Auf jeden Fall mit Blumen - Andrea Gerecke - E-Book

Auf jeden Fall mit Blumen E-Book

Andrea Gerecke

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  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Das Detektivinnen-Duo kann es nicht lassen Sie wollte eigentlich nur die Blumen liefern wie immer … … aber es sollte anders kommen: Floristin Viola findet den renommierten Berliner Scheidungsanwalt erschlagen auf dem Fußboden seines Büros in der Kanzlei. Mit Sicherheit Mord, denkt sie, und ist plötzlich mittendrin in einem spannenden Fall. Krimis sind ihre Leidenschaft. Deshalb ruft sie zwar die Polizei, sieht sich jedoch lieber selbst schon einmal genau in der Kanzlei am Ku’damm um. Gut so, denn die Ermittler gehen nur von einem schweren Raub mit Todesfolge aus. Viola Blumenstengel glaubt es besser zu wissen und macht sich mit Tochter Iris auf die Suche nach dem Mörder.

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Seitenzahl: 367

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Das Leben hält jede Menge Stacheln bereit, aber es treibt auch reichlich Blüten.

Alle Handlungen und Personen sind natürlich frei erfunden. Eventuelle Übereinstimmungen mit real existierenden Personen und Situationen ergeben sich rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de© 2022 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8432-0

Andrea GereckeAuf jeden Fall mit BlumenViola & Iris ermitteln

Vorwort

Als „Rosenkavalier“ erwies sich Hauptkommissar Ale­xander Rosenbaum im letzten Kapitel des 10. regionalen Romans „Zeilenfall“. Gerade kam er aus dem ostwestfälischen Minden, wo er nach zehn Jahren beruflich alles hinter sich gelassen hatte, um vom Ermittler in die erhofft ruhigere Ausbildung zu wechseln. Und nun ein hübsches Reihenhäuschen zur Miete in einem besonders schönen Teil vom Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf: Nikolassee. Am nächsten Tag würden seine zweite Frau Heike und seine Töchter aus erster Ehe – Tina und Lena – ebenfalls anreisen. Er brauchte also einen überwältigenden Blumenstrauß. Den dafür nötigen Laden entdeckte er in einer kleinen kopfsteingepflasterten Straße: „Floreal“. Seine Wahl fiel auf duftende Freesien, nicht nur ein paar Stängel, sondern gleich der gesamte Inhalt des Gefäßes. Dazu Ginster und Ranunkeln. Phänomenal. Damit würde er unbedingt Eindruck schinden.

Hier begegneten sich Alexander und die Inhaberin Viola Blumenstengel das erste Mal. Da erfuhr er gleich von ihrer Ehrung. Der Polizeipräsident hatte sie eingeladen, um ihr für die sachdienlichen Hinweise zur Erfassung von Handtaschendieben, die auf dem Friedhof aktiv gewesen waren, zu danken. Grund genug, dass Alexanders Neugier angestachelt war und er künftig seine Blumen und Pflanzen immer bei Viola kaufte. Die beiden hatten eine echte Basis für nicht nur oberflächliche Gesprächsthemen …

Alex bekommt diesmal aber nur eine kleine Nebenrolle, schließlich hat er den Ermittlerdienst quittiert. Hauptakteure sind die Floristmeisterin Viola und ihre Tochter Iris, die es neben Arbeit und Schule beide lieben, Rätsel zu lösen und Licht in dunkle Machenschaften zu bringen. Und sollten es die Leser mögen, dann werden die beiden Detektivinnen auch weiter aktiv!

Die vorliegenden Fakten sind nach bestem Wissen und Gewissen recherchiert. Was die privaten Geschichten betrifft, so sind eventuelle Ähnlichkeiten natürlich rein zufällig. Wenn im Folgenden auf Besonderheiten wie den Funkturm oder das ehemalige Café Kranzler eingegangen wird, dann ist das kein bezahltes Product-Placement. Ich bekomme von den jeweilig Zuständigen keinen Cent für diese in Literatur verpackten Hinweise und darf da oder dort auch nicht kostenfrei speisen. Es sind Spezialitäten, die mir am Herzen liegen und auf die ich einfach gern aufmerksam mache. Vielleicht animiert es ja den einen oder anderen zu einem (neuerlichen) Besuch.

Corona und der Ausbruch eines Krieges in der gar nicht so weiten Nachbarschaft spielen absichtlich keine Rolle in diesem Geschehen, das sei anderen Autoren vorbehalten. Es könnte sich in der „unbeschwerten“ Zeit zuvor zugetragen haben … Dieser Roman soll unterhaltsam und humorvoll sein. Schließlich ist Humor die beste und einzig akzeptable Waffe. Und einen Kommissar wie diesen Pawlowski kann es ja in Wirklichkeit unmöglich geben …

Prolog

So ein verdammter Mist, tatsächlich ein Anruf. Kann man dieses dämliche Telefon nicht auf stumm stellen, um mal in Ruhe zu arbeiten? Wieso bin ich eigentlich Kommissar geworden?, überlegte Pawlowski genervt.

Nichts mit dem geplanten gemütlichen Start in die neue Woche, bei meiner Leiche in der Spree und den letzten nötigen Berichten dazu. Schon wieder ein neuer Toter. Nimmt das denn gar kein Ende? Meinen Kaffee kann ich nicht in Ruhe austrinken, und mein Brötchen kann ich wohl auch vergessen. Delegieren? Keine Idee, man ist ja nur von Dilettanten umgeben. Jens Pawlowski wird gebraucht, ohne mich geht es eben nicht …

So dachte der Kommissar im ersten Moment. Doch was war geschehen?

Floristin Viola Blumenstengel war mit ihrer Arbeit zufrieden.

„Dr. Zimmermann, ich bin dann auch fertig. Wollen Sie sich das Ergebnis noch anschauen? Ich will mich nur verabschieden, Ihnen Ihr kleines Blumenarrangement auf den Couchtisch stellen. Hoffentlich gefällt es Ihnen …“

Mit diesen Worten klopfte Viola an die Tür des Chefzimmers der Kanzlei, die in der Nähe vom Café Kranzler lag. In der Linken hielt die Floristin das schöne Gesteck und schob den Spalt Augenblicke später weit auf, obwohl sie kein „Herein“ gehört hatte. Vielleicht hatte der Anwalt es auch nur leise gemurmelt, nahm sie an. Dienst war Dienst, und nun wurde es Zeit, dass sie sich auf den Heimweg machte. Da musste irgendwelche Etikette mal das Nachsehen haben. Selbst eine gemeinsame Tasse Kaffee noch auf die Schnelle war diesmal nicht drin. Schade eigentlich. Darauf hätte sie jetzt echt Appetit.

„… und dann will ich Ihnen noch eine schöne Woche wünschen“, hätte sie anschließen wollen, aber die Worte blieben ihr im Halse stecken. Von Dr. Hasso Zimmermann sah sie die ausgestreckten, etwas verrenkten Füße – in einer Stellung, wie man sie üblicherweise nicht platzierte. Die Hosenbeine waren hochgerutscht und gaben das nackte, behaarte Fleisch oberhalb der Knöchel frei, was der Mann sonst im Alltag tunlichst vermied.

Hatte er vielleicht einen Herzanfall, fiel ihr sofort ein, und sie lief raschen Schrittes auf ihn zu, stellte das Gesteck achtlos auf eine Ecke des Schreibtischs, kniete sich nieder und wollte schon testen, ob er noch atmete, als sie die Blutlache wahrnahm, in der er mit der einen Gesichtshälfte lag. Das sah nun aber nicht nach einer Herzattacke aus. Vielleicht war er aufgrund eines solchen plötzlichen Anfalls unglücklich gestürzt? Was war denn hier um Gottes willen passiert?

Viola schluckte und musste sich für einen Moment auf den Boden neben ihm niederlassen, weil ihre Beine ihr den Dienst versagten, auch spürte sie eine heftige Übelkeit in sich aufsteigen. So wie damals in der Schwangerschaft mit Iris, das war aber verdammt lange her. Jetzt nur nicht durchdrehen, redete sie sich innerlich zu. Bewahre die Ruhe. Eins nach dem anderen.

Sie blickte erneut zu dem Mann und rümpfte die Nase. Irgendwie roch das hier ziemlich schlecht. Lebenszeichen testen, bevor du mit Erste-Hilfe-Maßnahmen beginnst, riet ihr Inneres. Genau. Das hatte sie ja ursprünglich machen wollen. Sie legte, nun kniend, Zeige- und Mittelfinger an die Halsschlagader, deren Bewegung aber nicht zu erspüren war. Wahrscheinlich hast du kein richtiges Gefühl in den von der Arbeit verschandelten Fingern.

Vielleicht noch ein Versuch mit einem Taschenspiegel, redete sie sich ein. Sie erhob sich mit weichen Knien und taumelte in die Kaffeeküche zu ihrer Tasche, in der sich auch ein kleiner Kosmetikspiegel befand. Den griff sie sich und lief rasch zurück, so als ob die Zeit noch etwas bringen könnte, um ihn dicht vor Nase und Mund des Mannes zu halten. Bitte, bitte, lass ihn noch am Leben sein, flehte sie innerlich. Aber erfolglos. Der Spiegel blieb einfach spurenlos klar.

Dann die Polizei informieren, entschied sie sich, nachdem sie auch die etwa einen halben Meter hohe Bronze­skulptur eines nackten Jünglings am Boden liegend, unweit von Dr. Zimmermann, entdeckte. Das war definitiv nicht ihr angestammter Platz. Viola schaute sich um und wollte schon das Telefon auf dem voluminösen Schreibtisch ergreifen, doch sogleich schüttelte sie den Kopf. Wenn hier nach Spuren geschaut würde, wollte sie nicht noch mehr von den ihren verteilen.

Sie fasste in ihre Hosentasche, aber da befand sich nur der Autoschlüssel. Also lief sie erneut in die Küche, holte sich ihr Handy aus ihrer Handtasche, die in einer Kiste lag, und gab die Nummer ein. Hier fühlte sie sich auch nicht mehr so unwohl wie im Beisein des Toten.

Klar und deutlich schilderte sie die Situation und bestätigte auf Nachfragen alles noch einmal: ihren Namen, was sie vorgefunden hatte, die Adresse. Waren die denn begriffsstutzig? Sie hatte doch beim ersten Anlauf schon alles korrekt beschrieben.

„Ja, ich warte auf Sie, und nein, ich fasse selbstverständlich nichts an.“

Ihr Unterton klang etwas gereizt. Dann beendete sie das Gespräch und blickte auf ihre Kiste mit den Blumenabfällen. Immerhin bist du mit deiner Arbeit fertig geworden, sagte ihre innere Stimme besänftigend. Na toll, und das unter diesen Umständen, kamen die empörten Gegenworte. Hier wird doch bestimmt für die nächsten Tage alles dichtgemacht und keiner kann sich an den wunderschönen Blumen erfreuen.

Viola lehnte nachdenklich an der Spüle und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Sie hatte ein komisches Gefühl. Hier stimmte etwas ganz gewaltig nicht, und sie würde alles daransetzen, das herauszufinden …

Lieferservice

Dabei hatte der Tag völlig normal begonnen … Drehen wir die Uhr ein wenig zurück:

„Du bist so eine Trödelliese“, brummte Viola vor sich hin. Ein Stück weit war es noch zu fahren bis zu der Kanzlei, die sie jeden Montag belieferte. Sie befand sich unweit vom einstigen Café Kranzler, nur auf der gegenüberliegenden Seite, wo sie soeben entlangfuhr. Ihr Tacho schwankte zwischen 30 und 40 Stundenkilometern. Da könntest du glatt joggen und wärst schneller, überlegte sie gerade und lachte dabei auf. Klar, mit all dem blumigen Gepäck in den Händen. Das sähe ja dermaßen albern aus …

Die Hausnummern wechselten, und endlich gelangte sie in die Nähe ihres Ziels. Sie fuhr noch an einem dicht gefüllten Doppelstockbus vorüber, der an der nächsten Haltestelle stoppte, um Fahrgästen Auslass und Einlass zu gewähren. Jede Menge griesgrämiger Gesichter in einer uniformen grauen Masse. Fast alle, jeder für sich, starrten hypnotisiert aufs Smartphone und ließen den Daumen darüberwischen. Wie die Heringe standen sie wieder darin, dachte Viola nach einem flüchtigen Blick, ein Segen, dass ich mir das nicht antun muss. Dann lieber im Stop-and-go-Tempo dahinschleichen, aber nicht ungewaschene Körper am eigenen spüren und den widerwärtigen Mief der anderen in der Nase haben. Vielleicht noch ekliges Gegrapsche von irgendwelchen fiesen Typen, die sonst nicht zum Zuge kamen. Hatte sie alles schon erlebt und brauchte es wirklich nicht wieder.

Bei dem Gedankensplitter an das widerliche Angetatsche fiel ihr diese Situation von damals wieder ein, als sie die Hände, die nach ihr langten, nicht einmal richtig zuordnen konnte. Zu eng stand der Pulk, zu dicht pressten sich rundum Leute an sie. Ein Ausweichen war unmöglich. Sie hatte sich ausgeliefert gefühlt und schmutzig. Selbst Worte hatten ihr gefehlt, um ihren Nachbarn in die Schranken zu verweisen, obwohl sie sonst nicht auf den Mund gefallen war. Aber wen von ihren Nebenmännern hätte sie auch ansprechen sollen? Es konnte jeder sein. Schnell schob Viola die Erinnerung von sich fort. In ihrem Auto dufteten die Blumen intensiv frisch und beruhigend.

Ein leichter Regen hatte eingesetzt und ließ den Asphalt glänzen. Alles am Straßenrand war mehr als eng beparkt, wie nicht anders zu erwarten. Gelegentlich stand mal ein Smart, der es sich leisten konnte, quer. Da und dort blockierten schon Fahrzeuge die zweite Reihe. Das wollte sie auf keinen Fall riskieren. Keine unnötigen Ausgaben, schließlich wurde für das Studium der Tochter gespart, und selbst wenn bei Fehlverhalten ihrem Führerschein nichts passierte, an dem sie mehr hing als an vielem anderen. Ohne den wäre sie aufgeschmissen. Kontrolliert wurde in dieser Stadt rund um die Uhr, gnadenlos.

Da, nur ein Stück hinter ihrem Ziel fuhr am Rand plötzlich ein Pkw aus einer Lücke heraus, und vor ihm entdeckte sie das Auto der Reinigungsfirma „Blitzeblank“. Darauf ein ihr bekannter bulliger Typ mit strahlendem Lächeln, mit Schrubber und Wischeimer in den Händen. Alles in sauberen, knalligen Farben.

Guter Platz, dachte Viola und setzte ihren Wagen mit Schwung vorwärts in die Lücke, haarscharf an ihrem Hintermann vorbei, und dann nur mit einer einzigen Rückwärtsgang-Aktion etwas gerader in die Spur, sodass ausreichend Platz zu Eric blieb. Sollte der Fahrer hinter ihr seinerseits ausparken wollen, würde es definitiv eng werden. Nicht ihr Problem. Man konnte eben nicht alles haben. Ihr Auto wackelte etwas, aber ihren Blumen dürfte ja – dank Bens Fürsorge – nichts geschehen.

Viola stieg aus ihrem Fahrzeug aus, lief nach hinten und öffnete die Heckklappe, die in die Höhe aufschwang. Darunter konnte sie dem intensiver werdenden Regen etwas ausweichen. Da hast du dir so viel Mühe mit deiner Frisur gegeben und nun?, bohrte ein Gedanke in ihr. Genau. Alles wieder futschikato. Dabei hätte auch ein schnöder Gummi ausgereicht, um die halblangen dunkelbraunen Locken zu bändigen.

Sie betrachtete ihre Ware und sortierte sie in zwei Gänge oder auch nur einen. Aufgrund des Wetters entschloss sie sich, alles auf einmal zu nehmen. Das würde schon passen.

Nach und nach wanderten Kisten und große Taschen über ihre Schultern und unter die Arme, zuletzt ein großes Bündel dunkelroter Rosen quer vor die Brust. Mit einem Ellbogen drückte sie die Heckklappe herunter und schob sie mit dem linken Knie ins Schloss. Das Verschließen erwies sich allerdings als unmöglich. Den Autoschlüssel hatte sie gleich zu Beginn in eine Hosentasche ihrer Jeans gleiten lassen, dort lag er ganz unten, sicher verwahrt.

„Na klasse, du dummes Huhn, da kann jetzt jeder dein edles Fahrzeug mitgehen lassen“, presste sie zwischen den Zähnen hervor, lachte aber zugleich auf. Nein, dieses Auto kam nicht in die engere Auswahl von Verbrechern. Viel zu zerschunden aufgrund der unzähligen Einsätze und der gelegentlichen kleinen Unachtsamkeiten an Pollern, Bordsteinkanten, Mülltonnen oder Ähnlichem. Nicht nur durch sie, auch Mitarbeiter oder Familienangehörige saßen mitunter am Lenkrad. Je mehr Fahrer, desto weniger Verantwortungsgefühl im Einzelfall. Aber das gute Stück war eben ein Gebrauchsgegenstand. Außerdem prangte ja ihre farbenfrohe blumige Firmenkennung auf beiden Seiten. Sofort eindeutig zu identifizieren! Da gab es deutlich leichtere und hochwertigere Beute auf den Straßen der Hauptstadt für die einheimischen oder zugereisten Ganoven.

Viola lief vorsichtig in Richtung Kanzlei. Fast wäre sie über einen Elektroroller gestolpert, der mit dem Lenker quer über den Bordstein hing. Vom Nutzer einfach dort abgelegt, wo ihm nicht mehr der Sinn nach diesem Fortbewegungsmittel stand. Einer von unzähligen in der Stadt, die deren Bild schon seit Längerem prägten.

In letzter Sekunde bemerkte sie die Stolperfalle noch mit dem rechten Fuß und wich geschickt tänzelnd aus. Ich sollte auf Ballett umschulen, grinste Viola in sich hinein. Vielleicht mal einen Kurs bei Benjamins Freund Vincente nehmen, der gerade im Friedrichstadtpalast vorgetanzt hatte … Du bist zu alt für solche Albernheiten, brummte ihr Inneres. Im Hausflur brannte Licht. Möglicherweise hatte sie Glück …

In dem Augenblick, als sie vor dem Eingang stand, ging die Tür wie von allein auf: Sesam öffne dich! Von drinnen lächelte ihr Retter ihr entgegen. Eine Spur verkrampft, oder kam ihr das nur so vor?

„Na, meine Schöne! Muss die Chefin wieder alles allein machen? Was sind das nur für Zeiten, in denen wir da stecken?!“

Eric Schöne sah exakt so aus wie der Putzteufel auf seinem Firmenauto. Groß, kräftig und mit einem gewinnenden, offenen Lächeln. Er trug eine dunkelblaue Latzhose, aus deren rechter Seitentasche ein fast sauberer Lappen zum Blankreiben hing. Oberhalb der Brust lugte die Ecke eines Briefumschlags aus dem halb geschlossenen Reißverschluss hervor. Eine Rechnung für einen seiner Auftraggeber vielleicht. Unter einen Arm geklemmt hielt er einen flexiblen Wischmopp, und in der zweiten Hand befand sich ein Eimer mit allerlei Reinigungsutensilien. Es roch intensiv nach Frische im Flur.

Viola war ein klein wenig errötet. Wie stets in Gegenwart von Eric, dessen Charme einfach umwerfend war und dem sie sich nicht entziehen konnte.

„Na, du musst dich ja offensichtlich auch um alles selbst kümmern, wenn ich das richtig sehe. Putzen, Rechnungen austragen …“

„Genau. Wenn der Chef höchstpersönlich Hand anlegt, ist alles paletti: Schöner wird’s!“

Eric spielte auf seinen Werbeslogan an, bei dem das R am Ende seines Nachnamens in Klammern gesetzt war, und musterte sein Gegenüber gründlich.

„Du bist mal wieder bepackt wie ein Lastenesel und siehst trotzdem so schick aus, als wärest du gerade einer Blumenreklame entstiegen … Hättest ja gar keine Hand frei, um eine Tür zu öffnen, Schätzchen. Ist aber auch nicht nötig. Habe eben gesehen, dass sie im zweiten Stock nur angelehnt ist. Hat der Doktor wohl vergessen hinter sich zu schließen … Soll ich dir noch helfen?“

Er wollte gerade seine Utensilien abstellen, um aktiv zu werden, als Viola etwas abgehackt antwortete:

„Geht schon. Lieb von dir, das Angebot. Danke, aber ich schaffe das allein.“

Viola spürte, wie ihre Kräfte langsam nachließen und ihre Arme erlahmten, wollte sich das aber keineswegs eingestehen.

„Kannst jetzt auch durch“, gab Eric den Weg frei. „Das Gewischte ist endlich trocken. Irgend so ein Idiot war doch vorhin noch drübergelatscht, nachdem ich die Treppen gereinigt hatte … Der kann von Glück reden, dass ich ihn nicht erwischt habe, dem hätte ich die Hammelbeine langgezogen! Für mich hieß das: Alles noch mal von vorn!“

Eric blickte etwas grimmig drein.

„Ach, du Armer …“

Viola klang mitleidsvoll. In solche Sachverhalte konnte sie sich durchaus einfühlen, ihre Familienmitglieder hatten ebenfalls ein Gespür dafür, bei der Hausarbeit zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Entweder nicht zur Hand, wenn man sie brauchte, oder ziemlich sinnlos mitten im Weg stehend und bei eventuellen Hilfsversuchen möglichst viel falsch machend, damit man sie nie wieder um Unterstützung bat. Wahrscheinlich alles strategisch geplant, und sie fiel immer wieder darauf rein.

„Sorry, ich muss dann aber auch hoch und alles schön arrangieren, ehe die ersten Klienten kommen. Bin schon etwas in Zeitnot.“

„Und wieder die üblichen dunkelroten Rosen für den berüchtigten Rosenkrieg der Paare?“

Eric sah verschmitzt aus.

„Du sagst es, lieber Eric. Erstens der Deutschen Lieblingsblume auf Platz eins der meistverkauften Schnittblumen, und dann will zweitens der Doktor immer dieselbe Sorte … Ist eben sehr traditionsbewusst. Das finde ich natürlich prima.“

„Sag mal, meine Hübsche, wann hast du endlich mal Zeit für ein gemeinsames Essen? Du hattest es mir doch versprochen …“

Erics Strahlen wurde noch intensiver, und seine tiefblauen Augen funkelten. Die gewohnte Ruhe ging wieder von ihm aus. Obwohl er doch sicher aufgrund seiner anstrengenden Arbeit ins Schwitzen gekommen sein musste, roch er nicht eine Spur nach Schweiß. Ihn umgab der Duft von einem schweren, erotischen Herrenparfüm. Er wirkte definitiv anziehend.

Viola schluckte und suchte nach einer Ausrede, wobei sie durchaus mit dem Gedanken an ein gemeinsames Mahl spielte. Ein kleiner Flirt konnte doch nicht schaden. Es tat so gut, mal Komplimente zu bekommen. Ihr Mann Cord hielt sich da eher zurück, Beziehungen kamen eben auch in die Jahre und damit schnappte die klassische Gewohnheitsfalle zu.

„Sieht aktuell eng aus, mein Bester“, sagte sie dann aber. „In Kürze ist 8. März, Internationaler Frauentag, da steht meine Branche wieder kopf. Auch die, die sonst nicht dran denken, fühlen sich dann bemüßigt, ihrer Holden Blumen zu überreichen, standardmäßig gern kombiniert mit einer Flasche Schampus oder einer Schachtel Pralinen, potenzielles Hüftgold also.“

„Wäre doch aber ein schöner Anlass für uns zwei“, zog Eric eine betont enttäuschte Miene. In der Zwischenzeit war das Hauslicht erneut erloschen, und der Mann betätigte es zum wiederholten Male. Er würde nicht aufgeben, definitiv nicht. Diese Frau war einfach ein Rasseweib, im allerbesten Alter, in jeder Hinsicht. Und den Ehering an ihrem rechten Ringfinger hielt er auch nicht für sonderlich störend. Alles konnte, nichts musste, so seine Maxime. Er hatte noch nie eine infrage kommende Partnerin zu etwas gezwungen, was sie nicht wirklich wollte. Da konnte es keinerlei Klagen oder gar Anklagen geben.

„Tschüssi dann“, verabschiedete sich Viola nun endgültig.

„Bis bald, mein Herz“, flötete Eric mit sanfter Stimme und ließ die Haustür hinter sich ins Schloss fallen. Dann schlenderte er entspannt zu seinem Fahrzeug, schaute zwischendurch in den Himmel und genoss die Regentropfen auf seinem Gesicht. Allerdings nur kurz, dann fühlte er eine Beklemmung beim Atmen und legte seine Rechte aufs Herz. Er spürte den knisternden Umschlag in der Brusttasche. Gleich darauf stieg er zügig in sein Auto und fuhr davon, zum nächsten Auftraggeber.

Viola durchquerte den Flur, dunkelgrün gefliest bis auf halbe Höhe, abschließend mit einer bordeauxroten Kante versehen und darüber verschiedenste Malereien an den Wänden sowie reichlich Stuck auch an der Decke, in den Ecken auf Simsen Amphoren und ein Stück höher zwei anmutige Frauenfiguren. Das schöne Umfeld nahm sie nur im Unterbewusstsein wahr. Zu oft schon hatte sie diesen Eingang benutzt, fast selbstverständlich war er ihr geworden. Und dennoch legte sich unweigerlich ein Lächeln auf ihr Gesicht, ob nun von dem kleinen Geplänkel mit Eric, den sie insgeheim Meister Proper nannte, oder vom Jugendstilambiente. Auf jeden Fall sang sie lauthals die alte Reklamemusik vor sich hin:

„… Meister Proper putzt so sauber, dass man sich drin spiegeln kann …“

Am Fahrstuhl verharrte sie nur kurz. Keine Idee. Wie hätte sie denn die Tür öffnen und den Knopf betätigen sollen. Also stieg sie die Treppen nach oben, vorsichtig ihre kostbare Fracht balancierend. Ein paar Schweißtropfen rannen ihr über die Stirn und drohten, in die Augen zu gelangen.

In der zweiten Etage, wie von Eric angekündigt, war tatsächlich die Eingangstür zur Kanzlei nur angelehnt. Merkwürdig – oder auch nicht. Vielleicht hatte Dr. Zimmermann das extra für sie so gelassen, wohl wissend, dass sie in Kürze auftauchen würde und zu so früher Morgenstunde in diesem Aufgang kein ungewollter Gast Einlass begehrte.

Sie schob die Tür mit einem Knie auf und ließ endlich etwas von ihrem Gepäck auf den Flurboden gleiten. Ganz sanft, damit kein Malheur geschah. Fast hätte sie einen Krampf in ihrer rechten Wade bekommen, die sie beim Gespräch mit Eric etwas kokett und damit offensichtlich falsch positioniert hatte. Zum Glück schmerzte es nur, aber nicht zu sehr. Viola spürte Erleichterung im wahrsten Sinne des Wortes. Schließlich wischte sie sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

„Dr. Zimmermann. Ich bin’s, Ihre Blumenfee Viola, guten Morgen …“

Sie sprach es deutlich aus, aber nicht allzu laut, nur, um sich anzukündigen. Schließlich wollte sie niemanden erschrecken. Meist war der Anwalt um diese Zeit schon in seinen Papieren versunken oder in seinem Computer abgetaucht und klärte einiges, ehe der allgemeine Trubel im Büro einsetzte. Sie beide waren von der Sorte der frühen Vögel. Ihm und ihr machte das zeitige Aufstehen nichts aus. Im Gegenteil. Darüber hatten sie bei Gelegenheit geplaudert und einhellig festgestellt, wie schön doch die frühen gewonnenen Stunden waren, nicht nur, um Würmer zu fangen …

Sie stellte den Teil der Ware, die sie noch im Arm hatte, in der Kaffeeküche ab, die direkt neben dem Sekretariat lag. Viola ließ kaltes Wasser ins zuvor verschlossene Waschbecken laufen und legte die Rosen mit ihren Stielenden hinein. Alles andere hatte noch etwas Zeit. Dann klapperte sie die Räume ab, in denen ihre laut Vertrag wöchentlich zu liefernden Arrangements standen.

Zum Chef wollte sie zuletzt gehen, um das auch gleich mit der Verabschiedung zu verbinden. Einiges hätte möglicherweise noch ein paar Tage gehalten, vor allem wenn es zwischendurch gepflegt und mit frischem Wasser versorgt worden wäre, aber: neue Woche, neues Glück. So die Einstellung von Dr. Zimmermann. Und sie liebte als Geschäftsfrau diese segensreiche Grundhaltung.

Im großzügigen Wartezimmer stand eine schwarze Ledercouchgarnitur, auf einem flachen Glastisch thronte mittig ihr Gesteck, in dem auch ein paar von den dunkelroten Rosen aus der großen Vase wiederkehrten, die sich auf einer stabilen, silbrig schimmernden Säule direkt in Fensternähe befand. Luftiges Schleierkraut umrahmte den Strauß, im Gesteck hatte sie darauf verzichtet und sich stattdessen für allerlei Florales in Grüntönen entschieden. Dabei ließ ihr der Kunde stets freie Hand. Nur die Rosen waren ein Muss. Da hatte Eric schon recht, musste Viola jetzt grinsen. Es passte zum Rosenkrieg, der hier häufig ausgetragen wurde. Kampf um jedes kleinste Detail, ohne Rücksicht auf Verluste, und vor allem die Kinder blieben dabei meist auf der Strecke, wenn die Erwachsenen ihren dicken Kopf durchsetzten.

Es solle die Kontrahenten etwas beschwichtigen und an bessere Zeiten erinnern. Vielleicht konnte es jemanden sogar von seinem Vorhaben abbringen, hatte Dr. Zimmermann mal bei einer gemeinsamen Tasse Kaffee sein Ansinnen erläutert und grinsend gemeint, damit würde er sich natürlich nur ins eigene Fleisch schneiden. Viola hatte lediglich gestrahlt und so einen Grund für den familiären Zusammenhalt als durchaus akzeptabel angenommen. Wenn ihre Blumen das bewirken könnten, dann wäre das einfach nur toll …

Viola warf einen prüfenden Blick auf die Rosen in der Vase und fasste einen Blütenkopf mit Daumen und Zeigefinger vorsichtig an, die dunkelroten Blätter darin waren noch ziemlich stabil. Schade eigentlich, dass die schon in den Müll mussten. Sie waren zwar voll erblüht, aber noch absolut fest und schön, eben nur in einer relativ späten Blühphase. Ein, zwei Tage hätte sie ihnen daheim noch gegeben oder auch länger, wenn jemand das Wasser in der Vase ausgetauscht, neues Frischhaltemittel hineingetan und die Stiele noch einmal angeschnitten hätte. Jetzt müffelte es ziemlich. Sie zog die Nase kraus, zuckte mit den Schultern und machte weiter.

In der Küche hatte sie eine Klappkiste bereitgestellt, in die aller Abfall wanderte, den sie für die Entsorgung wieder mitnahm. Nach und nach arbeitete sie sich durch die Kanzlei. Im Sekretariat stand eine bauchige Vase von Villeroy & Boch mit einem immer noch prächtigen Frühlingsblumenstrauß. Bei genauerem Hinsehen entdeckte sie ein paar Blütenblätter am Boden, und die Tulpen waren in die Höhe geschossen. Sie tauschte alles gegen eine neue Variante aus: diesmal üppig gefüllte orangefarbene Tulpen – Deutschlands Schnittblumen-Verkaufsschlager von Platz zwei und ebenfalls Favoriten von Viola –, dazu farblich passende Ranunkeln und ein paar dekorative Stängel Grün für die Harmonie und einen gewissen stabilisierenden Halt.

In dem Raum war ihr ein ziemliches Durcheinander auf den Schreibtischen und ringsherum aufgefallen, auch wenn das ja nicht ihre ureigenste Angelegenheit war. Doch Unordnung störte sie generell, wo auch immer. Herausgezogene Schubläden, ausgebreitete Papierstapel, offene Schranktüren. Auf dem Boden lag offensichtlich der Inhalt einer Akte. Viola hatte sich automatisch gebückt und alles zusammengetan. Auf dem Deckel las sie „Thieme gegen Thieme“. Und auf den einzelnen Schriftstücken hatte sie dazu zwei Frauennamen entdeckt: Manja und Nicoletta. Tja, auch solche Bindungen waren offensichtlich begrenzt, was die Haltbarkeitsdauer anging, und nicht fürs gesamte Leben gemacht, überlegte Viola. Von wegen: Bis dass der Tod euch scheidet … Geschieden wurde definitiv eher. Ihr wurde etwas wehmütig ums Herz.

Sie erhob sich wieder und legte die Unterlagen seitlich auf den Schreibtisch, darin Scheidungsantrag, Vollmacht, Notizen zum Gegenstandswert als Berechnungsgrundlage für die Anwaltskosten und die Gerichtsgebühren, Stichpunkte zu einer möglichen Unterhaltsregelung. Außerdem Vermerke zum Versorgungsausgleich, also dem Vergleich der jeweiligen Rentenansprüche, der in diesem Fall wahrscheinlich zugunsten von Manja ausfallen würde.

Einige Blätter waren zusammengetackert und trugen oberhalb das Stichwort „Härtefall“: Misshandlung, Aussperren aus der gemeinsamen Wohnung, Aufforderung zum Geschlechtsverkehr zu dritt nach Entdeckung eines ehebrecherischen Verhältnisses … Dazwischen waren überall handschriftliche Notizen ergänzt. Das hätte Viola durchaus alles lesen können, aber sie fühlte sich ohnehin als Eindringling in eine Privatsphäre, also ließ sie es bleiben. Außerdem wollte sie sich hier auch nicht ewig aufhalten.

Da musste aber jemand am vergangenen Freitag fluchtartig sein Büro verlassen haben. Viola schüttelte den Kopf. Die wussten doch alle, dass der Chef frühzeitig auftauchte und sich über Unordnung enorm empörte, ja regelrecht ausrastete. Sie hatte ihn schon erlebt, wie er eine Kanzleisekretärin in ihrem Beisein wortreich kritisierte. Für irgendeine banale Unachtsamkeit, wenn sie sich recht entsann. Die junge Frau war damals immer mehr in sich zusammengesunken, hatte farblich im Gesicht zwischen knallrot und käsebleich gewechselt. In deren Haut hätte sie nicht stecken wollen. Ein Glück, dass sie selbstständig war, da musste sie sich von niemandem dumm kommen lassen, zumindest von keinem, der über ihr stand.

Sie seufzte, denn das alles schien jetzt so nebensächlich …

Zimmermann ist tot!

Wie gesagt: Dabei hatte der Tag völlig normal begonnen. Nun wartete sie auf die Polizei. Das hilflose Ausharren ließ ihre Gedanken abschweifen. Sie drückte in ihrer Erinnerung die Reset-Taste … Es war wieder früher Morgen.

Ein nervöser Blick auf die Zeitanzeige im Armaturenbrett. Es war schon spät geworden, viel zu spät. Sie hätte einfach eher aufstehen müssen. Aber noch eher? Der Blumengroßmarkt in der Beusselstraße öffnete um vier Uhr morgens. Da machte es auch keinen Sinn, wenn sie sich schon eine Stunde zuvor, um drei Uhr, auf den Parkplatz stellte. Und jemanden aus ihrem Team zum Einkauf schicken, damit sie etwas länger schlafen konnte? Keine gute Idee. Hatte sie alles schon ausprobiert. Sonst waren ihre Mitarbeiter sehr verlässlich, aber die Entscheidung für die richtigen Blumen und das grüne Beiwerk wollte sie lieber selbst treffen und keinem anderen überlassen. Außerdem konnte sie sich spontan für Extras entscheiden, die ihr ins Auge sprangen.

Und: So ein früher Morgen hatte auch etwas für sich. Man konnte die Ruhe vor dem Sturm in der Großstadt Berlin erleben. Den Sonnenaufgang, der eventuell ein zauberhaftes, strahlendes Licht über alles legte, besänftigte und für so vieles entschädigte.

An diesem Montag, dem letzten Tag im Februar, war es allerdings noch ziemlich dunkel. Eben fiel Viola ein, dass das heute ja ein berufsbedingter Festtag war: der Tag der Floristik, der jährlich am 28. Februar stattfand. Den sollte man mal als Feiertag festlegen. Das wäre genau nach ihrem Geschmack. Seit wann gab es den eigentlich? Sie musste nicht lange grübeln, bis der Groschen fiel: 1995 war jener Tag der Floristik von William F. Weld, dem damaligen Gouverneur von Massachusetts ins Leben gerufen worden. Dafür fand sich auch ein gewichtiger Grund, nämlich um Carl Rittner, den Gründer der Rittner-Floristikschule und zugleich ein Pionier seines Kunsthandwerks, zu ehren. Im Internet war sie mal auf die Rittners School of Floral Design in Boston gestoßen, aber zugleich auf unterschiedliche Schreibweisen seines Nachnamens. Auch Ritter war da im Angebot … Na ja, Namen waren eben Schall und Rauch. Und dem Web sollte man auch nicht so einfach über den Weg trauen.

Viola konzentrierte sich auf den Straßenverkehr, der langsam, aber stetig zunahm. Punkt vier Uhr wollte sie eigentlich mit ihrem großen Einkaufswagen vor dem Eingang zur Halle mit den Blumen stehen und dann zielgerichtet die Stände aufsuchen, die sie vorab nach ihrem Einkaufsplan festgelegt hatte. Fair gehandelte Rosen von Farmen aus Ecuador sollten auf jeden Fall dabei sein. Das Label war für einige Kunden besonders wichtig, und auch sie setzte sich gern für halbwegs akzeptable Arbeitsbedingungen in fernen Ländern ein.

Aber dann war es doch weit nach fünf geworden, weil sie erst noch in ihrem Hauptladen in Nikolassee etwas erledigen musste. Ein paar letzte Handgriffe für eine Beerdigung, die gegen Mittag anstand, ein Blick auf die bedruckten Schleifen, ob alles seine Richtigkeit hatte. Dabei durfte ihr nicht der geringste Fehler unterlaufen, sie war ja schließlich keine Tageszeitung. Die Zeit war einfach nur dahingesaust …

Im Blumengroßmarkt kannte sie Hinz und Kunz, das ging wie bei einer großen Familie schon aus Gründen der Höflichkeit nie ohne einen kleinen Schwatz ab. Der gehörte einfach dazu, ließ aber die Zeiger der Uhr eilig voranschreiten.

Bei den Tulpen konnte sich Viola kaum entscheiden. Kein Wunder, immerhin gab es mehr als 4.000 Arten und Sorten, womit sie zu den variantenreichsten Blumen der Welt zählten: Lilienblütige, als die elegantesten, Viridi­flora mit den zarten grünen Flammen oder Streifen auf einfarbigem Grund, Rembrandt mit beeindruckenden unregelmäßigen Färbungen, Gefranste, die anmuteten, als seien sie mit feinem Zucker oder Raureifkristallen gesäumt, an Pfingstrosen erinnernde Paeonienblütige oder die wie das bunte Gefieder von exotischen Vögeln wirkenden Papageien. Viola überraschte ihre Kunden immer gern mit Neuheiten und Besonderem und hatte auch diesmal wieder reichlich zugegriffen.

Jetzt war ihr kleiner Lieferwagen gefüllt mit all den Zutaten für die nächsten Stunden und Tage. Für den bevorstehenden Internationalen Frauentag, immerhin in Berlin ein Feiertag, hatte sie alles vorbestellt, und die Kollegen in den beiden Läden hatten sogar schon einiges vorgearbeitet. Sollte in den kommenden Tagen weiterer Bedarf sein, würde sie erneut zum Westhafen nach Moabit fahren. Oder sich die Ware nach Absprache mit den Händlern liefern lassen, falls etwas dazwischenkam.

Aber sie bevorzugte ganz eigennützig den Aufenthalt dort, konnte sie doch bei der Gelegenheit neben ihren begehrten Blumen und Pflanzen auf dem Berliner Großmarkt Obst und Gemüse, Fleisch und Wurst, Fisch und Meeresfrüchte und weitere Lebensmittel einkaufen. Stets genoss sie das Farbenmeer und den unbeschreiblichen Duft, in jeder Saison mit etwas anderem Schwerpunkt. Üppige lateinamerikanische rote Rosen, heimisches Tannengrün, weißer Jasmin – in den lichtdurchfluteten Verkaufszonen großzügig dekoriert, die Ware für den Verkauf in modernen Kühlhäusern untergebracht, damit sie nichts an Qualität und Frische einbüßte.

Trotz der vielen Berufsjahre hatte sich Viola daran noch nicht sattgesehen und freute sich jedes Mal erneut an der gesamten Atmosphäre. Frisch eingetroffen war dort alles am frühen Abend zuvor, stammte von Auktionen europäischer Nachbarländer, kam per Flieger von Gewächshäusern und Plantagen weltweit. Auf 12.000 Quadratmeter Verkaufsfläche gab es an diesem Ort seit 2010 alles, was zum blühenden Geschäft für die Branche gehörte: Frühjahrs- und Sommerblüher, Beet- und Balkonpflanzen, Schnitt- und Topfware, Stauden und noch viel mehr. Dazu natürlich die Zutaten, was den Bindereibedarf anging.

Hier trafen sich Floristen und Blumenhändler aus Berlin, Brandenburg und dem weiteren Umland. Einkäufer aus Hotellerie und Gastronomie, Einrichter und Dekorateure versorgten sich, Baufirmen orderten Richtkronen, Bestatter Kränze. Ein Kommen und Gehen von Montag bis Sonnabend und das bis neun Uhr. Die zentrale Lage war schon klasse und das One-Stop-Shopping passte in die Zeit. Die nur einen Steinwurf entfernte Justizvollzugsanstalt Plötzensee nahm Viola lediglich im Unterbewusstsein wahr, wenn sie die Stadtautobahn 100 entlangfuhr.

Wenig später kam sie bei ihrem Laden am Kurfürstendamm an, einer Filiale, die sie erst seit einigen Jahren betrieb und die noch keine schwarzen Zahlen schrieb. Aber ein Geschäft an dieser angesagten Flaniermeile wollte sie schon immer haben, das war einer ihrer Jugendträume. Deshalb hatte sie ohne groß nachzudenken zugeschlagen, als das Angebot urplötzlich auftauchte. Allein wie das klang, wenn sie die Firmenadresse Ku’damm angab. Sie genoss jedes Mal die anerkennenden oder auch neidvollen Blicke. Außerdem ergaben sich über diese Filiale einige dauerhafte private Aufträge. Hier brauchte sie einfach nur Geduld und eine gehörige Portion Durchhaltevermögen. Wie alle Selbstständigen.

Viola fuhr auf den letzten Metern noch den minimalen Umweg über eine Seitenstraße und gelangte so auf den kleinen Innenhof, von wo aus sie das Geschäft direkt beliefern konnte. Dauerhaftes Parken war hier zwar untersagt, aber fürs bequeme Aus- und Einladen hatte sie sich eine Genehmigung geholt.

Ihr jüngster Azubi Benjamin Busse stand mit frisch in die Höhe gestylten pechschwarzen Haaren schon in der Tür zum Hof und winkte ihr einladend zu. Sie machte mit dem Auto noch eine kurze Drehung und setzte rückwärts an. Dann stieg sie aus, während Ben schon die Hecktür öffnete. Flugs hatten beide die Ware aus dem Auto geladen und in der Werkstatt abgestellt.

„Ich kümmere mich sofort um die Blumen, schneide an, wo es nötig ist, und versorge sie mit Wasser, ehe ich sie in die Kühlung stelle“, erklärte Benjamin, und Viola lächelte nur freundlich. Ihr wurde warm ums Herz. Dieser Junge war ein Glücksgriff, Gold wert und genau in dem Beruf gelandet, der zu ihm passte. Schon nach wenigen Monaten hatte er einen richtig guten Durchblick. Und alles ging ihm fix und zuverlässig von der Hand, als ob er schon ewig in dem Team mitwirken würde.

Auch aus der Berufsschule brachte er nur die allerbesten Noten mit. Er besuchte die Peter-Lenné-Schule in Zehlendorf: Oberstufenzentrum Natur und Umwelt sowie Staatliche Fachschule für Gartenbau Berlin. Von dort gab es nur lobende Worte, was seinen Umgang mit Pflanzen und die Gestaltung von Pflanzen- und Blumenschmuck anging – alles natürlich unter dem Aspekt von Umwelt-, Natur- und Artenschutz. Egal was gefordert wurde, er erledigte es mit gleichbleibender Begeisterung: Sträuße, Gestecke, Kränze, Girlanden, Pflanzungen. Ein Faible hatte er für Trauerschmuck entwickelt, aber Hochzeits-, Tisch- und Raumschmuck gelangen ihm ebenso.

Ben konnte fast alles Grüne entsprechend einordnen und hatte die botanischen Namen auf Lager, nicht nur mündlich, sondern sogar in der korrekten Schreibweise, worum ihn Viola ein wenig beneidete, weil sich bei ihr schon gelegentlich Fehler einschlichen. In der Versorgung und Pflege von Pflanzen hatte er schon mehr drauf als die Kollegen, die ihren Berufsabschluss bereits in der Tasche hatten. Die fachgerechte Kundenberatung und das Kaufmännische waren ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Eine anschließende Weiterbildung zum Meister war ihm sogar von einem der Fachlehrer schon vorgeschlagen worden. Und Viola hatte insgeheim ebenfalls daran gedacht.

Aber eins nach dem anderen: Sobald irgendwo ein erster Wettbewerb stattfand, an dem er teilnehmen konnte, würde Viola ihn definitiv anmelden. Er hatte diese berühmten Siegergene in sich, den Blick für das gewisse Etwas und das Händchen zur passenden Umsetzung, das spürte sie. In diesen Beruf stieg man erfolgreich ein, wenn man wollte, nicht, wenn man musste. Und dabei hatte der Junge ein völlig branchenfremdes Elternhaus. Die Mutter arbeitete als medizinisch-technische Assistentin, der Vater war im Computermetier angestellt.

„Prima, Ben. Ich will mich auch sputen. Stell mir bitte noch die vorbereitete Ware für die Kanzlei ins Auto. Ich nehme die nötigen frischen Blumen mit und arrangiere alles vor Ort. Das geht schneller.“

„Klaro, Chefin!“

Benjamin salutierte und hatte im selben Augenblick die Gestecke für die Kanzlei parat, in denen lediglich das ganz Frische fehlte, was erst am endgültigen Platz ergänzt wurde.

„Ich habe das schon in den Kisten alles so gesichert, dass Sie auch mal heftig auf die Bremse treten können. Passiert garantiert nichts. Sitzt, wackelt und hat Luft.“

Der hochgewachsene, schlaksige Junge lachte und Viola stimmte ein.

„Ach, wenn ich dich nicht hätte …“

„… und die großen Kartoffeln …“, ergänzte Benjamin einen gängigen Spruch zwischen ihnen beiden.

„… dann müssten wir immer die kleinen nehmen. Tschüss, mein Bester. Dann mal ran an die Buletten. Bin bald zurück. Lisa muss ja auch gleich da sein, um dich zu unterstützen. Gibt bestimmt demnächst einen ziemlichen Ansturm für den Frauentag. Seht mal zu, dass ihr weiter was vorbereitet, damit wir auf der sicheren Seite sind.“

Nachdem der Azubi die vorsortierten letzten frischen Blumen behutsam ins Fahrzeug gelegt hatte, schloss Viola die hintere Tür, stieg ein und verschwand mit ihrem Auto erneut auf die Hauptstraße. Die Stadt, die nie wirklich schlief, pulsierte wieder heftiger. Bald würde es sieben Uhr werden, und die Sonne müsste den neuen Tag ankündigen, wenn da nicht die dicken schwarzen Wolken wären, die das aktuell nicht zuließen.

Während Viola sich ihrem Ziel näherte, dachte sie an Benjamin und daran, wie er den jüngsten Valentinstag gemeistert hatte. Im Grunde war so ein 14. Februar ja ein Selbstläufer in der Blumenbranche, aber in diesem Jahr hatte sie die Vorbereitung verantwortungsvoll in die Hände ihres Azubis gelegt, und es war einfach phänomenal, was er da voller Stolz und äußerst kreativ auf die Beine gestellt hatte. Natürlich nicht allein, aber die Ideen kamen von ihm, ein richtig tolles Konzept hatte er entwickelt, die Schaufenster und die Außenbereiche mit einbezogen. Auch an die jeweilige Kundenklientel vom Nikolassee und vom Ku’damm angepasst, mit viel herzigen Motiven und rosafarbener Grundstimmung.

Nicht nur einzelne langstielige Edelrosen, prachtvolle Bouquets mit ebenfalls roten Rosen oder farbenfrohe, duftige Blumensträuße – die alle hatte er als Klassiker gesetzt, und es gab sie natürlich an diesem besonderen Tag, um Liebe, Freundschaft und Zuneigung zu symbolisieren. Aber dann seine Extras sowohl für den einen als auch den anderen Laden: fantasievolle Liebesbotschaften in blumigen Kreationen. Mal ganz klassisch als Gebinde, dann wieder trendige Arrangements passend zu Fashion und Interieur. Kleine, süße Sträußchen im Vintage-Style waren dabei, eben für jeden Geschmack und jede Preisklasse etwas.

Benjamin hatte mit farbenfrohen sowie pastelligen Frühlingssträußen gepunktet. Die gingen weg wie warme Semmeln. Ganz klar Tulpen und als ihre saisonalen Begleiter Freesien, Anemonen, Hyazinthen und Ranunkeln. Angestanden hatten die Kunden in beiden Läden, bis weit auf die Straße, und sich fast die Sträuße beziehungsweise Gestecke aus den Händen gerissen. Nicht ein Teil war übrig geblieben. Keiner war dazu gekommen, eine ernsthafte Pause einzulegen. Sie hätten die doppelte Anzahl vorproduzieren können, aber so was sollte man vorher ahnen …

Das angesagte Pink in sämtlichen Nuancen wurde optimal angenommen, daneben korallige Töne und pudrig wirkende Pastells sowie reichlich frisches Grün. Und die blumigen Gestecke in Herzform erst oder die charmanten Pflanzkörbchen. Ganz romantisch die vorbestellten Sträuße mit den jeweiligen Lieblingsblumen der zu Beschenkenden … Der Junge hatte alles an Einfällen aufgefahren, was zum Thema passte, und dabei stets das Brot-und-Butter-­Geschäft der Floristen im Hinterkopf: die für die Umsatzzahlen so wichtigen Sträuße und Gestecke.

Rechtzeitig im Vorfeld hatte Benjamin außerdem bei jedem Kundengespräch auf den Valentinstag hingewiesen, und sobald jemand auf Entfernungen zu sprechen kam, konterte er spontan mit Fleurop und den entsprechenden Gutscheinen, um blumige Liebesgrüße auch über weite Strecken transportieren zu lassen. Ihm fehlten offenbar nie die richtigen Worte.

„Dann bindet ein anderer Fachflorist, ganz in der Nähe Ihres Empfängers, ein schönes Arrangement und liefert es termingerecht zum Valentinstag aus“, hatte Benjamin die Kunden angestrahlt. Ein perfekter Werbebotschafter für die Blume allgemein und überhaupt. Der Umsatz am Ende dieses saisonalen Highlights war umwerfend. Viola hatte ihm und den anderen Mitwirkenden im Nachhinein eine ordentliche Prämie ausgezahlt, und sie hatten in gemütlicher kleiner Runde mit Sekt und O-Saft angestoßen. Solch ein Einsatz sollte sich doch lohnen …

Viola zog sich aus den bequemen Erinnerungen an den Morgen, als sie Geräusche hörte, und begab sich zur Eingangstür, um die Beamten hereinzulassen.

Morgenstunde eines Toten

Doch halt! Wir wollen erst noch wissen, wie der verblichene Scheidungsanwalt den Tag begann, der sein letzter werden sollte:

Wie jeden wochentäglichen Morgen schloss Dr. Hasso Zimmermann seine Kanzlei an diesem Montag gegen 6.30 Uhr auf. Es konnte höchstens um wenige Minuten variieren, was mit dem schwer zu kalkulierenden Stadtverkehr zu tun hatte. Zum Parken hatte er einen eigenen reservierten Platz, direkt um die Ecke in der Nebenstraße. Sein großer schwarzer, schon etwas abgewetzter Aktenkoffer aus Nappaleder, den er bei sich trug, war schwer gefüllt. Der Boden hing durch, und eine der echt silbernen Schnallen war schon gebrochen.

Auch übers Wochenende nahm Hasso sich stets Arbeit mit nach Hause, aber mitunter schaffte er dort nicht das Nötigste, sodass er lieber auf die zusätzliche Zeit vor dem Eintreffen der Mitarbeiter und der Kollegen baute. Frühzeitiges Tätigsein hatte für ihn so etwas Entspanntes an sich.

Freitagabend sowie Sonnabend und Sonntag waren regelmäßig auch Termine mit diversen Geschäftspartnern angesagt, da kam man zu rein gar nichts. Man traf sich zum Golfen am Rande von Potsdam oder zum Segeln auf dem Wannsee. Da mal ein Brunch, dort mal ein ausgiebiges Dinner, mitunter eine karitative Aktion, um die sich seine Frau kümmerte, die ihr eigenes Jurastudium aufgrund der Schwangerschaft bereits nach vier Semestern abgebrochen hatte.

Hasso jedenfalls hatte zahlreiche gesellschaftliche Verpflichtungen, denen er nachkommen musste. Was er im Grunde seines Herzens recht gern tat, jedenfalls was die sportlichen Aktionen und die Gesprächsrunden mit Gleichgesinnten bei gutem Essen und edlem Wein oder härteren Getränken betraf. Zu den Spendengalas seiner Frau musste er sich eher zwingen. Dort stand sie ihm für seinen Geschmack etwas zu sehr im Mittelpunkt des Geschehens. Das behagte ihm nicht, wenngleich er es nie im Leben zugegeben hätte.

Hasso glaubte, die Tür zur Kanzlei hinter sich ins Schloss geschoben zu haben, aber sie sprang wieder eine Winzigkeit auf, was er nicht bemerkte. Eine Kleinigkeit, die die Verwaltung schon längst hatte erledigen wollen. Aber auf den Hausmeisterservice war auch nicht unbedingt Verlass … Laufend musste seine Sekretärin wegen irgendwelcher Lappalien nachhaken.

Er gähnte beim Gang durch den Flur lauthals, indem er das Gesicht zu verschiedenen Grimassen verzog. Kaum hatte er seine Tasche in seinem Büro abgestellt, machte er ein paar gymnastische Übungen. Dabei streckte er die Arme in die Höhe, reckte und dehnte sich ausgiebig, federte mit den Füßen hin und her. Ich müsste mal dringend regelmäßig was für meinen Körper tun, nahm er sich vor, als es in den Gelenken lautstark und unangenehm knackte. Aber wann und wo? Am besten wäre ein Hometrainer hier im Büro, vielleicht ein Fitnessraum fürs gesamte Team für die sinnvolle Pausengestaltung ... Bei dem Gedanken musste er herzhaft lachen.

Dann legte er, nachdem er hinter seinem Schreibtisch Platz genommen hatte, beide Hände auf seinen Bauch und betrachtete ihn kritisch, während er etwas Speck zwischen Daumen und Fingern hielt. Der musste definitiv weg. Darauf hatte ihn vor ein paar Tagen Jennifer aufmerksam gemacht, als sie gerade im einstigen Büro von Lauterberg das knallrote Spitzenhöschen fallen ließ und graziös auf ihn stieg. Dabei hatte er, zu allem bereit, nur etwas unglücklich auf dem kleinen Sofa gesessen, definitiv. In so einer Stellung musste jeder, auch einer mit Idealgewicht, einen auffälligen, faltigen Bauch haben. Er fuhr sich durch die gepflegte Kurzhaarfrisur, die lediglich eine hohe Stirn freigab. Seine Denkerstirn, wie er mitunter erklärte, wenn die Geschäftsfreunde beim Plausch auf das Thema Haare oder auch nicht zu reden kamen.

Ach, Jennifer, das war ein echter Lichtblick mal für zwischendurch. Anfang zwanzig, frisch, dynamisch und enorm aufregend, sodass einem die Spucke wegblieb. Das Blond zwar nicht ganz echt, aber das störte ihn nicht, solange der Scheitel nicht hässlich-auffällig nachdunkelte. Von schlanker Gestalt, jedoch mit einer Körbchengröße C, zum D tendierend, gesegnet. Und noch hatte ihr die Schwerkraft nicht übel mitgespielt. Alles wippte herrlich und nahm, wenn es zur Ruhe kam, wieder eine perfekte Position in entsprechender Höhe ein. Er liebte es, seinen Kopf zwischen ihren Brüsten versinken zu lassen. Dort fühlte er sich regelrecht geborgen.