«, sagt er.
»Ach was.« Ich grinse. »Einfach noch mal gucken.«
»Sag ich doch. Maß nehmen. Mit das Herz.« Er nickt wissend und begleitet mich vor die Haustür.
»Ich bin so gespannt, was mein Freund sagt. Er predigt mir schon die ganze Zeit, dass ich das Erbe am besten in eine Immobilie investiere. Und jetzt …«
»Jetzt hast du eine. Haus bauen, Baum pflanzen – quasi erledigt. Einem erfüllten Leben steht nichts mehr im Weg.«
»Ich muss nur durch diese Tür treten.« Ich gebe Joop mein leeres Glas, stecke den Schlüssel ins Schloss und komme mir vor wie eine Prinzessin, die vor ihrem Palast steht. Noch sieht es aus, wie ein in die Jahre gekommenes Haus halt aussieht, aber gleich … »Tadaa!« Feierlich drehe ich den Schlüssel und stoße die Tür auf.
Sie knarzt.
Wunderbar.
»Warte mal.« Joop sieht zu seinem Auto rüber, schüttelt dann aber den Kopf. »Mist. Das Ölkännchen steht wieder in meiner Garage.«
»Macht nichts. Du hast doch schon den Sekt mitgebracht.«
»Stimmt auch wieder. Na, ich mach mich mal auf den Weg. War schön, dich kennenzulernen. Ruf einfach an, wenn du was brauchst.«
»Dann aber nicht nur aus geschäftlichen Gründen.« Hoffentlich fasst er das jetzt nicht falsch auf, aber er weiß ja, dass ich vergeben bin. Und, ach, soll er es doch verstehen, wie er will.
Wir verabschieden uns, und dann betrete ich – einen Tusch, eine Fanfare, einen Trommelwirbel im Ohr – mein Haus.
2
»Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, ich betrete – Sekt getrunken – Eifelhaus, mein Eigentum!«
Leise singend gehe ich in die Küche, die nach vorne zur Straße liegt und der einzige Raum ist, der nicht leer geräumt ist. Die Einbauzeile kommt mir so alt vor wie das Haus selbst, aber angeblich funktioniert noch alles. Und abgesehen von einem bisschen Staub scheint es, als wäre sie von der Vorbesitzerin gehegt und gepflegt worden. Genau so hat es in der Küche meiner Mutter auch immer ausgesehen. Blitzblank war noch trübe dagegen. Ist das so ein Generationending? Jahrgang 1980 weiß nicht mehr, wie man richtig putzt? Ich lehne mich gegen die Fensterbank und schieße ein Selfie, Kopf schräg im Fensterrahmen, im Hintergrund ein paar Äste vor dem grauen Himmel.
Dann fotografiere ich den Gasherd. Im Gegensatz zu Matthias liebe ich antike Geräte und mag alte Möbel mit Seele. Den Herd werde ich behalten, vorausgesetzt, er funktioniert wirklich noch, so wie Joop mir versichert hat. Den Rest werde ich durch ausgesuchte Stücke ersetzen – Vintage –, nichts wird zusammenpassen, und doch wird es urgemütlich wirken. Ein kleiner Tisch, an dem ich Kirschen entkernen kann, zwei, drei Holzstühle mit bunten Kissen, ein altes Röhrenradio mit großen Drehknöpfen und einem beleuchteten Sendersuchlauf, wie mein Vater sie geliebt hat. Ob es so etwas überhaupt noch zu kaufen gibt?
Schwelgend begebe ich mich nach nebenan ins Esszimmer. Von hier führt eine Tür in den kleinen Garten hinterm Haus. Kurz bevor der Wald anfängt, steht ein einsamer Gartenstuhl, so ein schwerer aus Eisen. Wunderschön, aber sicher unbequem. Den werde ich aufpolieren und mit Kissen in eine Sitzoase verwandeln. Ich konzentriere mich wieder aufs Haus. Links geht es ins Wohnzimmer. Da bleibt nicht viel Stellfläche, aber eine große Schrankwand kann ich mir in diesem Haus eh nicht vorstellen. Die »Gute Stube« ist genauso klein wie der Essraum. Ich überlege, wie es wäre, die beiden Zimmer zusammenzulegen. Ein großer Wohnraum. Mit Sitzfensterbank. Davon träume ich schon lange. Auf der Fensterbank sitzen und ins Grüne schauen, das ist nur von der Hängematte unterm Kirschbaum zu toppen. Ich mache ein Foto, um Matthias zu ködern. Es ist immer gut, wenn er ein baufestes Problem lösen kann.
Ich schaue mich weiter um und entdecke einen beigefarbenen Kasten hinter der Tür. In der Küche und im Esszimmer stehen jeweils auch welche. Nachtspeicheröfen. Unpraktisch, teuer und hässlich. Ein weiterer Punkt, zu dem Matthias bestimmt ein paar gute Ideen hat. Aber das hat Zeit.
Auf nach oben. Die Holztreppe ist klasse. Abgetretene Stufen, ein hölzerner Handlauf, den man gar nicht mehr loslassen mag, und da, die wievielte Stufe war es, die da gerade geknarrt hat? Es ist, als ob das Haus leben würde.
Oben befindet sich das Badezimmer, leider ohne frei stehende Wanne. Die müsste ich wohl von einer Kuhwiese klauen. Ich grinse.
Im Schlafzimmer ist gerade mal genug Platz für Doppelbett und Schrank. Das zweite Zimmer ließe sich hervorragend als Büro nutzen, aber ich will ja vermieten. Da ist ein zweites Schlafzimmer sinnvoller.
Ich setze meine Runde durch das Haus fort. Dann wird es höchste Zeit, mich auf den Rückweg zu machen. Schließlich will ich Matthias nicht nur mit dem Hauskauf überraschen, sondern ein kleines Fest organisieren, und sein Flieger landet in zwei Stunden. Ich schaue auf das Display meines Handys – allerhöchste Zeit!
3
Wie gut, dass ich Mamas Golf noch nicht verkauft habe, denke ich, als ich den Wagen aufschließe. In den nächsten Wochen werde ich bestimmt häufiger in die Eifel fahren, um das Haus herzurichten. Ob ich wohl schon im Sommer vermieten kann? Ich steige ein, werfe einen letzten Blick auf Baum und Haus und starte den Motor. Kurz bin ich versucht, das Fenster runterzulassen und zu winken. Puh, ob in dem Sekt wirklich kein Alkohol war?
Auf der Bundesstraße schalte ich das Radio ein. Gerade läuft »Haus am See«. Ich drehe die Lautstärke voll auf, singe mit und dichte das Lied auf »Haus am Maar« um. Auch wenn das nicht ganz stimmt. Von meinem Haus muss ich erst noch auf die Anhöhe, um das Maar zu sehen, und einen Orangenbaum habe ich auch nicht. Dafür ist es kein Traum, sondern wahr: mein Haus am Maar!
Der Song ist kaum verklungen, als das Handy klingelt und das Display mir einen Anruf meiner kleinen Schwester anzeigt.
»Hey, Lütte«, sage ich aufgedreht. Mit diesem Kosenamen habe ich sie früher immer geärgert, als sie tatsächlich noch kleiner war als ich.
»Wow, so hast du mich lange nicht mehr genannt. Was ist los? Hast du Wachstumshormone genommen und bist plötzlich größer als ich?« Clara lacht. »Nein, warte, lass mich raten. Du hast das Haus gekauft, das du auf Eifel-Immo entdeckt hast. Hast du? Oh, bitte sag Ja.«
»Ja«, sage ich.
»Mensch, wie klasse! Ich freu mich riesig für dich. Dann ist es so, wie du es dir vorgestellt hast?«
»Besser.« Ich beschreibe ihr jeden Raum und natürlich den Garten samt Baum. Erzähle von meinen Einrichtungsideen.
»So glücklich hast du dich lange nicht mehr angehört.« Clara sagt das, was ich fühle, doch die Erleichterung in ihrer Stimme zu hören, tut mir weh. »Ich dachte schon, du wirst wie Mama, lebst gar nicht mehr richtig. Nur noch Arbeit und Pflicht und das tun, worauf Matthias Lust hat.«
»Hey«, protestiere ich. »Ja, das letzte Jahr war hart, und es war auch viel zu tun nach Mamas Tod.«
»Und ich war nicht da, um dir zu helfen, sondern auf Bali, nach meinem Glück suchen.«
»Was in Ordnung war und ist. Ehrlich, Clara. So wenig, wie es mein Ding ist, nach Indonesien auszuwandern, so wenig ist es eben deins, hier in Deutschland zu leben.«
Sie seufzt.
Sofort mache ich mir Sorgen. »Alles okay bei dir? Habe ich dich überfahren? Tut mir leid. Jetzt du. Warum rufst du an?«
»Ach, Liane, musst du immer so gut sein?«
»Klar, Clärchen, ich bin deine große Schwester.«
»Nenn mich nicht Clärchen.« Ein gespieltes Schniefen. Manchmal ist das Zurückfallen in die alten Rollen der einfachste Ausweg für uns beide. Mir zumindest ist es recht. Ich will jetzt kein Problemgespräch. Sie offensichtlich auch nicht. Nach einer theatralischen Pause, die typisch für sie ist, bittet sie mich, so zu bleiben wie gerade. »Was sagt Matthias?«
»Ich erzähle es ihm heute Abend.«
Wir wechseln das Thema, sie berichtet mir vom Stand der Dinge bei ihr. So wie es aussieht, haben wir beinahe zeitgleich unsere Traumhäuser gekauft. Clara will ihres schon in zwei Wochen eröffnen. Erst mal als Guesthouse, bis sie den Yoga- und Meditationsraum hergerichtet hat.
»Später gibt’s dann Luft und Licht zum Frühstück, so wie früher auf den Zugfahrten, wenn Mama der Reiseproviant ausgegangen ist«, necke ich sie. Ich verspreche ihr, gleich wenn ich in Köln bin, Fotos vom Haus zu schicken, dann machen wir Schluss. Mit einem Mal habe ich weiche Knie. Als ein Parkplatz auftaucht, setze ich den Blinker und fahre rechts ran.
Oh mein Gott, was habe ich getan? Ich habe wirklich und wahrhaftig ein Haus gekauft. Einfach mal eben so. Ohne nachzudenken. Nur weil es sich richtig angefühlt hat. Richtig und gut. Im Unterschied zu Clara, die ihr Guesthouse gesucht und irgendwann gefunden hat, habe ich meines nicht gesucht. Nur gefunden. Gibt es nicht irgendeinen weisen Spruch dazu, der mir recht darin gibt, dass solch spontane Fundstücke die besten sind? Ich hoffe sehr, dass das auch für Hauskäufe gilt.
Nach ein paar Minuten Durchatmen geht es wieder. Ich nutze den Stopp und rufe bei Miyu an, Matthias’ aktuellem Lieblings-Sushi-Restaurant in Köln. Kurz schwanke ich zwischen dem »Sushi Deluxe« und dem »Rendezvous für 2« und entscheide mich dann fürs »Rendezvous«. Bei Miyu versprechen sie mir, dass das Essen fertig ist, wenn ich komme.
Eine halbe Stunde später rolle ich am Restaurant vorbei. Keine Parklücke in Sicht. War ja klar. Vor mir bremst ein 3er BMW und bleibt dann einfach stehen. Der Fahrer steigt aus. Natürlich. Parken in der zweiten Reihe tun sie hier alle. Normalerweise traue ich mich nicht, aber heute ist eh alles anders. Wie ein Derwisch springe ich aus dem Wagen und düse ins Lokal. Das Sushi steht bereit. Ich zahle und eile zurück zum Auto. Hinter mir hupt jemand, mein Vordermann ist bereits wieder abgefahren, aber jetzt setzt sich ein anderer vor mich. Mühsam wechsele ich die Spur. Stop-and-go. Viel Stop, wenig Go, aber irgendwann habe ich es bis ins Ehrenviertel geschafft und sogar noch das Glück, ein paar Meter von unserer Haustür entfernt einen Parkplatz zu ergattern. Ich streiche über die Christophorus-Plakette, die meine Mutter in jedem ihrer Autos an das Armaturenbrett geklebt hat, bedanke mich – nicht nur für den Parkplatz – und hoffe, dass sie meinen Hauskauf vom Himmel aus gutheißen wird, auch wenn das Haus auf dem Land steht. Etwas, wovon sie Clara und mir immer abgeraten hat, doch davon will ich mir die Freude nicht nehmen lassen. Ich schnappe mir das Sushi und mache, dass ich in die Wohnung komme.
4
Zu schade, dass es noch nicht warm genug ist, um auf unserem Balkon zu sitzen. Der winzige Vorsprung, auf den wir gerade so zu zweit passen, ist einer der Gründe, warum wir immer noch in Matthias’ Wohnung wohnen – der kleine Balkon und Matthias’ Flügel. Ich streiche über den hellen Lack. Eigentlich könnte er mir heute was vorspielen. Das hat er lange nicht mehr gemacht. Ich hole zwei schlichte weiße Kerzen, drücke sie in die edlen Kristallkerzenständer, die Matthias mir zu Weihnachten geschenkt hat, und platziere sie auf dem Couchtisch. Dazu das Geschirr, schwarz-weiße Yin-und-Yang-Servietten und die bauchigen Rotweingläser. Ich decke stilvoll, so wie Matthias es mag. Ein letzter Blick, dann dimme ich das Licht und suche nach passender Musik. Mal was anderes als die ruhige Klaviermusik, die wir sonst meistens hören. Schließlich soll das heute ein besonderer Abend werden. Ich möchte etwas Mitreißendes, das Lebensfreude versprüht. Vielleicht Salsa. Wie lange haben wir nicht mehr getanzt?
Ich wähle ein paar Stücke aus, dann hole ich mein Smartphone, lade die Fotos vom Haus in die Cloud und setze mich mit meinem Laptop in den Relaxsessel. Als Erstes schicke ich Clara einige Bilder, anschließend stelle ich eine Abfolge für Matthias zusammen. Ein Blick von außen, Esszimmer, Wohnzimmer, das Selfie von mir in der Küche, der schnucklige Gasherd, eines der Zimmer oben. Wie immer bearbeite ich die Bilder gleich nach, das muss wohl eine Berufskrankheit sein, retuschiere ein wenig, lege einen Filter darüber, der die Farben noch frischer wirken lässt, und schaue mir alles auf dem großen Bildschirm an.
Wunderwunderschön!
Jetzt muss ich nur noch dafür sorgen, dass auch ich wunderwunderschön aussehe. Wie spät ist es?
Ich werfe einen Blick aufs Handy. Eine Nachricht von Matthias. Gelandet sind sie, gerade warten Roland und er aufs Gepäck. Das war vor zehn Minuten.
Ich rufe ihn an.
»Hey du, ich freu mich so auf dich. Habt ihr euer Gepäck schon?«
»Gleich. Noch fünfzehn Sekunden. Dann zieht Roland meinen Koffer vom Band.« Matthias’ dunkle Stimme löst ein warmes Gefühl in meinem Bauch aus. Vielleicht lassen wir das mit dem Tanzen, es gibt noch andere Sachen, die man gut zu zweit machen kann.
»Das ist ja wieder typisch«, höre ich Roland sagen. Und dann etwas lauter: »Dein Mann lässt mich ganz schön arbeiten, Liane, ein echter Sklaventreiber!«
Die beiden frotzeln, während in mir Sehnsucht aufsteigt.
»Beeil dich«, sage ich zu Matthias. »Ich habe eine Überraschung und platze, wenn du nicht bald da bist und ich dir davon erzählen kann.«
»Dann ist es ja gut, dass ich auch eine für dich habe.« Er verabschiedet sich, und ich tanze durch die Wohnung. Mein Herz klopft. Was er wohl dazu sagen wird, dass ich es geschafft habe, mein Erbe in eine Immobilie zu investieren? In einer guten halben Stunde werde ich es wissen.
Ich dusche und mache mich zurecht, entscheide mich für das dunkelgrüne Kleid mit dem V-Ausschnitt, dazu die Kette mit dem Sternenanhänger, die Matthias mir geschenkt hat, kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten. Die Haare stecke ich locker hoch, lasse ein paar heraushängen, die ich hinter die Ohren schiebe. So trage ich sie nur zu besonderen Anlässen, und ich weiß, dass Matthias diese Frisur hübsch an mir findet.
Zufrieden werfe ich einen Blick in den Spiegel, ziehe den Lippenstift noch einmal nach und gehe in die Küche, um Matthias am Fenster zur Straße herbeizusehen. Das hat zwar noch nie geklappt, aber vor heute habe ich mir ja auch noch nie ein Haus gekauft. Könnte also sein, dass heute nie ist.
Mein Blick fällt auf die Rotweinflasche. Mist. Ich habe vergessen, sie zu öffnen und den Wein »atmen« zu lassen. Auch wenn ich keinen Barolo von einer Tetrapak-Sorte unterscheiden kann, so liebt Matthias doch guten Wein, und der muss natürlich auch entsprechend behandelt werden. Schnell entkorke ich die Flasche, gieße etwas in eine Karaffe und bringe sie ins Wohnzimmer. Da es sich beschäftigt besser wartet, gehe ich noch einmal die Bilder durch. Dieses Mal ohne rosarote Brille.
Das Haus ist alt, aber kein Fachwerk. Fachwerk sehe zwar schön aus, sei aber oft problematisch, predigt Matthias mir immer, wenn ich davon schwärme. Und wenn so ein Haus dann noch unter Denkmalschutz stehe, werde es ganz schwierig. Das tut meines nicht. Ein Pluspunkt. Vermutlich der einzige, denn in den Siebzigern hat man eine Bausünde nach der anderen begangen. Auch das wird er nicht müde, mir zu erklären, wobei ich inzwischen den Eindruck habe, dass er das von jedem Jahrzehnt behauptet. Wahrscheinlich denkt man so als Bauingenieur, weil man darauf geeicht ist, die Statik und Umsetzbarkeit von Entwürfen zu prüfen, sodass man als Erstes die Probleme sieht.
Der Gesang eines Neuntöters reißt mich aus meinen Überlegungen – mein Handy zwitschert munter und hört gar nicht mehr auf. Clara bewundert mein Haus und schickt mir Fotos von ihrer gerade frisch gestrichenen Frühstücksveranda. Luftig und leicht sieht sie aus, nach ganz viel guter Laune.
»Da würde ich auch gern einen Banana-Pancake essen«, schreibe ich zurück. Dann schaue ich, ob Matthias sich noch mal gemeldet hat. Vielleicht steht er ja im Stau. Nein, keine Nachricht. Seufzend lehne ich mich zurück, nur um gleich wieder aufzustehen, erneut in die Küche zu marschieren und aus dem Fenster zu starren. Als wäre ich sieben und wollte mir die Nase platt drücken vor lauter Sehnsucht, dass mein Vater endlich nach Hause kommt und ich ihm von meinen Erlebnissen berichten kann. Er hätte mein Haus gemocht, da bin ich mir sicher. Schon komisch, dass ich immer noch einen Stich im Herzen spüre, wenn ich an ihn denke. Dabei ist er schon so lange tot. Dreißig Jahre ist das jetzt her, und ich vermisse ihn immer noch. Bei solchen Gelegenheiten ganz besonders. Ob meine Mutter und er sich gerade im Himmel – oder wo auch immer sie jetzt sind – darüber streiten, was wir mit ihrem Erbe anfangen?
Energisch schüttele ich den Kopf. Ich will jetzt kein schlechtes Gewissen bekommen. Meine Mutter hat uns geliebt und wir sie. Sie wollte, dass wir glücklich sind. Dass Glück für sie etwas anderes bedeutete als für Clara und mich, ist nur zu verständlich. Nach dem Tod meines Vaters und dem Verlust des Hauses wollte sie nie wieder auf dem Land leben. Eine Wohnung in der Stadt, am besten mit Mann. So sah ihrer Meinung nach das perfekte Leben aus. So wie meins. Bis auf den Hauskauf.
Ein Poltern aus dem Treppenhaus lässt mich zusammenzucken. Schon höre ich, wie sich ein Schlüssel ins Schloss schiebt. Matthias ist da. Da stehe ich am Fenster und habe ihn doch nicht kommen sehen.
Ich laufe in den Flur, um ihn zu begrüßen.
Freitag, 12.April, abends
Überraschung!
1
Matthias zieht gerade die Jacke aus, als ich ihm um den Hals falle. Er ist braun gebrannt, riecht ein bisschen verschwitzt und nach Meer, als hätte seine Haut das salzige Wasser beim Tauchen aufgesogen. Meine Lippen suchen seine, sie sind rau. Wir küssen uns und tauchen ein, tauchen ab, bis wir an die Luft müssen.
»Macht meine Überraschung dich so heiß?« Matthias’ Mund ist an meinem Ohr, und es kitzelt, wenn er spricht.
»Meine«, murmele ich und streiche mit den Fingern durch seine Haare. Sie sind gewachsen und fangen an, sich zu locken, was ich mag. Sehr mag.
»Lilliliane, willst du mir die Haare lang ziehen?« Das Kräuseln seiner Mundwinkel verrät ihn. »Ich weiß, ich muss dringend zum Friseur, aber dass es so schlimm ist …«
»Bloß nicht. Oder doch. Extensions sollen gar nicht mehr so teuer sein.« Lachend ziehe ich ihn ins Wohnzimmer und zünde rasch die Kerzen an.
»Mmh, wenn ich das gewusst hätte, hätte ich auf die halbe Pizza bei Roland und Sabine verzichtet.«
»Du hast …?« Ich verkneife mir einen bissigen Kommentar und verbiete mir ärgerliche Gedanken wie den, dass er mir das auch hätte sagen können. »Also erst die Überraschung und danach essen?«
»Das hier ist sie nicht? Es gibt noch mehr?« Wie immer, wenn er verlegen ist oder ein schlechtes Gewissen hat, reibt er sich über die Wange, aber dann entdeckt er das Sushi und freut sich einfach nur.
Ich schenke uns zwei Gläser ein, und wir stoßen an.
»Schön, dass du zurück bist«, sage ich.
»Find ich auch.« Er küsst mich. Als wir uns voneinander lösen, runzelt er die Stirn. »Salsa zum Essen?«
Ich grinse. »Passt doch. Salsa und Sushi. Zwei S wie in ›essen‹.«
»Mir vergeht da der Appetit, viel zu unruhig.« Er wechselt auf romantische Klaviermusik.
Dann essen wir erst einmal. Beziehungsweise er isst, ich schiebe nur die Makis auf meinem Teller hin und her, tunke sie in Sojasoße und dekoriere sie mit eingelegtem Ingwer.
Schließlich legt er die Stäbchen beiseite und zieht mich zu sich heran. »Wenn es dir den Appetit verschlägt, muss es wirklich etwas ganz Besonderes sein.«
»Das ist es auch.«
»Meine Überraschung ist mindestens genauso toll. Wenn nicht sogar besser.« Er zwinkert mir zu. »Aber erzähl du ruhig zuerst, so lange kann ich noch warten.«
Ich nehme noch einen Schluck, und dann sage ich es ihm. Dass ich ein Haus gekauft habe. In der Eifel. Schön gelegen, ideal, um es in den Ferien und am Wochenende zu vermieten. Man könne von der Haustür aus loswandern, ums Maar spazieren, wo man im Sommer herrlich schwimmen kann, nach Daun oder an die Mosel nach Bernkastel-Kues radeln, zum Nürburgring fahren, in Manderscheid die Burgen bestaunen und anschließend dort essen gehen oder einfach nur im Garten liegen, die Ruhe genießen und abends grillen. Ich könnte die Liste der möglichen Aktivitäten und Ausflugsziele noch endlos fortsetzen, aber Matthias sieht mich so verwirrt an, dass ich lachen muss und ihm einen Kuss auf die Nasenspitze drücke.
»Ein Haus in der Eifel?« Seine Augenbrauen wandern nach oben, und seine Augen werden so kreisrund wie das Pulvermaar.
Lächelnd ziehe ich seine Brauen glatt und nicke.
»Du hast es noch nicht wirklich gekauft, oder?«
»Doch«, sage ich stolz. »Runterhandeln, noch mal runterhandeln und dann zugreifen, genau wie du es immer sagst. Heute Vormittag war ich beim Notar und habe unterschrieben.«
»Warum so überstürzt?« Er richtet sich auf. »Ich hätte es mir angucken können. Du kennst dich mit Immobilien doch gar nicht aus.«
»Keine Sorge. Ich habe mir alles gründlich angesehen und mit Marie-Theres gesprochen. Der Kaufpreis ist mehr als in Ordnung, hat sie gesagt.« Ich grinse ihn an. »Ist sogar noch genug von meinem Erbanteil übrig geblieben, dass es für eine Flasche Champagner gereicht hat. Erst anstoßen oder erst Bilder gucken?«
Matthias schüttelt den Kopf.
»Oder-Fragen vertragen kein Nein und auch kein Ja.« Ich strecke meine Hand aus und will ihm durch die Haare wuscheln, aber er zieht den Kopf zurück. Ist er eingeschnappt, weil ich nicht auf ihn gewartet habe?
»Marie-Theres.« Er schnaubt.
»Ist die Beste, was Immobilienpreise betrifft«, sage ich schnell und reiche ihm sein Weinglas. Er sieht aus, als bräuchte er jetzt einen Schluck, und wir können ja später noch mit Champagner anstoßen.
Völlig untypisch für ihn leert er es in einem Zug, obwohl es noch halb voll war. Und setzt es auch noch mit einem Klirren ab. Zeit für einen Themenwechsel, beschließe ich und frage ihn nach seiner Überraschung.
Seine Augenbrauen schieben sich noch mehr zusammen, zwei steile Furchen bilden sich. »Vergiss es«, sagt er und steht auf.
Was soll denn das? Ich presse die Lippen zusammen.
»Das ist ja wirklich ein schöner Empfang. Und eine tolle Überraschung!« Er reibt sich die Stirn. »Kannst du mir den Vertrag mal zeigen? Vielleicht kommst du da ja irgendwie wieder raus.«
»Wie bitte?« Ungläubig sehe ich ihn an. Er meint es tatsächlich ernst.
Langsam schäle auch ich mich aus dem Sofa, sodass wir unmittelbar voreinander stehen. Am liebsten würde ich abhauen, aber ich halte es aus, obwohl Matthias sich förmlich aufbläst, um die drei Zentimeter wettzumachen, die ich größer bin als er, selbst ohne Schuhe.
»Mensch, Liane.« Er verzieht den Mund und grinst schief, legt die Hände auf meine Oberarme. »Ich dachte, wir waren uns einig, dass du dein Geld sinnvoll investierst.«
Du warst dir einig, denke ich und schließe die Augen.
»Hey«, höre ich ihn sagen, »ich habe einen Megadeal für dich aufgetan. Auch in der Eifel. Ich weiß doch, wie gern du dort hinfährst.«
Ich schlage die Augen wieder auf. Mein Deal ist auch mega, aber das sage ich nicht laut, sondern lasse ihn mich zu sich heranziehen.
»Champagner?«, murmelt er und streicht mir über den Rücken. Sein Kuss sagt mir, dass er genau weiß, was noch mehr prickelt. Wir setzen uns wieder.
»Weißt du, Roland und ich waren jede freie Minute im Internet und haben da diese Planung für ein Gewerbegebiet entdeckt. Jetzt, wo es immer mehr Leute aufs Land zieht, wird dort in den nächsten Jahren viel gebaut. Die perfekte Investition für dein Geld. Mit ein bisschen Glück hast du dann in ein paar Jahren ausgesorgt, in jedem Fall aber eine sichere Altersvorsorge.«
Ausgerechnet ein Gewerbegebiet. Was habe ich davon, dass es in der Eifel liegt? Andererseits ist es schon süß, wie viel Mühe er sich gegeben hat, eine passende Anlage für meine Erbschaft zu finden. Ich kuschele mich an seine Schulter, lasse ihn reden und denke an mein Haus. Bestimmt kommt er am Wochenende mal mit und wir machen es uns dort gemütlich. Und sollte ich wider Erwarten noch einmal erben, darf er eben nicht im entscheidenden Moment im Flugzeug sitzen.
»Sag mal, Dietmar und Merle suchen doch nach einem Häuschen in der Eifel.«
Ich schrecke auf.
Matthias streicht mir über die Wange und sieht mich an, als wartete er auf was.
»Entschuldige, ich war in Gedanken.« Ich habe den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da realisiere ich, was er gerade gesagt hat. Ich kneife die Augen zusammen, atme bewusst erst einmal durch und erkläre so leichthin, wie ich kann, dass Merle und Dietmar ein Ferienhäuschen an der Mosel suchen.
»Wo genau ist deins?«
»Ich behalte es, Matthias.« Ich setze mich auf, bemühe mich um einen festen Tonfall. »Mal ganz abgesehen davon, dass es nichts für die beiden ist.«
»Sei doch vernünftig. Wer weiß …?«
»Aber genau das bin ich doch. Ein Haus zu kaufen ist vernünftig. Es ist das Beste, was ich mit meinem Erbe machen kann. Dreimal darfst du raten, wer mir das seit dem Tod meiner Mutter predigt.« Zum Schluss wackelt meine Stimme doch. Ich balle die Hände.
»Das stimmt ja auch.« Matthias umfasst meine Fäuste, streichelt mit den Daumen darüber. »Aber natürlich kommt es auf die Rand- und Rahmenbedingungen an.«
»Die passen.«
»Sagt wer?«
»Sage ich.«
»Lilliliane, ich will dir nicht zu nahe treten, aber seit wann kennst du dich mit verpfuschter Isolierung oder Elektrik aus?« Er hält mich zurück, als ich aufstehen will. »Das ist doch auch ganz normal. Du kannst das nicht wissen.«
Ich befreie mich aus seinem Klammergriff, hole meinen Laptop und zeige ihm die Bilder. Von wegen Pfusch am Bau. Pam, pam, pam. Wie eine Boxerin. Jedenfalls würde ich mich gern so fühlen, als ich ihm ein Foto nach dem anderen um die Ohren, also vor die Augen haue. Und wenn sie davon violett werden, hätte er es verdient.
»Wo sollen denn da Probleme sein?« Ich deute auf den Bildschirm und weiche seinem Blick aus. »Oder siehst du etwa welche?« Warum stelle ich mich und mein Haus in Frage? Das öffnet ihm doch Tor und Tür.
Matthias seufzt. Es ist so ein Seufzer, wie Eltern ihn machen, wenn ihre Kinder einfach nicht begreifen wollen. So ein Seufzer, wie Herkules ihn macht, wenn der Stein kurz vor dem Gipfel wieder herunterrollt, oder war das Sisyphus? Egal, so ein Seufzer halt, wie man ihn schon tausendfach gehört hat, wenn man ihn am allerwenigsten gebrauchen kann. Und ebendieser Seufzer lässt mich untergehen, ich falle, werde wütend. Innen, ganz tief in mir drin.
»Hast du die Wände geprüft? Wie sieht der Keller aus? Was ist mit den Leitungen?« Immer noch dieser betont ruhige und geduldige Tonfall. Er führt seine Liste fort.
»Matthias, bitte, es ist alles in Ordnung. Wenn du willst, fahren wir morgen hin, und du überzeugst dich selbst.« Ich rücke von ihm weg, sitze gerade, will Haltung bewahren. Ruhig bleiben und nicht laut werden.
Mit gerunzelter Stirn betrachtet er mich, als wäre ich das Haus und müsste begutachtet werden. Rasch atme ich ein, berühre ihn leicht am Oberschenkel. »Also, was ist? Wollen wir morgen im Café Klar oder im Caprista frühstücken und dann in die Eifel? Du guckst dir alles an, und im Anschluss erkunden wir die Gegend.«
»Genau das habe ich befürchtet.« Seine Stimme wird lauter. »Abgesehen davon, dass du dein Geld wahrscheinlich gerade in einem Fass ohne Boden, einem Haus ohne Fundament versenkt hast, erwartest du jetzt, dass ich alles rette und obendrein auch noch meine eh schon kaum vorhandene Freizeit in deiner geliebten grünen Einöde verbringe.«
»Wäre es so schlimm, wenn du ein Mal auch was für mich tun würdest?« Woher kam der Satz jetzt?
»Wie bitte? Wer hat denn seinen Urlaub damit verbracht, nach einer geeigneten Investitionsmöglichkeit für dich zu suchen? Sogar Roland habe ich dafür eingespannt. Projekt um Projekt haben wir uns angeguckt, und dann habe ich Trottel auch noch darauf bestanden, dass es irgendwo sein muss, wo es dir gefällt.«
»Habe ich dich darum gebeten?« Ich frage leise. Wie immer, wenn er laut wird, lässt mich das still werden.
»Nein, aber was dabei rauskommt, wenn man dich mit solchen Entscheidungen allein lässt, sehen wir ja gerade.«
Ich schnappe nach Luft.
Matthias berührt meine Hand. »Tut mir leid, aber du hättest mir wirklich erzählen können, dass du dir Häuser in der Eifel ansiehst. Was heißt hier ›ansiehst‹! Warum hast du mir nicht wenigstens etwas gesagt, bevor du den Kaufvertrag unterschrieben hast? Warum die Eile? Hat der Makler dich dazu gedrängt? Du weißt, was das heißt. Die Hütte hat garantiert irgendwelche Probleme. Verdammt, Liane.«
»Hat sie nicht, und Joop hat mich nicht gedrängt, sondern ich ihn. Weil ich weiß, dass das Haus das richtige für mich ist.«
»Joop.« Matthias schüttelt den Kopf. »Ein Sekt zur Besichtigung, einer zum Kaufvertrag, stimmt’s? Der Typ hat dich über den Tisch gezogen. Ich weiß doch, wie das läuft.«
»Weshalb wir bis heute keine passende Wohnung für uns beide gefunden haben. Eine, die ruhiger gelegen ist und ein Arbeitszimmer für mich hat. Weil du ja weißt, wie es läuft. Nichts passt. Niemals. Irgendein Detail findest du doch immer, das dir nicht gefällt, und dann wird es wieder nichts. Und da wunderst du dich, dass ich dir nichts gesagt habe?« Das kindische »Und außerdem ist es mein Geld« verkneife ich mir gerade noch, aber das ändert auch nichts mehr. Ich kann förmlich sehen, wie sich Matthias aufplustert.
»Wer wollte bitte schön nicht in die Wohnung in der Südstadt ziehen? Die war doch ein Traum. Aber nein, Madame war es trotz Dreifachverglasung wieder mal zu laut, zu neu, zu was weiß ich.«
»Zu teuer, mein Lieber, zu teuer. Die hätten wir noch aus dem Grab abbezahlt. Warum nicht raus aus der Stadt? Von Porz aus wärst du genauso schnell im Büro wie jetzt. Und deinen Flügel hätten wir auch problemlos ins Haus bekommen.« Es ist, als wäre was in mir übergelaufen. Die Sätze sprudeln von selbst aus mir heraus.
»Wenn er den Auszug überlebt hätte!« Matthias wirft mir einen grimmigen Blick zu.
»Reinbekommen hast du ihn ja auch. Mit Kran und Straßensperrung. Und da haben dich die Kosten auch nicht interessiert. Aber wenn es darum geht, dass ich mich auch wohlfühlen möchte …«
»Jetzt mach mal einen Punkt. Du wohnst ja nicht erst seit gestern hier. Und mit einem Mal gefällt es dir nicht mehr?«
»Es ist dein Zuhause. Wann immer ich mal etwas woanders hinstelle oder umdekoriere, sagst du, dass du es vorher besser fandest. Und die bunten Servietten, die ich neulich gekauft habe, hast du einfach weggeworfen.«
»Die haben ja auch null hier reingepasst. Ernsthaft, Liane. Für so was wie Inneneinrichtung oder Deko hast du überhaupt keinen Sinn.«
»Wahrscheinlich gammeln meine Möbel deshalb noch immer im Keller vor sich hin!«
»Wem hat denn hier alles so gut gefallen? Hellauf begeistert warst du und wolltest nichts verändern. Stylish, elegant, cool. Du warst es doch, die gesagt hat, dass du deine Möbel nicht aufstellen willst. Ich dachte, du hast kapiert, dass sie hier nicht reinpassen.«
»Sag ich doch, nichts passt. Deshalb wollten wir ja umziehen. Wann haben wir uns das letzte Mal etwas angesehen? Ich kann mich schon gar nicht mehr erinnern.«
»Ist das etwa meine Schuld? Muss ich mich immer um alles kümmern?«
Mir bleibt die Spucke weg. Tränen schießen mir in die Augen. Ich springe auf, laufe zur Tür.
»Liane, hey, jetzt lauf doch nicht weg!«
Aber genau das mache ich. Ich muss hier raus, weg von ihm. Im Flur ziehe ich eine Jacke von der Garderobe und fliehe aus der Wohnung. Ich will nichts sagen, das mir hinterher leidtut. Und ich will nichts hören, das mir wehtut. Also haue ich ab.
Ich laufe durch die Straßen, bis ich wieder Luft bekomme, wische die Tränen aus meinem Gesicht. Neue kommen. Streiten macht mir Angst. Aus einem Streit ist noch nie eine gute Lösung erwachsen.
Ich werde langsamer, nehme wieder wahr, wo ich bin. Ich will mich nicht mit Matthias streiten. Schon gar nicht über Häuser oder Wohnungen.
Ein Auto hupt.
Aber ich will auch mein Haus behalten.
2
»Na, hast du dich wieder beruhigt?« Matthias tritt in den Flur, als ich hereinkomme, ein Glas Wein in der Hand. »Dann können wir jetzt ja mal wie zwei Erwachsene darüber reden.«
»Worüber? Über mein Haus?« Ich starre ihn an, als würde ich ihn zum ersten Mal sehen. Gerade ist er mir sehr fremd.
»Ja genau.« Er nimmt einen Schluck. »Und was die Wohnung hier in Köln angeht, können wir ja noch mal suchen. An mir soll es nicht liegen.«
An ihm liegt nie was. Und obwohl ich es nicht will, frage ich mich, ob ihm wenigstens an mir was liegt.
»Weißt du was?«, höre ich mich sagen. »Ich werde jetzt in die Eifel fahren. Das Haus behalte ich. Wenn es wirklich irgendwelche Mängel haben sollte, finde ich es schon selbst heraus.«
»Bist du jetzt beleidigt? Aber warum denn? Nur weil du hier kein Zimmer hast, in dem du dein Möbelsammelsurium aufstellen kannst? Ich habe doch gesagt, wir können noch mal nach einer Wohnung schauen, wenn es dir so wichtig ist. Was soll ich denn noch tun?«
»Mich durchlassen.« Ich schiebe mich an ihm vorbei, gehe ins Schlafzimmer, zerre meine Reisetasche vom Schrank und werfe ein paar Klamotten hinein.
»Willst du jetzt ernsthaft in die Eifel fahren?« Matthias ist mir gefolgt.
Wortlos schnappe ich mir meinen Kulturbeutel und packe auch den in die Tasche.
»Um diese Uhrzeit?« Belustigt schaut er auf seine Hightech-Uhr.
Ich hole meinen Laptop, nehme die Reisetasche und bin zur Tür raus, bevor er mich ein weiteres Mal fragen kann, ob es mir ernst ist. Es ist mir mehr als ernst mit diesem Haus, und wenn er das nicht begreift, dann kann er mich mal.
Mit geradem Rücken marschiere ich zum Auto. Falls Matthias am Küchenfenster steht, soll er nicht denken, dass ich klein beigebe. Ich öffne den Wagen und stelle die Tasche hinein. Ich fahre in die Eifel.
In ein leeres Haus ohne Strom und Wasser?
Ich zögere. Und wenn ich meine Sachen aus dem Keller hole? Dann hätte ich erst mal was, um im Haus zu kampieren. Und die Fahrt hätte einen Sinn. Ein erster Transport. Entschlossen gehe ich zurück, laufe die Treppe zu unserem Kellerraum hinunter, schleppe Kiste um Kiste zum Auto. Wahrscheinlich merkt Matthias nicht mal, dass ich meine Sachen mitgenommen habe. Ich schnaube. So laut, dass der Mann, dessen Pudel gerade an der Laterne sein Bein hebt, zusammenzuckt. Er hat nur Glück, dass sein Hund nicht an meinen Autoreifen pinkelt. Irgendwo muss man ja Dampf ablassen. Aber das Schleppen hilft auch.
Zumindest, solange ich nicht denke. Dann kocht die Wut wieder hoch.
Ein letztes Mal in den Keller. Den Schaukelstuhl bekomme ich leider nicht mehr in den Wagen. Ich sehe mich noch einmal um. Mein Blick fällt auf eine Weinkiste. Sauteuer und Matthias’ letzte. Aus einer wird keine. Ich nehme sie mit. Matthias wird toben, wenn er feststellt, dass ich mich an seinem besten Tropfen vergriffen habe. Ein kleines Trostpflaster.
Ich verstaue die Kiste hinter dem Beifahrersitz. Dann fahre ich los. Zum zweiten Mal an diesem Tag geht es in die Eifel. Heute Morgen sah die Welt noch ganz anders aus.
3
Nach etwas mehr als einer Stunde rolle ich durch Mehren. Hier scheinen schon alle tief und fest zu schlafen. Aus keinem der Häuser dringt auch nur ein kleiner Lichtstrahl, dabei ist es noch nicht einmal Mitternacht.
Ich biege ab und lasse den Ort hinter mir. Wenig später erspähe ich die Unterführung. Blinken, bremsen, abbiegen, ausrollen. Ich halte vor meinem Haus. Von Bäumen umgeben liegt es in tiefer Dunkelheit. Daher stelle ich den Wagen so, dass ich im Scheinwerferlicht zum Eingang gehen kann. Normalerweise macht mir Dunkelheit nichts aus, aber hier hat sie eine andere Qualität, und ich frage mich, ob es wirklich so eine gute Idee war, hierherzufahren. Ich hätte mir doch auch ein Hotelzimmer nehmen und am nächsten Morgen herkommen können. Soll ich mir jetzt noch eins suchen?
Nein. Ich greife Jacke und Tasche und steige aus. Schnell gehe ich zur Tür. Es ist verflixt kalt, bestimmt einige Grad kühler als in Köln. Bibbernd schließe ich auf und trete ein. Ich drücke auf den Lichtschalter im Flur, immerhin hängt hier noch eine Lampe an der Decke, doch sie flammt nicht auf. Natürlich nicht, aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Bleibt mir also nur, den Wagen im Dunkeln auszuladen oder die Scheinwerfer brennen zu lassen, bis die Autobatterie leer ist. Der Akku meines Handys ist mir heilig, die Taschenlampenfunktion tabu. Moment, das ist es!
Rasch setze ich mein Gepäck auf der Küchenzeile ab und laufe zurück zum Wagen. Im Handschuhfach finde ich die große rote Taschenlampe, über die Clara und ich uns immer lustig gemacht haben. Ich ziehe sie heraus, und – tschakka! – sie funktioniert.
»Danke, Mama«, sage ich leise und stelle mir kurz vor, dass sie mich beobachtet, wie ich mitten in der Nacht in der Eifel stehe. Von ganz weit oben sieht es sicher aus, als stünde ich im Wald, ein winzig kleiner Punkt irgendwo im Off. Aber eins ist klar: Was ich hier tue, geht gar nicht. Meine Mutter mochte Matthias sehr.
Ich schalte den Scheinwerfer aus, positioniere die Taschenlampe so, dass sie einigermaßen den Weg ausleuchtet, und lade dann den Wagen aus. Danach ist mir wenigstens warm, und das Esszimmer wirkt nicht mehr ganz so leer. Haha. Doch statt eines Lachens bildet sich ein Kloß in meinem Hals.
Ich schlucke und überlege mir schnell, wo ich meine erste Nacht verbringen möchte. Wahrscheinlich ist es albern, aber im Essraum fühle ich mich nicht ganz so verloren. Als würden die Kisten irgendwie für Geborgenheit sorgen. Kopfschüttelnd ziehe ich die Isomatte aus einem Karton und rolle sie an der Wand zum Wohnzimmer aus.
Entschlossen, mich nicht unterkriegen zu lassen, durchforste ich mein Hab und Gut nach weiteren Bestandteilen für ein gemütliches Nachtlager. Die Isolierplane, die ich früher unter das billige Zelt gelegt habe, ist zwar garantiert nicht mehr wasserdicht, aber mit einem undichten Boden werde ich hier sicher nicht zu kämpfen haben. Ich falte die Plane, sodass sie doppelt liegt, und packe sie unter die Isomatte. Mein alter Schlafsack und ein paar Kissen dazu, so müsste es gehen. Hinlegen mag ich mich allerdings noch nicht.
Mit der Taschenlampe in der Hand wandere ich durchs Haus. Das Knarzen der Treppenstufe, das mich heute Mittag noch so gefreut hat, erschreckt mich jetzt, und jeden Schatten an der Wand halte ich für eine feuchte Stelle. Matthias hat ganze Arbeit geleistet. Wieder im Esszimmer, schnappe ich mir eine Flasche seines Edelweins, wühle einen einfachen Korkenzieher aus dem Küchenkarton und drehe ihn so schief in den Korken, dass Matthias einen Tobsuchtsanfall bekommen hätte – allein die Vorstellung von Kork in seinem besten Tropfen hätte ihn mir die Flasche entreißen lassen. Dieser Gedanke gibt mir Kraft. Mit einem Ruck ziehe ich den Korken heraus. Kein Krümel, was ich fast schon schade finde, aber da ich es ja bin, die den Wein trinken will, freut es mich doch. Ich nehme einen großen Schluck. Frevel – tut das gut!
Ich setze erneut an und trinke, als ob es Wasser wäre. So direkt aus der Flasche schmeckt der Wein unverfälschter, echter, von wegen er muss erst noch »atmen«. Wahrscheinlich können auch Weine hyperventilieren.
Kichernd setze ich mich auf eines der Kissen, packe mir ein anderes in den Rücken und streife mir den Schlafsack über die Beine. Fast ist es wieder so wie vor fünfundzwanzig Jahren, als ich mit wenigen Möbeln in meine erste Wohnung gezogen bin. Oder als ich mit Harald, der damals sehr verschossen in mich war, die erste Nacht in unserer Dachwohnung gecampt habe. Gemütlicher kann es damals auch nicht gewesen sein. Nur dass es gewollte, ersehnte Nächte waren und der Wein nicht zum Trösten herhalten musste. Ich lehne den Kopf an die Wand. Kalt, kalt, feucht?
Ich fahre herum, taste die Stelle ab. Und wenn wirklich was nicht in Ordnung ist mit dem Haus? Ich habe ja tatsächlich nichts prüfen lassen, und Matthias hat schon recht, ich kenne mich nicht aus mit Bausubstanz und so was.
War das ein Gluckern?
Ich presse mein Ohr an die Wand. Das, was da rauscht, ist mein eigenes Blut, versuche ich mich zu beruhigen, aber jetzt ist der Wurm des Zweifels drin. Ich muss mich ablenken, nur wie?
Mein Blick wandert über die Kartons. »Küche«, »Bücher«, »Traumschaukel« – ich stapele um, bis ich an den mit der Hängematte herankomme. Eines der Kriterien für die Wohnung oder das Haus, das Matthias und ich nicht gefunden haben, war die Hängemattentauglichkeit. Ein starkes Argument für ein Haus mit Garten, habe ich angeführt, woraufhin er zumindest einen Balkon auf unsere Checkliste gesetzt hat, der groß genug sein sollte, um all das unterzubringen, was wir haben wollten. Gar nicht so unerreichbar, wie ich dachte – falls man Millionär ist. Doch es geht auch für weniger Geld. Wenn man sich nicht auf die Stadtgrenzen von Köln beschränkt. Hier in der Eifel habe ich das alles und Ruhe und gute Luft noch dazu.
Ich ziehe die Traumschaukel heraus, Makramee und ziemlich alt, ich hoffe, sie hält noch. Die Seile zum Befestigen scheinen jedenfalls in Ordnung zu sein. Mit Taschenlampe und Hängematte gehe ich nach draußen und finde, dass es hier auch nicht kälter ist als im Haus. Ich begebe mich unter den Kirschbaum.
»Hallo«, sage ich leise und berühre seine Rinde. »Da bin ich wieder.«
Ich fahre über den Stamm, lege den Kopf zurück und betrachte die Äste. Kräftig und vertrauenerweckend sehen sie aus. Ich wähle einen, der sich im geeigneten Abstand zu einem der Bäume am Zaun befindet, werfe ein Seil darüber und hänge mich daran. Kein Knacken, kein Murren. Es ist ein guter Baum. Ich befestige das eine Ende der Hängematte am Seil, verknote dann das andere an einem soliden Ast eines Zaunbaums, und schon hängt die Schaukel, aus der die Träume sind. Zufrieden sitze ich Probe und denke, dass ich sie schon viel früher wieder hätte aufhängen sollen. Irgendwo wäre es gegangen. Die Sache mit dem Wollen und Gehen, dem Glauben und dem Berg.
Unbeholfen klettere ich heraus – ich bin aus der Übung – und hole Schlafsack, Kissen und Weinflasche aus dem Haus. Bevor ich wieder in die Hängematte falle, streiche ich noch einmal über die Rinde des Baums und komme mir nicht mehr ganz so verlassen und einsam vor.
»Es tut gut, dass du so ruhig hier stehst und mich einfach machen lässt, nicht alles hinterfragst oder mich runterputzt.« Ich lehne meine Wange gegen den Stamm und schließe die Augen. »War es eine blöde Idee, das Haus zu kaufen? Nein, oder? Du hilfst mir, wenn was sein sollte, nicht wahr? Auf dich kann ich mich verlassen.«
Ich nehme einen Schluck, stelle die Flasche ab und kämpfe mit Schlafsack und Kissen, aber endlich liege ich. Vorsichtig angele ich mir die Flasche vom Boden, schalte die Taschenlampe aus und schaue in die Nacht.
Wie schön es hier ist.
Und dann entdecke ich die ersten Sterne. So klar habe ich sie lange nicht mehr gesehen. Unwillkürlich muss ich an Thailand denken, an die Nacht mit Matthias … Ich schließe die Augen und träume mich dorthin, wo alles anfing. Es ist später Nachmittag, und ich komme gerade von einer Massage, mein Körper ist leicht und weit. Aus der Hotelbar dringt Klaviermusik, die sich genau so anhört, wie ich mich fühle. Ein Mann sitzt am Piano und spielt. Tiefstes Glück. Ich setze mich an die Bar und fliege auf der Musik, bis er aufhört und mich anspricht.
Später liege ich neben ihm am Strand, mein Kopf lehnt an seinem. An dem Abend haben wir uns die Füße wund getanzt. Irgendwann hat er vorgeschlagen, dass wir sie im Meer kühlen. Erst haben wir dort gesessen und Sekt getrunken, den er von irgendwoher organisiert hatte, und dann haben wir uns gegenseitig die Sternbilder gezeigt: den roten Löwen, die Weißwein-Avenue, die Spirale der ewigen Liebe. Wer hätte gedacht, dass es so etwas gibt? Wir haben gelacht, bis sich unsere Münder gegenseitig verschlossen haben.
Darauf will ich trinken. Darauf und auf das Gefunkel am Himmel. Ich hebe die Flasche. »Morgen werden wir telefonieren. Vielleicht kommt er auch her«, murmele ich den Ästen des Kirschbaums zu.
Ein letzter Schluck. Ich lasse die Flasche auf die Wiese fallen und kuschele mich tiefer in den Schlafsack. »Eifelsterne. Das da oben rechts ist bestimmt die Hohe Nacht und gleich daneben die Route de l’Eifel. Fehlt nur noch der Liebesring. Mal sehen, ob Matthias und ich den nicht zusammen entdecken. Morgen oder in den nächsten Tagen …«
Samstag, 13.April
Schöne Aussicht(en)
1
Ist es das Licht, das mich aufgeweckt hat, oder die Kälte? Ich liege im Esszimmer und reibe mir die Hände, die Füße. Irgendwann in der Nacht bin ich wach geworden und ins Haus umgezogen. So kalt, wie mir jetzt ist, hätte ich mir das sparen können. Durchgefrorener als durchgefroren geht nicht. Ich halte die Hände vor den Mund und blase hinein. Steif und ungelenk kämpfe ich mich schließlich aus dem Schlafsack und in die Senkrechte. Um warm zu werden, hilft nur Bewegung.
Aus einem der Kartons ragen meine alten Laufschuhe. Ich schlüpfe in die ausgeleierte Jogginghose und frage mich, warum ich die beim Umzug vor fünf Jahren überhaupt eingepackt habe. Die muss ich doch damals schon Ewigkeiten nicht mehr getragen haben. Eine etwas zu enge Fleecejacke und eine ziemlich platte Daunenweste vervollständigen mein Walking-Outfit. Wenn es stimmt, dass fitte Menschen die ältesten Klamotten tragen, dann werde ich gleich rennen, anstatt zu gehen, fliegen, anstatt zu walken, und eine neue Bergbestzeit aufstellen.
Ich trete vors Haus. Die Hängematte im kahlen Kirschbaum wirkt vergammelt und deplatziert. Sobald das Wetter besser ist, werde ich mir eine neue kaufen. Rasch hole ich meine Nordic-Walking-Stöcke aus dem Kofferraum. Die hat Matthias mir zum Vierundvierzigsten geschenkt. Weil das Laufen nicht so meins ist. Jetzt aber trabe ich sogar mit Stöcken, um die Kälte aus den Gliedern zu bekommen.
Schon nach wenigen Schritten erreiche ich den Wald. Die Bewegung hilft tatsächlich. Die Steigung noch mehr. Langsam wird mir wärmer. Die klare Luft tut gut. Am Ende des Anstiegs stoße ich auf einen Wanderweg. Links geht es in den Ort, rechts auf den Kraterrand. Ich halte mich rechts. Inzwischen gehe ich wieder wie gewohnt. Kleine Nebelschwaden schweben über dem Maar. Der Himmel schimmert in einem milchigen Blau, als wäre er noch nicht ganz wach. Nur die Vögel sind zu hören – die Vögel, das Klackern der Stöcke, meine Schritte, mein Atmen.
»Über den Wolken …«, singe ich in Gedanken und sehne mich nach dieser Freiheit, auch nach der Schwerelosigkeit. Es wird steil, meine Schritte werden immer kleiner. Ich ramme die Stöcke in den Boden, stoße mich ab und Dampfwölkchen aus. Wahrscheinlich fühle ich mich nicht nur wie eine Dampflok, sondern höre mich auch so an.
Ich kämpfe mich weiter. Die Strecke ist deutlich anspruchsvoller als die, die ich in Köln walke. Mit einer solchen Laufrunde müsste ich Matthias eigentlich ködern können. Und mit einem ordentlichen Restaurant oder einem Abstecher an die Mosel zu einem guten Winzer – ich werde ihn schon überreden, sich mein Haus anzuschauen. Wenn es tatsächlich Schäden hat, werden wir überlegen, was das Beste ist. Im schlimmsten Fall muss ich es wieder verkaufen und mich nach was anderem umsehen. Einem anderen Ferienhaus. Der Makler war doch wirklich sehr nett. Und Matthias hat ja auch Kontakte.
Endlich liegt das steile Stück hinter mir. Ich bleibe stehen, schnaufe durch und bereue, das Handy nicht mitgenommen zu haben. Hier oben versteht man, warum die Maare auch »Augen der Eifel« genannt werden. Eingebettet in die bewaldeten Anhöhen liegt der See vor mir und hat den Himmel eingefangen.
Als ich wieder normal atme, marschiere ich weiter. Immer noch geht es bergauf, aber die Steigung ist nun leichter. Dennoch spüre ich meine Beine – und den Wein. Aber was beklage ich mich? Ich wollte es so. Hoch hinaus und selbst schuld. Die Aussicht gibt mir recht.
Mit dem nächsten Anstieg kehren meine Gedanken zu Matthias zurück. Was will ich mit Anteilen an einem Gewerbegebiet? Ich bin keine, die Millionen anhäufen will. Wenn mir dieser Blitzkauf eins gezeigt hat, dann, dass ich mich wohl sehr nach einem Ort außerhalb der Stadt gesehnt habe. Ein Häuschen in der Natur. Wie glücklich mich das macht! Das hätte ich selbst nicht gedacht. Kein Wunder, dass Matthias überrascht war, aber er wird es sicher verstehen, wenn wir noch mal in Ruhe darüber reden.
Ich gehe schneller. Er wird es verstehen.
Irgendwo klopft ein Specht. Suchend schaue ich mich um, kann ihn aber nicht entdecken. Dann höre ich plötzlich … Was ist das? Eine Posaune? Mitten im Wald? Das kann doch nicht sein. Klingt so ein Fasan? Mehrere?
Ich lausche, neige den Kopf in die Richtung, aus der die Töne kommen. Jetzt bilden sie eine Melodie. Wohl doch kein Fasan.
Mein Weg führt mich weg von den Posaunentönen, sie werden leiser, ich setze die Stöcke wieder ein und erreiche das Maarkreuz. Kurz bleibe ich stehen und bewundere den malerischen Blick über den See auf den Ort, dessen weiße Kirche hervorsticht. Postkartenidylle, die auch in der Wirklichkeit eine ist.
Ich walke weiter. Ein Schild an einem Holzstamm verrät mir den Namen der Runde, auf der ich mich befinde: Maareglück. Mein Herz hüpft.
Zurück schlage ich den mittleren Rundweg ein und höre erneut die Töne. Schritt für Schritt wird der Klang klarer, macht mich leicht und frohgemut. Und dann sehe ich ihn. Unterhalb von mir, an einem Rastplatz zwischen den Bäumen, steht tatsächlich jemand und spielt Posaune. Ein Mann, vielleicht Mitte, Ende dreißig. Jeans, schwere Wanderschuhe, kurzärmeliges T-Shirt. Das braune Haar zum Männerdutt hochgebunden, Bart. Mit geschlossenen Augen ist er ganz in die Musik versunken. Fasziniert beobachte ich, wie er den Zug vor- und zurückbewegt, wie seine Arme mit der Posaune verschmelzen. Arme, die zupacken können, die viel an der frischen Luft sind, aber keine Im-Winter-in-die-Sonne-fliegen-und-Gewichte-stemmen-Arme.
Ob Posaunespielen anstrengend ist?
Falls ja, merkt man es ihm nicht an. Es wirkt so leicht, wie er da steht und spielt. Leicht und verrückt und wunderschön.
Ein Sonnenstrahl erwischt ihn und tanzt auf seinem Instrument. Für einen Moment schließe ich die Augen und gebe mich ganz diesen Tönen hin, die durch den Wald schweben und ihm einen Zauber verleihen, der alles ins Traumhafte rücken lässt. Wie muss man sein, um so spielen zu können? Überhaupt auf die Idee zu kommen, sich hier ans Maar zu stellen und zu musizieren? Ich schlage die Augen wieder auf. Sein Spiel berührt etwas ganz tief in mir drin. Abrupt reiße ich mich los.
Der Weg führt in den Wald, und Bäume nehmen mir die Sicht auf den Waldposaunisten. Die Töne werden leiser, hinter einer Biegung verklingen sie ganz. Still und mit vollem Herzen gehe ich weiter. Dankbar, dieses eigenartige Konzert erlebt zu haben.
2
Ich biege in den Wolkenweg ein, marschiere mit großen Schritten die Anhöhe hinunter bis zur Nummer sieben und dehne mich, hauptsächlich, weil ich dabei das Gesicht noch ein bisschen in die Sonne halten kann. Doch ich will nicht wieder auskühlen. Also raus aus den verschwitzten Klamotten und ab unter die Dusche, auch wenn die heute kalt ist. Danach werde ich einfach alles anziehen, was ich dabeihabe. Zuerst einmal muss ich aber den Haupthahn in der Küche aufdrehen. Das hat Joop mir erklärt.
Suchend schaue ich mich um, öffne alle Küchenschränke. Nirgends ein Hahn in Sicht. Ob es noch zu früh ist, um Joop anzurufen? Ich hole mein Handy. Drei verpasste Anrufe von Matthias. Einer von gestern, zwei von heute. Ihm tut der Streit bestimmt auch schon leid. Wenn ich geduscht bin, rufe ich ihn zurück. Jetzt wähle ich aber Joop de Jong aus meinen Kontakten aus und drücke auf das Hörersymbol, damit der Makler mir erklärt, wo dieser verflixte Wasserhahn versteckt ist.
Gott sei Dank meldet Joop sich gleich. Ich höre seiner Stimme an, dass er überrascht ist, so schnell wieder von mir zu hören, aber er scheint sich auch zu freuen. Er lotst mich zum Spülunterschrank. Dort habe ich zwar schon geguckt, aber wohl nicht gründlich genug. Nachdem ich fast in den Schrank hineingekrochen bin, entdecke ich den Hahn und öffne ihn. Ich teste sogleich an der Spüle, das Wasser läuft.
»Prima«, höre ich Joops Stimme aus dem Smartphone, das ich auf Lautsprecher gestellt und vor dem Unterschrank abgelegt habe, bevor ich darin verschwunden bin.
Ich hebe es auf, bedanke mich und entschuldige mich dafür, ihn am Wochenende gestört zu haben.
»Kein Problem. Samstag und Sonntag stehen eh nur Spaß und Entspannung auf die Plan. Heute geht’s ins Grüne. Willst du mitkommen? Soll schön werden, und ich finde, dass man gerade nach die Winter jeden Sonnenstrahl mitnehmen muss.«
»Das stimmt.« Ich sehe aus dem Fenster und erkläre ihm, dass ich meine Sonnendosis bereits genossen habe. »Aber ein anderes Mal gern.«
Wir verabschieden uns, und ich springe unter die Dusche. Tauchen Sportler nach extremer Belastung nicht sogar in Becken mit Eiswasser? Prustend stelle ich das Wasser wieder aus. Weder bin ich Sportlerin, noch war das eine extreme Belastung. Und zum Eiszapfen werden will ich auch nicht.
Leider habe ich nur ein kleines Handtuch in meinen Kisten gefunden, da ist nichts mit schön warm einwickeln. Stattdessen rubbele ich, bis ich nicht mehr weiß, ob das Krebsrot von der Kälte oder vom Reiben kommt.
In der Duschwanne gluckert es. Der Abfluss scheint verstopft zu sein, da werde ich wohl mal nachschauen müssen. Ich schlüpfe in meine Klamotten, hole mir Kissen und Schlafsack aus dem Esszimmer und lasse mich damit auf der Fensterbank in der Küche nieder, denn darauf scheint die Sonne. Dann rufe ich Matthias zurück.
»Wo bist du? Geht es dir gut?« Er klingt atemlos. Als ob er zum Telefon gerannt wäre.
»Ja, alles in Ordnung.« Ich strecke mein Gesicht in die Sonne und lächele.
»Mensch, ich habe mir echt Sorgen gemacht.«
»Tut mir leid.« Und das stimmt.
»Wo bist du denn jetzt? Doch nicht etwa in … dem Haus?«
Die kurze Pause lässt mein Lächeln einfrieren. Gerade wollte ich mich noch entschuldigen, aber so wie er »dem Haus« betont, klingt es, als wäre es der letzte Dreck. Trotzig recke ich mein Kinn vor. »Warum nicht?«
»Du bist aber nicht gestern Nacht noch dorthin gefahren, oder?«
Mein Schweigen ist Antwort genug.
Ich höre, wie er tief Luft holt. Von Alkohol am Steuer muss er mir nichts erzählen. So viel habe ich gar nicht getrunken, und das Kartonschleppen hat mich auch reichlich ernüchtert.
»Ist es denn möbliert?« Er hört sich ehrlich erstaunt an.
Das versöhnt mich wieder. »Nein, aber ich habe ein paar von meinen Kisten aus dem Keller mitgenommen.«
Der kleine Auszug verschlägt ihm wohl die Sprache, denn es bleibt still am anderen Ende.
»Meinen Schlafsack und die Isomatte«, erkläre ich, »und es ist ja nicht so, als würde ich irgendwas davon in Köln brauchen.«
»Fühlst du dich wirklich so unwohl bei … in … unserer Wohnung?«
Bei mir, in meiner Wohnung – ich höre förmlich, wie es in seinem Kopf gerattert hat. Und ich höre seine Betroffenheit. Seine Stimme klingt belegt. Er räuspert sich. »Der Wohnungsmarkt ist zwar nicht besser geworden, aber wir können ja trotzdem gucken.«