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Im Jahr 1864, kurz bevor er mit Schuld und Sühne, Der Idiot, Die Besessenen und Die Brüder Karamasow seine größten Romane schrieb, verfasste Dostojewski mit den düsteren und faszinierenden Aufzeichnungen aus Kellerloch seinen wohl revolutionärsten Roman. In einigen anderen Übersetzungen wird auch der Titel Aufzeichnungen aus dem Dunkel oder Notizen aus dem Untergrund verwendet. Die namenlose Hauptfigur der Erzählung, ist ein ehemaliger Beamter, ein Antiheld par excellence, der sich trotzig in sein Untergrunddasein zurückgezogen hat. In völliger Abkehr von der Gesellschaft schreibt er eine leidenschaftliche, obsessive, in sich widersprüchliche Erzählung, die als verheerender Angriff auf den sozialen Utopismus und als Behauptung der im Wesentlichen irrationalen Natur des Menschen dient. Im zweiten Teil des Romans Bei nassem Schnee erzählt der Mann aus dem Kellerloch von seiner Jugend und einigen prägenden Erlebnissen. Wir erfahren, dass er ein Waisenkind war. Es gab in seiner Jugend keine Person, die ihm irgendeine Art von Liebe oder angemessene menschliche Nähe zuteilwerden ließ. Sein Glaube, dass die Menschen ihn immer als unzureichend ansehen werden, stammt aus seiner Kindheit und der Art und Weise, wie die Menschen ihn einst behandelten. Aber auch im Erwachsenenalter plagen ihn seine Minderwertigkeitsgefühle. Die Prostituierte Liza ist für den Mann aus dem Kellerloch die letzte Chance, mit jemandem eine echte Beziehung zu führen. Nachdem sie unzählige Male von ihm verspottet wird, erkennt Liza, dass seine Persönlichkeit das Ergebnis seiner Unzufriedenheit ist. Immer wenn er versuchte, ein normales Leben zu führen und gut zu sein, wurde er abgelehnt und verspottet. Aber auch gegenüber Liza mangelt es ihm an Vertrauen, und so stößt er sie von sich und zieht sich endgültig in sein Kellerloch zurück.
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Seitenzahl: 212
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Aufzeichnungen aus dem Kellerloch
Fjodor M. Dostojewski (1864)
Übersetzung durch Fritz Nordsieck (2021)
Aureon Verlag GmbH (Alle Rechte vorbehalten)
INHALTSVERZEICHNIS
TEIL I
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
TEIL II
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
Der Autor des Tagebuches und das Tagebuch selbst sind natürlich frei erfunden. Trotzdem ist wohl klar, dass es solche Leute wie den Verfasser der Aufzeichnungen in unserer Gesellschaft nicht nur geben kann, sondern sogar geben muss, wenn wir die Umstände bedenken, unter denen sich unsere Gesellschaft gebildet hat. Ich wollte dem Publikum deutlicher, als es sonst zu geschehen pflegt, einen Repräsentanten der jüngsten Vergangenheit vor Augen führen. Er gehört einer Generation an, die zurzeit noch am Leben ist. In diesem Fragment stellt er sich selbst und seine Anschauungen vor und bemüht sich gewissermaßen darum, die Gründe für sein Auftauchen zu erklären und warum er notwendigerweise bei uns auftauchen musste. Mit dem folgenden Text beginnen die wirklichen Aufzeichnungen dieses Menschen, in denen er sich zu bestimmten Ereignissen in seinem Leben äußert.
Ich bin ein kranker Mensch ... Ich bin ein gehässiger Mensch. Und ich bin kein attraktiver Mensch. Ich glaube, meine Leber ist krank. Übrigens habe ich keinen blassen Dunst von meiner Krankheit und weiß gar nicht genau, was an mir krank ist. Ich gehe deswegen auch nicht zum Arzt, obwohl ich vor der Medizin und den Ärzten die größte Hochachtung habe. Zudem bin ich noch überaus abergläubisch, so abergläubisch, dass ich vor der Medizin alle Achtung habe. (Ich bin gebildet genug, um nicht abergläubisch zu sein, ich bin es aber trotzdem.) Nein, wenn ich für meine Gesundheit nichts tue, so geschieht dies aus reiner Bosheit. Sie werden das sicher nicht verstehen. Ich aber verstehe es. Ich kann Ihnen natürlich nicht klarmachen, wem ich mit meiner Bosheit schade. Ich weiß auch ganz genau, dass ich den Ärzten dadurch gar nicht schaden kann, indem ich mich nicht von ihnen behandeln lasse. Ich weiß am allerbesten, dass ich damit einzig und allein mir selbst schade und sonst niemandem. Und dennoch, wenn ich nichts für meine Gesundheit tue, so geschieht dies aus reiner Bosheit und wenn die Leber krank ist, dann soll sie ruhig noch kränker werden!
Ich lebe schon lange so – seit fast zwanzig Jahren. Jetzt bin ich vierzig. Früher habe ich für die Regierung gearbeitet. Aber jetzt nicht mehr. Ich war ein boshafter Beamter. Ich war unverschämt und es hat mir Spaß gemacht. Ich war unbestechlich, folglich musste ich mich wenigstens damit schadlos halten. (Ein fauler Witz; aber ich streiche ihn nicht durch. Ich schrieb ihn hin in dem Glauben, er würde sich sehr geistreich ausnehmen; aber jetzt, da ich selbst sehe, dass ich mit diesem Witz nur erbärmlich angeben wollte – jetzt streiche ich ihn erst recht nicht durch!)
Wenn sich dem Schreibtisch, an dem ich saß, Bittsteller mit Anfragen näherten, fuhr ich sie an und empfand tiefste Genugtuung, wenn es mir gelang, jemanden einzuschüchtern. Und das gelang mir fast immer. Meistens waren das recht schüchterne Leute: Eben Bittsteller. Unter den Dreisteren gab es einen Offizier, den ich nicht ausstehen konnte. Er wollte nicht klein beigeben und rasselte geradezu widerwärtig mit seinem Säbel. Wegen dieses Säbels habe ich anderthalb Jahre lang mit ihm Krieg geführt und am Ende habe ich gesiegt. Er unterließ das Rasseln. Aber das geschah noch in meinen jüngeren Jahren.
Wissen Sie auch, meine Herrschaften, was der Hauptgrund für meine Bosheit war? Das war es ja, darin lag ja die größte Gemeinheit, dass ich mir, selbst im Augenblick der schlimmsten Wut, immer und immer wieder schmählich eingestehen musste, dass ich nicht nur kein böser, sondern nicht einmal ein boshafter Mensch war, sondern die Leute nur erschreckte, weil ich daran mein Vergnügen hatte. Ich habe Schaum vor dem Mund, aber bringt mir irgendein Püppchen und gebt mir ein Tässchen Tee mit Zucker und ich werde mich wahrscheinlich besänftigen lassen. Ich werde gerührt sein, wenn ich mich auch nachher wahrscheinlich selbst zerfleischen und vor lauter Scham monatelang an Schlaflosigkeit leiden werde. Das ist nun einmal meine Art.
Übrigens habe ich vorhin gelogen, als ich sagte, dass ich ein boshafter Beamter gewesen sei. Aus Bosheit habe ich gelogen. Ich habe mich nur über die Leute amüsiert, sowohl über die Bittsteller als auch über den Offizier, aber in Wirklichkeit konnte ich niemals böse werden. Ich war mir immer meiner vielen widersprüchlichen Regungen bewusst. Ich wusste, dass es in mir nur so wimmelte vor lauter widersprüchlicher Regungen. Ich wusste, dass sie ein ganzes Leben lang in mir wimmelten und aus mir herauswollten, aber ich ließ sie nicht heraus. Ich ließ sie nicht heraus, ich ließ sie absichtlich nicht heraus. Sie quälten mich bis zur Scham; sie brachten mir nervöse Zuckungen ein, und – ich wurde sie schließlich leid, maßlos leid! Meine Herrschaften, glauben Sie wirklich, dass ich jetzt vielleicht Ihnen gegenüber irgendetwas bereue? Dass ich Sie wegen irgendetwas um Verzeihung bitte? Ich bin überzeugt davon, dass Sie das denken ... Übrigens, ich versichere Ihnen, dass es mir völlig gleich ist, was Sie denken. ...
Nicht nur, dass ich es nicht fertigbrachte, böse zu werden, ich brachte es nicht einmal fertig, überhaupt etwas zu werden, weder gut noch böse, weder ein Ehrenmann noch ein Gauner, weder ein Held noch ein Insekt. Jetzt friste ich die Tage in meiner Bruchbude und tröste mich – bösartig und zugleich sinnlos – damit, dass ein kluger Mensch überhaupt nie ernsthaft etwas werden kann und nur ein Dummkopf jemals etwas wird. Ja, der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts muss ein im Wesentlichen ein charakterloses Wesen sein und er ist sogar moralisch dazu verpflichtet. Dagegen ist ein charakterfester Mensch – ein aktiver Mensch – doch ein im Großen und Ganzen sehr beschränktes Wesen. Dies ist jedenfalls seit vierzig Jahren meine Überzeugung. Ich bin jetzt vierzig Jahre alt und vierzig Jahre – das ist doch das ganze Leben – das ist schon ein extrem hohes Alter. Länger als vierzig Jahre zu leben ist unanständig, trivial und unsittlich. Wer lebt denn schon länger als vierzig Jahre? Antworten Sie aufrichtig und ehrlich. Ich kann Ihnen sagen, wer über vierzig Jahre lebt: Dummköpfe und Spitzbuben. Ich will das allen Greisen ins Gesicht sagen, all diesen ehrwürdigen Greisen, all diesen silberhaarigen und parfümierten Greisen! Ich sage es der ganzen Welt ins Gesicht! Ich habe das Recht, das zu sagen, weil ich selbst mindestens sechzig Jahre alt werden werde! Ich werde siebzig werden! Ich werde achtzig werden! Warten Sie! Lassen Sie mich Atem holen. ...
Sie glauben wahrscheinlich, meine Herrschaften, ich möchte Sie zum Lachen bringen, aber auch da irren Sie sich. Ich bin durchaus kein so lustiger Mensch, wie es Ihnen vorkommt, oder wie es Ihnen vielleicht vorkommen mag. Sollten Sie aber, verärgert über dieses Geschwätz (zumindest habe ich das Gefühl, dass Sie verärgert sind), auf den Gedanken kommen, mich zu fragen, wer ich denn eigentlich sei – so werde ich Ihnen antworten: Ich bin ein akademischer Gutachter. Ich war nur im Staatsdienst, um nicht zu verhungern (einzig und allein aus diesem Grund) und als mir letztes Jahr ein entfernter Verwandter testamentarisch sechstausend Rubel hinterließ, nahm ich sofort meinen Abschied und ließ mich hier in meinem Schlupfwinkel nieder. Ich habe schon früher an diesem Ort gelebt, jetzt aber ließ ich mich endgültig hier nieder. Mein Zimmer ist ein elendes, scheußliches Loch am Rande der Stadt. Meine Aufwartefrau ist ein Bauernweib, alt und vor lauter Dummheit bösartig und zudem riecht sie ständig unausstehlich penetrant. Man sagt mir, das Petersburger Klima würde mir schaden und Petersburg sei für meine kümmerlichen Mittel auch viel zu teuer.
Ich weiß das alles ganz genau, besser als diese erfahrenen und überklugen Ratgeber und Besserwisser. Aber ich bleibe in Petersburg; ich werde Petersburg nicht verlassen. Ich werde es nicht verlassen, weil ... nun ja! Aber es ist doch vollkommen gleichgültig, ob ich nun von hier weggehe oder nicht. Übrigens: worüber kann ein anständiger Mensch schon mit dem größten Vergnügen reden?
Antwort: Über sich selbst! Also werde auch ich über mich selbst reden.
Meine Herrschaften, jetzt möchte ich Ihnen erzählen, ganz gleich, ob Sie es hören wollen oder nicht, warum ich es nicht einmal verstand ein Insekt zu werden. Ich möchte feierlich erklären, dass ich schon mehrere Male ein Insekt werden wollte. Doch nicht einmal dazu ist es gekommen. Ich schwöre Ihnen, meine Herrschaften, dass zu viel Bewusstsein eine Krankheit ist, eine richtige, regelrechte Krankheit. Für den alltäglichen menschlichen Bedarf wäre ein gewöhnliches menschliches Bewusstsein mehr als genug, also etwa die Hälfte oder ein Viertel jener Portion, die dem entwickelten Menschen unseres unglücklichen neunzehnten Jahrhunderts zukommt, der dazu noch das besondere Unglück hat, in Petersburg zu leben, der abstraktesten und am meisten ausgedachten Stadt der ganzen Welt. (Es gibt ausgedachte und nicht ausgedachte Städte.) So würde zum Beispiel jenes Bewusstsein, mit dem alle sogenannten unmittelbaren Menschen, die Tatmenschen, leben, vollkommen ausreichen. Ich könnte wetten, Sie glauben jetzt, dass ich dies aus Anmaßung schreibe, um mich über die Tatmenschen lustig zu machen, noch dazu aus einer Anmaßung von allerschlechtestem Geschmack, dass ich mit dem Säbel rassle, wie mein Offizier. Aber meine Herrschaften, wer könnte denn auf seine Krankheit und auf seine Leiden stolz sein? Wer könnte sich damit brüsten? Übrigens, was sage ich? – Alle tun das. Man prahlt mit seinen Krankheiten und ich – meinetwegen – mehr als alle anderen. Streiten wir nicht darüber: mein Einwand ist absurd. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass nicht nur zu viel Bewusstsein, sondern überhaupt jegliches Bewusstsein eine Krankheit ist. Ich bestehe darauf. Aber lassen wir auch dieses Thema für einen Augenblick links liegen. Sagen Sie mir bitte folgendes: Wie kommt es wohl, dass ich ausgerechnet dann, als ich mir aller Feinheiten „des Schönen und Erhabenen“ bewusst war (wie man so schön zu sagen pflegte), nicht nur an schändliche Dinge dachte, sondern tatsächlich schändliche Dinge tat, … Handlungen, die vielleicht von allen begangen werden, die aber von mir gerade dann begangen wurden, als ich am deutlichsten erkannte, dass man sie eigentlich nie begehen sollte? Je mehr ich von der Erkenntnis des Guten und von all diesem „Schönen und Erhabenen“ durchdrungen war, umso tiefer versank ich in meinem Schlamm, umso eher war ich bereit, völlig in ihm steckenzubleiben. Doch das Wichtigste war, dass all dies nicht zufällig geschah, sondern es passierte so, als müsste es so sein, als sei dies mein allernormalster Zustand, durchaus nicht Krankheit und Makel, so dass mir schließlich die Lust verging, gegen diesen Makel anzukämpfen. Es endete damit, dass ich schon fast glaubte (vielleicht habe ich es ja tatsächlich geglaubt), dies sei unter diesen Umständen mein eigentlicher, normaler Zustand. Wie viele Qualen habe ich jedoch anfangs in diesem Kampf ausgestanden! Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es anderen ebenso erging und verbarg es mein Leben lang wie ein Geheimnis. Ich schämte mich (vielleicht schäme ich mich sogar jetzt noch); es kam so weit, dass ich einen heimlichen, abnormalen, gemeinen Genuss empfand, wenn ich in einer der ekelhaftesten Petersburger Nächte in meinen Schlupfwinkel zurückkehrte und dabei mit aller Deutlichkeit einsah, dass ich heute wieder eine Gemeinheit begangen hatte, dass das Getane auf keine Weise ungeschehen gemacht werden konnte und mich dafür innerlich zu zerfleischen und zu foltern begann, so lange, bis die Verbitterung sich schließlich in irgendeine schmähliche, verfluchte Süße verwandelte – in einen entschiedenen, wirklichen Genuss. Ja, in einen Genuss – in echten einen Genuss! Ich bestehe darauf. Deswegen habe ich doch überhaupt nur angefangen darüber zu sprechen, weil ich schon immer ganz genau wissen wollte: Empfinden die anderen auch derlei Genüsse? Ich werde es Ihnen erklären; der Genuss liegt gerade in dem allzu grellen Bewusstsein der eigenen Erniedrigung; in dem Bewusstsein, dass man an der letzten Mauer angelangt ist; dass es zwar schändlich ist, aber auch nicht anders sein kann; dass man keinen Ausweg hat, dass man nie und nimmer ein anderer Mensch werden wird; dass, selbst wenn man noch Zeit und Glauben hätte, sich in etwas anderes zu verwandeln, man wahrscheinlich selbst eine solche Veränderung nicht wollte. Wenn man sie aber will, so kann man doch nichts machen, weil es im Grunde genommen vielleicht gar nichts gibt, in das man sich verändern könnte. Aber in der Hauptsache und letzten Endes läuft das alles nach den normalen und fundamentalen Gesetzen des gesteigerten Bewusstseins und der Trägheit ab, die sich unmittelbar aus diesen Gesetzen ergibt. Folglich kann man sich nicht nur nicht verändern, sondern man kann überhaupt nichts ändern. Zum Beispiel ergibt sich aus dem gesteigerten Bewusstsein: Stimmt, du bist ein Gauner – als ob es für den Gauner ein Trost wäre, wenn er schon selbst empfindet, dass er tatsächlich ein Gauner ist. Aber genug... Ich habe viel geschwatzt, ist aber dadurch etwas geklärt? Wodurch lässt sich dieser Genuss erklären? Aber ich werde es erklären, ich werde es schon zu Ende führen! Deswegen habe ich schließlich zur Feder gegriffen...
Ich bin zum Beispiel ganz furchtbar ehrgeizig. Ich bin argwöhnisch und empfindlich wie ein Buckliger oder ein Zwerg, aber offen gestanden, ich habe auch Augenblicke erlebt, in denen ich, wäre ich von jemandem geohrfeigt worden, mich sogar darüber gefreut hätte. Im Ernst: Ich hätte es bestimmt verstanden, auch darin einen Genuss eigener Art zu entdecken, einen Genuss der Verzweiflung, versteht sich. Aber gerade in der Verzweiflung liegen die verzehrendsten Genüsse, besonders, wenn man die Aussichtslosigkeit seiner Lage deutlich erkennt. Bei der Ohrfeige wird man ja förmlich von dem Bewusstsein der eigenen Erniedrigung erdrückt. Wie man es auch dreht und wendet, das Wichtigste ist, dass ich als erster an allem schuld bin, und zwar – und das ist das kränkendste, schuldlos schuldig – sozusagen gemäß der Natur der Dinge. Erstens deshalb, weil ich klüger bin als alle, die mich umgeben (ich habe mich stets für klüger gehalten als alle, die mich umgaben, und das war mir manchmal peinlich – glauben Sie mir – jedenfalls habe ich mein Leben lang immer irgendwie zur Seite gesehen und niemals den Menschen gerade in die Augen blicken können). Und schließlich bin ich deshalb schuldig, weil ich, selbst wenn ich großmütig gewesen wäre, infolge des Bewusstseins der ganzen Nutzlosigkeit dieser Großmut nur noch mehr gelitten hätte. Ich hätte doch bestimmt nichts mit meinem Großmut anzufangen gewusst; weder zu verzeihen – der Beleidiger hatte mich vielleicht aus einer Naturgesetzmäßigkeit heraus geohrfeigt, und der Naturgesetzmäßigkeit hat man nicht zu verzeihen, aber man kann es auch nicht vergessen, denn wenn es auch eine Naturgesetzmäßigkeit ist, so bleibt es doch eine Beleidigung. Und schließlich, hätte ich mich entschlossen, durchaus nicht großmütig zu verfahren und mich, ganz im Gegenteil, am Beleidiger zu rächen, so hätte ich mich doch für nichts und an niemandem rächen können, weil ich wahrscheinlich gar nicht gewagt hätte, etwas zu tun, selbst wenn ich gekonnt hätte. Warum hätte ich es nicht gewagt? Darauf möchte ich mit einigen Worten eingehen.
Wie ergeht es denn Menschen, die es verstehen, sich zu rächen, und die überhaupt verstehen, sich zu behaupten? Wenn sie von Rachsucht gepackt werden, bleibt von ihrem ganzen Wesen überhaupt nichts mehr übrig außer dem einen Gefühl. Ein Herr von dieser Sorte rast denn auch sofort wie ein wildgewordener Stier mit gesenkten Hörnern auf das Ziel los, und höchstens eine Mauer kann ihn noch zum Stehen bringen. (Bei dieser Gelegenheit sei noch bemerkt: Vor einer Mauer geben sich solche Herrschaften, will sagen die Unmittelbaren und die Tatmenschen, immer leicht geschlagen. Für sie ist die Mauer kein Einspruch, wie zum Beispiel für uns denkende und folglich tatenlose Menschen; kein Vorwand, auf dem Wege umzukehren, ein Vorwand, der für unsereinen meistens unglaubwürdig, aber stets willkommen ist. Nein, sie geben sich bedenkenlos geschlagen. Die Mauer hat für sie stets etwas Beruhigendes, moralisch Eindeutiges und Endgültiges, meinetwegen sogar etwas Mystisches... (Doch von der Mauer später.)
Also gerade diesen unmittelbaren Menschen halte ich für den eigentlichen, den normalen Menschen, wie ihn die zärtliche Mutter Natur selbst wollte, als sie ihn liebenswürdigerweise auf Erden entstehen ließ. Bei der Betrachtung eines solchen Menschen werde ich grün vor Neid. Er ist dumm. Darüber will ich mit Ihnen nicht streiten, vielleicht muss der normale Mensch ja dumm sein, woher wollen Sie das wissen? Vielleicht ist das ja gut so. Nehmen wir beispielsweise die Antithese des normalen Menschen, also den überbewussten Menschen, der selbstverständlich nicht dem Schoß der Natur, sondern der Retorte entsprungen ist (mir scheint, das ist schon fast Mystizismus, meine Herrschaften), weil dieser Retortenmensch zuweilen dermaßen vor seiner Antithese versagt, dass er sich selbst samt seinem Überbewusstsein in aller Aufrichtigkeit für eine Maus hält, nicht aber für einen Menschen. Mag er auch eine überbewusste Maus sein, er ist doch nur eine Maus, jener aber ist ein Mensch und daraus folgt alles andere. Die Hauptsache aber ist, er selbst hält sich für eine Maus. Niemand verlangt es von ihm und das ist ein wichtiger Umstand. Betrachten wir nun diese Maus in Aktion. Nehmen wir zum Beispiel an, dass sie auch beleidigt ist (und sie ist fast immer beleidigt) und sich ebenfalls rächen will. Bosheit kann sich in ihr noch mehr ansammeln als in dem Menschen der Natur und der Wahrheit. Der gemeine niedrige Wunsch, dem Beleidiger mit derselben Münze heimzuzahlen, macht sich in ihr noch widerlicher bemerkbar als in dem Menschen der Natur und der Wahrheit, denn dieser Mensch der Natur und der Wahrheit hält bei seiner angeborenen Dummheit die Rache ganz einfach für Gerechtigkeit. Die Maus aber muss infolge ihres gesteigerten Bewusstseins eine solche Gerechtigkeit verneinen. Schließlich kommt es zur Ausführung, zum Racheakt selbst. Die unglückliche Maus hat es bereits fertiggebracht, außer der einen ursprünglichen Gemeinheit noch so viele neue Gemeinheiten in Gestalt von Fragen und Zweifeln aufzutürmen, sie hat an die eine Frage so viele ungelöste Fragen geknüpft, dass sich um sie herum notwendigerweise eine verhängnisvolle Pfütze ansammelt, ein stinkender Schlamm, bestehend aus ihren Zweifeln, ihrer Erregung und schließlich aus dem Geifer, der auf sie von all den unmittelbaren Tatmenschen niederregnet, die sie als Richter und Diktatoren in feierlichem Kreis umgeben und aus vollem Halse über sie lachen. Selbstverständlich bleibt ihr nichts anderes übrig, als mit ihrem Pfötchen eine geringschätzige Gebärde zu machen und sich mit einem Lächeln vorgetäuschter Verachtung, an die sie selbst nicht glaubt, schmählich in ihr Mauseloch zurückzuziehen. Dort in ihrem scheußlichen stinkenden Kellerloch versinkt unsere beleidigte, geprügelte und verhöhnte Maus unverzüglich in kalte, giftige und vor allem ewig andauernde Bosheit. Volle vierzig Jahre lang wird sie sich an die letzten, schmählichsten Einzelheiten der Kränkung erinnern und dabei jedes Mal von sich aus noch schimpflichere Details hinzufügen, wobei sie sich mit ihrer eigenen Phantasie boshaft verspottet und reizt. Sie wird sich ihrer Phantasie schämen, trotzdem aber alles behalten, alles auskosten, wird sich selbst unerhört verleumden unter dem Vorwand, dass dies alles ja ebenso gut hätte wirklich geschehen können und wird nichts, aber auch gar nichts verzeihen. Am Ende wird sie auch noch anfangen sich zu rächen, doch irgendwie sporadisch, kurzatmig, hinter dem Ofen hervor, inkognito, ohne sich das Recht auf Rache zuzugestehen, ohne an den Erfolg der Rache zu glauben, wobei sie vorher schon weiß, dass sie selbst unter all ihren Bemühungen hundertmal mehr leiden wird als der, an dem sie sich rächen will, ja, dass dieser davon vielleicht nicht einmal etwas merken wird. Auf dem Sterbebett wird sie sich wiederum des Ganzen erinnern, einschließlich aller in der Zwischenzeit noch hinzugekommenen Einzelheiten und... Aber gerade in dieser kalten ekelhaften Halbverzweiflung, in diesem Halbglauben, in diesem leidvoll bewussten sich selbst lebendig Begraben, in einem Kellerloch für volle vierzig Jahre, in dieser mit größtem Aufwand ausgeklügelten und dennoch zum Teil zweifelhaften Aussichtslosigkeit, in all dem Gift ungestillten, im Innern angestauten Begehrens, in diesem Fieber eines Schwankens zwischen auf ewig gefassten Entschlüssen und im Augenblick auftretender Reue– darin, gerade darin liegt die Essenz jenes sonderbaren Genusses, von dem ich sprach. Er ist derart fein und dem Bewusstsein zuweilen so verborgen, dass auch die nur um ein weniges beschränkteren Menschen, ja sogar einfach Menschen mit starken Nerven, überhaupt nichts davon wahrnehmen. Vielleicht können auch diejenigen nichts davon verstehen, werden Sie wohl mit einem spöttischen Lächeln hinzufügen, die niemals Ohrfeigen bekommen haben, und wollen mir auf diese Weise höflich zu verstehen geben, dass vielleicht auch ich schon in meinem Leben eine Ohrfeige bekommen habe und ich darum aus Erfahrung spreche. Ich könnte wetten, dass Sie das denken. Aber beruhigen Sie sich, meine Herrschaften, ich habe niemals Ohrfeigen bekommen, obwohl es mir vollkommen gleichgültig ist, was Sie darüber denken. Ich bedaure vielleicht, dass ich selbst in meinem Leben zu wenig Ohrfeigen ausgeteilt habe, aber genug, kein Wort mehr über dieses für Sie so ungemein interessante Thema. Ich fahre ruhig fort, über die Menschen mit starken Nerven zu sprechen, denen ein gewisser erlesener Genuss unzugänglich bleibt. Diese Herrschaften brüllen zwar beispielsweise in bestimmten Fällen wie die Ochsen aus vollem Halse, was ihnen meinetwegen die größte Ehre einbringt, aber, wie ich bereits erwähnte, beruhigen sie sich sofort vor jeder Unmöglichkeit. Einer Unmöglichkeit – also einer Mauer! Was für eine Mauer? Nun, sie besteht aus Naturgesetzen, naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, der Mathematik. Hat man dir zum Beispiel erst einmal bewiesen, dass du vom Affen abstammst, so darfst du nicht einmal die Nase rümpfen, sondern hast es hinzunehmen, wie es ist. Hat man dir bewiesen, dass ein einziges Tröpfchen deines eigenen Fettes dir teurer sein muss als Hunderttausend deinesgleichen und dass diese Einsicht schließlich alle sogenannten Tugenden und Pflichten und sonstige Spinnereien und Vorurteile erklärt, so musst du das ruhig hinnehmen und kannst nichts dagegen tun, denn zwei Mal zwei ist Mathematik. Versuchen Sie, es zu widerlegen. „Gestatten Sie“, wird man Ihnen zurufen, „dagegen gibt es keine Auflehnung: Zwei Mal zwei ist gleich vier! Die Natur wird sich nach Ihnen nicht richten; was gehen die Natur Ihre Wünsche an und ob ihre Gesetze Ihnen gefallen oder nicht. Sie müssen die Natur so nehmen, wie sie ist, und folglich auch ihre Resultate anerkennen. Mauer bleibt also Mauer ... usw. usw.“ Herrgott, was gehen mich aber die Naturgesetze und die Arithmetik an, wenn mir diese Gesetze und das Zwei-mal-zwei-gleich-vier nicht gefallen? Selbstverständlich werde in eine solche Mauer mit meiner Stirn keine Bresche schlagen können. Über derartige Kräfte verfüge ich nicht, aber ich werde mich auch nicht einfach mit ihr abfinden, bloß, weil ich vor der Mauer stehe und meine Kräfte nicht ausreichen. Als ob eine solche Mauer tatsächlich etwas beruhigendes hätte, als ob sie den geringsten Trost spendete, nur weil es wahr ist, dass Zwei-mal-zwei-gleich-vier ist. Oh, Ungereimtheit aller Ungereimtheiten! Eine ganz andere Sache ist es doch, alles zu verstehen, alles einzusehen, alle Unmöglichkeiten und alle Mauern; mit keiner Unmöglichkeit und mit keiner Mauer sich zufriedengeben, wenn einem das sich Zufriedengeben zuwider ist, mittels unausweichlicher logischer Kombinationen zu den allerwiderlichsten Schlüssen zu gelangen über das ewige Thema, dass man sogar an der Mauer irgendwie selbst schuld ist, auch wenn sich mit größter Klarheit zeigt, dass man durchaus schuldlos ist und infolgedessen schweigend, machtlos zähneknirschend, wollüstig und in Trägheit verweilt in dem Gedanken, dass es nicht einmal einen Grund gibt, sich über jemanden zu ärgern; dass überhaupt kein Objekt vorhanden ist und sich wahrscheinlich auch nie eines finden wird; dass hier eine Täuschung vorliegt, eine Falschspielerei, einfach Schlamm – unbekannt weshalb und von wem, aber ungeachtet all der Unsicherheit und Täuschung leidet man doch, und je mehr einem unbekannt ist, umso mehr leidet man.
„Ha-ha-ha! Dann werden Sie ja auch an Zahnschmerzen Genuss finden!“ werden Sie lachend ausrufen.