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Lachen mit Dostojewski! – Ein ungewohnter Blick auf den Großklassiker
Fjodor Dostojewski – der Inbegriff von existenzieller Düsternis und qualvoller Seelenanalyse? Diese Sammlung weitet den Blick. Fünf neu übersetzte Erzählungen zeigen den russischen Großmeister von einer überraschend anderen, hierzulande kaum bekannten Seite: als Autor heiterer, satirischer Geschichten.
Die Besichtigung eines leibhaftigen Krokodils scheint Iwan Matwejitsch die geeignete Vorbereitung auf eine Europareise – da wird er von dem monströsen Tier verschluckt. Für niemanden, das Opfer eingeschlossen, ist das ein Anlass zur Klage, befördert die Attraktion eines sprechenden Menschen im Reptilienbauch doch finanzielle Interessen und Eitelkeiten aller Art. Nicht um Geld, aber um seine Glaubwürdigkeit als Mann der Reformen kämpft Staatsrat Pralinski. Um Toleranz zu demonstrieren, taucht er unangemeldet bei der Hochzeit eines Angestellten auf – «Eine peinliche Geschichte» mit chaotischen Folgen. Ob Slapstick, Groteske, sanfte Ironie oder Tragikomik – Dostojewski zieht in diesem Band alle humoristischen Register.
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Seitenzahl: 437
FJODOR M.DOSTOJEWSKI
Das Krokodil
Erzählungen
Aus dem Russischen übersetzt von
Christiane Pöhlmann
Nachwort von
Eckhard Henscheid
manesse verlag zürich
roman in neun briefen
i
pjotr iwanytsch1 an
iwan petrowitsch
Gnädiger Herr und allerteuerster Freund,
bester Iwan Petrowitsch!
Also, nun jage ich, um es einmal so auszudrücken, schon volle drei Tage hinter Ihnen her, mein allerteuerster Freund, habe ich mit Ihnen doch eine Frage von höchster Dringlichkeit zu erörtern, treffe Sie aber nirgends an. Meine liebe Frau erlaubte sich gestern, als wir unserem guten Semjon Alexejitsch unsere Aufwartung machten, gar einen Scherz auf Ihre Kosten, indem sie bemerkte, Sie beide, also Sie, mein Freund, und Ihre Tatjana Petrowna, gäben unterdessen ein rechtes Vagabundenpaar ab: Noch keine drei Monate verheiratet, und schon retirieren Sie von Heim und Herd. Wir haben schallend gelacht– aus reinster, aufrichtigster Zuneigung Ihnen gegenüber, versteht sich–, indes, mein unschätzbarster Freund, Sie haben mir nicht nur die Gelegenheit gegeben, herzhaft zu lachen, sondern mir auch ordentlich die Füße wund zu laufen. Da sagt mir Semjon Alexejitsch, bestimmt seien Sie im Klubraum der «Vereinigten Gesellschaft», wegen des Balls. Lasse ich also meine Frau bei der Gemahlin Semjon Alexejitschs zurück, um allein in die Vereinigte Gesellschaft zu sausen. Wenn’s nicht zum Heulen wäre, würd ich ja grad drüber lachen! Denn malen Sie sich doch meine Lage aus: Ich allein auf dem Ball, ganz ohne meine Frau! Iwan Andrejitsch, dem ich im Foyer in die Arme lief, hat bei meinem Anblick denn auch prompt geschlussfolgert, eine merkwürdige Leidenschaft für Tanzveranstaltungen habe mich gepackt, und mich beim Ärmel gefasst und wollte mich schon zu einem Tanzball der Jugend schleifen, wobei er in einem fort versicherte, er bekomme in der «Vereinigten Gesellschaft» keine Luft, ein junger Mensch wie er könne sich hier nicht austoben und dass ihm von all dem Patschuli und Reseda2 schon der Kopf schmerze. Ich entdecke weder Sie noch Tatjana Petrowna. Da behauptet Iwan Andrejitsch steif und fest und schwört sogar, dass Sie ganz bestimmt im Alexandra-Theater3 seien, um sich «Verstand schafft Leiden» anzusehen.
Sause ich also ins Alexandra-Theater: Da sind Sie aber auch nicht. Heute Morgen habe ich mir dann gedacht, dass ich Sie bei Tschistoganow finde– aber auch da keine Spur von Ihnen. Tschistoganow schickt mich zu den Perepalkins– und wieder nichts. Kurz und gut, ich war völlig am Ende. Aber sagen Sie selbst, ist das ein Wunder nach all der Rennerei?! Jetzt schreibe ich Ihnen (etwas anderes bleibt mir ja nicht übrig!). Mein Anliegen ist beileibe nicht literarischer Natur (Sie verstehen). Besser ließe sich das alles unter vier Augen klären, denn ich habe dringend einiges mit Ihnen zu besprechen, noch dazu möglichst bald, weshalb ich Sie und Tatjana Petrowna heute zum Tee und auf eine kleine abendliche Unterhaltung zu mir bitten möchte. Meine liebe Anna Michailowna wird von Ihrem Besuch über die Maßen erfreut sein. Und ich wäre Ihnen aufrichtig oder, wie man so sagt, bis ins Grab verbunden.
Ganz nebenbei, mein unschätzbarster Freund, wo ich nun schon einmal zur Feder gegriffen habe, noch zwei Worte mehr, sehe ich mich doch gezwungen, Sie ein wenig zu schelten, nein, sogar zu tadeln, mein höchstverehrter Freund, wegen eines, wie ich vermute, ausgesprochen unschuldigen kleinen Schabernacks, mit dem Sie sich einen Scherz auf meine Kosten erlaubt haben… Sie Schurke und gewissenloser Mensch, Sie! Etwa Mitte letzten Monats führen Sie einen Ihrer Bekannten, genauer Jewgeni Nikolajitsch, in mein Haus ein, den Sie mir mit Ihrer freundschaftlichen und eben deshalb für mich hochheiligen Rekommandation anempfehlen. Ich freue mich über das neue Gesicht in unserem Kreis, nehme den jungen Herrn mit offenen Armen auf– und lege mir damit freiwillig die Schlinge um den Hals. Doch Schlinge hin oder her, jedenfalls stellte sich die ganze Angelegenheit am Ende als– anders kann man es nicht bezeichnen– starkes Stück heraus. Ich habe jetzt keine Zeit, die Sache zu erklären, obendrein liegt mir die Feder nicht, deshalb habe ich nur diese allerbescheidenste Bitte an Sie, mein schadenfroher Freund und Herzensbruder, ob Sie diesem jungen Herrn nicht höchst taktvoll und ganz und gar beiläufig einmal leise in sein gepflegtes Öhrchen flüstern könnten, dass es in unserer Hauptstadt neben dem meinen noch zahlreiche andere Häuser gibt. Ich bin am Ende meiner Kräfte, mein Freund! Ich habe die Ehre, mich vorzuwerfen,4 wie es unser guter alter Simoniewicz ausdrückt. Sobald wir uns sehen, werde ich Ihnen alles darlegen. Damit will ich nicht andeuten, der junge Mann habe beispielsweise keine Manieren oder geistigen Qualitäten oder habe sich sonst irgendetwas zuschulden kommen lassen. Im Gegenteil, er ist ein ganz und gar liebenswerter und freundlicher Bursche. Näheres, wenn wir uns sehen. Falls Sie, mein höchstverehrter Freund, ihm jedoch unterdessen begegnen, dann flüstern Sie ihm bei Gott meinen Hinweis ein. Ich würde es selbst tun, aber Sie wissen, wie es um meinen Charakter bestellt ist: Ich kann es nicht, Punktum. Obendrein haben Sie ihn empfohlen. Im Übrigen werden wir heute Abend unbedingt alles genauestens besprechen. Doch nun leben Sie wohl. Der Ihre und dergl.
PS: Mein Kleiner kränkelt bereits seit einer Woche, und mit jedem Tag wird es schlimmer und schlimmer. Die Zähne plagen ihn, sie brechen gerade durch. Meine Frau umsorgt ihn in einem fort und ist schon gänzlich bekümmert, die Arme. Besuchen Sie uns nur! Sie würden uns eine aufrichtige Freude bereiten, mein allerteuerster Freund.
ii
iwan petrowitsch an
pjotr iwanytsch
Gnädiger Herr,
guter Pjotr Iwanytsch!
Gestern bekomme ich Ihren Brief, lese ihn und staune. Sie suchen mich an Gott weiß welchen Orten, während ich schlicht zu Hause war. Bis zehn Uhr morgens habe ich auf Iwan Iwanytsch Tolokonow gewartet. Dann schnappe ich mir meine Frau, miete einen Kutscher, stürze mich in Unkosten und erscheine etwa um halb sieben bei Ihnen. Sie sind nicht zu Hause, doch Ihre Gemahlin empfängt uns. Ich warte bis halb elf auf Sie, länger ging es nicht. Ich schnappe mir meine Frau, stürze mich in Unkosten, miete einen Kutscher, setze sie zu Hause ab und fahre selbst weiter zu den Perepalkins, in der Annahme, Sie dort anzutreffen, doch auch diesmal habe ich mich verrechnet. Daraufhin fahre ich nach Hause, mache die ganze Nacht kein Auge zu, weil ich mich um Sie sorge, fahre gleich am nächsten Morgen drei Mal bei Ihnen vorbei, um neun, um zehn und um elf Uhr, stürze mich drei Mal in Unkosten, miete Kutscher, und abermals lassen Sie mich als den Gelackmeierten dastehen.
Nachdem ich Ihren Brief gelesen hatte, konnte ich mich nur wundern. Sie schreiben mir von Jewgeni Nikolajitsch und bitten mich, ihm etwas einzuflüstern, verlieren aber kein Wort darüber, warum. Diskretion lobe ich mir durchaus, nur ist Papier ja wohl nicht gleich Papier, und wichtige Papiere pflege ich meiner Frau nicht für ihre Haarwickel zu überlassen. Allerdings kann ich mir ohnehin keinen Reim darauf machen, wieso Sie mir all das schreiben. Nebenbei bemerkt, wenn es gar so schlimm steht, was ziehen Sie mich dann in diese Angelegenheit hinein? Ich stecke meine Nase ja auch nicht in anderer Leute Angelegenheiten. Ihm das Haus verbieten, das können Sie selbst, aber was uns beide anbelangt, da sollten wir endlich offener und klarer miteinander reden, sonst treten wir auf der Stelle. Zudem bin ich knapp bei Kasse und weiß nicht, was tun, wenn Sie sich weiterhin über all unsere Abmachungen hinwegsetzen. Uns steht eine Reise bevor, diese Reise kostet, obendrein liegt mir meine Frau in den Ohren: Sie müsse sich noch einen samtenen Kapuzenumhang nach der neuesten Mode schneidern lassen. Was nun Jewgeni Nikolajitsch anbelangt, da versichere ich Ihnen, dass ich umgehend, gleich gestern Abend, eben als ich Pawel Semjonytsch Perepalkin meine Aufwartung machte, Erkundigungen über ihn eingeholt habe, die endgültig alle Zweifel aus dem Weg räumen: Er besitzt im Gouvernement Jaroslawl seine fünfhundert Seelen,5 und es besteht Hoffnung, von der Großmutter noch dreihundert Seelen bei Moskau zu erhalten. Wie viel Geld er hat, weiß ich nicht, aber das dürften Sie dafür umso besser wissen. Ich bitte Sie dringend, mir einen Ort für eine Zusammenkunft zu nennen. Sie haben gestern Iwan Andrejitsch getroffen und schreiben, er habe Ihnen versichert, ich sei mit meiner Frau im Alexandra-Theater. Dazu kann ich Ihnen nur sagen, dass er lügt und man ihm in solchen Fragen ohnehin keinen Glauben schenken darf, außerdem hat er auch noch seine Großmutter vor nicht einmal drei Tagen um achthundert Rubel in Papiergeld6 geprellt. In diesem Sinn habe ich die Ehre zu verbleiben.
PS: Meine Frau ist schwanger. Obendrein ist sie schreckhaft und zuweilen melancholisch gestimmt. Bei Theateraufführungen werden jedoch mitunter Schießereien und von Maschinen künstlich erzeugtes Donnern dargeboten. Aus Furcht, meine Frau könne also im Theater erschrecken, führe ich sie deshalb überhaupt gar nicht erst dahin aus. Und ich selbst bin auf Theateraufführungen nicht sonderlich erpicht.
iii
pjotr iwanytsch an
iwan petrowitsch
Mein unschätzbarster Freund,
bester Iwan Petrowitsch!
Ich bekenne mich schuldig, schuldig und abertausendmal schuldig, will aber hurtig einiges zu meiner Entlastung vorbringen. Gestern kommt in der sechsten Abendstunde und damit genau zu der Zeit, als wir Ihrer mit aufrichtiger Herzensrührung gedachten, ein vom lieben Onkel Stepan Alexejitsch geschickter Kurier mit der Nachricht zu uns gestürmt, es stehe schlecht um unser Tantchen. Ich möchte meine Frau selbstverständlich nicht in Angst und Schrecken versetzen, sage ihr also kein Wort, sondern schütze ein unaufschiebbares Geschäft vor und fahre zu Tantchens Haus. Ich finde sie halb tot vor. Exactement um fünf Uhr hatte sie der Schlag getroffen, bereits der dritte in zwei Jahren. Karl Fjodorytsch, ihr Arzt, erklärte, sie werde die Nacht aller Wahrscheinlichkeit nach nicht überleben. Vergegenwärtigen Sie, mein allerteuerster Freund, sich doch nur meine Lage: Die ganze Nacht bin ich auf den Beinen, renne mir die Füße wund und vergehe vor Kummer. Erst gegen Morgen legte ich mich, am Ende meiner Kräfte und körperlich wie seelisch gänzlich ermattet, bei ihnen auf den Diwan, vergaß aber, darum zu bitten, dass man mich rechtzeitig weckt, und wachte erst um halb zwölf wieder auf. Dem Tantchen geht es besser. Also fahre ich zu meiner Frau. Sie, die Arme, ist nach all der Warterei auf mich wie gerädert. Ich nahm einen Happen zu mir, herzte unseren Sonnenschein, beschwichtigte meine Frau und fuhr zu Ihnen. Sie sind nicht zu Hause. Dafür treffe ich bei Ihnen Jewgeni Nikolajitsch an. Stehenden Fußes kehre ich nach Hause zurück, greife zur Feder und schreibe Ihnen nun. Zürnen und grollen Sie mir nicht, mein aufrichtiger Freund! Schlagen Sie mich, hauen Sie mir armem Sünder den Kopf ab, aber entziehen Sie mir nicht Ihr Wohlwollen. Wie ich von Ihrer Gemahlin erfuhr, sind Sie heute Abend bei den Slawjanows. Ich werde mich ganz bestimmt einfinden. Dort erwarte ich Sie mit größter Ungeduld.
Vorerst jedoch der Ihre usw.
PS: Unser Kleiner treibt uns in grenzenlose Verzweiflung. Karl Fjodorytsch hat ihm jetzt Rhabarber verschrieben. Das Kind greint, gestern hat es niemanden mehr erkannt. Heute erkennt der Kleine uns immerhin langsam wieder und brabbelt die ganze Zeit über Papa, Mama, buh… Meine Frau ist schon den ganzen Morgen in Tränen aufgelöst.
iv
iwan petrowitsch an
pjotr iwanytsch
Mein gnädiger Herr, guter Pjotr Iwanytsch!
Ich schreibe in Ihrem eigenen Haus an Sie, in Ihrem Zimmer sitzend, an Ihrem Schreibtisch. Und bevor ich überhaupt zur Feder gegriffen habe, habe ich gut zweieinhalb Stunden auf Sie gewartet. Erlauben Sie mir deshalb, Ihnen, Pjotr Iwanytsch, ganz unverblümt meine offene Meinung bezüglich dieses kleinlichen Getues zu sagen. Wie ich Ihrem letzten Brief entnehme, wurden Sie bei den Slawjanows erwartet und bestellten auch mich dorthin, weshalb ich erscheine und dort fünf Stunden herumsitze, ohne dass Sie auftauchen. Habe ich es Ihrer Meinung nach vielleicht nötig, in dieser Weise für irgendjemand den Possenreißer zu spielen?! In dem Fall muss ich doch sehr bitten, mein gnädiger Herr… Ich erscheine also am Morgen bei Ihnen, in der Hoffnung, Sie zu erwischen, denn ich ahme gewiss nicht die Gepflogenheiten manch heuchlerischer Personen nach, die Leute an Gott weiß welchen Orten suchen, wenn sie doch zu jeder schicklich gewählten Zeit zu Hause anzutreffen wären. Bei Ihnen zu Hause nicht die geringste Spur von Ihnen. Keine Ahnung, was mich jetzt daran hindert, Ihnen die ungeschminkte Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Stattdessen begnüge ich mich damit, festzustellen, dass sie anscheinend nicht gewillt sind, unsere getroffenen Verabredungen einzuhalten. Und nun, wo ich das Ganze durchschaut habe, muss ich zugeben, dass mich Ihre durchtriebene Gesinnung geradezu erschüttert. Für mich steht jetzt außer Frage, dass Sie seit Langem Missgunst gegen mich hegen. Zum Beweise dieser Vermutung lässt sich anführen, dass Sie noch in der letzten Woche in nahezu unverzeihlicher Weise jenen Brief, den Sie an mich adressiert hatten und in dem Sie selbst, wenn auch in Ihrer recht vagen und verschwurbelten Art, unsere Abmachungen bezüglich jener Ihnen bestens bekannten Angelegenheit erläuterten, wieder an sich brachten. Sie misstrauen Schriftstücken und vernichten Sie, lassen mich auf diese Weise aber wie einen Einfaltspinsel dastehen. Nur gestatte ich nicht, mich als Einfaltspinsel abzustempeln, denn das hat bisher noch niemand getan, und im Zusammenhang mit besagter Angelegenheit denken alle das Beste von mir. Allerdings sehe ich nun klar: Sie führen mich an der Nase herum, machen mich mit diesem Jewgeni Nikolajitsch ganz kirre, und wenn ich mich endlich mit Ihnen aussprechen möchte, denn Ihr Brief vom Siebten diesen Monats7 ist mir nach wie vor ein Rätsel, dann bestellen Sie mich zu erlogenen Zusammenkünften ein und tauchen selbst nicht auf. Was, gnädiger Herr, glauben Sie eigentlich, mit wem Sie es zu tun haben?! Sie beteuern, sich für gewisse Gefälligkeiten, die ich Ihnen mit der Rekommandation verschiedener Personen erwiesen habe, erkenntlich zeigen zu wollen, richten es dabei aber– und ohne dass klar wäre, wie– so ein, dass Sie erst in der letzten Woche eine Unsumme von mir borgen, noch dazu ohne Schuldschein. Daraufhin tauchen Sie, das Geld in der Tasche, unter und leugnen sogar, dass ich Ihnen mit Jewgeni Nikolajitsch eine Gefälligkeit erwiesen habe. Möglicherweise hoffen Sie ja auf meine baldige Abreise nach Simbirsk8 und rechnen sich aus, wir würden uns vorher nicht mehr ins Benehmen setzen. In dem Fall erkläre ich Ihnen jedoch feierlich und bezeuge dies sogar mit meinem Ehrenwort, dass ich nötigenfalls fest entschlossen bin, noch zwei Monate in Petersburg9 zu bleiben, dass ich mein Anliegen bis zum Schluss verfolgen, mein Ziel erreichen und Sie finden werde. Auch unsereins kann nämlich anders. Lassen Sie mich Ihnen abschließend noch versichern, dass ich mich– sollten Sie sich mir nicht noch heute in zufriedenstellender Weise erklären, und zwar zunächst schriftlich, dann auch mündlich, von Angesicht zu Angesicht, und sollten Sie in Ihrem Brief nicht noch einmal alle wesentlichen Abmachungen, die zwischen uns bestehen, festhalten und sollten Sie mir schließlich nicht klar und deutlich Ihre Absichten bezüglich Jewgeni Nikolajitschs darlegen… dass ich mich dann gezwungen sehe, Maßnahmen zu ergreifen, die für Sie äußerst nachteilig und mir selbst durchaus zuwider wären.
Gestatten Sie zu verbleiben usw.
v
pjotr iwanytsch an
iwan petrowitsch
11. November
Mein liebenswertester, höchstverehrter Freund, bester Iwan Petrowitsch!
Ihr Brief hat mich bis tief ins Mark erschüttert. Und schämen sollten Sie sich, mein teurer, aber ungerechter Freund, Ihren besten Wohltäter so zu behandeln. Voreilige Schlüsse ziehen Sie, in vagen Andeutungen ergehen Sie sich, ja, am Ende beleidigen Sie mich gar mit niederträchtigen Unterstellungen! Gleichwohl will ich hurtig zu Ihren Beschuldigungen Stellung nehmen. Sie, bester Iwan Petrowitsch, haben mich gestern deswegen nicht zu Hause angetroffen, weil ich plötzlich und völlig überraschend an ein Sterbebett gerufen wurde. Unser Tantchen Jewfimija Nikolawna verschied gestern Abend, exactement um elf Uhr. Nach einstimmigem Beschluss aller Verwandten bin ich zum Zeremonienmeister für die schmerzlichen und betrüblichen Feierlichkeiten auserkoren worden. Ich hatte also alle Hände voll zu tun, sodass es mir unmöglich war, Sie heute Morgen zu treffen oder Sie auch nur mit einer Briefzeile in Kenntnis zu setzen. Dieses Missverständnis zwischen uns bereitet mir jedoch größte Seelenpein. Sie haben die von mir nur im Scherz und beiläufig dahingesagten Worte über Jewgeni Nikolajitsch völlig in den falschen Hals bekommen und mir in der ganzen Angelegenheit Absichten unterstellt, die mich zutiefst beleidigen. Sie erwähnen jenes Geld und äußern im Zusammenhang damit Ihre Besorgnis. Ich aber bin– ohne jedes Wenn und Aber– bereit, sämtliche Ihrer Wünsche und Forderungen zu erfüllen, obwohl ich Sie, ganz nebenbei, in diesem Zusammenhang daran erinnern muss, dass ich jenes Geld, jene dreihundertundfünfzig Silberrubel, in der letzten Woche von Ihnen aufgrund gewisser Abmachungen erhalten und nicht etwa geliehen habe. In letzterem Falle gäbe es nämlich unweigerlich einen Schuldschein. Zu Erklärungen bezüglich der anderen in Ihrem Brief genannten Punkte lasse ich mich indes nicht herab. Diese rühren von einem Missverständnis, von Ihrer üblichen Überstürztheit, Ihrer Hitzköpfigkeit und Unverblümtheit her, das steht für mich außer Frage. Ebenso weiß ich, dass Ihre Seelengüte und Ihre offene Art es Ihnen verbieten, im Herzen Zweifel an mir zu nähren, und dass Sie mir schließlich als Erster die Hand reichen werden. Denn Sie haben einen Fehler begangen, Iwan Petrowitsch, einen großen Fehler!
Ungeachtet dessen, dass Ihr Brief mir tiefen Schmerz zugefügt hat, wäre ich jedoch der Erste, der noch heute bereit wäre, mich mit einem Schuldeingeständnis bei Ihnen einzufinden, doch renne ich mir eben seit dem gestrigen Tage die Füße wund, sodass ich mittlerweile völlig erschlagen bin und mich kaum noch auf den Beinen halten kann. Als wäre dies nicht Unglück genug, liegt nun auch noch meine liebe Frau danieder; ich fürchte, es ist eine schlimme Krankheit. Was den Kleinen anbelangt, so geht es ihm Gott sei Dank besser. Doch genug der Worte… die Pflichten rufen, und zwar im Chor.
Gestatten Sie, mein unschätzbarster Freund, daher zu verbleiben und dergl.
vi
iwan petrowitsch an
pjotr iwanytsch
14. November
Mein gnädiger Herr, guter Pjotr Iwanytsch!
Drei Tage lang habe ich gewartet. Sie nicht nutzlos verstreichen zu lassen, darum war ich trotz allem bemüht, während ich mich zugleich– weil ich doch weiß, dass Höflichkeit und Anstand die erste Zier eines jeden Menschen sind– bei Ihnen seit Ihrem letzten Brief vom zehnten diesen Monats mit keinem Wort, mit keiner Geste in Erinnerung gebracht habe, dies teilweise deshalb, weil ich Ihnen Gelegenheit geben wollte, ungestört Ihrer Christenpflicht gegenüber Ihrem Tantchen nachzukommen, teilweise weil es für einige Kalkulationen und Erkundigungen in der gewissen Angelegenheit nun einmal Zeitbedarf bedurfte. Jetzt drängt es mich aber, mich mit Ihnen abschließend und fest entschlossen ins Benehmen zu setzen.
Ich gestehe Ihnen ganz offen, dass ich beim Lesen Ihrer ersten beiden Briefe ernsthaft gedacht habe, Sie hätten überhaupt nicht begriffen, was ich will. Genau deshalb habe ich ja so auf eine Zusammenkunft mit Ihnen und eine Aussprache von Angesicht zu Angesicht gedrängt, denn die Feder lag mir noch nie, und ich weiß ganz genau, dass ich meine Gedanken nur mit vager Klarheit zu Papier bringe. Sie wissen genau, dass ich keine Erziehung und keine guten Manieren besitze und dass leeres, aber wohltönendes Geschwätz nicht meine Art ist, weil bittere Erfahrung mich schließlich gelehrt hat, wie trügerisch mitunter das Äußere ist und dass Blumen manchmal ein Schlangenherz überdecken10. Nur haben Sie mich sehr wohl verstanden. Wenn Sie mir nicht in gebührender Weise geantwortet haben, dann deshalb, weil Sie mit Ihrer treulosen Seele von vornherein beabsichtigten, Ihr Ehrenwort und unsere freundschaftlichen Beziehungen zu brechen. Durch Ihr widerwärtiges Verhalten, das Sie mir gegenüber in der letzten Zeit an den Tag legten, haben Sie das endgültig unter Beweis gestellt, im Übrigen ein Verhalten, das für meine eigenen Interessen den Tod bedeutet hat, das ich Ihnen nie zugetraut hätte und das ich bis zu dieser Minute nicht glauben wollte. Denn gleich zu Beginn unserer Bekanntschaft haben mich Ihre klugen Manieren, Ihr taktvoller Umgang mit anderen, Ihre Geschäftstüchtigkeit und auch die Vorteile, die mir die Verbindung mit Ihnen womöglich zu bringen versprach, völlig bestrickt, und ich vermutete, dass ich in Ihnen einen aufrichtigen Freund, Gefährten und Wohltäter gefunden hatte. Jetzt ist mir allerdings ganz klar geworden, dass es viele Menschen gibt, die hinter ihrem schmeichlerischen und glänzenden Äußeren nur das Gift in ihrem Herzen verbergen und ihren Verstand einzig dazu gebrauchen, Ränke gegen ihren besten Gefährten zu schmieden, diesen in unverzeihlicher Weise zu betrügen und ebendeshalb Papier und Feder misstrauen, während sie ihre Rede nicht zum Frommen von Freund und Vaterland einsetzen, sondern um den Verstand all derjenigen, die sich mit ihnen in unterschiedliche Geschäfte und auf gewisse Abmachungen eingelassen haben, zu betören und einzulullen. Wie treulos Sie, mein gnädiger Herr, sich mir gegenüber verhalten haben, lässt sich aus Nachfolgendem klar ersehen.
Erstens, als ich Ihnen, mein gnädiger Herr, in meinem Brief mit eindeutigen und unmissverständlichen Formulierungen meine Lage geschildert und Sie gleichzeitig in meinem ersten Schreiben gefragt habe, was Sie unter bestimmten Formulierungen verstanden wissen möchten und was vornehmlich in Bezug auf Jewgeni Nikolajitsch Ihre Absichten seien, da haben Sie es im Großen und Ganzen darauf angelegt, sich in Schweigen zu hüllen, mich dann mit Ihren Verdächtigungen und Zweifeln zu ärgern und anschließend so zu tun, als sei die Sache erledigt. Nächster Punkt: Nachdem Sie sich dann mit mir Dinge erlaubt haben, die beim Namen zu nennen jeder Anstand verbietet, schrieben Sie mir, dass Sie von mir enttäuscht seien. Wie, mein gnädiger Herr, soll man das bitte nennen? Nächster Punkt: Als für mich jede Minute zählte und als Sie mich zwangen, Ihnen von einem Ende zum andern durch die ganze Hauptstadt nachzujagen, da schrieben Sie mir unter der Maske der Freundschaft Briefe, in denen Sie, während Sie sich über unsere Sache stur ausschwiegen, auf völlig nebensächliche Dinge zu sprechen kamen, nämlich auf die Krankheit Ihrer in jedem Fall von mir geschätzten Gemahlin und darauf, dass Sie Ihrem Sonnenschein Rhabarber gegeben haben, weil bei ihm wohl ein Zahn durchbreche. All dies haben Sie in jedem Ihrer Briefe mit widerwärtiger und für mich geradezu beleidigender Regelmäßigkeit erwähnt. Selbstverständlich räume ich jederzeit ein, dass das Leid des eigenen Kindes die Seele des Vaters zerfleischt– aber warum darauf herumreiten, wenn man eigentlich von völlig anderen, weitaus dringenderen und interessanteren Dingen sprechen müsste? Zu alldem habe ich geschwiegen und es ertragen. Da aber auch das nichts geändert hat, halte ich es für meine Pflicht, mein Schweigen zu brechen. Vor allem weil Sie mich wiederholt treulos betrogen haben, indem Sie mich zu erlogenen Zusammenkünften einbestellt und mich damit ganz offensichtlich gezwungen haben, die Rolle Ihres Narren und Possenreißers zu spielen, was aber nie meine Absicht war. Nächster Punkt: Nachdem Sie mich also erst zu sich eingeladen und mich dann nach allen Regeln der Kunst versetzt haben, berichten Sie mir, dass Sie zu Ihrem leidenden Tantchen gerufen worden seien, die exactement um fünf Uhr der Schlag getroffen habe, wie Sie mir entschuldigend und mit peinlicher Genauigkeit erklären. Glücklicherweise, mein gnädiger Herr, konnte ich in diesen drei Tagen jedoch einige Auskünfte einholen, und aus denen geht hervor, dass der Schlag Ihr Tantchen bereits am Vorabend des Achten dieses Monats getroffen hat, kurz vor Mitternacht. Dies zeigt mir klar, dass Sie die Heiligkeit verwandtschaftlicher Beziehungen missbraucht haben, um gänzlich außenstehenden Menschen etwas vorzumachen. Schließlich erwähnen Sie in Ihrem letzten Brief den Tod Ihrer Verwandten in einer Weise, als habe sich dieser genau zu der Zeit zugetragen, als ich bei Ihnen erscheinen sollte, damit wir gewisse Fragen besprechen. Hier nun schert sich die Widerwärtigkeit Ihres Kalküls und Ihrer Phantastereien noch nicht einmal mehr um Glaubwürdigkeit, weiß ich doch aus zuverlässigen Quellen, die ich aufgrund eines überaus glücklichen Zufalls und vor allem gerade noch zu rechter Zeit befragen konnte, dass Ihr Tantchen exactement vierundzwanzig Stunden nach dem von Ihnen auf so gottlose Weise in Ihrem Brief für ihr Ableben genannten Tag gestorben ist. Wollte ich alle Anzeichen aufzählen, die mir Ihre Treulosigkeit mir gegenüber deutlich gemacht haben, ich würde gar kein Ende finden! Jedenfalls dürfte auch einem unvoreingenommenen Beobachter schon ausreichen, dass Sie mich in jedem Ihrer Briefe als Ihren aufrichtigen Freund bezeichnen und mich mit den herzlichsten Anreden bedenken, was Sie meiner Ansicht nach jedoch für keinen anderen Zweck taten als den, mein Empfinden für Sitte und Anstand einzulullen.
Ich komme jetzt zu Ihrem größten Betrug und Ihrer größten Treulosigkeit an mir, nämlich: Ihr andauerndes Schweigen in der letzten Zeit zu allem, was unser gemeinsames Interesse anbelangt, Ihr gottloser Raub jenes Briefes, in dem Sie, wenn auch vage und nicht immer verständlich, unsere einvernehmlichen Abmachungen und Übereinkünfte festhielten, Ihre barbarische Art, mir, Ihrem gleichberechtigten Associé, rabiat dreihundertundfünfzig Silberrubel ohne Schuldschein abzunehmen, und schlussendlich Ihre ganz widerwärtige Verleumdung unseres gemeinsamen Bekannten Jewgeni Nikolajitsch. Ganz klar sehe ich jetzt, dass Sie mir beweisen wollten, dass von ihm, wenn Sie den Ausdruck gestatten, wie von einem Bock keine Milch zu holen sei, man aus ihm nicht schlau werde, er weder Fisch noch Fleisch sei, worüber Sie sich in Ihrem Brief vom Sechsten diesen Monats denn ja auch tüchtig mokieren. Ich kenne Jewgeni Nikolajitsch aber als bescheidenen und wohlgesitteten jungen Mann, eben dadurch kann er ja für sich einnehmen, eben dadurch kann er die Anerkennung der Gesellschaft suchen und sogar verdienen. Darüber hinaus weiß ich, dass Sie im Laufe von geschlagenen zwei Wochen jeden Abend einige Zehner, manchmal sogar bis zu hundert Silberrubel, in Ihre Taschen gestopft haben, während sie mit Jewgeni Nikolajitsch Karten spielten. Jetzt streiten Sie all das ab und weigern sich nicht nur, sich mir gegenüber für meine Bemühungen erkenntlich zu zeigen, sondern erdreisten sich sogar, mein eigenes Geld einzubehalten, nachdem Sie mich vorab schon als gleichberechtigten Associé tituliert hatten und mir allerlei Gewinn versprachen, den ich als Sozius noch bekäme. Nachdem Sie sich nun auf ungesetzliche Weise mein und Jewgeni Nikolajitschs Geld angeeignet haben, verweigern Sie mir also den Dank und greifen stattdessen allen Ernstes zu einer Verleumdung, um– wie ich meine: völlig ungerechtfertigt– denjenigen anschwärzen, den ich mit so viel Mühe und Anstrengung in Ihr Haus gebracht habe. Ihm selbst aber können Sie, wie mir Freunde versichern, nicht genug um den Bart gehen und bezeichnen ihn in der Öffentlichkeit stets als Ihren allerengsten Freund, obwohl es weit und breit keinen solchen Narren gibt, der nicht sofort durchschauen würde, wohin Ihre Absichten zielen und was genau freundschaftliche und kameradschaftliche Beziehungen bei Ihnen zu bedeuten haben. Ja, ich will Ihnen ganz offen sagen, dass sie Verrat und Treulosigkeit bedeuten, dass es bedeutet, Sie vergessen jeden Anstand und die Menschenrechte, dass Sie Gott lästern und allerlei Lastern frönen. Nehmen Sie nur mich als Beispiel und Beweis! Womit habe ich Sie denn beleidigt, und weshalb verhalten Sie sich mir gegenüber in einer derart gottlosen Weise?
Ich komme zum Ende dieses Briefes. Meine Sache habe ich vorgetragen. Jetzt schließe ich: Wenn Sie, mein gnädiger Herr, mir nach Erhalt dieses Briefes nicht in allerkürzester Zeit vollständig erstens die Ihnen von mir ausgehändigte Summe, dreihundertundfünfzig Silberrubel, und zweitens alle mir von Ihnen in Aussicht gestellten Summen zurückerstatten, dann werde ich zu jedwedem Mittel greifen, um Sie zur Herausgabe zu zwingen, sogar zu offener Gewalt und außerdem Schutz bei den Gesetzen suchen und schlussendlich teile ich Ihnen hiermit mit, dass ich über einige Zeugnisse verfüge, die, auch wenn sie noch in Händen eben Ihres untertänigsten Dieners und Bewunderers ruhen, Ihren Namen in den Augen der ganzen Welt jederzeit zerstören und in den Dreck ziehen könnten.
Gestatten Sie zu verbleiben und dergl.
vii
pjotr iwanytsch an
iwan petrowitsch
15. November
Iwan Petrowitsch!
Nachdem ich Ihr ebenso rüdes wie befremdliches Schreiben erhalten hatte, wollte ich es im ersten Moment am liebsten in Stücke reißen– aber dann habe ich es doch aufbewahrt, als Kuriosum. Im Übrigen bedauere ich unsere Missverständnisse und Unannehmlichkeiten aufrichtig. Zunächst wollte ich Ihnen gar nicht antworten. Aber die Not zwingt mich. Mit ebendiesen Zeilen muss ich Ihnen nämlich mitteilen, dass es mir außerordentlich unangenehm wäre, Sie irgendwann noch einmal in meinem Haus zu sehen, Gleiches gilt für meine Frau. Sie ist schwach von Gesundheit, und Ihr Teergeruch bekommt ihr nicht.
Meine Frau übersendet Ihrer Gemahlin das Büchlein, das diese bei uns vergessen hat, «Don Quichotte von der Mancha», mit Dank. Was Ihre Galoschen anbelangt, die Sie bei Ihrem letzten Besuch bei uns vergessen haben wollen, muss ich Ihnen mit Bedauern mitteilen, dass wir sie nirgends gefunden haben. Wir suchen weiter, doch falls wir sie beim besten Willen nicht finden, kaufe ich Ihnen neue.
Im Übrigen habe ich die Ehre zu verbleiben und dergl.
viii
Am sechzehnten November erhält Pjotr Iwanytsch durch die Stadtpost zwei an ihn adressierte Briefe. Nachdem er den ersten geöffnet hat, entnimmt er ihm eine Notiz, ein zartrosafarbenes Blatt Papier, das mit großem Aufwand zusammengefaltet worden ist.
Die Handschrift seiner Frau. Empfänger Jewgeni Nikolajitsch, datiert vom 2. November. Sonst nichts. Pjotr Iwanytsch liest:
Liebster Eugène!
Gestern ging es überhaupt nicht. Mein Mann war den ganzen Abend zu Hause. Komme aber morgen unbedingt punkt elf! Um halb elf bricht mein Mann nach Zarskoje11 auf und kehrt erst um Mitternacht zurück. Ich war die ganze letzte Nacht über verärgert. Ich danke für die Zusendung all der Mitteilungen und der Korrespondenz. Was für ein Haufen Papier! Hat wirklich sie all das geschrieben? Übrigens, durchaus mit Stil. Jedenfalls danke ich dir. O ja, du liebst mich. Zürne mir nicht wegen gestern und, bei Gott!, komme morgen!
A.
Pjotr Iwanytsch erbricht das Siegel des zweiten Briefes.
Pjotr Iwanytsch!
Auch so hätte ich nie wieder einen Fuß in Ihr Haus gesetzt; Sie haben das Papier also umsonst beschmiert.
In der nächsten Woche fahre ich nach Simbirsk. Aber als unschätzbarster Vertrauter und liebenswertester Freund bleibt Ihnen ja Jewgeni Nikolajitsch erhalten. Ich wünsche Ihnen Glück, und zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über die Galoschen.
ix
Am siebzehnten November erhält Iwan Petrowitsch durch die Stadtpost zwei an ihn adressierte Briefe. Nachdem er den ersten Umschlag geöffnet hat, entnimmt er ihm eine Notiz, die fast unleserlich und übereilt hingeworfen wurde.
Die Handschrift seiner Frau. Empfänger Jewgeni Nikolajitsch, datiert vom 4. August. Sonst nichts. Iwan Petrowitsch liest:
Leben Sie wohl, ach, leben Sie wohl, Jewgeni Nikolajitsch!
Möge Gott Sie auch dafür belohnen. Seien Sie glücklich, denn mir winkt ein grausames Los; schrecklich! So war es jedoch Ihr Wille. Doch wäre meine liebe Tante nicht gewesen, ich hätte mein Schicksal in Ihre Hand gelegt. Spotten Sie nun jedoch nicht über mich oder über meine Tante. Morgen halten wir Hochzeit. Die Tante ist froh, dass sich ein guter Mann gefunden hat, der mich auch ohne Mitgift nimmt. Ich habe ihn mir heute das erste Mal genauer angesehen. Er scheint ein wirklich guter Mann zu sein. Schon ruft man nach mir. Leben Sie wohl, ach, leben Sie wohl… mein Geliebter!! Denken Sie nur irgendwann an mich; ich jedenfalls werde Sie niemals vergessen. Leben Sie wohl. Ich unterschreibe auch diesen letzten Brief wie den ersten… Erinnern Sie sich noch?
Tatjana
Im zweiten Brief fand sich Folgendes:
Iwan Petrowitsch!
Morgen erhalten Sie von mir neue Galoschen; es gehört nicht zu meinen Gepflogenheiten, anderer Leute Eigentum zu stehlen; genauso wenig mag ich es, alle möglichen Schnipsel von den Straßen aufzuklauben.
Jewgeni Nikolajitsch bricht demnächst nach Simbirsk auf, in Geschäften seines Großvaters, und hat mich gebeten, ihm einen Reisegefährten aufzutreiben – wäre das nicht etwas für Sie?
das krokodil
Eine ungewöhnliche Begebenheitoder pas à pas in die Passage1
Die getreue Erzählung darüber, wie ein Herr in gewissem Alter und von gewissem Äußerem in der Passage bei lebendigem Leib von einem Krokodil geschluckt wurde, noch dazu restlos, und was daraus erwuchs
Ohé, Lambert! Où est Lambert?
As-tu vu Lambert?2
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Am dreizehnten Januar dieses laufenden Jahres fünfundsechzig äußerte Jelena Iwanowna, die Gemahlin meines gebildeten Freundes Iwan Matwejitsch, der auch mein Kollege ist und beinah als entfernter Verwandter gelten darf, um halb eins am Vormittag den Wunsch, jenes Krokodil zu sehen, das gegen ein gewisses Entgelt in der Passage zu besichtigen war. Da Iwan Matwejitsch sein Billet für eine Fahrt ins Ausland– die er nicht aus Gesundheitsgründen, sondern aus reiner Wissbegier plante– bereits in der Tasche hatte, folglich im Dienst als «im Urlaub» galt und mithin an diesem Tag völlig frei war, legte er dem unbezwingbaren Wunsch seiner Frau nicht nur keine Hindernisse in den Weg, sondern entbrannte selbst in Neugier. «Eine hervorragende Idee», sagte er, zufrieden mit sich und der Welt, «besichtigen wir das Krokodil! Wenn wir schon nach Europa3 fahren, kann es nicht schaden, vorab noch hier in der Stadt die dortigen Bewohner in Augenschein zu nehmen», und mit diesen Worten machte er sich, seine Gemahlin am Arm führend, sogleich auf den Weg in die Passage. Ich schloss mich ihnen in meiner Eigenschaft als Freund der Familie aus alter Gewohnheit an. Nie zuvor hatte ich Iwan Matwejitsch in aufgeräumterer Gemütsverfassung erlebt als an diesem für mich so unvergesslichen Vormittag– nur gut, dass wir nichts über unser künftiges Schicksal wissen! Kaum hatte er einen Fuß in die Passage gesetzt, lobte er das prachtvolle Gebäude, und als er zu dem Laden ging, in dem das frisch in der Hauptstadt eingetroffene Untier gezeigt wurde, äußerte er gar den Wunsch, dem Krokodileur den Viertelrubel für mich zu zahlen, was bei ihm gleichfalls noch nie vorgekommen war. Nachdem wir den kleinen Raum betreten hatten, entdeckten wir, dass er außer dem Krokodil auch noch Papageien von der exotischen Art des Kakadus sowie– dies vor allem– in einem Schrank in einer Nische eine Gruppe von Affen beherbergte. Unmittelbar neben dem Eingang stand an der linken Wand eine große, von einem soliden Eisengitter abgedeckte Blechwanne, an deren Boden ein Werschok4 hoch das Wasser stand. In dieser flachen Wasserlache wurde ein riesiges Krokodil gehalten, das reglos wie ein Baumstamm dalag und in unserem rauen und für Ausländer so unwirtlichen Klima offenbar all seine Vitalität eingebüßt hatte. Das Untier weckte zunächst in keinem von uns besondere Neugier.
«Das soll also dieses Krokodil sein!», sagte Jelena Iwanowna mit vor Entrüstung strotzender Stimme und jedes Wort in die Länge ziehend, «das hatte ich mir aber… irgendwie ganz anders vorgestellt!»
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hatte sie sich einen großen Diamanten vorgestellt. In diesem Augenblick kam der Deutsche5, der Herr des Ladens und Besitzer des Krokodils, auf uns zu und sah uns mit hochstolzer Miene an.
«Er strahlt nicht ohne Grund», flüsterte Iwan Matwejitsch mir zu, «weiß er doch, dass er der Einzige ist, der in ganz Russland zurzeit ein Krokodil vorführt.»
Diese völlig absurde Bemerkung schob ich ebenfalls auf die zutiefst ausgeglichene Stimmung, die Iwan Matwejitsch heute an den Tag legte, neigte er doch bei anderen Gelegenheiten zu furchtbarem Neid.
«Ich persönlich glaube ja, dass Ihr Krokodil überhaupt nicht lebt», säuselte Jelena Iwanowna, die sich ein wenig gekränkt gab, weil der Krokodilsbesitzer ihrem Charme so gar nicht erliegen wollte, weshalb sie sich nun mit einem aparten Lächeln an ihn wandte, um sich den Grobian etwas gefügiger zu machen, ein typisch weibliches Manöver.
«O nein, Madame», antwortete er mit starkem Akzent6, lüpfte die eine Seite des Gitters und pikte mit einem Stock in den Krokodilskopf.
Daraufhin gab das tückische Untier tatsächlich gewisse Lebenszeichen von sich, bewegte ganz sacht Beine und Schwanz, hob das Maul und stieß etwas aus, was man als langgezogenes Schnaufen bezeichnen konnte.
«Na, nimm’s ihnen nicht übel, Karlchen!», sagte der Deutsche zärtlich, nachdem sein Stolz solcherart befriedigt worden war.
«Hach, was für ein schauerliches Krokodil! Einen tüchtigen Schrecken hat es mir eingejagt», zwitscherte Jelena Iwanowna nun noch koketter. «Sicher werde ich heute Nacht von ihm träumen.»
«Aber da wird es Sie nun ganz bestimmt nicht beißen, Madam», versicherte der Deutsche galant und brach über seine Worte in Gelächter aus, in das von uns freilich niemand einstimmte.
«Kommen Sie, Semjon Semjonytsch», sagte Jelena Iwanowna ausschließlich an mich gewandt, «sehen wir uns doch lieber die Affen an. Ich habe Affen wirklich ins Herz geschlossen. Einige von ihnen sind ganz allerliebst… während dieses Krokodil einfach zu furchterregend ist.»
«Oh, keine Angst, meine Liebe», rief Iwan Matwejitsch uns hinterher, der vor seiner Frau nur zu gern den tapferen Mann mimte. «Dieser verschlafene Bewohner des Pharaonenreichs wird uns nichts anhaben», versicherte er und blieb bei der Wanne. Damit jedoch nicht genug, begann er, das Krokodil mit seinem Handschuh an der Nase zu kitzeln, um es, wie er später offen zugab, noch einmal zum Schnaufen zu bringen. Der Krokodilsbesitzer dagegen folgte, wie es sich gegenüber einer Dame gehört, Jelena Iwanowna zum Schrank mit den Affen.
Alles nahm mithin seinen schönsten Gang, nichts deutete auf das, was noch kommen sollte. Jelena Iwanowna beobachtete voller Hingabe die Affen und schien über diesen Tieren alles andere zu vergessen. Sie kreischte vor Vergnügen, wandte sich immer wieder zu mir um, als wollte sie den Krokodilsbesitzer auf keinen Fall ihrer Aufmerksamkeit würdigen, und lachte über Ähnlichkeiten, die sie zwischen den Affen und einigen ihrer guten Bekannten oder Freunden entdeckte. Auch ich hatte meinen Spaß, denn gewisse Ähnlichkeiten sprangen einem tatsächlich sofort ins Auge. Der Deutsche wusste nicht, ob er mit uns lachen sollte oder nicht, und setzte daher am Ende eine zutiefst finstere Miene auf. In ebendiesem Moment erschütterte wie aus heiterem Himmel ein schrecklicher– ich kann sogar sagen: ein unnatürlicher– Schrei den Raum. Entgeistert erstarrte ich zur Salzsäule. Als mir dann jedoch aufging, dass inzwischen auch Jelena Iwanowna schrie, drehte ich mich rasch nach hinten um und– der Anblick verschlug mir die Sprache! Ich sah– o Gott!–, ich sah den unglücklichen Iwan Matwejitsch quer zwischen den grauenvollen Krokodilskiefern, die seinen Rumpf gepackt und ihn in die Luft gerissen hatten, wo er in horizontaler Lage verzweifelt mit den Beinen strampelte. Schon in der nächsten Sekunde war er einfach weg. Gleichwohl will ich den Vorgang in allen Einzelheiten beschreiben, denn ich verharrte ja die ganze Zeit über reglos und verfolgte jenen Prozess, der sich da vor meinen Augen abspielte, mit einer solchen Aufmerksamkeit und Neugier, wie ich sie nie zuvor entwickelt hatte. «Denn», dachte ich mir in dieser verhängnisvollen Minute, «wenn das alles nicht Iwan Matwejitsch, sondern mir passieren würde– in was für einer Bredouille würde ich da jetzt stecken?» Doch zurück zum Geschehen. Das Krokodil drehte den armen Iwan Matwejitsch in seinen schrecklichen Kiefern zunächst mit den Beinen in Richtung Schlund, danach verschluckte es die Füße. Nachdem es Iwan Matwejitsch ein wenig ausgerülpst hatte– dieser versuchte sofort, ganz herauszuspringen oder sich mit den Händen am Wannenrand festzuklammern–, sog das Untier ihn erneut ein, diesmal bereits bis hoch zur Taille. Anschließend rülpste es ihn abermals ein Stück aus, um ihn danach wieder und wieder hinunterzuschlucken. Auf diese Weise verschwand Iwan Matwejitsch Stück für Stück vor unseren Augen. Schließlich verleibte sich das Krokodil mit einem letzten Schlucken meinen gesamten gebildeten Freund ein, und diesmal in der Tat restlos. Daraufhin ließ sich am Körper des Krokodils verfolgen, wie Iwan Matwejitsch mit all seinen Ecken und Kanten durch das Innere des Tiers glitt. Ich war kurz davor, erneut aufzuschreien, als sich das Schicksal plötzlich einen weiteren hässlichen Scherz mit uns erlaubte: Das Krokodil spannte kurz alle Muskeln an– vermutlich überforderten es die Ausmaße des von ihm verschluckten Objekts– und sperrte dann sein schreckliches Maul auf, aus dem in Form eines Schlussrülpsers plötzlich für eine Sekunde der Kopf Iwan Matwejitschs herausschnellte, der einen verzweifelten Gesichtsausdruck zeigte, während seine Brille kurzerhand von der Nase auf den Wannenboden fiel. Man hatte den Eindruck, dieser arme Kopf sei nur deshalb noch einmal herauskatapultiert worden, damit er einen letzten Blick auf alle Gegenstände werfen und innerlich von sämtlichen weltlichen Freuden Abschied nehmen konnte. Doch selbst das sollte dem Kopf nicht glücken: Das Krokodil brachte ein letztes Mal seine Kräfte zum Einsatz, schluckte– und der Kopf war wieder verschwunden, diesmal in der Tat für immer. Dieses Auftauchen und Verschwinden des noch lebenden Menschenkopfs war derart schrecklich, gleichzeitig aber auch– sei es, weil alles so schnell und überraschend vor sich ging, sei es, weil ihm die Brille von der Nase rutschte– derart komisch, dass ich völlig unvermittelt losprustete. Da mir freilich umgehend zu Bewusstsein kam, dass es sich für den Freund der Familie nicht gehörte, in einer solchen Minute zu lachen, wandte ich mich auf der Stelle Jelena Iwanowna zu und sagte voller Anteilnahme zu ihr: «Das also ist nun das Ende unseres guten Iwan Matwejitsch!»
Wie sich Jelena Iwanowna gefühlt haben muss, als das Unglück seinen Lauf nahm, vermag ich mir kaum vorzustellen. Beim ersten Schrei war sie noch gleichsam mit dem Boden verwachsen und beobachtete das Spektakel geradezu ungerührt, wenn auch mit außergewöhnlich weit aufgerissenen Augen. Dann stieß sie mit einem Mal einen markerschütternden Schrei aus, worauf ich sie bei den Händen fasste. In diesem Augenblick schlug obendrein der Krokodilsbesitzer, der in seiner Panik zunächst ebenso gelähmt dagestanden hatte, die Hände überm Kopf zusammen und lamentierte mit zum Himmel gerichteten Blick: «Ach, mein Krokodil, ach, mein allerliebstes Karlchen! Mutter, Mutter, Mutter!»7
Auf diesen Ausruf hin öffnete sich die Tür zu einem Hinterzimmer und die Frau des Deutschen erschien, eine schon ältere, rotwangige Dame mit einer Haube auf dem Kopf und völlig zerzaustem Haar, die sich mit einem Aufschrei auf ihren Mann stürzte.
ENDE DER LESEPROBE
inhalt
Roman in neun Briefen
Das Krokodil
Eine peinliche Geschichte
Die Sanftmütige
Ein kleiner Held
Anmerkungen
Nachwort
Editorische Notiz
Mit Kunstleder bezogene
Vorzugsausgabe der
Manesse Bibliothek der Weltliteratur
Einbandgestaltung: Cornelia Niere, München,
unter Verwendung eines Motivs von
© shutterstock/Aliaksei
Copyright © 2015 by Manesse Verlag, Zürich
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
isbn 978-3-641-16256-8
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