Aufstand der Frauen - Petros Markaris - E-Book

Aufstand der Frauen E-Book

Petros Markaris

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Beschreibung

Dieser Fall stellt Kostas Charitos auf eine schwere Probe. Gerade zum Polizeichef von Athen befördert, ermittelt er zum ersten Mal nicht selbst. Stattdessen muss die neue Leiterin des Mordkommissariats, Antigoni Ferleki, den Mord an einer Archäologin aufklären. Ein Fall, der Sprengkraft birgt, denn im Hintergrund agiert eine Gruppe amerikanischer Investoren, die viel Geld nach Attika bringen wollen. Und für Geld tun manche Menschen alles.

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Petros Markaris

Aufstand der Frauen

Ein Fall für Kostas Charitos

roman

Aus dem Neugriechischen von Michaela Prinzinger

Diogenes

Für Josef‌ina, wie immer

Der Wind bläst die Säcke auf, die Dummen der Dünkel.

Sokrates

1

»Die Prognosen sind sehr günstig, Lena. Alle sind sich einig: Das griechische Bruttoinlandsprodukt soll im kommenden Jahr steil ansteigen. Internationale Ratingagenturen peilen sogar 8,5 Prozent an.«

»Das heißt, es kommen bessere Zeiten.«

»Hervorragende, würde ich sagen, Lena.«

Solche frohen Botschaften höre ich jeden Abend, sie erinnern mich an das Lied »Ein Schiff wird kommen« von Manos Chatzidakis aus dem berühmten Film »Sonntags … nie!«. Ich habe keine Ahnung von Ökonomie, aber es will mir nicht in den Kopf, dass Griechenland nach den Rettungspaketen, die aus dem Füllhorn der EU strömten, 2010 wirtschaftlich am Boden lag und es ausgerechnet jetzt, nach Pandemie und Lockdown, aufwärtsgehen soll. Wenn die Schlauberger recht behalten, werden wir noch beten, dass das Coronavirus uns treu bleibt, damit der Staatshaushalt floriert.

Ich schalte den Fernseher aus und gehe ins Schlafzimmer. Nicht, weil ich schon ins Bett gehen will, sondern weil ich den »Anblick« genießen will.

Der schönste »Anblick« bietet sich mir am Griff des Kleiderschranks, wo der Kleiderbügel mit der Uniform hängt. Bewundernd bleibe ich davor stehen. Vor einer Woche wurde ich offiziell zum Leitenden Kriminaldirektor ernannt. Ab morgen stehe ich, beglückwünscht vom Minister, an der Spitze der Polizeidirektion Attika.

Beim Betrachten der Uniform spüre ich einen Kloß im Hals. Ich bin gerührt, aber gleichzeitig frage ich mich, ob ich nicht wie ein Truthahn aussehe, wenn ich morgen im Ministerium in der Katechaki-Straße darin herumstolziere.

»Na, bewunderst du deine neue Uniform?«, höre ich hinter mir eine Stimme.

Alte Reflexe legt man so schnell nicht ab: Immer wenn ich mich ertappt fühle, will ich mich rechtfertigen. »Tja, Erfolge bringen Charakterschwächen ans Licht.«

»Bewundere sie ruhig, du hast sie dir ehrlich verdient«, antwortet Adriani.

Das Klingeln meines Handys unterbricht uns. Es ist Katerina, sie meldet sich aus dem Urlaub. »Wir wollten dir viel Erfolg für morgen wünschen. Wir sind alle sehr stolz auf dich.«

»Vielen Dank, Katerina.«

»Das müssen wir gleich nach unserer Rückkehr im Familienkreis feiern.«

»Einverstanden. Wie gefällt es euch auf Pilio?«

»Fantastisch! Es ist nicht viel los, wir liegen am Strand und erholen uns.«

Nachdem wir aufgelegt haben, gebe ich Adriani eine Zusammenfassung. »Ja, der Urlaub tut ihnen gut. Sie können endlich durchatmen und zur Ruhe kommen. Ich bereite jetzt das Essen vor.«

Plötzlich kommt mir eine Idee. »Nein, zur Feier des Tages gehen wir essen!«

Adriani blickt mich überrascht an. »Aber wir wollten doch im Familienkreis feiern.«

»Das kommt noch. Seit meinen Anfängen als einfacher Wachtmeister warst du immer an meiner Seite, feiern erst einmal wir beide.«

»Dann ziehe ich mich um«, sagt sie. Vor lauter Rührung versagt ihr fast die Stimme.

Bis Adriani ausgehfertig ist, überlege ich, welches Lokal sich eignet. Ein klassisches Restaurant scheint mir unpassend, es geht ja nicht in erster Linie ums Essen. Sondern darum, gemütlich zu plaudern und dabei kleine, köstliche Häppchen zu naschen.

Als wir in den Seat steigen, schlage ich den Weg zum Inothiras in Kessariani ein. Ich bestelle Meeresfrüchte, blanchierte Wildkräuter und gefüllte Sardellen, dazu Weißwein. Ich fülle unsere Gläser und proste ihr zu.

»Jamas!«

»Freu dich über deine Beförderung, mein Lieber, und sei stolz auf deine Generation«, sagt Adriani, während wir anstoßen.

»Auf meine Generation? Wie kommst du darauf?«, wundere ich mich.

»Deine Generation hat bei null angefangen und sich dann mühsam Stufe für Stufe hochgearbeitet. Du bist einer der Letzten, die noch aufsteigen. Die jungen Leute von heute mit all ihren Studien und Diplomen sind hoch qualifiziert, müssen aber Stufe für Stufe ihre Ansprüche herunterschrauben, um einen Posten zu finden.«

»Du bist doch aus derselben Generation.«

»Ja, nur gab es für Frauen damals statt Aufstiegsmöglichkeiten eine Einbahnstraße. Sie konnten nur gute Ehefrauen, Hausfrauen und Mütter werden. Heute herrscht Arbeitsteilung in der Familie, zu unserer Zeit waren die Rollen strikt getrennt.«

Sie pickt sich hier und da etwas von den Tellern, mir hingegen bleibt die Spucke weg. »Du erstaunst mich immer wieder. Wann denkst du bloß über all das nach?«

»In der Küche. Ja, du singst Loblieder auf meine Gerichte, aber ich habe das ewige Kochen so satt! Ich zwinge mich, an etwas anderes zu denken, nicht nur an Pfannen und Töpfe.« Sie muss lachen.

»Was ist so lustig?«

»Bis jetzt warst du Kommissar, deine Tochter Juristin und dein Schwiegersohn Arzt. Jetzt ist der Vater der Juristin und der Schwiegervater des Arztes plötzlich Leitender Kriminaldirektor der Polizeidirektion Attika. Das heißt, ihr seid wieder auf Augenhöhe.«

Die gute Stimmung fördert den Appetit, und ich greife so beherzt zu, dass ich mich mit den Meeresfrüchten bekleckere. Ein großer Fleck prangt auf meinem Hemd.

»Gut, dass ich meine neue Uniform nicht anhabe.«

»Das wäre auch nicht schlimm. Deine Uniform wäre auch rein, wenn du sie vollgekleckert hättest. Zumindest, was Korruption betrifft …«, erwidert sie mit leisem Spott.

Ihre Worte bauen mich auf, und ich bestelle noch einen halben Liter Wein.

Als wir nach Hause zurückkehren, sind wir ziemlich beschwipst. Wir sinken beide erschöpft ins Bett. Zum ersten Mal seit Jahren drückt mir Adriani einen Gutenachtkuss auf die Wange.

2

Ich werfe einen letzten Blick in den Spiegel. Die Uniform sitzt wie angegossen. Adriani streicht die Tressen glatt. Dann betrachtet sie mich von allen Seiten. »Perfekt!« Sie begleitet mich zur Tür und wünscht mir viel Erfolg.

Eigentlich sollte ich zu diesem Anlass in einem Dienstwagen vorfahren. Aber das würde meine Nervosität nur noch steigern, und die ist schon groß genug. So ende ich wieder in meinem Seat. Es ist nicht viel los auf den Straßen, aber heute wäre mir jeder Stau egal. Meine Gedanken sind voll und ganz bei der Beförderungszeremonie und meinen neuen Pflichten. Der Polizeipräsident ist nicht das Problem. Wir kennen uns aus unzähligen Meetings. Die Begegnung mit dem Minister macht mir Sorgen. Ich bin kein großer Redner, und offizielle Anlässe verunsichern mich.

Als ich in der Katechaki-Straße ankomme, stelle ich den Seat auf dem Parkplatz ab. Als die Beamten am Empfang mich in Uniform erblicken, beeilen sie sich, mir zu gratulieren. Eine zweite Glückwunschrunde folgt im Vorzimmer des Polizeipräsidenten.

Der Polizeipräsident erhebt sich, sobald ich sein Büro betrete. Er kommt mir entgegen und drückt mir herzlich die Hand.

»Ich freue mich, dass mein Personalvorschlag angenommen wurde, und auch noch einstimmig!«, sagt er. »Diese Beförderung haben Sie voll und ganz verdient.« Er hält inne und blickt mich lächelnd an. »Und jetzt haben wir eine Überraschung für Sie.« Er geht zum Telefon und wählt eine interne Durchwahl. »Er ist da«, sagt er knapp.

Ich bin neugierig, was die Überraschung sein könnte. Als die Tür aufgeht, verschlägt es mir die Sprache. Auf der Türschwelle stehen der Vizepolizeipräsident und Gikas, mein ehemaliger Chef.

Mein Gesichtsausdruck bringt den Polizeipräsidenten und seinen Stellvertreter zum Lachen. Gikas packt meine Hand und schüttelt sie mit Nachdruck.

»Glückwunsch, Kostas! Sie haben sich die Beförderung aus eigener Kraft erkämpft. Glückwunsch auch an Sie, Herr Polizeipräsident. Sie haben eine hervorragende Wahl getroffen.« Dann lässt er meine Hand los und wendet sich wieder mir zu. »Ich wollte Ihnen nicht am Telefon, sondern persönlich gratulieren.«

»Ich danke Ihnen«, sage ich und kann meine Verlegenheit nicht verbergen. Mit niemandem habe ich weniger gerechnet als mit Gikas.

»Ich danke dir, Thanassis«, verbessert er mich. Danach sagt er zu meinen Vorgesetzten: »Nach den Glückwünschen gehe ich lieber und lasse Sie Ihre Arbeit tun.«

Ich begleite ihn zur Tür. »Nochmals herzlichen Dank, Thanassis. Du hast mir damit eine große Freude gemacht.«

»Und du mir mit deiner Beförderung«, lautet seine Antwort.

Es folgt noch ein letzter Händedruck, bevor er geht. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass er extra nach Athen kommt, um mir alles Gute zu wünschen, und ich bin sehr gerührt.

»Es gibt nicht viel zu sagen«, sagt der Polizeipräsident, als wir allein zurückbleiben. »Das Rundschreiben ist bereits an die Dienststellen gegangen. Jetzt ist es offiziell, dass Sie der neue Vorgesetzte aller Abteilungsleiter sind. Lassen Sie uns zum Minister gehen, damit auch er Ihnen gratulieren kann.«

»Wenn wir beim Minister fertig sind, möchte ich Sie gern allein sprechen«, sagt der Vizepolizeipräsident zu mir.

Sobald wir das Ministerbüro betreten, erhebt sich der Minister und kommt auf mich zu.

»Ich wollte Sie persönlich beglückwünschen«, sagt er. »Ich habe nur das Beste über Sie gehört. Ich bin sicher, dass der Herr Polizeipräsident die richtige Wahl getroffen hat.«

»Vielen Dank, Herr Minister«, erwidere ich, als wir uns vor meinen beiden lächelnden Vorgesetzten die Hand reichen.

»Ich möchte betonen, dass meine Tür jederzeit für Sie offen steht«, fügt er hinzu. Er verstummt kurz und wendet sich dann an den Polizeipräsidenten: »Bei diesem erfreulichen Anlass möchte ich gleich ein wichtiges Thema mit Ihnen besprechen.« Dann sagt er zu mir: »Es betrifft vor allem Sie und Ihre neuen Pflichten.«

Glückwünsche ade, heißt das wohl. Wir nehmen um den Konferenztisch Platz.

»Heute Morgen hat mir der Minister für Entwicklung und Investitionen mitgeteilt, dass eine Gruppe multinationaler Unternehmen ihre Firmensitze nach Griechenland verlegen will. Die Chefs planen eine Reise, um dafür eine passende Gegend auszuwählen. Weitere Einzelheiten sind noch nicht bekannt, aber Sie verstehen sicher, wie wichtig dieser Besuch für uns ist.«

»Für wann ist das geplant?«, fragt der Polizeipräsident.

»Der Ministerkollege hat mir keinen konkreten Termin genannt. Aber er hat betont, dass der Premier überzeugt ist, Griechenland würde dadurch zu einem der finanzstärksten Länder Europas.« Er hält inne und blickt uns an. »Sie begreifen, dass die Sicherheit dieser Personen höchste Priorität hat. Daher möchte ich, dass dieser Aufenthalt bereits im Vorfeld sorgfältig vorbereitet wird.«

»Zunächst brauchen wir das detaillierte Reiseprogramm, Herr Minister«, erläutere ich. »Sobald wir das Ankunftsdatum und die Orte kennen, die sie besuchen wollen, arbeiten wir einen präzisen Plan aus. Andernfalls machen wir bestimmt Fehler, die zu Verzögerungen führen.«

»Schön, beginnen Sie mit einem ersten Brief‌ing. Ich komme auf Sie zurück, sobald ich die Reisedaten und das Besuchsprogramm habe«, antwortet er.

»Das war ein guter Einstand auf Ihrem neuen Posten«, sagt der Polizeipräsident zufrieden. »Sie werden das Brief‌ing übernehmen.«

»Warten wir erst ein paar Tage ab. Ein verfrühtes und ungenaues Brief‌ing stiftet nur Unruhe. Das sollten wir lieber vermeiden.«

Darüber sind wir uns beim Abschied einig. Der Polizeipräsident geht in sein Büro, während ich den Vizepolizeipräsidenten begleite.

»Es gibt noch eine dringende Sache, die wir besprechen müssen«, sagt er, sobald wir in seinem Büro Platz genommen haben.

»Ich höre.«

»Jetzt, da Sie die Leitung der Polizeidirektion Attika übernommen haben, bleibt Ihnen keine Zeit mehr für die Mordkommission. Wir müssen also einen neuen Abteilungsleiter finden. Haben Sie jemanden im Auge?«

Ich überlege kurz. »Der Geeignetste wäre Dermitsakis, er ist der Dienstälteste. Aber eine interne Lösung finde ich nicht gut. Seine Ernennung könnte zu Eifersüchteleien und Konflikten unter den Kollegen führen. Mir wäre jemand von einer anderen Dienststelle lieber. Dermitsakis sollte die verdiente Beförderung erhalten, aber in einer anderen Abteilung.«

»Ich bin völlig Ihrer Meinung. Die Sache mit Dermitsakis lässt sich einfach regeln. Bei der Drogenfahndung wird die Stelle des Leiters neu besetzt. Die kann er übernehmen. Aber jetzt zur Mordkommission!« Er hält inne und blickt mich an. »Ich hätte einen Vorschlag, aber ich weiß nicht, wie Sie dazu stehen«, sagt er abwartend.

»Nur keine Hemmungen«, ermuntere ich ihn. »Sagen Sie mir, an welchen Kandidaten Sie gedacht haben. Wir können alles diskutieren.«

»Es geht um keinen Kandidaten, sondern um eine Kandidatin.«

Ich traue meinen Ohren nicht. »Schlagen Sie vor, eine Frau an die Spitze der Mordkommission zu berufen?«, frage ich, als ich meine Stimme wiedergefunden habe.

»Glauben Sie nicht, es wäre der geeignete Moment für eine Abteilungsleiterin in der Mordkommission? Jetzt, da die kriminelle Gewalt gegen Frauen so rasant ansteigt? Jetzt, da sich Femizid als Begriff durchgesetzt hat?«

»Die Mordkommission befasst sich nicht nur mit Verbrechen an Frauen, sondern mit einer ganzen Reihe von Fällen, die häufig auch zur organisierten Kriminalität führen«, antworte ich so ruhig wie möglich. »Das ist Punkt eins. Punkt zwei ist, dass es zu Reibereien zwischen der Abteilungsleiterin und dem männlichen Personal kommen könnte. Derzeit haben wir nur eine Polizistin im Team, die als Koordinatorin fungiert und Internetrecherchen durchführt. Und der dritte und letzte Punkt ist eine Frage: Wie wird sich eine weibliche Führungskraft auf die Kooperation zwischen den Abteilungen auswirken? Das alles kann den Verlauf der Ermittlungen stark beeinflussen.«

Der Vizepolizeipräsident blickt mich an. »Ich will Ihre Vorbehalte nicht kleinreden«, sagt er. »Am besten treffen Sie die Kandidatin kurz selbst, um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Später können Sie das richtige Bewerbungsgespräch führen. Sie heißt Antigoni Ferleki. Sie wartet im Büro nebenan.«

»Gut, dann rede ich kurz mit ihr, und wir kommen später darauf zurück.« Ich will die Sache nicht gleich vom Tisch wischen. Lieber bleibe ich flexibel, damit wir nicht schon am ersten Tag nach meiner Beförderung aneinandergeraten.

Der Vizepolizeipräsident kehrt mit der Kandidatin zurück. »Darf ich Ihnen Kommissarin Antigoni Ferleki vorstellen?« Nach ein paar einführenden Worten zieht er sich zurück, damit wir uns ungestört unterhalten können.

Die Ferleki setzt sich mir gegenüber. Sie muss um die vierzig sein. Sie gehört zur Gruppe der unauf‌fällig aussehenden Menschen. Sie ist weder hübsch noch hässlich, weder groß noch klein, weder dick noch dünn. Wäre ihr Lächeln nicht gewesen, hätte ich sie in die Kategorie »farblos und unscheinbar« eingestuft. Aber als der Vizepolizeipräsident sie mir vorstellte und sie mich dabei anlächelte, wirkte sie wie verwandelt.

»Wo haben Sie bisher im Polizeikorps gedient?«, frage ich, um das Gespräch in Gang zu bringen.

»Angefangen habe ich in der Personalabteilung, in der Folge wurde ich zur Direktion für Organisation und juristische Ermittlungsunterstützung versetzt.«

»Haben Sie eine Ausbildung als Juristin?«

»Nach meinem Eintritt ins Polizeikorps habe ich mein Jurastudium fortgesetzt und abgeschlossen.«

»Und danach?«

»Wurde ich zur Verkehrspolizei Athen versetzt. Jetzt bin ich bei Europol.«

»Sprechen Sie Fremdsprachen?«

»Englisch und Italienisch.«

»Ich vermute, der Herr Vizepolizeipräsident hat Sie informiert.«

»Er hat mir gesagt, dass Sie erste Sondierungsgespräche für die Abteilungsleitung der Mordkommission durchführen.«

Jetzt kommen wir zum schwierigen Teil. »Sie haben einen Lebenslauf wie nur wenige bei der Polizei, Glückwunsch!«, sage ich einleitend. »Aber die Mordkommission ist eine Männerdomäne. Das betrifft nicht nur unsere Dienststelle selbst, sondern vor allem die Fälle, die sie bearbeitet. Die Täter sind überwiegend Männer, wie auch die meisten Personen, die wir im Lauf der Ermittlungen vernehmen. Sie werden also ständig von Männern umringt sein.«

Sie blickt mich an und wirft mir ihr warmes Lächeln zu. »Herr Kriminaldirektor, das Verhältnis zu Männern im Beruf ist etwas ganz anderes als in einer Liebesbeziehung oder in der Ehe. Ich habe verschiedene Abteilungen durchlaufen, die von Männern dominiert waren, vom Leiter und von meinem Vorgesetzten bis hinunter zum kleinsten Rädchen. Was meine Erfahrung mit Tätern betrifft, habe ich das Glück, in der griechischen Europol-Direktion zu arbeiten. Mir ist klar, dass ich das meinen Fremdsprachenkenntnissen verdanke, aber dadurch bin ich tagtäglich mit verschiedensten Straf‌taten konfrontiert. Die von uns behandelten Fälle stehen häufig in Verbindung zur organisierten Kriminalität.« Sie hält inne und lächelt mir erneut zu. »Europol hat aber noch ein Gutes: Ich konnte Erfahrungen mit ausländischen Kollegen sammeln.«

Am Anfang des Gesprächs war ich voreingenommen, aber ihr Studium, ihre Arbeit bei Europol und vor allem ihre Antworten haben mich positiv überrascht. Trotzdem bleibe ich reserviert, um in Ruhe und mit klarem Kopf ein Urteil zu fällen.

»Das war’s, vielen Dank«, sage ich zu ihr.

Die Ferleki bleibt an ihrem Platz sitzen und blickt mich an. »Haben Sie noch Zeit für eine kurze Bemerkung?«

»Bitte sehr.«

»Wenn ich merke, dass der Posten für mich nicht geeignet ist, komme ich selber auf Sie zu und ersuche um meine Versetzung. Es gibt genug Stellen im Polizeikorps. Ich will nicht mit Gewalt an einem Posten kleben, der nicht zu mir passt.«

»Dann ist eine Probezeit für uns beide die beste Lösung.«

Sie steht auf, verabschiedet sich und verlässt das Büro. Der Vizepolizeipräsident kehrt umgehend zurück.

»Nun? Wie ist Ihr Eindruck?«

»Ich will ganz offen sprechen. Zunächst war ich kritisch eingestellt. Aber ihr Werdegang und ihre Antworten haben meine Sichtweise geändert.« Ich schildere ihm das Gespräch und ihre letzten Aussagen.

»Sie war mir die ersten beiden Jahre bei Europol unterstellt, und ich hatte den besten Eindruck von ihr«, erläutert er. »Ich hatte auch schon an eine Übergangslösung gedacht, aber Sie waren schneller. Ich schlage vor, wir stellen sie probeweise für ein halbes Jahr ein. Wenn wir dann feststellen, dass sie nicht geeignet ist, suchen wir einen anderen Leiter für die Mordkommission.«

»Einverstanden, aber ich hätte noch zwei Fragen. Erstens, ob ich Dermitsakis die Beförderung und Versetzung mitteilen kann. Die zweite Frage betrifft das Personal der Abteilung. Wir brauchen Ersatz für Dermitsakis.«

»Ad eins, die Versetzung steht fest. Ad zwei, wir finden bestimmt problemlos einen Nachfolger.«

Zufrieden verabschiede ich mich vom Vizepolizeipräsidenten. »Erneut konnte ich feststellen, wie aufgeschlossen Sie sind«, sagt er zum Abschied.

3

Trotz Lobes und Glückwünschen habe ich meinen Uniformkomplex noch nicht überwunden. Die Frage, ob ich auf der Dienststelle in Zivil oder in Uniform erscheinen sollte, lässt mir keine Ruhe.

Schließlich entscheide ich mich für die zweite Lösung. Zum einen, weil mich meine Mitarbeiter am ersten Tag auf meinem neuen Posten in Uniform sehen sollen. Zum anderen, weil ich Veränderungen in der Mordkommission ankündigen muss. Die Uniform unterstreicht die Hierarchie und unterbindet zwecklose Diskussionen.

Unterwegs versuche ich die Eindrücke von diesem Tag zusammenzufassen, die einen Meilenstein in meinem Leben markieren. Die Glückwünsche des Ministers waren formeller Teil der Prozedur und werden mir nicht stark in Erinnerung bleiben, ganz anders als die offensichtliche Freude des Polizeipräsidenten und Vizepolizeipräsidenten.

Die größte Überraschung war Gikas’ Kommen. Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass er den ganzen Weg von Eretria bis zum Ministerium auf sich nehmen würde, um mir persönlich zu gratulieren. Ja, es stimmt, wir haben jahrelang zusammengearbeitet, mit ständigem Auf und Ab. Aber nie hat er sich anmerken lassen, wie sehr er mich wertschätzt. Das berührt mich nun doch.

Auch die Leitung der Mordkommission wurde geregelt. Ich habe die Ferleki fürs Erste akzeptiert und sechs Monate Zeit für die Entscheidung, ob sie die Stelle behält oder nicht. Der Vizepolizeipräsident ist ebenfalls zufrieden, weil sein Vorschlag erst einmal angenommen wurde.

Ich lasse den Seat in der Garage und fahre in die fünf‌te Etage hinauf. Stella springt bei meinem Anblick von ihrem Platz hoch und kommt auf mich zu.

»Herr Charitos, wie ich mich freue …« Sie hält inne und korrigiert sich. »Entschuldigung, Herr Kriminaldirektor«, sagt sie, während sie gleichzeitig alle Vorsicht außer Acht lässt und mir die Hand schüttelt.

»Sie können mich weiterhin Charitos nennen, dafür gibt es keinen Rüffel«, beruhige ich sie. Danach erzähle ich ihr von meiner Begegnung mit Gikas.

Sie hört mir lächelnd zu. »Als Rentner muss er sich nicht mehr so im Zaum halten«, bemerkt sie.

»Im Zaum halten?«

»Als seine langjährige Sekretärin weiß ich, dass er ein gefühlsbetonter Mensch ist. Aber in seiner Position musste er seine Gefühle verbergen. Jetzt als Rentner braucht er sich nicht mehr so eisern zu beherrschen.«

»Das erklärt Gikas’ Verhalten«, sage ich. Dann füge ich hinzu: »Können Sie Dermitsakis zu mir rufen?«

Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Es ist besser, meine Leute gleich über die Umgestaltungen in der Abteilung zu informieren. Denn noch ist die Lage ruhig, und es liegt kein schwieriger Fall vor.

Dermitsakis erblickt mich in Uniform und nähert sich mit breitem Lächeln. »Herr Kriminaldirektor, Glückwunsch!«, sagt er mit Nachdruck. »Nach all den gemeinsamen Jahren ist es mir eine große Freude, Ihnen zur Beförderung zu gratulieren.«

»Vielen Dank, Dermitsakis. Aber es gibt noch weiteren Grund zur Freude, setz dich.« Er nimmt Platz und schaut mich neugierig an. »Du wirst ebenfalls befördert, auf eine leitende Position«, kündige ich ihm an.

Sobald er seine Überraschung überwunden hat, erscheint das nächste breite Lächeln. »Auf eine leitende Position?«, wiederholt er ungläubig. »Wo? In der Mordkommission?«

»Nein, du wirst Leiter der Drogenfahndung.«

Das Lächeln bleibt auf seinem Gesicht, ergänzt um Fragezeichen. »Ihnen kann ich es ja sagen«, sagt er schließlich. »Lieber wäre mir die Leitung der Mordkommission.«

»Das verstehe ich, aber es geht nicht. Derzeit bist du Dienstältester und Erster unter Gleichen. Wenn du vom Kollegen zum Vorgesetzten wirst, gibt es böses Blut. Das wäre sowohl für dich als auch für das Team schlecht. Üblicherweise kombiniert man deswegen eine Beförderung mit einer Versetzung, um solche Misstöne zu vermeiden.«

»Ich weiß. Es ist pure Sentimentalität«, erwidert er und lächelt erneut. »Tja, dann tröste ich mich eben mit dem neuen Chefposten und komme leichter darüber hinweg.« Dann fügt er hinzu: »Jedenfalls bin ich Ihnen sehr dankbar. Ich weiß, dass Sie mich vorgeschlagen haben.«

Ich rufe Stella an und bitte sie, die übrigen Mitarbeiter der Abteilung zu mir zu rufen. Kurz darauf treten Koula, Askalidis und Dervissoglou ein, und wieder regnet es Glückwünsche.

»Ich habe Sie zu einer kurzen Lagebesprechung eingeladen. Bis jetzt hatte ich immer noch die Aufsicht über die Mordkommission. Das ist so nicht mehr möglich. Daher kommt es noch zu weiteren Veränderungen. Die erste betrifft Dermitsakis.«

Ich teile ihnen seine Versetzung auf einen Chefposten mit. Hier sind die Glückwünsche nicht nur herzlich, sondern werden von Umarmungen und Küssen begleitet.

»Und wer ist der neue Chef?«, will Koula von mir wissen.

Ich möchte Ferlekis Namen noch nicht nennen. Damit würde ich endlose Diskussionen, Telefonate und private Nachforschungen befeuern, die nur Schaden anrichten können. Lieber stelle ich sie vor vollendete Tatsachen.

»Es ist noch keine Entscheidung gefallen, die Gespräche laufen noch«, antworte ich. »Aber es geht nicht nur um den Leitungsposten. Die Dienststelle soll durch einen weiteren Mitarbeiter verstärkt werden, der Dermitsakis’ Stelle einnimmt.«

Die Jubelstimmung macht nachdenklichem Schweigen Platz, und Dermitsakis verlässt mit den anderen mein Büro. Ich bin sicher, dass in der anschließenden Diskussion Vermutungen geäußert und Hypothesen gewälzt werden. Jeder wird einen potenziellen Nachfolger ins Spiel bringen.

Stella kündigt mir an, dass mir die anderen Abteilungsleiter gratulieren wollen. Sie kommen einzeln herein, drücken mir die Hand und wenden sich gleich wieder zum Gehen. Der Erste, der etwas darüber hinaus zu sagen hat, ist Karambetsos von der Antiterrorabteilung.

»Eines würde ich gern wissen«, sagt er. »Nennen wir dich jetzt Kostas oder Herr Kriminaldirektor?«

»Wenn wir unter uns sind, könnt ihr mich nennen, wie ihr wollt. Aber vor Dritten sollten wir uns an die Formalitäten halten.«

Der Zweite, der einen Kommentar in petto hat, ist Vellidis von der Internetkriminalität. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie erleichtert wir waren. Unser neuer Vorgesetzter ist kein Unbekannter!«

»Mir geht es ganz genauso«, versichere ich ihm.

So endet die zweite Runde an Glückwünschen. Allein zurückgeblieben, nutze ich die Atempause, um die folgenden Schritte zu planen. Da Ferlekis Einstellung beschlossene Sache ist, brauche ich damit nicht weiter hinterm Berg zu halten. Das heizt nur die Gerüchteküche an und fördert Klatsch und Tratsch auf der Dienststelle.

Ich rufe den Vizepolizeipräsidenten an und schlage vor, dass Ferleki morgen in mein Büro kommt, damit ich sie dem Team vorstellen kann.

»Haben Sie ihre Bestellung zur Chefin schon angekündigt?«

»Nein, das wollte ich bei der Vorstellungsrunde machen, damit die anderen nicht im Vorfeld nach ihrem ›Täterprofil‹ fahnden.«

Wir einigen uns darauf, dass Antigoni Ferleki morgen um elf in mein Büro kommt.

Die Zeit ist reif, mich der Uniform zu entledigen. Sie hat ihren Zweck erfüllt. In Zukunft werde ich sie nur noch bei offiziellen Anlässen tragen.

Das erkläre ich auch Adriani, als ich nach Hause komme.

»Na schön, dann kommt sie zur Schonung in eine Kleiderschutzhülle«, sagt sie.

Guter Plan. Ich sehe eine lange Schonfrist voraus.

4

Im Büro eingetroffen, kündige ich Stella den Termin mit Ferleki an. Danach streiche ich alle weiteren Treffen und Gespräche von der Tagesordnung. In erster Linie will ich planen, wie ich die neue Leiterin der Mordkommission vorstelle.

Mein einziges Telefonat gilt dem Vizepolizeipräsidenten. »Wer informiert die übrigen Abteilungen über Ferlekis Einstellung, Sie oder ich?«

Er lacht auf. »Sie sind mit Ihren neuen Zuständigkeiten noch nicht vertraut. Alle, die informiert werden müssen, unterstehen Ihnen. Daher sollten Sie sie in Kenntnis setzen.«

Ich formuliere das Rundschreiben, behalte es aber noch in der Schublade. Es scheint mir besser, die anderen Abteilungen nicht vor Ferlekis Eintreffen zu informieren. Man stellt die Leute lieber vor vollendete Tatsachen und vermeidet diffuse Übergangsphasen. Dann trifft sie die Nachricht unverhofft, und bis sie sich von der Überraschung erholt haben, sind die neuen Umstände bereits unumstößliche Tatsachen, und sie lernen, damit zu leben.

Um Punkt elf kündigt mir Stella das Eintreffen von Antigoni Ferleki an.

Sie trägt Uniform. Das ist gut, denn es erleichtert das Verfahren. Ich frage sie, ob sie Kaffee möchte, aber sie lehnt höf‌lich ab. Ich komme gleich zur Sache.

»Die Mordkommission, Frau Kommissarin, ist eine Abteilung der Extreme, in der es entweder hoch hergeht oder völlige Flaute herrscht. Es kann sein, dass Sie in einem Fall wochenlang ohne Pause und unter ständigen Überstunden durch die Gegend hetzen und dann eine träge und öde Ruhephase folgt.«

Ich halte inne, da sie eine Frage haben könnte. Als sie schweigt, fahre ich fort. »Dazu kommt, dass bei Verbrechen die Ermittlungen vor Ort durchgeführt werden. Entweder am Tatort oder in den Wohngegenden der Beteiligten, seien es Zeugen oder Verdächtige. Die Vernehmungen, die im Präsidium stattfinden, haben dagegen einen ganz konkreten Anlass. Und zwar, wenn die Aussage offiziell aufgenommen wird oder wenn Kollegen am Verhör teilnehmen. Ich würde Ihnen empfehlen, sich jederzeit einen persönlichen Eindruck vom Fortgang der Ermittlungen zu verschaffen. Sie müssen den Überblick bewahren und dürfen sich nicht nur aus dem, was Ihnen die Kollegen überbringen, Ihre Meinung bilden.«

»Kann ich mich an Sie wenden und um Ihre Einschätzung bitten, bis ich genug Erfahrung gesammelt habe?«

»Meine Tür steht immer für Sie offen, Frau Kommissarin.«

»Danke, das beruhigt mich. Ich hätte da noch eine Bitte.«

»Aber gerne.«

»Nennen Sie mich einfach Antigoni. Das wollte ich auch meinen zukünftigen Mitarbeitern vorschlagen. Ich fühle mich wohler als Erste unter Gleichen.«

Sie überrascht mich immer wieder. »Gerne, aber ein Titel kann auch ein Schutzschild sein.«

Sie wirft mir wieder ihr entwaffnendes Lächeln zu. »In Griechenland ist die Gleichberechtigung weder durch die Linke noch durch gesellschaftlichen Fortschritt gekommen, Herr Kriminaldirektor. Die Gleichberechtigung ist mit dem Du-Wort verbunden. In anderen Sprachen gilt Duzen als unhöf‌lich, bei uns bedeutet es Gleichheit.«

Da habe ich mir was eingebrockt, sage ich mir. All die Jahre hat mir zu Hause Adriani mit ihren Argumenten den Wind aus den Segeln genommen, jetzt passiert mir im Dienst dasselbe.

»Das ist ein schöner Gedanke von Ihnen. Auf die Hierarchie können wir gerne verzichten, deshalb nennen Sie mich bitte nicht Herr Kriminaldirektor, sondern einfach Herr Charitos, nur wegen des Altersunterschieds.«

»Einverstanden«, sagt sie zufrieden.

Ich gebe Stella telefonisch Bescheid, dass sie das Team in mein Büro bestellen soll. Jetzt wird es ernst.

Alle kommen, auch Dermitsakis. Als sie die Ferleki in Uniform erblicken, stutzen sie kurz an der Tür. Man muss kein Prophet sein, um zu begreifen, dass die Frau, die mir am Schreibtisch gegenübersitzt, ihre neue Vorgesetzte ist.

»Darf ich euch Kommissarin Antigoni Ferleki vorstellen, die neue Leiterin der Mordkommission?«, sage ich.

Antigoni steht auf, um sie zu begrüßen. Statt Handschlag stoßen sie mit den Fäusten an. Sie blicken etwas unschlüssig drein, nur Koula nicht, sie lächelt.

»Sie haben das Wort«, sage ich zu Ferleki, sobald wir um den Konferenztisch sitzen.

Sie beginnt mit ihrem Lebenslauf und geht erst ins Detail, als sie auf ihre Dienstzeit bei Europol zu sprechen kommt.

»Die Arbeit bei Europol muss interessant sein«, bemerkt Dermitsakis, der sich am lockersten geben kann, weil er mit Ferleki nicht in einem Team zusammenarbeiten wird.

»Die meisten Fälle, die bei Europol landen, sind schwerwiegende Straf‌taten«, erläutert sie und wendet sich an die anderen. »Was ich bei Europol vor allem gelernt habe, ist, dass man diese Vergehen nur als Gruppe bekämpfen kann. Deshalb möchte ich im Kollektiv und mit flachen Hierarchien arbeiten. Ich möchte weder als Frau Abteilungsleiterin noch als Frau Kommissarin angesprochen werden, sondern mit Antigoni, meinem Namen.«

Mit ihrem Lächeln hat sie alle angesteckt, das Eis ist gebrochen.

»Ich heiße Koula.«

»Und ich Thanos«, sagt Askalidis.

»Mein Name ist Fotis«, sagt Dervissoglou.

Dermitsakis blickt sie an. »Ich bin Sokratis, aber wir werden nicht im selben Team sein. Ich teile dein Schicksal und übernehme die Leitung an einer anderen Dienststelle.«

»Wann können Sie Ihren Dienst antreten?«, frage ich sie.

»Geben Sie mir noch den heutigen Tag, um ein paar dienstliche Sachen zu erledigen. Ab morgen können Sie mir dann alles zeigen.«

»Gerade ist es ruhig, und wir haben alle Zeit der Welt, dich einzuarbeiten«, sagt Dervissoglou zu ihr.

Das Gespräch ist zu Ende, und die Ferleki verlässt das Büro. Ich lasse den Blick über meine Mitarbeiter gleiten und warte, dass sie sich äußern. Sie blicken sich an, um zu entscheiden, wer den Anfang macht.

»Ich weiß nicht, wie gut sie in ihrem Job ist, aber sie ist locker drauf und sympathisch«, sagt Dermitsakis, und die anderen nicken zustimmend.

»Stimmt, aber jetzt haben wir ein Problem«, bemerkt Dervissoglou.

»Ach ja?«

»Koula hat eine Verbündete gewonnen.«

Unser Gespräch endet unter Gelächter. Koula wartet, bis die anderen gegangen sind, und sagt dann: »Nicht ich habe eine Verbündete gewonnen, Sie haben mir ein Geschenk gemacht.«

Ich freue mich, dass es weder Genörgel noch Widerspruch gab. Wir werden sehen, ob es dabei bleibt. Ich hole das Rundschreiben zu Ferlekis Bestellung hervor und übergebe es Stella zur Weiterleitung an die anderen Abteilungen. Als ich auf dem Weg zurück in mein Büro bin, läuft sie mir hinterher.

»Die Beamtin, die heute Morgen hier war, wird Leiterin der Mordkommission?«, fragt sie perplex.

»Steht das nicht im Rundschreiben?«

»Herr Charitos, seit Sie Kriminaldirektor sind, rücken Sie dem verrosteten System aber mächtig zu Leibe. Eine Frau an der Spitze der Mordkommission? Ich bin sprachlos!«, sagt sie anerkennend, bevor sie geht.

In dem Tempo feiern wir in der Polizeidirektion Attika bald jedes Jahr den Frauentag.

Auf Ferlekis Amtsantritt erwarte ich keine unmittelbare Reaktion. Sollte jemand eine spitze Bemerkung machen wollen, wird er die passende Gelegenheit abwarten. Außerdem kommt dieser Moment der Ruhe nicht nur Ferlekis Einarbeitungsphase entgegen. Auch die neue Realität wird so, ohne Hin und Her und Wenn und Aber, leichter akzeptiert.

Eine ereignislose Stunde später meldet sich Stella bei mir. »Kommissar Sonaras fragt, ob Sie Zeit für ein Gespräch hätten.«

»Ja, sagen Sie ihm, er kann kommen.«

Sonaras leitet die Abteilung für Interne Ermittlungen, und ich frage mich, was sein Besuch zu bedeuten hat. Mit der Ferleki kann es nichts zu tun haben. Darüber hätte mich der Vizepolizeipräsident informiert. Plötzlich fällt mir Dermitsakis’ Beförderung ein, und ich bekomme eine Hitzewallung. Bis er auf‌taucht, sitze ich auf glühenden Kohlen. Zum Glück tritt er mit einem Lächeln ein, das beruhigt mich etwas.

»Außer deiner Beförderung stehen doch noch weitere Neubesetzungen an, oder?« Er verstummt und blickt mich an, als wäre ihm gerade ein Gedanke gekommen. »Soll ich Sie vielleicht anders ansprechen, Herr Kriminaldirektor?«

»Nein, nenn mich Kostas, wie immer. Blut ist dicker als Wasser, und alte Gewohnheiten soll man nicht ändern.«

Er entspannt sich sofort. »Schön. Ich habe gehört, dass ihr einen Ersatzmann für Dermitsakis sucht.«

»Ja, wir müssen einen Nachfolger finden.«

»Ich habe einen Kriminalhauptwachtmeister in meiner Abteilung, Jannis Kollias. Er hat einen scharfen Verstand und einen Abschluss in Kriminologie, aber bei uns erstickt er in bürokratischem Kleinkram. Er verschwendet sein Talent, und das ist schade. Ich dachte, du könntest mit ihm reden. Wenn du denkst, dass er geeignet wäre, könnte man ihn in die Mordkommission versetzen. Es wäre jammerschade, ihn bei uns versauern zu lassen.«

»Er soll gleich zu mir kommen. Ich habe gerade nichts zu tun und würde ihn gern kennenlernen.«

»Ich hoffe, dass er dir gefällt«, sagt er, bevor er geht.

Wenn dieser – wie sagte Sonaras noch? – Kollias sich als geeignet erweist, dann könnten wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und Ferleki und ihn zusammen einarbeiten.

Jannis Kollias kommt auf der Stelle zu mir. Er ist Mitte dreißig. Er stellt sich vor und nimmt mir gegenüber Platz, und ich beginne mit den Fragen.

»Ihr Vorgesetzter hat mir erzählt, dass Sie aus der Abteilung für Interne Ermittlungen wegwollen. Können Sie mir die Gründe erklären?«

»Mich interessiert die Ermittlungsarbeit und die Recherche, Herr Kriminaldirektor«, antwortet er freiheraus. »Es gefällt mir, Zusammenhänge aufzudecken, die zur Aufklärung eines Falles führen können. Auf meiner jetzigen Stelle beurteile ich Anzeigen wegen widerrechtlichen Verhaltens und verfasse dazu Berichte. Am Ende des Arbeitstages bin ich völlig fertig. Ich halte diesen Alltagstrott nicht mehr aus.«

»Sie haben Kriminologie studiert, höre ich?«

»Ja, aus den eben erwähnten Gründen.«

»Haben Sie Ermittlungserfahrung?«

»Ja, aus meinem Dienstjahr in der Antiterrorabteilung«, antwortet er. »Aber dann wurde ich an die Abteilung für Interne Ermittlungen versetzt, wo ich einen reinen Routinejob mache.«

»Gut, die Informationen reichen mir erst einmal.«

Sobald er gegangen ist, rufe ich den Vizepolizeipräsidenten an und bringe ihn auf den neuesten Stand. »Sein leidenschaftliches Plädoyer für die Ermittlungsarbeit hat einen guten Eindruck hinterlassen. Auch sein Kriminologie-Studium ist ein zusätzliches Plus.«

»Dann sollten wir nicht weitersuchen. Wir stellen ihn auf Probe ein, wie die Ferleki. Wie ist das erste Treffen mit ihren neuen Kollegen überhaupt verlaufen?«

»Sie hat die Fähigkeit, sofort Kontakt zu den Leuten aufzubauen. Das hat mich bisher am meisten an ihr beeindruckt.«

Ich gebe ihm unsere Unterhaltung über Gleichberechtigung wieder, und er reagiert amüsiert. »Sie ist hochintelligent, und ich glaube, dass Sie mit ihr zufrieden sein werden«, sagt er zum Abschluss.

5

Antigoni Ferleki ist schon vor mir da und wartet im Vorzimmer auf mich. Wir gehen in mein Büro, und ich berichte ihr von meinem Gespräch mit Kollias.

»Ich werde ihn herbitten, damit Sie ihn kennenlernen. Dann können die Kollegen Sie einarbeiten«, sage ich.

Zuerst rufe ich Sonaras an. »Der Vizepolizeipräsident ist einverstanden, die Versetzung ist abgesegnet.«

»Es freut mich, dass Jannis Sie überzeugen konnte. In der Mordkommission ist er am richtigen Platz«, antwortet er zufrieden.

»Die offizielle Bestellung folgt demnächst. Hat er noch irgendetwas abzuarbeiten?«

»Ich werde ihn fragen, aber ich denke nicht, dass etwas Dringendes vorliegt.«

»Schön, dann soll er zu uns kommen und die Abteilungsleiterin und seine neuen Kollegen kennenlernen.«

Kollias taucht kurze Zeit später auf. Ganz verwirrt vor Glück und Freude verwundert es ihn kaum, dass die Leitung der Mordkommission in weiblicher Hand liegt.

Ich beginne mit der Vorstellungsrunde. Askalidis reagiert als Erster.

»Jannis, nicht zu glauben! Sind wir jetzt direkte Kollegen?«, sagt er freudig überrascht.

»Kennt ihr euch?«, frage ich.

»Wir waren zusammen auf der Polizeischule und dann kurz in derselben Dienststelle«, erklärt mir Askalidis.

»Manchmal passieren Dinge genau zur richtigen Zeit«, sagt Dermitsakis. »Heute ist mein Versetzungsschreiben gekommen. Der eine kommt, der andere geht. So ist das Leben.«

Ich regle den Ablauf der Einarbeitungsphase und biete Ferleki und Kollias an, mit Fragen zu mir zu kommen. Dann kehre ich in mein Büro zurück.

Anscheinend passieren die Dinge wirklich genau zur richtigen Zeit, wie es Dermitsakis ausgedrückt hat. Als ich in der Mordkommission alles erledigt habe, ruft mich der Vizepolizeipräsident an.

»Vom Polizeipräsidenten habe ich gerade erfahren, dass die multinationale Unternehmergruppe morgen ankommt. Das Besuchsprogramm kann jeden Moment eintreffen. Der Polizeipräsident ist der Meinung, wir sollten uns treffen und die Planung angehen, bevor der Minister Druck macht.«

Ich informiere Stella über das Treffen mit dem Polizeipräsidenten und bitte sie, mir einen Streifenwagen zu sichern. Diesmal kann ich mir keine Verzögerungen durch mein Privatfahrzeug leisten.

Ich gehe direkt zum Büro des Polizeipräsidenten. Der Vizepräsident ist schon bei ihm. Auf dem Konferenztisch liegen drei bedruckte Seiten, offensichtlich das Besuchsprogramm der Unternehmer.

»Die halten uns auf Trab«, sagt der Polizeipräsident zu mir, als ich Platz nehme. »Sie grasen ganz Griechenland ab.«

Zur Erläuterung schiebt er mir das Programm herüber. Nach einem kurzen Blick darauf muss ich ihm recht geben. Die Unternehmer brechen von Attika auf, besuchen die Peloponnes, fahren nach Vergina im Norden und beenden ihre Reise auf Euböa.

»Wissen wir, was der genaue Sinn und Zweck ihres Besuchs ist?«

Der Polizeipräsident antwortet nicht sofort. »Hier scheiden sich die Geister. Zum einen gilt das, was der Minister an Ihrem ersten Diensttag gesagt hat. Sie wollen einen Ort für ihre Firmensitze finden. Ihr Hauptaugenmerk gilt dem durch Waldbrände zerstörten Teil von Euböa. Dazu kommen diffuse Gerüchte über ein Revival der athenischen Demokratie, um Platons Idealstaat nachzueifern. Ich wiederhole: Wir wissen nichts Konkretes. Momentan haben wir nur unbestätigte Gerüchte, ihre Absichten kennen wir nicht.«

»Wir haben den Minister nach mehr Details gefragt, aber er konnte uns auch nichts sagen, da die Gespräche direkt mit dem Ministerpräsidenten stattfinden«, fügt der Vizepolizeipräsident hinzu.

»Momentan können wir nur die lokalen Polizeidirektionen in den angepeilten Gegenden informieren, damit sie Zeit haben, sich vorzubereiten. Sobald wir den genauen Besuchstermin in jeder Provinz wissen, melden wir uns wieder bei den dortigen Kollegen«, sagt der Polizeipräsident und wendet sich an mich. »Eines ist klar: Die Verantwortung für Attika liegt bei Ihnen.«

»Einverstanden, aber wir müssen die Abteilung für Kulturerbe und Altertümer einbeziehen. Nur dann können wir sicherstellen, dass trotz der chaotischen Programmplanung nichts passiert«, sage ich zu ihm.

»Richtig, und ich möchte, dass Sie das übernehmen.«

Zum Glück werden wir bis zum Ende unserer Besprechung nicht zu einem spontanen Termin beim Minister einbestellt. Ich kehre lieber schnell zum Alexandras-Boulevard zurück, bevor ich im Ministerium an der Katechaki-Straße hängenbleibe.

Ich bitte Stella, den Abteilungsleiter für Kulturerbe und Altertümer schnellstens in mein Büro zu bestellen. Ich kenne Saraf‌idis nur dem Namen nach, wir haben noch nicht zusammengearbeitet.

Stella gibt mir Bescheid, dass er in spätestens einer Dreiviertelstunde im Präsidium sein wird. In der Zwischenzeit lasse ich die Mordkommission kommen, um zu hören, wie sich die Einweisung von Ferleki und Kollias entwickelt.

Kurz darauf marschiert eine glückliche Familie herein. Lächelnd nehmen sie mir gegenüber Platz. Die gute Laune beschränkt sich diesmal nicht auf Koula, sie ist allgemein.

»Nun? Wie geht die Einarbeitung voran?«