Aufbruch in die Dunkelheit - Mark Stichler - E-Book

Aufbruch in die Dunkelheit E-Book

Mark Stichler

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Beschreibung

Die Geschichte zweier Familien in einer ebenso hoffnungsvollen wie schicksalhaften Zeit 1890: Die Möbelmanufaktur Jakob Mandelbaums blüht zur Zeit der Industrialisierung genauso auf wie die Stadt Waldbrügg im Südwesten Deutschlands. Seine Familie und er führen ein luxuriöses Leben. Umso empörter und enttäuschter ist sein Freund, der Bürgermeister und Tuchhändler Franz Escher, als Mandelbaum bei einem Geschäft einen günstigeren Konkurrenten vorzieht. Und Escher ist nicht der Einzige, der den Reichtum der Mandelbaums kritisch beäugt. Die sogenannten nationalen Clubs bekommen – angeführt von dem undurchsichtigen Michael Maarsen – zunehmend neue Anhänger, die die Juden als das Übel der Gesellschaft ausgemacht haben und nur auf eine Möglichkeit warten, sie ihrer vermeintlich gerechten Strafe zuzuführen. Als Jakobs Schwester Jella mit ihrer schönen Tochter Esther nach Waldbrügg kommt, spitzt sich die Lage zu. Selbst Michael Maarsen ist beeindruckt von der jungen Frau, ebenso wie Franz Eschers Sohn Eduard, der sich Esthers Charme nicht entziehen kann. Beim Frühlingsfest kommt es zur Eskalation, als der angetrunkene Maarsen Esther zum Tanz auffordert und die beiden widerstreitenden Lager aufeinandertreffen. Am nächsten Morgen findet man eine Leiche und die Nationalisten sehen sich bestätigt, dass die Familie Mandelbaum einen der Ihren umgebracht haben und schwören blutige Rache …

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Mark Stichler

Aufbruch in die Dunkelheit

Historischer Roman

 

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

 

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München).

 

Copyright © 2020 by Maximum Verlags GmbH

Hauptstraße 33

27299 Langwedel

www.maximum-verlag.de

 

1. Auflage 2020

 

Lektorat: Dr. Rainer Schöttle

Korrektorat: Herwig Frenzel

Satz/Layout: Alin Mattfeldt

Covergestaltung: Alin Mattfeldt

E-Book: Mirjam Hecht

 

Druck: CPI - Clausen & Bosse, Leck

Made in Germany

ISBN 978-3-948346-22-5

Inhalt

Impressum

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Zum Buch

Es geht weiter …

Über den Autor Mark Stichler

Zehn Fragen an … Mark Stichler

MAXIMUM: Unsere BESTSELLER-Autorin Carmen Mayer

Carmen Mayer – Das Awaren-Amulett

Carmen Mayer – Die Trossfrau

Christoph Driessen – Die Muskatprinzessin

Kapitel 1

Sie kamen aus dem Dunkel des Waldes. Es war noch sehr früh am Morgen und die Sonne stieg gerade erst über die Wipfel der Bäume am gegenüberliegenden Hang des Tals. Dort drüben, an der Nordseite, schimmerten zwischen den schwarzen Tannen noch vereinzelt Reste von Schnee. Aber es würde nicht mehr lange dauern und sie würden weggeschmolzen sein unter der zunehmenden Kraft der Sonne. Im Wald war es kühl und still und dämmrig gewesen. Hans und Eduard waren sehr früh aufgebrochen, auf der Jagd nach Trappen, Schnepfen, Auer- und Birkhühnern und Fasanenhähnen.

Der Hund war der Einzige gewesen, der Geräusche von sich gab, als er in der fahlen Dämmerung, in der Zeit zwischen Nacht und Morgen aufmerksam und ganz in seine Aufgabe vertieft nach dem Geflügel stöberte. Ab und zu schnaubte er oder stieß eine Art rasselndes Keuchen aus, leise, wie jemand, der seinen Husten unterdrückt. Doch sonst war alles ruhig gewesen, auf eine vage, diffuse Art angespannt, konzentriert. Als hätte das Wild mit angehaltenem Atem gewartet und gehofft, der Kelch gehe an ihm vorüber.

Ihre vereinzelten Schüsse waren wie ein Schock gewesen, als der Hund ein paar Schnepfen aufgestöbert und aus dem Dickicht getrieben hatte. Sie hatten die Stille zerrissen, auf eine seltsame Art und Weise Unordnung in die Landschaft gebracht und die Spannung und das heimliche Schleichen im Wald durchbrochen. Dann hatte sich wieder Stille zwischen die Bäume gelegt. Wie ein graues, fein gewobenes Netz, durch das man nur wenige Meter sehen konnte und zwischen dessen dünnen Fäden man sich vorsichtig bewegte …

Jetzt, als Hans und Eduard aus der Dämmerung zwischen den Bäumen auf die Lichtung traten und in die Sonne blinzelten, erschien das Licht beiden gleichermaßen laut wie ein Geräusch. Als würde man die Hülle der Stille im Wald von außen ankratzen, wie man mit dem Nagel über ein Stück groben Stoffs fährt. Aber das Licht löste auch ihre Anspannung und befreite das Atmen, das sie auf der Jagd im Wald unwillkürlich unterdrückt hatten.

Im Gehen schwang Hans seine Flinte mit dem Kolben über die Schulter und legte den Unterarm über den Lauf. Eduard hatte sein Gewehr am Gurt über den Rücken geschnallt. Beide trugen feste Stiefel, ihre Waden hatten sie mit Gamaschen umwickelt. Hans, der Jüngere, zog seinen weichen, grauen Filzhut an der breiten Krempe etwas nach vorne ins Gesicht, um die direkte Sonneneinstrahlung abzuwehren. Eduards Hut war weniger modisch, mit kurzer Krempe, aber zweckmäßiger für die Jagd.

An einer Schnur, die er in der Hand hielt, baumelten eine Schnepfe und ein Auerhahn. Ab und zu streiften ihre Federn das niedrige Gras. Ihr Gewicht schien ihn nicht zu beeinträchtigen, er ging mit festem Schritt bis ans Ende der Lichtung zu einem steilen Abhang, von dem aus er das darunterliegende Tal, den Fluss und Waldbrügg überblicken konnte. Der Hund folgte ihm und schnüffelte ab und zu gierig an den Vögeln, was Eduard, wenn er es bemerkte, mit einem leisen Geräusch und einer nachlässigen Handbewegung abwehrte, die die Vögel in eine leicht rotierende Schwingung versetzte.

An Hans’ Gürtel baumelte eine Schnepfe. Er trat zu seinem Bruder, stützte sich auf seine Flinte und blickte ebenfalls ins Tal, auf den Fluss und auf die Stadt unter ihnen.

„Ist das nicht eine der schönsten Stunden des Tages? Vor allem zu dieser Jahreszeit“, sagte Eduard. „Die Sonne kommt hervor und fängt schon an zu wärmen. Man …“ Ihm fiel ein – wie jedes Mal, wenn er sie benutzte –, dass Hans diese unpersönliche Art der Verallgemeinerung nicht mochte. Er räusperte sich. „Wir waren schon unterwegs, haben unser Tagwerk schon längst begonnen, während es bei anderen Leuten eben erst beginnt.“

Hans lächelte und zuckte leichthin mit den Schultern.

„Manchmal schon …“, erwiderte er. „Aber etwas länger zu schlafen hat auch was für sich.“ Sein Blick fokussierte sich für einen kurzen Moment auf die unbestimmten Weiten unten im Tal.

Eduard lachte. Dann schwiegen sie wieder. Hans warf einen Stock für den Hund, der ihm eifrig nachjagte. Ein paar Minuten noch, dann war der Moment der Ruhe vorbei. Dann würden sie aufbrechen, hinunter in die Stadt …

Eine Mauer umfasste Waldbrügg wie ein enger Gürtel. Darin standen die zusammengepferchten Häuser scheinbar kreuz und quer entlang schmaler, mittelalterlicher Gassen. Vom Standpunkt der beiden aus konnte man das Rathaus erkennen und gegenüber, vom Marktplatz etwas zurückgesetzt, die Kirche. An manchen Stellen jedoch sah es so aus, als hätten die Häuser die Stadtmauer überstiegen oder sie gesprengt, als wären sie durch die Tore gequollen. Der Platz innerhalb des Schutzwalls reichte schon lange nicht mehr aus, um sie alle samt ihren Bewohnern zu fassen.

An einer Biegung des Flusses stand die alte Mühle, nicht weit entfernt davon konnte man eine Baustelle und die Baracken der Arbeiter erkennen. Dort wurde eine Brücke gebaut, um das Gelände mit den neu entstandenen Häusern am anderen Flussufer besser mit der Altstadt zu verbinden. Es sollte die dritte Brücke Waldbrüggs werden. Während der Wintermonate hatten die Arbeiten so gut wie völlig geruht, doch jetzt, zu Beginn des Frühlings, wurden sie wieder aufgenommen.

Auf der Seite des Tals, auf der sich Hans und Eduard befanden, zogen sich Häuser, Schuppen, Lagerhäuser und Hütten den Hang hinauf und bis in den Wald hinein. Je weiter entfernt von der Stadt sie gebaut waren, desto armseliger wurden sie. Noch lag ein Teil der Häuser unten im Tal im Schatten, doch die Sonne stieg rasch und tauchte sie in ein dünnes, fadenscheiniges helles Licht. Aus den Kaminen der Wohnhäuser stiegen schmale, dünne Rauchsäulen in den noch kalten Morgen.

„Komm.“ Eduard gab Hans einen leichten Schlag auf die Schulter. „Vater wartet bestimmt schon mit dem Frühstück auf uns.“ Er warf sich die Schnur mit der Schnepfe und dem Auerhahn über die Schulter und ging über die Lichtung zurück zum Wald, wo ein schmaler Trampelpfad in leicht geschwungenen Kurven hinunter zur Stadt führte. Hans seufzte, nahm sein Gewehr auf und folgte ihm. Schweigend gingen sie hintereinander her, bis sie die ersten Hütten oberhalb der Stadt erreichten. Dort konnten sie nebeneinander weitergehen. Der Weg wurde breiter, doch noch immer war er nicht befestigt. Fuhrwerke hatten jahrhundertelang ihre Spuren in den kargen Lehmboden eingegraben. Bei Regen schoss das Wasser die Rillen hinunter und bahnte sich seinen Weg in den Fluss. Dann war es nicht ungefährlich, hier zu gehen. Auch jetzt, bei trockener Witterung, achteten die Brüder darauf, wohin sie ihre Schritte setzten. Unten am Hang machte die Straße einen Bogen und erst hier, wo sie in direkter Linie auf die Stadt zuführte, begann der gepflasterte Teil.

Es war noch nicht viel los. Nur einige wenige Leute kamen zu Fuß durchs Tor, hinter ihnen ein Fuhrwerk. Die eisenbeschlagenen Räder des nicht beladenen Wagens ratterten über die Pflastersteine und verursachten einen ohrenbetäubenden Lärm. Hans verzog schmerzvoll das Gesicht, als es an ihnen vorüberfuhr. Der Hund bellte.

„Still“, rief Eduard gereizt.

„Was für ein Krach“, sagte Hans.

„Nicht mehr lange. Das gehört bald der Vergangenheit an.“ Eduard blickte die alte, gepflasterte Straße entlang und verzog verächtlich den Mund. „Bald werden hier motorbetriebene Wagen fahren. Pferdekutschen sind dann die Relikte alter Zeiten.“

Hans runzelte die Stirn und blieb stehen. Zwischen zwei Baracken hindurch konnte man den Fluss sehen, der sich im Morgendunst wie eine Schlange durch die blassgrünen Auen davonmachte. In einer der Werkstätten an der Straße entfachte ein Schmied sein Feuer. In dem schwarzen, rußigen Verschlag, der zur Straße hin offen stand, stoben Funken. Die Glut schimmerte dunkelrot und orange.

„Wenn du diese stinkenden Maschinen meinst …“, sagte Hans. „Was den Lärm angeht, sind die wohl kaum besser.“

„Warte ab.“ Eduard lächelte. „Das wird eine Revolution.“ Er gab seinem Bruder einen gutmütigen Klaps auf die Schulter. „Vielleicht nicht gerade die Revolution, von der du immer sprichst. Aber eine technische. Da bin ich sicher.“

Hans schien keineswegs überzeugt. Er zuckte skeptisch mit den Schultern und strich sich über den hellen Flaum, der über seinen Lippen spross.

„Technische Revolutionen haben immer etwas mit Waffen und Gewalt zu tun.“

„Unsinn.“ Eduard winkte unwillig ab. „Wie kann man nur so entschieden neuen politischen Ideen anhängen und gleichzeitig so fortschrittsfeindlich denken?“

Die Brüder gingen durch den Torbogen und betraten die engen Gassen der Stadt, die noch im Schatten lagen. Hans schüttelte energisch den Kopf. Am Hals und auf seinen blassen Wangen war ein leichter Anflug von Röte zu erkennen.

„Das ist kein Unsinn“, widersprach er mit einem Eifer, der auf eine leicht entzündbare Reizbarkeit schließen ließ. Zumindest, wenn es um Politik und technischen Fortschritt ging, schien Hans ein Temperament zu entwickeln, das man ihm auf den ersten Blick nicht zugetraut hätte. „Wenn du dich an eines der vielen Beispiele unseres Professors erinnerst … Die Schlacht von Lepanto wurde von der venezianisch-spanischen Liga nur aufgrund einer technischen Neuentwicklung gewonnen. Kanonen mit großer Feuerkraft an Heck, Bug und den Breitseiten …

„Kriegsgerät“, unterbrach Eduard ihn. „Kriegsgerät. Ein Motor ist kein Kriegsgerät, auch wenn du und der alte Professor Nehringer das vielleicht annehmen. Dieser Gasmotor, mein Lieber, wird die Menschen bewegen. Und wie … Alles wird schneller. Das ist alles.“ Er schnipste mit dem Finger, um den Hund zu sich zu rufen, der, seit sie die Stadt betreten hatten, immer wieder zurückfiel und manchmal in eine Seitengasse abbog, um verschiedenen Gerüchen nachzugehen oder sein Revier zu markieren. „Außerdem will ich mich um diese Zeit wirklich nicht mit dir über Politik oder – noch schlimmer – die alten Venezianer streiten.“

Einen Moment lang gingen sie schweigend nebeneinanderher. Hans starrte mit zusammengezogenen Augenbrauen düster auf die Steine des Straßenpflasters, die Schultern leicht nach oben gezogen. Eduard lächelte. Er kannte diese Haltung seines Bruders seit frühester Kindheit. Er war leicht in Rage zu bringen. Dann zog er sich quasi zusammen, als würden sich Zorn und Ärger krampfartig auf einen Punkt in der Mitte seines Körpers konzentrieren. Doch ebenso schnell, wie der Ärger in ihm aufstieg, verschwand er auch wieder.

Seit sie die Stadt betreten hatten, hatte sich etwas verändert. Es war nicht das Gespräch und der Ärger seines Bruders, es war die Stimmung insgesamt. Als hätte der Alltag schon wieder von ihnen Besitz ergriffen, bevor sie noch die Schnepfen und Hühner in der Küche abgegeben, die Kleidung gewechselt und sich mit ihrem Vater zum Frühstück an den Tisch gesetzt hatten. Da draußen war alles licht und frei, klar und gleichzeitig unbestimmt gewesen. Doch hier, auf dem Weg zum Elternhaus, fühlte Eduard sich auf einmal nicht mehr richtig gekleidet für seine Umgebung. Hier in den Gassen der Stadt spürte er auf einmal eine Enge, den Druck der starren, jahrhunderte alten Mauern, und freute sich schon jetzt darauf, bald wieder nach draußen zu kommen, zur Baustelle an der neuen Brücke.

Während Eduard noch darüber nachdachte, wie sehr ihn die kleinstädtische Atmosphäre Waldbrüggs manchmal bedrückte, hatte sich Hans’ Miene wieder aufgehellt. Er grüßte ein paar Arbeiter, die auf dem Weg aus der Stadt waren, mit einem Kopfnicken.

„Bestimmt sind sie auf dem Weg zu Mandelbaums Manufaktur“, rief er seinem Bruder zu. Aus irgendeinem Grund schien er begeistert über ihren Anblick zu sein.

Eduard lächelte.

„Ich kenne sie“, erwiderte er. „Sie sind auf dem Weg zur Brücke. Und jetzt komm.“ Er legte den Arm um Hans’ Schulter. „Wir wollen frühstücken gehen. Ich muss nachher auch hinaus.“

Als sie aus der Gasse auf den Marktplatz traten, lag Eduard sein voriger Gedanke wieder ganz klar vor Augen. Die Welt befand sich in einem Umbruch, in einem Wandel. Noch war es nicht deutlich zu sehen, doch in Ansätzen schon spürbar. Und während, noch weitgehend unbemerkt, die Welt sich in Veränderung befand, blieb Waldbrügg, wie es jetzt vor ihm lag, immer in seiner kleinbürgerlichen, mittelalterlichen Attitüde erstarrt. Immer würde der Brunnen mit dem Wappen der Stadt – Eduard fragte sich, wie eigentlich der sich schlängelnde Drache auf das Bild von Brücke und Fluss gekommen war – in der Mitte des Platzes vor dem Rathaus mit seinem kunstvollen Fachwerk und den vielen kleinen Fenstern stehen, für immer unveränderlich die Kirche schräg gegenüber, etwas abgegrenzt und quasi mit einem eigenen Vorplatz versehen. Und genauso unverrückbar würde die Ordnung der Stadt immer bestehen bleiben, wenn es nach den Bürgern hier ging.

Im Schatten der Kirche, etwas nach hinten versetzt, wo eine der Gassen vom Platz abging, stand das Haus der Eschers, sein und Hans’ Elternhaus. Es war eins der größten, mit vielen, aber kleinen Fenstern, seine Fassade rauchschwarz an den Balken, der Putz vergilbt. Über der Tür, die sie betraten, prangte das Familienwappen, ein dunkel verwittertes Holzschild mit Waage und Baum. Ihr Großvater hatte es anbringen lassen, als er das erste Mal zum Bürgermeister gewählt worden war.

Sie betraten die schmucklose Halle. Eigentlich war Halle ein zu hochtrabendes Wort für den düsteren, beinahe quadratischen Raum. Am Eingang war die Decke niedrig und man zog beim Hereinkommen automatisch den Kopf ein. Einige dunkle Vorhänge an der Wand schienen das wenige Licht zusätzlich zu absorbieren. Der Boden bestand aus rohen, großen Steinquadern, an manchen Stellen rau, an anderen speckig und abgetreten.

Nach ungefähr einem Meter wurde der Raum höher. Ringsum verlief eine Galerie, von der aus man die verschiedenen Wohnzimmer erreichte. Ein paar kleine Fenster spendeten etwas Licht. Zum ersten Stock führten zwei Treppen, die an der jeweils gegenüberliegenden Ecke über einen Absatz, eine Art Zwischenpodest, nach oben führten. Den einzigen Schmuck, sah man einmal von den dunklen Vorhängen am Eingang und einem eisernen Kronleuchter in der Mitte der Halle ab, stellten zwei Gemälde dar, die über den Treppenabsätzen hingen. Das linke hatte Eduard früher kaum wahrgenommen. Es war das Porträt eines Ahnen, bereits stark nachgedunkelt, sodass nur noch die markanten Wangenknochen, die allen Eschers eigen waren, und das Weiß der Augen etwas hervorstachen. Eduard hatte sich als Kind nie die Mühe gemacht, nach ihm zu fragen. Zu diffus verschwammen Gesicht und Hintergrund miteinander, als verschwinde der Mann immer mehr im nebulösen Dunkel der Zeiten, in denen er gelebt haben mochte.

Das Bild auf der rechten Seite zeigte einen jungen Mann im Halbprofil, in der Kleidung eines Wanderers und mit einer Baskenmütze, der zwischen Bäumen auf einer Anhöhe stand und hinunterblickte auf eine Flusslandschaft. Im Hintergrund konnte man verschwommen die Umrisse einer großen Stadt erkennen. Unten im Tal, nur mit Strichen und gelegentlichen Farbtupfern angedeutet, zogen Soldaten in einer langen Reihe auf die Stadt zu. Dieses Bild hatte Eduards Fantasie als Junge immer wieder beschäftigt. Für ihn war es das Sinnbild für den Aufbruch in die Freiheit gewesen, zu Abenteuern und in fremde Länder und Städte. Mit zunehmendem Alter war es ihm mehr und mehr zum Ausdruck für seine Ängste geworden, für immer in den engen Verhältnissen dieses Hauses und Waldbrüggs, die ihm damals unerträglich erschienen, gefangen zu bleiben. Doch dann war er fürs Studium in die Stadt gegangen und jetzt seit einem halben Jahr wieder hier, in seiner Eigenschaft als Assistent des Bauingenieurs für die neue Brücke. Sein Vater rechnete natürlich immer noch damit, dass er nach dem Ende der Bauarbeiten in Waldbrügg bleiben würde, um sich um das Stoff- und Tuchgeschäft der Familie zu kümmern. Doch seit Hans dort mitarbeitete, machte Eduard sich darüber weniger Gedanken und Sorgen.

Während seines Studiums hatte Eduard sich eine Zeit lang mit Landschaftsmalerei beschäftigt. Vor allem die englischen Maler vom Anfang des Jahrhunderts hatten es ihm angetan. Und als er an diesem Morgen am Treppenaufgang stand und das Bild vom Marsch der Truppen auf die Stadt betrachtete, das Abbild seiner frühen Sehnsüchte, schüttelte er leicht verwundert den Kopf. Bisher hatte er noch gar nicht darauf geachtet, aber gegenüber den Gemälden von Turner oder Bonington war es höchstens als Mittelmaß zu bezeichnen, wenn nicht gar als bessere Stümperei. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass es bei ihm jemals diese vage Sehnsucht nach Freiheit ausgelöst hatte. Die Aufteilung war bestenfalls konventionell und der Versuch, dem Ganzen durch die Andeutung der marschierenden Truppen einen spannungsreicheren militärischen Anstrich und mehr Tiefe zu geben, scheiterte an der plumpen Ausführung. Der Maler – C. Carstens, wie die Signatur neben der Jahreszahl 1871 am linken unteren Bildrand verriet – war ein nicht unbekannter Däne, der immer noch lebte und seinen Stil in den letzten vierzig Jahren kaum geändert hatte. Seine Gemälde kamen in Deutschland gut an und hingen in den Fluren und Wohnzimmern vieler bürgerlicher Häuser.

Als jetzt die Sonne durch die kleinen Fenster auf der gegenüberliegenden Galerie drang, fiel mehr Licht auf das linke Gemälde und Eduard wandte sich dem früher missachteten Porträt seines Ahnen zu. Er erinnerte sich plötzlich, dass Hans, sein kleiner Bruder, sich immer vor den aus dem Dunkel schimmernden Augen des alten Mannes gefürchtet hatte. Er hatte als Kind immer diffuse Ängste vor Geistern, mystischen, übernatürlichen Bedrohungen gehabt, die Eduard nie teilte. Doch durch den Lichteinfall trat das Gesicht des Alten plötzlich aus dem ihn umhüllenden Dunkel hervor. Zart und papiern wirkte seine vergilbte Haut, fein die schütteren, an Stirn und Schläfen zurückweichenden Haare und so aufmerksam, wie Eduard ihn jetzt betrachtete, blickte er zurück … Eduard fuhr sich automatisch mit den Fingern über die Augen und schüttelte leicht den Kopf. Einen Moment lang hatte er tatsächlich das Gefühl gehabt, auf der anderen Seite des Gemäldes befinde sich etwas, existiere etwas schon weit Zurückliegendes, eine alte Welt, und er konnte auf einmal etwas wie Verständnis für Hans und seine Geisterseherei aufbringen. Auf jeden Fall, wie er sich insgeheim gestand, war dieses Gemälde, das er in seiner Kindheit immer links liegengelassen hatte, auch malerisch das weit Interessantere. Es war datiert auf das Jahr 1502, der Maler hatte es nicht signiert, obwohl er, wie Eduard spontan befand, dazu mehr Grund gehabt hätte als C. Carstens beim Marsch der Truppen auf die Stadt. Er bezweifelte allerdings, dass es sich bei der Jahreszahl um das Entstehungsdatum des Porträts handelte. Etwa um diese Zeit war das Haus gebaut worden. Vielleicht hatte der Mann auf dem Bild zu dieser Zeit gelebt und der Maler wollte darauf hinweisen. Dafür sprach auch, dass er weder eine Signatur noch Initialen hinterlassen hatte.

Es war nur ein Moment gewesen, in dem das Bild auf diese eigenartige Art und Weise beleuchtet war. Schon wenige Augenblicke später verschwand das Antlitz des Mannes wieder im unbestimmten Dunkel der vergangenen Jahre. Das ganze Gemälde tauchte wieder ab in die Bedeutungslosigkeit, mit der es sich all die Jahre Eduards Missachtung verdient hatte. Doch er vermutete, dass sein Bruder das Bild vor vielen Jahren vielleicht genau zu dieser Sekunde des Tages zum ersten Mal gesehen hatte und darauf seine Angst davor beruhte. Und seit damals wusste er, dass dieses Bild jeden Tag einen kleinen Augenblick hatte, an dem es sich gänzlich veränderte, sozusagen auflebte und vielleicht diesem Mann seit fast vierhundert Jahren einen kurzen Blick auf seine eigene Halle gewährte.

Eduard lachte und schüttelte über seine Gedanken ärgerlich den Kopf. Für Romantik und Spekulation hatte er eigentlich nichts übrig. Er selbst hielt sich für einen bedingungslos nüchternen und rationalen Menschen. Sollten auch andere Seiten in ihm existieren, so hatte er eigentlich gehofft, sie mit der Entscheidung für ein naturwissenschaftliches Studium und der Beschäftigung mit Statik und Architektur loszuwerden. Aus diesem Grund hatte er auch seine Beschäftigung mit der Malerei nach zwei, drei Semestern wieder aufgegeben. Er wollte ein ernsthafter, ausgeglichener Mensch werden und sah sich auf dem besten Weg dazu. Da war kein Platz für Malerei und Hirngespinste …

Man sah der Eingangshalle und ihren Dimensionen nicht an, dass das Haus, verbunden mit verschiedenen Nebengebäuden, sich nach hinten noch sehr weit hinzog und im Erdgeschoss auch das Kontor und das Lager für die Tücher und Stoffe beherbergte, mit denen der alte Escher handelte.

Eduard wollte seinem Bruder gerade nach oben folgen, um sich umzuziehen, als sich unten eine Tür öffnete. Sein Vater trat in die Halle und eilte zur Treppe.

„Eduard. Ihr seid zurück? Schön. Gerade rechtzeitig zum Frühstück“, rief er.

„Vater.“ Eduard zuckte zusammen und drehte sich auf dem Treppenabsatz um. „Wir sind gerade eben gekommen. Wir wollen uns nur noch umziehen …“

Er wartete, bis sein Vater ihn auf der Treppe eingeholt hatte. Einen Augenblick standen sie sich gegenüber. Eduard war nur ein wenig größer als er. Sie hatten den gleichen, stämmigen Körperbau und die Wangenknochen der Eschers. Auffallend war Eduards weiches, gewelltes, braunes Haar. Das seines Vaters war grau und kurz geschnitten. Er trug einen akkurat gestutzten Backenbart, über den er sich jetzt kurz strich, mit einer hastigen, fast schroffen Handbewegung. Eine automatische Geste, die er unbewusst sehr häufig machte und die ihm selbst gar nicht mehr auffiel.

„Lass dir Zeit“, erwiderte er. „Ich habe es heute Morgen nicht eilig. Mein erster Termin im Rathaus ist erst um elf. Mit Mandelbaum.“ Er zögerte, bevor er den Namen sagte, als befürchte er, damit ein unangenehmes Thema anzuschneiden. Eduard zeigte keine Reaktion. Er nickte nur kurz.

„Habt ihr Glück gehabt?“, fragte Franz Escher. Gemeinsam setzten sie den Weg nach oben fort.

„Bei der Jagd?“ Eduard verzog abschätzig den Mund. „Ach, nein. Es ist nicht der Rede wert. Ich hab eine Schnepfe und einen Auerhahn erwischt. Hans eine Schnepfe.“

„Hm“, machte der Alte. Es schien ihn nicht weiter zu interessieren. „Hans war mit seinen Gedanken wahrscheinlich wieder überall, nur nicht bei der Sache.“

„Aber, nein“, verteidigte Eduard seinen Bruder und schmunzelte. „Wir hatten einfach Pech.“ Sie hatten die Tür zu seinen Räumen erreicht. Er drückte die Klinke. „Ich bin sofort so weit.“

Escher winkte ab.

„Bis gleich.“

Von Eduards Räumen zu sprechen war eigentlich zu hochtrabend. Es handelte sich lediglich um ein nicht einmal besonders großes Zimmer mit einer Art Alkoven, in dem ein Bett stand. Der Platz im Wohnraum war ziemlich beengt, da Eduard bei seiner Rückkehr noch einen großen Schreibtisch und ein Bücherregal in eine Ecke gequetscht hatte. Darin stapelten sich einige Bücher, Notizen und Pläne. Das Fenster daneben war von den Fensterläden verdunkelt. Die Sonnenstrahlen drangen nur durch einige Ritzen und tauchten das Zimmer in ein diffuses Dämmerlicht. Die Tür des großen Kleiderschranks gegenüber war verspiegelt und halb verdeckt von den Kleidern, die Eduard heute anziehen wollte. Eilig streifte er die Schuhe ab, wickelte die Gamaschen von den Waden und warf sie zusammen mit Jacke und Hose achtlos auf einen Sessel.

Aus einem Krug goss er sich Wasser in eine Schüssel auf dem Waschtisch neben der Tür, wusch sich Gesicht und Hände und fuhr sich mit einem Kamm durch die Haare. Dann kleidete er sich an und ging hinüber ins Esszimmer, wo Hans und der Alte schon auf ihn warteten. Franz Escher saß am Kopfende des Tischs, die Knöpfe seines an den Rändern abgenähten Jacketts hatte er geöffnet. Darunter spannte eine etwas zu enge Weste über seinem Bauch. Er blätterte in einer Zeitung, die er achtlos auf den Tisch warf, als Eduard eintrat. Hans saß rechts von ihm. Er hatte sich eilig einen grauen Anzug angezogen und ein hellbraunes, weiches Tuch lose um den Hals geschlungen. Die alte Maria, Dienstmädchen der Eschers seit Eduard und Hans noch Kinder waren, trat ein, sobald Eduard Platz genommen hatte, und schenkte Kaffee aus einer großen Seihkanne ein.

Eduard bedankte sich und nahm die Zeitung, die sein Vater auf den Tisch geworfen hatte. „Was will Mandelbaum eigentlich?“, fragte er, sich der Erwähnung des Namens erinnernd, während er die Schlagzeilen auf der Titelseite überflog. „Wenn er ins Rathaus kommt, muss es doch etwas Offizielles sein, oder?“

„Ich habe ihn zu einem Termin gebeten“, erwiderte Escher. Er dachte kurz nach, bevor er fortfuhr: „Als Bürgermeister, nicht als Freund.“ Wieder zögerte er. „Nein, es ist nichts Offizielles …“

Sein Zögern machte Hans neugierig.

„Er ist doch nicht in Schwierigkeiten, oder?“

„Nein.“ Der alte Escher schüttelte den Kopf, als sei er über seine eigene Unsicherheit ärgerlich. „Ich glaube nicht. Es war ja nicht Mandelbaum, der um einen Termin gebeten hat. Ihr wisst, er kauft seit langer Zeit unsere Stoffe für seine Möbel bei uns. Wir kennen uns schon sehr lange. Länger als Simon und Ava auf der Welt sind.“

„Ja“, sagte Eduard und wartete geduldig ab.

„Nun, er hat die Verträge gekündigt und bezieht seinen Stoff seitdem von einer anderen Firma.“ Der alte Escher lachte ärgerlich. „Soweit er mir sagte, ist sie trotz der Transportkosten günstiger als wir. Ich weiß nicht … Er war einer unserer besten Kunden. Und jetzt das …“

Etwas anderes schien dem Alten noch im Kopf herumzugehen, aber er sprach nicht weiter.

„Hätten wir ihn nicht ins Geschäftskontor einladen sollen?“, fragte Hans eifrig. „Dann hätte ich auch an den Verhandlungen teilnehmen können. Vielleicht wäre Simon mitgekommen …“

„Das wird kein Familientreffen“, unterbrach ihn sein Vater schroff. „Ich will ihm klarmachen, dass er es nicht nur mit einem einfachen Händler zu tun hat. Schließlich besitzt unsere Familie einigen Einfluss in der Stadt. Und dass er aus dem Judenviertel herausgekommen ist und mit seiner Firma Erfolg hat, verdankt er nicht zuletzt uns.“

„Hm“, machte Eduard und schmunzelte. „Mandelbaum wurde uns doch immer als leuchtendes Beispiel dargestellt, wie man es trotz widrigster Umstände aus eigener Kraft zu etwas bringen kann.“

Escher warf ihm einen scharfen Blick zu.

„Das ist unser Geschäft“, sagte er. „Tu nicht so, als ginge dich das nichts mehr an.“

Eduard hob abwehrend die Hände.

„Das ist doch jetzt Hans’ Sache“, meinte er. „Nicht wahr?“

„Ich … denke doch“, erwiderte Hans und blickte seinen Vater an.

„Noch führe ich das Geschäft“, sagte der Alte barsch und sah an Hans vorbei aus dem Fenster. „Und ich möchte Mandelbaum klarmachen, dass er unsere Verträge nicht so einfach aufkündigen kann.“

„Mit Drohungen?“, fragte Eduard vorsichtig.

Escher winkte ab.

„Ich rede nur mit ihm. Aber das Büro des Bürgermeisters ist nicht der schlechteste Platz, um ein bisschen Respekt einzufordern.“ Er lächelte.

„Die Mandelbaums sind unsere Freunde“, warf Hans ein.

„Umso schlimmer“, meinte der Alte. „Da sollte man doch mit ein bisschen mehr Loyalität rechnen. Nicht?“

Maria kam herein und schenkte allen Kaffee nach.

„Danke“, sagte Eduard und stürzte ihn nach einem Blick auf die Uhr mit zwei, drei hastigen Schlucken hinunter. „Ich muss los.“ Er schien nicht gerade traurig darüber zu sein.

Sein Vater warf ihm einen interessierten Blick zu.

„Zur Baustelle?“, fragte er.

Eduard nickte.

„Wie geht es denn voran?“

„Gut, denke ich.“ Eduard erhob sich und zuckte leichthin mit den Schultern. „Ich kann noch nichts Genaues sagen, aber wir können nach dem strengen Frost endlich weitermachen. Und Eis und Schnee scheinen die Gerüste und Verschalungen nicht allzu sehr in Mitleidenschaft gezogen zu haben. Ich denke, wir bleiben einigermaßen im Zeitrahmen. Aber es ist natürlich noch zu früh, um das mit Sicherheit sagen zu können.“

Der Alte blickte ihn spöttisch an, verzog ansonsten aber keine Miene.

„Wann könnt ihr das denn mit Sicherheit sagen?“, fragte er. „Das Gleiche erzählt mir dein Chef auch immer wieder.“

Eduard seufzte.

„Der Bau einer Brücke ist eine komplexe Sache“, erwiderte er mit einer gewissen Ungehaltenheit in der Stimme. „Man kann bei einer geplanten Bauzeit von vier Jahren nicht nach einem Jahr auf den Tag genau sagen, wann die Brücke fertig sein wird. Dafür hast du hoffentlich Verständnis.“

„Natürlich“, sagte sein Vater nach einer kleinen Pause. „Natürlich. Du kannst mir heute Abend etwas darüber erzählen.“

„Heute Abend?“ Eduard schüttelte den Kopf. „Da wollte ich eigentlich in den Club. Alle reden davon und ich war noch nie dort.“

Hans hatte die ganze Zeit schon mit einer gewissen Angespanntheit dagesessen und dem Gespräch gelauscht. Jetzt zuckte er zusammen.

„Du willst in den Nationalen Club? Ist das dein Ernst?“, rief er erstaunt.

Eduard presste kurz die Lippen zusammen.

„Was ist schon dagegen einzuwenden?“, fragte er ungehalten. „Es ist ein Club, nichts weiter.“

„Ich finde es eine sehr gute Idee, sich das einmal anzusehen“, unterbrach der alte Escher. „Das heißt doch noch lange nicht, dass man mit Leuten wie diesem … Wie heißt der Journalist gleich noch, der dich so in Rage bringt?“ Er blickte Hans fragend an.

„Maarsen“, sagte Hans leise und kniff die Augen zusammen. „Michael Maarsen.“

„Genau.“ Sein Vater nickte. „Das heißt noch nicht, mit Leuten wie Maarsen auf einer Stufe zu verkehren.“

„Aber er hat diesen Nationalen Club ins Leben gerufen!“, rief Hans aufgebracht.

„Maarsen ist lediglich ein Bekannter meines Chefs“, erwiderte Eduard. „Es verkehren dort ganz normale Leute.“

„Mehr als das“, ergänzte sein Vater. „Viele der Männer, die sich dort treffen, gehören zur guten Gesellschaft der Stadt. Was man von Ava und Simon Mandelbaum nicht unbedingt behaupten kann.“

„Weil sie Juden sind?“, ereiferte sich Hans. „Seit die Brücke gebaut wird, treiben sich hier eine Menge zwielichtiger Gestalten herum. Aber es sind sicher nicht die Mandelbaums.“

„Das sind Arbeiter“, erwiderte Eduard ruhig. „Und seid nicht Simon und du eifrige Verfechter der neuen Arbeiterbewegung? Von uns bekommen sie Arbeit. Es sind manchmal eben etwas derbere Gesellen. Aber eigentlich aufrechte und ehrliche Männer.“

„Die meine ich nicht“, rief Hans und wurde rot. „Ich meine Typen wie Maarsen, die im Gefolge deines Chefs hier aufgetaucht sind und jetzt über ihre Pamphlete und diesen Club ihr obskures Gedankengut streuen.“

„Es reicht jetzt, Hans“, sagte sein Vater streng. „Das geht zu weit. Nimm dich zusammen. Ich selbst habe mit Dr. Köhning wegen des Brückenbaus verhandelt, wie du weißt. Und er ist ein sehr kompetenter und ehrenwerter Mann. Und er ist außerdem ein guter Bauingenieur mit viel Erfahrung und hervorragenden Referenzen. Es gibt keinen Grund, ihn wegen der Mandelbaums zu beleidigen.“ Er atmete tief ein. „Ich bin mit dem alten Mandelbaum schon lange befreundet. Aber wie er sich zurzeit verhält, zeigt einmal mehr, dass man sich nicht immer auf ihn verlassen kann.“ Er fixierte Hans scharf. „Du kannst mir sagen, was du willst. Das trifft auf die meisten seines Schlags zu. Und trotzdem habe ich mich um sie gekümmert und immer versucht, Gerechtigkeit walten zu lassen. Aber sie sind nicht wie wir. Und der Club hat damit rein gar nichts zu tun.“

„Aber Maarsen verbreitet unsägliche Pamphlete, in denen es genau darum geht …“, rief Hans.

„Genug“, sagte sein Vater und warf seine Serviette auf den Tisch. „Ich will nichts mehr davon hören. Ich bin sicher, der Club wird eine Bereicherung für das gesellschaftliche Leben Waldbrüggs sein.“ Er erhob sich abrupt. „Ich glaube, es ist besser, wenn auch wir jetzt an unsere Arbeit gehen.“

Hans verkniff sich den Kommentar, den er auf den Lippen gehabt hatte und starrte mit rotem Kopf auf den Tisch. Einen Moment herrschte Stille im Raum.

„Komm schon“, meinte Eduard irgendwann versöhnlich. „Ich will mir den Club nur einmal ansehen. Dr. Köhning hat mich eingeladen. Ich habe nicht vor, regelmäßig dort zu verkehren oder gar Mitglied zu werden. Und selbst wenn dort niemand unsere Ansichten teilt, lohnt es sich doch, ein Bild davon zu bekommen. Meinst du nicht?“

Hans überlegte einen Moment.

„Du hast sicher recht“, sagte er dann ruhig und erhob sich ebenfalls. „Entschuldigt bitte.“

Der alte Escher zog leicht eine Augenbraue hoch.

„Nun, komm schon“, sagte er kühl.

Kapitel 2

Der alte Escher trat ans Fenster seines Büros und dachte über Geisteskrankheit nach. Nicht dass ihn das Thema wirklich interessierte. Im Gegenteil. Es war ihm zuwider und er ärgerte sich darüber, dass sein Kopf sich mit solch abwegigen Dingen beschäftigte. Viel wichtiger wäre es, sich auf das bevorstehende Gespräch mit Mandelbaum vorzubereiten. Er musste jeden Augenblick hier sein und Escher hatte sich noch keine endgültige Vorgehensweise zurechtgelegt. Es war eine delikate Angelegenheit und er wollte die Kontrolle über das Gespräch behalten. Er würde sie behalten … Doch stattdessen schweiften seine Gedanken immer wieder ab und darüber ärgerte er sich noch mehr. Solche Zerstreutheit kannte er gar nicht an sich.

Schuld war ein Artikel, den Hans vor Kurzem erwähnt hatte. Er handelte von neuen Beurteilungen und Behandlungsmethoden verschiedener Geisteskrankheiten. Hans interessierte sich sehr dafür und ließ sich von solchen Dingen immer sehr leicht beeindrucken. Begeistert hatte er beim Abendessen vor ein paar Tagen davon berichtet. Verschiedene Wissenschaftler, Doktoren und Professoren – Escher formulierte die Wörter in Gedanken mit einem verächtlichen Unterton – hatten neue Theorien über die Ursachen von Krankheiten wie Schizophrenie, Wahnvorstellungen und Melancholie aufgestellt und darauf basierend auch neue Möglichkeiten der Therapie entwickelt.

Für einen kurzen Augenblick empfand Escher deutlich, wie sehr er es für einen Fehler hielt, körperliche und geistige Gebrechen zu trennen. Beide sollten seiner Meinung nach von den gleichen Ärzten behandelt und gar nicht in unterschiedliche Kategorien eingeteilt werden. Würde das ansonsten nicht für immer die geistigen Krankheiten in Misskredit bringen? Nicht dass er gegen eine genaue Analyse wäre … Aber er fühlte instinktiv, dass die Therapie und die Aussicht auf Heilung von der Umwelt des Patienten als vage und wenig verlässlich aufgenommen werden würden. Es war keine klare Sache wie die Behandlung eines Schnupfens, der danach definitiv endete, oder das Entfernen eines Geschwürs. Immer würde nach der Genesung von einer geistigen Schwäche eine kleine Unsicherheit zurückbleiben, ob die Heilung wirklich erfolgreich und endgültig war. Es wäre einfacher, daran zu glauben, wenn dieselben Ärzte sie herbeiführen würden, die eben auch einen Schnupfen behandelten. Ganz zu schweigen davon, dass er selbst der Meinung war, solche Störungen würden auf den Charakter schlagen.

Der eigentliche Grund dafür, dass sich der alte Escher diese Gedanken machte, war allerdings nicht der Artikel. Er hatte ihm nur eine leise Ahnung, eine Befürchtung wieder in Erinnerung gerufen, die er früher einmal gehabt hatte: dass möglicherweise einer seiner Söhne unterschwellig an einer Art dieser als ‚geistig‘ klassifizierten Krankheiten litt und deshalb unter Umständen dieser Stigmatisierung des Unheilbaren, des Labilen und Unzuverlässigen ausgesetzt sein könnte, würde sie jemals ausbrechen. Nur um seinetwillen wollte Escher Gleichberechtigung. Anderenfalls hätte ihn das Thema völlig kaltgelassen.

Der Marktplatz unter ihm lag jetzt fast vollständig in der Sonne. Inzwischen war dort einiges los, Dienstmädchen machten Besorgungen und stoppten auf eine kurze Unterhaltung am Brunnen. Der Bäckerjunge hastete mit zwei Broten unter dem Arm über den Platz. Er schien auf dem Weg zu Eschers Haus zu sein, vielleicht lieferte er eine Bestellung aus, die Maria aufgegeben hatte. Er klopfte seine mehlbestäubte Jacke ab, als er an zwei Damen vorübereilte, die offenbar zu der kleinen Modeboutique wollten, die sich seit ein paar Monaten hinter dem Rathaus befand. Der Schneider bezog seine Stoffe von Escher. Sichtlich empört blieben die beiden stehen und riefen dem Jungen etwas hinterher, doch er hielt nicht an. Kurz erregten drei Männer in eleganten Anzügen am anderen Ende des Platzes Eschers Aufmerksamkeit. Geschäftsleute vielleicht … Aber sie verschwanden in der Gasse hinter der Kirche, bevor er erkennen konnte, um wen es sich handelte.

Der Raum hinter Escher lag im Halbdunkel. Schon des Öfteren hatte er in der Vergangenheit bemängelt, dass ausgerechnet das Büro des Bürgermeisters der dunkelste Raum im ganzen Rathaus war. Die kleinen, tief liegenden Fenster zeigten nach Norden und Osten und es kam vor, dass man trotz Sonnenschein die Lampen bereits am Nachmittag anzünden musste. Aber es war eben auch mit Abstand das größte Büro des Gebäudes. Also fand er sich damit ab.

Er hatte es sich so gut eingerichtet, wie es nach seinen Maßstäben möglich war. An den getünchten Wänden waren goldene Gasleuchten angebracht, den Dielenboden bedeckte ein beigefarbener, mit orientalischen Ornamenten bestickter Teppich, den er von einer seiner Geschäftsreisen mitgebracht hatte. Er nahm ein gutes Viertel des Bodens ein und reichte bis zu seinem schweren Schreibtisch, der schon seit Generationen unverrückt im hinteren Drittel des Zimmers stand. Entlang der Wand neben der Tür, die hinaus auf den Flur führte, reihten sich einige schmale Stühle mit hohen Lehnen. Vor dem Schreibtisch, in schrägem Winkel zueinander, standen zwei Sessel, deren Lehne und Sitzfläche aus Leder waren. An der Wand dahinter hatte ein Maler die Wappen Waldbrüggs und der umliegenden kleineren Gemeinden mit zunehmend verblassenden Farben aufgetragen. An manchen Stellen bröckelte der Putz. Es war dringend notwendig, die Malerei auszubessern. Doch der alte Escher hatte keinen Sinn dafür. Er kannte es nicht anders. Schon sein Großvater hatte in diesem Büro gesessen und in den wenigen Malen, die er ihn als Kind in diesem Raum besuchen durfte, war ihm das Wappen, so, wie es war, immer als bedeutend und gewichtig erschienen.

Es klopfte leise an der Tür.

„Ja?“ Escher fuhr sich mit einer hastigen Bewegung über den Bart und wandte sich um.

Herr Albrecht, der Sekretär, der seine Termine im Rathaus verwaltete, streckte den Kopf zur Tür herein. Es dauerte einen Moment, bis er den Bürgermeister am Fenster entdeckte.

„Mandelbaum ist da“, sagte er und richtete seinen starren, stechenden Blick auf Escher.

„Einen Moment“, erwiderte Escher und begab sich hinter seinen Schreibtisch. Er wollte Mandelbaum auf keinen Fall stehend empfangen. Vor ihm lagen Baupläne der neuen Brücke und einige Ordner. Willkürlich schlug er einen von ihnen auf.

„Schicken Sie ihn herein“, sagte er dann und nahm seine Brille.

Herr Albrecht zog die Tür wieder ein Stück zu und einen Moment später trat Mandelbaum mit Schwung, aber doch beinahe geräuschlos ein. Er war ein schmaler Herr, an den Schläfen wichen seine grauen Haare schon deutlich zurück. Sein für Waldbrüggs Verhältnisse sehr moderner, aber nicht extravaganter Anzug saß tadellos. Einen kurzen Augenblick blieb er stehen und kniff die Augen zusammen, wie um sich an die diffusen Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Vielleicht trug er normalerweise auch eine Brille, die er jetzt aber nicht bei sich hatte. Leichtfüßig bewegte er sich durch den Raum und blieb vor Eschers Schreibtisch stehen.

„Jakob, nur einen ganz kurzen Moment“, murmelte Escher. Er hatte die Stirn in die Hand gestützt, einen Stift vom Schreibtisch genommen und kritzelte eine Notiz in die Akte, die er aufgeschlagen hatte. „Setz dich doch.“ Er zeigte mit dem Stift auf einen der Sessel vor sich.

Mandelbaum lächelte.

„Guten Tag, Franz.“ Er sah sich um. „Ich warte“, sagte er, setzte sich aber nicht in den Sessel, sondern ging hinüber zu dem Fenster, an dem vor wenigen Minuten noch Escher selbst gestanden hatte.

Escher zog unwillig die Augenbrauen zusammen und zwang sich, seine Notiz zu Ende zu schreiben. Einen Augenblick herrschte Stille. Schließlich legte Escher den Stift beiseite.

„So. Nun komm. Setz dich doch“, sagte er und klang ein wenig ungehalten.

Mandelbaum kam vom Fenster zurück und setzte sich. Escher blickte ihn an und lächelte unverbindlich. Unwillkürlich musterte er ihn. Sie kannten sich schon lange und immer hatte er den Eindruck gehabt, als ginge die Zeit fast spurlos am alten Mandelbaum vorbei. Doch jetzt sah er müde aus, kleine, aber sichtbare Fältchen und ein leichter Schatten hatten sich unter den Augen gebildet. Seine Haut wirkte grau, das konnte aber auch am Halbdunkel im Raum liegen.

„Wir haben uns lange nicht mehr gesehen“, sagte Escher. „Wie geht es dir?“

Mandelbaum seufzte.

„Eigentlich geht’s mir ganz gut“, erwiderte er und fuhr sich mit einer schnellen Geste über die Augen, als wolle er die Müdigkeit vertreiben. „Aber meine Schwester …“ Er vollendete den Satz nicht.

Escher runzelte die Stirn.

„Jella oder Lea?“, fragte er.

„Lea“, sagte Mandelbaum. „Es geht ihr sehr schlecht und ich glaube …“ Wieder brachte er den Satz nicht zu Ende. „Jella geht es jedenfalls gut. Das nehme ich zumindest an“, fuhr er stattdessen fort. „Ich habe schon länger nichts mehr von ihr gehört und das ist bei ihr immer ein gutes Zeichen. Ich habe ihr jetzt allerdings wegen Lea geschrieben und hoffe, bald eine Nachricht zu bekommen.“

„Lebt sie noch in Frankfurt?“, fragte Escher. Er hatte sie schon lange Jahre nicht mehr gesehen. In ihrer Jugend war Jella eine sehr schöne Frau gewesen. Escher erinnerte sich ganz dunkel an etwas, das man damals wohl einen Skandal genannt hatte. Die junge Jüdin und … Hatte sie eine Affäre gehabt? Auf jeden Fall hatte sie Waldbrügg nach dieser Geschichte sehr überstürzt verlassen. Ihm war es offensichtlich nicht wichtig genug gewesen. Er wusste es nicht mehr. Das alles mochte mindestens zwanzig Jahre her sein.

„Ja, natürlich“, sagte Mandelbaum. „Keine zehn Pferde würden sie von dort wegbringen. Aber ich denke, dass sie uns sicher bald besuchen kommt. Es gibt ja noch einen Grund.“ Er räusperte sich. „Einen erfreulichen. Ava wird heiraten.“

Escher sah ihn erstaunt an.

„Deine Tochter? Ist sie …“ Irritiert fuhr er sich mit einer schnellen Handbewegung über seinen Bart. „Sie ist im gleichen Alter wie Hans, nicht wahr?“

„Sie wird einundzwanzig“, erwiderte Mandelbaum. „Es wird Zeit. Sie hat einen jungen Mann aus der Möbelmanufaktur kennengelernt. Er ist einer meiner tüchtigsten Mitarbeiter.“ Er räusperte sich noch einmal und setzte dann ein leichtes Lächeln auf. „Ich freue mich sehr, dass du dich nach meiner Familie erkundigst, Franz“, fuhr er fort und zögerte. „Aber … Du hast sicher noch etwas anderes auf dem Herzen, nicht wahr? Sagst du mir, was so wichtig ist, um dafür einen offiziellen Termin im Rathaus zu vereinbaren? Ich nehme an, du hast mich aus einem bestimmten Grund hierherbestellt.“

Escher betrachtete ihn einen Augenblick aufmerksam. Er war sich nicht sicher, ob Mandelbaum wegen des Termins besorgt war oder ob er sich im Gegenteil ein klein wenig über ihn amüsierte. Er spürte einen leisen Ärger in sich aufsteigen. Sein Blick wanderte auf die Baupläne vor sich.

„Nun“, sagte er streng. „Es gibt Dinge, die man nicht kurz bei einer zufälligen Begegnung auf der Straße bespricht.“ Den ganzen Vormittag hatte er versucht, sich eine Strategie, eine Vorgehensweise zurechtzulegen, und wusste jetzt doch nicht, wie er die Sache richtig angehen sollte. Aber er hatte ein Thema, das Mandelbaum interessieren könnte, einen kleinen Umweg, der ihn indirekt, aber vielleicht doch zum Ziel bringen würde, und beschloss, es einfach aufs Geratewohl zu versuchen. „Es ist eine heikle Angelegenheit.“

Eine Pause entstand, während der Escher konzentriert auf seinen Schreibtisch blickte. Mandelbaum schlug die Beine übereinander und wartete geduldig.

„Wie du vielleicht schon weißt, soll in naher Zukunft die allgemeine Gewerbesteuer für Unternehmen eingeführt werden“, fuhr Escher unvermittelt mit lauter Stimme fort. Mandelbaum zuckte zusammen. Es war das erste Anzeichen überhaupt, dass er nervös sein könnte. Escher registrierte es zufrieden. „Und es steht zu befürchten, dass demnächst auch eine Vermögenssteuer eingeführt wird.“ Er sah von seinem Schreibtisch auf. „Auf die Vermögenssteuer habe ich – also, die Gemeinde – aller Voraussicht nach keinen Einfluss. Auf die Gewerbesteuer aber sehr wohl …“

Mandelbaum runzelte die Stirn.

„Ich habe von den Plänen der Regierung für eine Steuerreform gehört“, sagte er, nachdem Escher seinen Satz nicht zu Ende brachte. „Worauf willst du hinaus? Mir scheint das neue System etwas klarer, sogar gerechter zu sein als das alte.“

„Mag sein“, erwiderte Escher und lächelte verschmitzt. „Auf jeden Fall bietet es den Gemeinden mehr Flexibilität. Sollte die Steuerreform wie angekündigt kommen, dann fällt die Gewerbesteuer direkt der Stadt zu. Und ich denke, wir können da vielleicht im einen oder anderen Fall und an der einen oder anderen Stelle ein Auge zudrücken.“

Mandelbaum sah Escher nachdenklich an, als würde er überlegen, was er ihm eigentlich sagen wollte.

„Das neue Gesetz scheint für uns alle zum Vorteil zu sein“, meinte er schließlich vorsichtig.

„Nun ja.“ Der alte Escher lachte. „Zuerst einmal bedeuten Steuern Kosten. Und jeder Betrieb wünscht sich doch möglichst wenig davon, nicht wahr? Es sieht beinahe so aus, als würden die Unternehmer stärker belastet als bisher.“

„Möglich.“ Mandelbaum schien sich immer noch nicht im Klaren darüber zu sein, auf was Escher hinauswollte. „Aber wenn davon Bauvorhaben wie unsere neue Brücke finanziert werden, finde ich es eine sinnvolle Ausgabe für die Betriebe. Vielleicht wird es dadurch irgendwann auch möglich, die Ausfallstraßen endlich besser zu befestigen …“

Escher machte ein unzufriedenes Gesicht.

„Ja, ja“, erwiderte er eilig und winkte ab. Er hatte Mandelbaum nicht hergebeten, um Tipps für die Verwendung der städtischen Finanzen zu bekommen. „Vielleicht … Ich kann dir jedenfalls eins versichern: Nicht alle Unternehmen werden den Höchstsatz zahlen müssen. Ich habe vor, ein paar Ausnahmen durchzusetzen. Du wirst sehen.“

„Ja.“ Mandelbaum seufzte. „Wie gesagt, ich habe nichts dagegen, Steuern zu zahlen, die für sinnvolle Projekte verwendet werden. Aber wir müssen doch noch abwarten, ob die Steuer überhaupt wie geplant kommt. Ich habe den Eindruck, als wären nicht alle in der Regierung wirklich überzeugt von dieser Reform.“

Escher beugte sich vor und sah Mandelbaum in die Augen.

„Sie wird kommen“, sagte er fest. „Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.“ Er erhob sich. „Die Steuer wird noch in diesem Jahr eingeführt. Und ich wollte dich wissen lassen, dass es deinem Geschäft nicht zum Nachteil gereichen wird. Wir sind seit Langem Geschäftspartner … und Freunde. Nicht wahr?“

„Ja. Sicher“, erwiderte Mandelbaum zögernd. Er erhob sich ebenfalls und ging langsam zur Tür. „Das ist nett von dir.“

Der alte Escher verdrehte die Augen, aber Mandelbaum bemerkte es nicht. Er drückte die Klinke hinunter.

„Jakob“, sagte Escher in vertraulichem Ton. „Lass es dir in Ruhe durch den Kopf gehen. Wir haben doch lange gut zusammengearbeitet. Bestimmt finden wir bald einmal wieder die Gelegenheit dazu. Du weißt, meine Stoffe sind die besten der ganzen Gegend.“

Mandelbaum sagte nichts. Er lächelte und nickte leicht. Doch dieses Nicken hatte nichts zu sagen, das spürte Escher genau. Es war entweder der zunehmenden Senilität Mandelbaums geschuldet oder seinem schlauen Abwägen, was das Beste für ihn sein mochte.

„Bestimmt. Auf Wiedersehen“, sagte Mandelbaum denn auch unverbindlich. „Es war schön, dich wieder einmal zu sehen.“

„Ja“, erwiderte Escher ungehalten. „Das war es. Denk über meine Worte nach.“

Als Mandelbaum sein Büro verlassen hatte, schüttelte er den Kopf. Das Gespräch war alles andere als zufriedenstellend gelaufen. Was hatte er zu erreichen gehofft? Natürlich war nicht damit zu rechnen gewesen, dass Mandelbaum gleich mit offenen Armen auf ihn zukam. Das wäre wohl zu viel verlangt gewesen, nachdem er ihre Geschäftsverbindungen erst vor kurzer Zeit völlig auf Eis gelegt hatte. Wohlgemerkt, es war Mandelbaum gewesen, der ihre Verträge aufgekündigt hatte …

Escher stand immer noch an der Tür, die Klinke in der Hand, und starrte gedankenverloren vor sich hin. Die Verträge gekündigt … Das war doch eigentlich eine Ungeheuerlichkeit. Er erinnerte sich, wie er in Mandelbaums Möbelmanufaktur gestürmt war, völlig außer sich. Beziehungsweise fassungslos. Er war überzeugt gewesen, dass es sich nur um einen Irrtum handeln konnte. Ja, sicher, sie hatten die Preise etwas angehoben. Aber das war doch noch lange kein Grund, gleich alles hinzuwerfen. Doch genau das war passiert. Escher schüttelte wieder den Kopf, als könne er es immer noch nicht glauben. Das war eben diese typisch jüdische Art, Geschäfte zu machen. Kompromisslos gegen Freund und Feind, rein auf den Profit bedacht. Ohne Wenn und Aber kappte der Alte jahrzehntelange Geschäftsverbindungen, ohne mit der Wimper zu zucken. Über zwanzig Jahre hatte Escher Mandelbaums Möbelmanufaktur, deren Markenzeichen, die großen drei M, inzwischen bis über die Landesgrenzen hinaus bekannt war, mit Stoffen beliefert. Und dann erklärte ihm der alte Mandelbaum eiskalt, er habe einen neuen Lieferanten gefunden, der bei gleicher Qualität wesentlich günstiger liefere.

„Idiot“, sagte Escher leise, holte tief Luft und ging zurück zu seinem Schreibtisch. Er versuchte, sich auf die vor ihm liegende Akte zu konzentrieren, aber es gelang ihm nicht. Gut, er war Mandelbaum im Preis nicht entgegengekommen. Vielleicht hätte er das zumindest in Erwägung ziehen sollen. Aber damals hatte er im Traum nicht daran gedacht. Er hatte das alles nur für einen billigen Schachzug des Alten gehalten und nicht einmal Hans ins Vertrauen gezogen. Sicher würde Mandelbaum bald wieder zu ihm kommen, hatte er gedacht, zu Kreuze kriechen sozusagen. Escher lächelte grimmig, als ihm die doppelte Bedeutung des Wortes aufging.

Doch offensichtlich hatte Mandelbaum tatsächlich einen günstigeren Lieferanten gefunden. Er kam nicht, Escher hörte nichts mehr von ihm und blieb auf einem Großteil seiner Ware sitzen. Nicht, dass ihn der Verlust des Auftrags wirklich in Schwierigkeiten gebracht hätte. Das nicht. Aber andererseits machten die Lieferungen an die Mandelbaum’sche Möbelmanufaktur einen nicht unerheblichen Teil seines Umsatzes aus.

Escher hatte keine Ahnung, ob sein Angebot vorhin überhaupt bei Mandelbaum angekommen war. Wenn ja, dann hatte er sich auf jeden Fall sehr bedeckt gehalten und mit keiner winzigen Reaktion zu erkennen gegeben, dass er verstanden hatte. Ärgerlich schlug Escher die Akte zu. Er hatte seine Karten viel zu leichtfertig ausgespielt, plump beinahe … Er erhob sich abrupt. Es hatte keinen Zweck. Er konnte sich jetzt einfach nicht auf die städtischen Angelegenheiten konzentrieren. Was ihm noch heute Vormittag als ein guter Plan erschienen war, kam ihm jetzt albern und peinlich vor. Das Gespräch war katastrophal verlaufen. Was würde Mandelbaum bloß von ihm denken? Über diesen Gedanken ärgerte er sich noch mehr. Er nahm Mantel und Hut und verließ sein Büro.

„Ich bin im Kontor“, rief er unten in der Halle in Albrechts Zimmer.

„Herr Bürgermeister“, rief Albrecht verblüfft. Er sprang auf und eilte zu seiner Tür. „Herr Escher … So früh?“

„Ja“, erwiderte Escher gereizt und öffnete ohne weitere Erklärung die schwere Eichentür des Rathauses, die hinter ihm schwer wieder ins Schloss fiel.

Mandelbaums Haus und sein ehemaliges Kontor lagen in einer engen Gasse am Rand des kleinen Judenviertels Waldbrüggs. Die Manufaktur hatte er nach dem Bekanntwerden der Pläne für den Bau einer neuen Brücke nach außerhalb der Stadtmauern auf die gegenüberliegende Seite des Flusses verlegt. Das Haus stak mit düsterer, fast schwarzer Fassade wie eingequetscht zwischen zwei anderen ähnlicher Bauart, die jedoch viel kleiner wirkten. Doch man sah auch dem Mandelbaum’schen Haus von außen kaum an, wie groß es tatsächlich war, da es sich weit nach hinten erstreckte. Und trotz Avas unermüdlichen Bemühungen mit Blumen und Gardinen zeigte es zur Gasse hin stets ein düsteres und abweisendes Gesicht. Wenn Ava und ihr Bruder Simon zu kleinen Abendgesellschaften einluden – was selten der Fall war –, mussten die wenigen Gäste, die mit einer Kutsche kamen, immer vorne an der Straße aussteigen und die paar Meter bis zur Tür zu Fuß zurücklegen. Die Gasse war schlicht zu schmal für einen Wagen und zwei Pferde.

Mandelbaum betrat das Haus durch eine unscheinbare seitliche Tür. In dem kleinen, angrenzenden Vorraum war es düster und dunkel. Nur eine kleine Tranlampe erhellte den Flur notdürftig. Das ganze Haus war inzwischen mit Gaslampen ausgestattet. Nur hier, im Eingangsbereich, hatte es Mandelbaum bei den alten Öllampen belassen.

Nach wenigen Metern führte der Gang zu einer Tür im Erdgeschoss. Dort ging es zum alten Kontor, das sich im hinteren Haus in erstaunlichen Ausmaßen übers gesamte Erdgeschoss erstreckte. Jetzt stand es leer, nur ein paar alte Möbel und Ausschussware lagerten noch darin. Mandelbaum dachte an Ava und musste schmunzeln. Sie behauptete steif und fest, dass es seit dem Umzug dort spuke. Merkwürdige Geräusche würden am Abend und in der Nacht aus den Räumen hinter der Tür dringen. Ihr Bruder hatte ihr daraufhin geraten, in der Nacht zu schlafen und nicht allein durchs Haus zu wandern.

Neben der Tür führte eine dunkle, schmale Treppe hinauf zu den Wirtschafts- und Wohnräumen. Im ersten Stock wurde es unerwartet heller, denn die Rückseite des Hauses stand frei und durch die schmalen Fenster drang mehr Licht. Der alte Mandelbaum betrat das Wohnzimmer. Es war ein geräumiger, heller Raum, der sich von der Tür aus in einer Art auf dem Kopf stehender L-Form nach hinten erstreckte. Am Fenster beim Eingang stand ein Tisch, dekoriert mit einer Vase und den ersten Blumen des Frühlings. Daneben waren ein paar Stühle gruppiert, dahinter, wie eine Insel in der Mitte des Raums, eine Sitzgruppe, bestehend aus drei schweren Sesseln, einem großen Sofa und einem niedrigen Tischchen. Eine ähnliche Gruppe, nur leichter und eleganter, stand hinten im Raum, etwas im Eck versteckt. Insgesamt wirkte der Raum, so verlassen wie er jetzt schien, beinahe wie ein Ausstellungsraum für Möbel, der vielleicht zwei der Design-Linien der Möbelmanufaktur präsentierte. Auf jeden Fall waren sie etwas zu mondän und zu ausladend für das Zimmer. Dank seiner Schwester Jella standen die Sessel, Sofas und Chaiselongues der Marke MMM auch in vielen Salons großer Städte wie Hamburg, Frankfurt und Berlin. Ohne sie und ihre Beziehungen zu den Künstler- und Bürgerkreisen dieser Städte wäre die Manufaktur nie zu dem Ruf gelangt, der ihren jetzigen Erfolg ausmachte.

Als Mandelbaum die Sitzgruppen mit einem prüfenden Blick musterte, regte sich jemand in einem der hinteren Sessel. Der Raum war nicht verlassen, wie er anfangs angenommen hatte. Ava saß dort und stickte. Sie hatte die Tür gehört und beugte ihren Oberkörper vor, um zu sehen, wer das Zimmer betreten hatte.

„Du bist schon wieder zurück?“, rief sie überrascht, als sie ihren Vater entdeckte.

„Ja.“ Mandelbaum seufzte.

Ava legte ihr Stickzeug beiseite und trat zu ihrem Vater.

„Was wollte er denn?“, fragte sie neugierig.

Mandelbaum betrachtete sie ernst. Die dunklen Locken, den hellen Teint … Die lebhaften, beinahe schwarzen Augen hatten sie und ihr Bruder von ihrer Mutter geerbt, die schon vor vielen Jahren gestorben war. Ava trug ein einfaches, schlichtes Frühlingskleid, das den Raum heller machte. Sie selbst machte den Raum heller, fand Mandelbaum. Er schüttelte den Kopf und lächelte.

„Es war wohl doch nicht so wichtig, wie ich gedacht hatte“, sagte er. „„Außerdem ist das keine Frage, die eine Tochter ihrem Vater stellt. Du könntest zum Beispiel fragen, ob ich müde bin. Oder ob ich zu Mittag essen will. Oder …“

„Ja, ich weiß schon …“, unterbrach Ava ihn und nickte ungeduldig. „Fragen, die ein braves Mädchen seinem Vater eben stellt.“ Sie hakte sich bei Mandelbaum unter. „Aber da hast du mich wohl falsch erzogen.“ Sie lachte. „Nun sag schon, Papa. Was wollte Escher denn so dringend?“

Mandelbaum warf ihr einen bedenklichen Blick zu.

„Ich weiß auch nicht“, sagte er. „Die Frauen in dieser Familie …“

„Vater …“, beharrte Ava mit vorwurfsvollem Blick.

„Wir wollen hinübergehen. Sicher ist das Essen schon aufgetragen, und wie ich deinen Bruder kenne, sitzt er bereits am Tisch und wartet ungeduldig auf uns.“

„Soll er warten“, erwiderte Ava erbarmungslos.

„Na.“ Mandelbaum runzelte die Stirn. „Sicher will auch er wissen, wie die Besprechung mit Escher gelaufen ist.“

Tatsächlich saß Simon im Esszimmer am Tisch und blätterte in einer Zeitung, als Mandelbaum mit Ava den Raum betrat. Simon warf die Zeitung hin.

„Da seid ihr ja“, rief er lebhaft. „Ich habe schon auf euch gewartet.“

Mandelbaum lächelte.

„Du hattest recht“, flüsterte Ava, gab seinen Arm frei und setzte sich Simon gegenüber.

Von der Küche brachte das Mädchen eine Schale Knishes und einen Krug Wasser herein. Lina war eine kräftige, bleiche junge Frau, fast noch ein Kind, mit widerspenstigem, mausbraunem Haar, das sie schlampig nach hinten gebunden hatte. Sie war die jüngste Tochter einer verarmten Bauernfamilie. Ihre Eltern hatten sie zum Arbeiten in die Stadt geschickt.

Mandelbaum nahm am Kopf der Tafel Platz.

„Und?“, fragte Simon.

„Und?“, gab Mandelbaum zurück. „Sollte das eine Frage sein? Euer Benehmen lässt manchmal wirklich zu wünschen übrig.“ Er nahm ein Knish aus der Schale und goss sich Wasser ein. „Wie läuft es in der Manufaktur? Wird der Auftrag für Frankfurt diese Woche noch fertig?“

„Ich denke schon.“ Auch Simon griff zu. Er legte seiner Schwester ein Knish auf den Teller, dann sich selbst. „Wenn nicht, müssen wir am Samstag die Schicht verlängern. Aber ich glaube, wir schaffen es ohne Überstunden.“

„Mhm.“

Einen Augenblick herrschte Ruhe.

„Ich wollte eigentlich wissen, wie es bei Escher im Rathaus war“, sagte Simon dann.

„Ich auch“, rief Ava ungeduldig.

Mandelbaum verzog unwillig den Mund. Das Gespräch hatte bei ihm einen unangenehmen Nachgeschmack hinterlassen. Es war ihm klar, dass Escher nicht wirklich über die Steuerreform mit ihm sprechen wollte. Es ging ihm um seine Aufträge. Aber die Art und Weise, wie er es anging, erregte Mandelbaums Besorgnis. Er wollte nicht in dieses System eingebunden werden, das Escher ihm indirekt angeboten hatte. Sein Vorschlag, die Steuern für die Manufaktur zu erleichtern, war wahrscheinlich noch im Rahmen der Legalität. Aber es war auch nicht ganz sauber, nicht fair anderen gegenüber, und er erhoffte sich dadurch Vorteile. Jedenfalls nahm Mandelbaum das an … Seine Sorge lief aber auf etwas anderes hinaus, das er sich nicht richtig erklären konnte. Es war mehr ein Gefühl, dass etwas nicht richtig lief und Escher sich möglicherweise auch anderer Mittel bedienen könnte.

„Es war nichts“, sagte er. „Ganz belanglos.“

In kurzen Worten schilderte er das Gespräch mit Escher.

„Und er hat nach euch beiden gefragt“, fügte er abschließend beiläufig hinzu.

„Hat er nicht versucht, einen neuen Vertrag auszuhandeln?“, fragte Simon erstaunt, ohne auf die letzte Bemerkung seines Vaters einzugehen.

„Nicht direkt“, erwiderte Mandelbaum. „Aber ich hatte schon das Gefühl, als sei er daran interessiert.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin mit dem neuen Lieferanten bis jetzt sehr zufrieden. Es gibt keinen Grund, wieder mit Escher zusammenzuarbeiten …“

„… außer um des lieben Friedens willen“, ergänzte Simon.

„Es ist nur ein Geschäft.“ Mandelbaum zuckte mit den Schultern. „Escher hatte die Preise schon wieder erhöht. Und zwar deutlich. Es ist mein gutes Recht, mich nach einem besseren Angebot umzusehen.“

„Hast du ihm von der Hochzeit erzählt?“, fragte Ava dazwischen. Sie war ein bisschen rot geworden.

Mandelbaum warf ihr einen erstaunten Blick zu.

„Ja, habe ich“, sagte er. „Warum fragst du?“

„Nur so.“ Verlegen blickte sie vor sich auf den Teller.

„Er hat sich auch nach deiner Tante erkundigt.“

Das Mädchen kam aus der Küche und brachte Fisch und Gemüse herein.

„Es geht ihr schlechter“, sagte Ava traurig. „Heute Nachmittag kommt der Arzt, um nach ihr zu sehen. Sie hat viel geschlafen. Aber es hilft ihr nicht. Sie wird einfach immer schwächer.“

„Ich besuche sie nachher.“ Mandelbaum wandte sich an das Mädchen. „Bekommt sie von dem Eintopf?“

„Ich habe ihr gerade eben welchen gebracht“, murmelte Lina. „Aber sie wollte nichts essen.“

Mandelbaum schüttelte besorgt den Kopf.

„Sie muss“, erwiderte er bestimmt. „Ich rede mit ihr.“

„Wir können doch …“ Ava zögerte. „Wir können doch am Freitag trotzdem unsere Gäste empfangen, oder, Vater?“

„Ach, ja. Bitte“, rief Simon, bevor Mandelbaum etwas sagen konnte. „Es ist so wenig los in dieser Stadt. Und es sind doch nur ein paar Leute.“

„Ich weiß nicht“, sagte Mandelbaum unschlüssig. „Man wird uns mangelnde Pietät vorwerfen. ‚Seht nur die Mandelbaums‘, werden sie sagen. ‚Die Schwester liegt todkrank im Bett und sie feiern.‘ Ich kenne doch die Leute …“

„Es ist mir völlig gleichgültig, was die Leute sagen“, ereiferte sich Simon. „Es sind doch nur ein paar Freunde. Junge Leute aus angesehenen Familien. Das ist sicher nicht schlecht fürs Geschäft. Und mit ein paar von ihnen kann man sich wenigstens ein bisschen unterhalten. Über Literatur … Politik … Das ist wirklich selten hier.“

„Literatur … Politik“, wiederholte Mandelbaum verächtlich. „Als ob es nichts Wichtigeres gäbe.“

„Was sollte es Wichtigeres geben als Politik?“, rief Simon.

„Ja, ja, ich weiß schon …“ Mandelbaum winkte ab. Die Gespräche mit seinen Kindern über dieses Thema liefen immer gleich ab. Simons dunkle Augen begannen zu funkeln, sobald das Gespräch auf Politik kam. Er wollte debattieren, argumentieren, streiten … Mandelbaum wurde durch ihn an seine eigene Jugend erinnert, als auch er sich von der Politik viel versprochen hatte. Damals war es nicht beim Debattieren geblieben. Aber gebracht hatte es letzten Endes … so gut wie nichts. Nicht für die Bürger und auch nicht für sein Volk. Seit Langem hatte er es aufgegeben, Erwartungen in die Politik zu legen. Er war nach Waldbrügg zurückgekommen und hielt sich nur an seine Geschäfte. Und er hatte Glück gehabt mit seiner Manufaktur.

„Es sollte euch nicht egal sein, was die Leute sagen“, sagte er. „Ihr dürft nie vergessen, wer ihr seid. Ihr hattet Glück. Wir alle hatten Glück. Aber ich habe auch schon andere Zeiten erlebt. Ihr seid in einer ruhigen Stadt und in einer relativ ruhigen Zeit aufgewachsen. Doch das ändert sich wieder. Und langsam wird es auch hier spürbar. Der Ton in den Zeitungen … Dieser Journalist, der hergekommen ist und den neuen Club gegründet hat …“

„Genau deshalb ist es doch so wichtig, den Unsinn nicht unkommentiert zu lassen, den Maarsen schreibt. Zu zeigen, dass wir hier am Leben teilnehmen“, erwiderte Simon eifrig.

Mandelbaum seufzte.

„Von mir aus ladet eure Gäste ein. Auch wenn ich wünschte, ihr würdet auf diese Treffen verzichten.“