Augenblicke - Carsten Rathgeber - E-Book

Augenblicke E-Book

Carsten Rathgeber

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Beschreibung

Augenblicke (ver)führen zur Welt. Erzählungen Verlorene Mützen, Zollbetrug, ein Brief ohne Absender. In Spannung stehen Ökologie und das Duschen. Ein Spesenbetrug hat ungeahnte Folgen. Metallkugeln werden gefunden. Begegnungen im blauen Abteil. Ein Tanz in einer Kirche; eine Butterfahrt und ein Zollbetrug. Grünliche Lippen und eine rote Tasche. Eine Liebe wird realisiert. Weihnachtsglanz. Lyrik Wörter entschlüpfen dem Mund; Punkte begrenzen. Menschen reichen sich Kirschen; eine karge Nähe umhüllt sie. Sterne irritieren die Natur. Sind sie Hehler unserer Illusionen? Algorithmen gestalten transhumane Reflexionen. Die Vernunft schwebt nur leise. Uhren schweigen; Züge verharren auf rostigen Gleisen. Eine Barke fährt zu ewigen Gründen; in der Tiefe ist unbekanntes Leben. Heimat im Garten; angesichts des Todes neigen sich Tapeten. Ein roter Milan fliegt. Die Lage ist verdichtet. "gegebenes sucht eigenes sucht gründe"

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Inhaltsverzeichnis

Erzählungen

Übersicht zu den Erzählungen

Erzählungen

Lyrik

Übersicht zu den Gedichten

Gedichte

Alphabetisches Verzeichnis der Gedichte

Literatur (in Auswahl)

;

Autor / Kontakt

Übersicht zu den Erzählungen

Das Mützenwunder

Eine Freundschaft (Protokollfragment

)

Fragmentarisches Leben: Ökologie und das Duschen

Ein Kartengruß und ein Gedicht

Ein Diebstahl und die Richtung einer Kompassnadel

Das blaue Abteil

Blutspende und blaue Tropfen

Katzen, Schnecken, Muscheln und das Leben

Eine Butterfahrt

Grünliche Lippen

Frida & Arne

Kirchentanz

Liebeserklärung im Netz

Spesenabrechnungen

Metallkugeln

Zwillingsschwestern

Weihnachtsbäume, Putzfrauen und eine Leiter

Ein vierter Weg: Das fehlende Vermögen

Schmetterlinge

Kirchentanz

Rote Tasche

Das Mützenwunder

Unsere alte Stadt hatte keinen hellen Himmel. Dunst, Nebel, Wolken und das Diffuse erzeugten ein gelbliches Licht. Die Linien der Gebäude erschienen verschwommen. Schwefel- und Ölgerüche lagen in der Luft. Metallstangen, Eisenund Autobahnen, Zechen, Gasometer und Raffinerien prägten das Bild. Die Bäume standen oft nur für sich, beinah einsam am Straßenrand. Die Natur rang um ihre Würde.

Diese alte Stadt war für mich eine fremde Welt. Sie war ohne Zentrum und gab uns Menschen keinen Halt. Das menschliche Leben lebte in den Winkeln der Häuser und Fabriken und in den Schatten der Straßen und Gassen. Wir fanden Wärme und Beziehungen oft nur in verborgenen Ecken. Diese Stadt zerriss die Menschen. Ihren Namen möchte ich vergessen.

Unsere alte Stadt: Das stimmt, denn wir wohnen nicht mehr in ihr. Im Sommer – in diesem heißen Hochsommer – dachte ich noch, hier bleiben wir für immer und ewig. Es gibt für uns keine andere Welt. Ich hatte mir Mut zugesprochen und Überlebensideen gesammelt: Stelle dich auf eine lange Suche ein, entwickle einen Plan. Versuche, andere Menschen zu finden. In jenen Tagen spielte ich die Rolle des einsamen Welteneroberers: Als Geometer in der Wüste; als Astronaut; als Soldat.

Auch besorgte ich mir ein Fahrtenmesser. In den Schmuckläden hatte ich schöne, aber unbezahlbare Messer gesehen. Hinter dem Bahnhof traf ich einen mir fremden Jungen, den ich auf unserem Schulhof kennen gelernt hatte. Er bot mir ein Messer an. Eine seltsame Atmosphäre von Angst und Mut umwehte unsere Begegnungen. Die Treffen waren kurz und schienen mir nicht ungefährlich zu sein. Wir verhandelten und sprachen doch kaum. Unsere Augen redeten in ihrer eigenen Art. In der letzten Begegnung forderte er fünfzehn DM. Ich bot: „Zwölf“. Wir schauten beide ernst. Es kam zu keiner Einigung und ein jeder ging seinen Weg.

Und dann zogen wir um. Der Umzug kam wie ein unerwarteter Sommerregen, der über das Land geht. Für uns Kinder zumindest. Mein Vater veränderte sich beruflich und wir zogen in eine kleine Stadt.

Sehr gut kann ich mich an den Tag des Umzugs erinnern. Es kam ein weißer Transporter mit zwei Hecktüren. Er wurde auf dem Fabrikgelände, auf dem wir wohnten, beladen. Es war ein warmer und staubiger Spätsommertag. Der Asphalt glühte zwar nicht mehr, aber die Luft schwirrte und die Vögel schwiegen. Drei oder vier Möbelpacker packten an. Wir Kinder trugen Blumen, Tüten und Kartons mit Kleidung, Gardinen und Tüchern zum Transporter. Meine Mutter putzte noch in den leeren Räumen und reichte kalten Tee. Zur Mittagszeit war der LKW beladen. Die Ladetüren wurden geschlossen. Doch mein Fahrrad stand noch seitlich am Zaun. Die Packer hatten es übersehen. Eine Hecktür wurde wieder geöffnet und mit einem Hin und Her wurde es wie eine metallische Spinne auf die bereits eingepackten Sachen gelegt. Dann schlossen sich die Türen. Das große Abenteuer begann.

Die Gefühle bei meinen Eltern waren mir aber nicht klar. Bei meiner Mutter meinte ich eine Freude spüren zu können: „Wir sind dann wieder mehr im Norden“, sagte sie einmal nebenbei. Aber es war keine reine Freude, die in ihrer Stimme mitschwang. Ich meinte, einen resignativen Ton hören zu können; vielleicht sogar einen Klang der Niederlage. Bei meinem Vater blieb mir die Gefühlslage noch stärker verborgen. Die Versuche, seine Gefühlswelt ergründen zu wollen, blieben meistens ergebnislos. Eindeutigkeit fühlt sich anders an. Für meine Schwestern war es wohl eine Abwechslung in ihrem Alltagsleben. Ein Beieinandersein, in dem sie sich gegenseitig genug waren.

Die Umzugsfahrt dauert bis zum Nachmittag. Meine Eltern hatten am neuen Wohnort ein kleines Haus gemietet, in dem jeder von uns ein eigenes Zimmer erhielt. Ich erhielt mein erstes eigenes Zimmer. Es war zwar nur vier qm groß und hatte keine Heizung. Aber immerhin. Zum Haus gehörte auch ein Garten, den wir gemeinsam mit den Vermietern und noch einer anderen Mieterin, die ein kleines Appartement bewohnte, nutzen konnten.

Und in den ersten frühen Herbsttagen arbeitete meine Mutter an einem Nachmittag auch im Garten zusammen mit den Nachbarn. Sie trug wie so oft eine Küchenschürze und ein Kopftuch. Es wurde gegraben, gejätet und gezupft. Reste von Karotten und Kohlrabi, Kohl, Kartoffeln und Steckrüben wurden eingesammelt. Auch wurden noch einige Früchte geerntet. Stachelbeeren und Rhabarber gab es reichhaltig. Auch fanden sich noch vereinzelt Himbeeren. Die braunen, gelben und roten Blätter überlagerten aber bereits all die verschiedenen Grüntöne. Kleine Beete wurden gegraben und Abgrenzungen wurden angelegt. Zweige wurden geschnitten. Auch ein Zaunstück wurde ausgebessert. Fette Regenwürmer quälten sich durch die Erde. Käfer und kleinere Tiere liefen herum. Solches Getier und diese Spinnen hatte ich noch nie gesehen.

Meine Schwestern spielten an dem Nachmittag mit Maren, einer Nachbarstochter, Gummitwist. Maren war das Enkelkind unserer Vermieter. Ich selbst spielte nicht mit den Mädchen. Gegenüber Maren brachte ich gerade mal ein „Hallo“ über die Lippen. Es waren sehr schüchterne und spröde Begegnungen. An dem Nachmittag fuhr ich selbst Fahrrad auf den Seitenwegen zum Garten. Ich lernte so die Gegend kennen.

Es war ein noch lauwarmer Herbsttag. Die ersten Blätter der Sühne leuchteten auf: Eine blaue Grundfärbung mit rötlichen Spuren und grün-gelben Resten. Und dieses Blau wandelte sich zu einem Violett. Die Farbränder waren nicht klar. Das Spiel der Natur brachte auch in der Hinsicht eine Unschärfe, eine Mehrdeutigkeit ins Spiel. Etwas, worauf ich mich verstand. Und es wurde nach meinem Empfinden auch schon ein erster Wille der Natur zum neuen Leben spürbar. Vielleicht schon diese Sehnsucht zum Frühling, zu einer neuen Entwicklung. Die Schöpfung würde sich wieder bewähren können. Das Lächeln der Welt, so dachte ich, bleibt wohl leicht charmant. Jedoch würde vorerst der Winter kommen und sich ausleben wollen.

In der folgenden Woche waren meine Eltern verreist und ich musste mich an einem Mittwoch nach der Schule bei unseren Vermietern melden. Ich konnte dort zu Mittag essen und meine Hausaufgaben im Wohnzimmer an einem Tisch machen. Nach Abschluss der Arbeit legte ich meine Arbeiten dem Großvater von Maren, er war unser Vermieter, vor. Er war älter als mein Vater und wirkte sehr ernst und streng. Er, so schien es mir, sah in meine Seele. Er hatte den Blick eines Adlers und war genau bei der Sache. Meine Rechnungen kontrollierte er: Sie waren alle richtig. Und es ging, ich kann mich gut erinnern, bei einem Deutschaufsatz von mir um das Wort „Gans“. Ich war mir nicht sicher, ob ich ein ‚s’ oder ein ‚z’ am Ende zu schreiben hätte. Er fragte mich nach der Mehrzahl. Und ich sagte: „Gänse“. „So“, sagte er, „was hörst du?“ „Ein ‚s’“, meinte ich. „Richtig! Und so schreibst du in der Einzahl auch ein ‚s‘.“ Mir fiel eine Last von der Seele. Endlich hatte ich eine Regel gehört und wohl auch verstanden. Die Laute hängen eng mit der geschriebenen Sprache zusammen. Man kann es hören. Ich kann es hören. Ich hatte noch nie davon gehört! Kennen meine Lehrer diese Regel gar nicht? Ich überlegte, es in der Schule erzählen zu wollen. Es schien mir eine große Entdeckung zu sein. Dieses „Richtig!“, diese Zustimmung war wohl auch ein Lob. Ich war glücklich und beeindruckt. Ich hatte das Gefühl, geprüft zu werden – und dies in vielerlei Hinsicht. Dieses trockene, knappe und zugleich so klare „Richtig“ war für mich wichtiger als jedes überschwängliche Lob. Ich brauchte kein Kinderlob mehr. Eine nüchterne Bestätigung war ganz in meinem Sinne. Ich wurde als würdig für das ernsthafte Lernen und Leben angesehen. Der Großvater von Maren wusste viel von mir. ‚Er lässt sich nicht täuschen‘, war mein Gedanke. Und ich wollte bestehen. Er war mein Prüfer, mein Prüfstein. Doch ich merkte auch, dass meine Möglichkeiten zur Beeinflussung gering waren. Ich konnte auf keinen Fall ein Schauspiel oder ähnliches aufführen. Sei korrekt, ehrlich und fleißig! Sei nicht dumm; strenge dich an!

Am Samstag darauf arbeitete meine Mutter wieder im Garten. Es war vielleicht schon der goldene Herbst, von dem manchmal bei uns in der Familie gesprochen wurde. Meine Mutter, unsere Vermieter und eine weitere Nachbarin unterhielten sich im Garten. Sie sprachen, ich hörte es nebenbei, über Pflanzen, Gartengestaltungen, Kinder, auch Bücher und Lebensorte. Und erzählt wurde von der Herkunft, den Hoffnungen, den stolzen Gedanken, Bindungen und Erwartungen. Jeder verdeutlichte seine Kräfte und Konflikte und konnte diese so vielleicht auch klären und zum Teil überwinden. Es wurde, so schien es mir, auch gesprochen, um eine neue Heimat zu stiften. Die Sätze bildeten ein Netz, das sich mit dem Garten, den Pflanzen und den anderen Menschen und ihren Gefühlen verband. Ein Netz wurde gewebt, das sich dann über uns legte. Es richtete wie ein äußeres Feld unsere Gefühle und Gedanken, die Bilder und Wünsche aus. Die Wörter selbst erhielten so ihren Klang und ihre Richtung. Manchmal schien es mir, als ob auch meine Träume und Ängste ausgerichtet wurden. Dieses Netz versprach uns eine Zugehörigkeit und band uns ein.

Meine Schwestern spielten am Nachmittag wieder mit Maren im Garten. Sie trug eine grau-gelbe Strickjacke und hatte lange blonde Zöpfe. Es gab Kekse und Saft. Alles erinnerte mich an die Erntezeit auf dem Hof meiner Großeltern. Und es erinnerte meine Mutter, so dachte ich, bestimmt auch an ihre Eltern und Geschwister, ja an ihre Heimat. Diese hatte sie als junges Mädchen verlassen müssen. Der später geborene Bruder übernahm den Hof. Ihr blieb die Erinnerung an das Leben in der alten Welt. Meine Großeltern waren selbst Flüchtlinge. Und auch auf der Seite meines Vaters war die Familiengeschichte seit Jahrhunderten geprägt von Fluchterfahrungen.

Die Tage waren inzwischen kürzer und die Sonne stieg nicht mehr so hoch. Die Luft war müde und das Licht war leicht milchig gelb. An jenem frühen Nachmittag wurde es jedoch noch einmal richtig warm. Ein Geruch von der Fülle des Lebens lag in ihr. Ich roch die Erdschollen. Es drang in all meine Poren. Die Gerüche und Farben belebten mich. Sie hüllten mich ein wie eine warme Decke und trugen mich. Es war für mich angenehm und berauschte mich. Das alte Leben findet seinen Abschluss im Herbst. Ein neues Leben wird vorbereitet. Diese Stimmung des Übergangs erfüllte mich mit einem guten Empfinden. Kleine Flugdrachen sah ich in Gartenparzellen fliegen. Ich war seltsam eingebunden und zufrieden.

Und ich war froh, an diesem Nachmittag wieder Fahrrad fahren zu können. Das Rad war mein Freund. Immer wieder ging es vom Hinterhof über den Gartenweg zur Nebenstraße und von dort auf einem Rundweg zurück zum vorderen Teil des Grundstücks. Manchmal, wenn ich zurückkam, gab es ein „Hallo“. Ich hatte eine leichte Weste aus braunem Cord an und auf dem Kopf trug ich eine grüne Pudelmütze, meine Lieblingsmütze. Auch einige Kinder aus dem Viertel spielten dort und wenige fuhren mit ihren Rädern. Es gab zum Teil kleinere Wettfahrten. Es war immer nur ein Spiel.

Ein roter Straßenreinigungslaster der Stadt fuhr an diesem Nachmittag gemächlich durch die Straßenzüge und reinigte diese. Eine große Besenrolle drehte sich und sammelte Laub, Papierreste, Staub und Dreck ein. Ich überholte die Kehrmaschine, sie fuhr bestenfalls im Schritttempo, immer wieder. Öfters fuhr sie auch wieder rückwärts, um danach einen Platz, eine Kante noch einmal aus einer veränderten Richtung zu reinigen. Beim Radfahren wurde mir warm. Und bei einer dieser Touren nahm ich nebenbei die Pudelmütze ab und stopfte sie unter meine Weste. Als ich nun wieder zurückkam, rief Maren in einem besorgten Ton: „Deine Mütze ist weg!“ Überrascht, dass ihr dies aufgefallen war, antwortete ich leichthin und irgendwie unüberlegt: „Sie ist mir vom Kopf geflogen und die Kehrmaschine hat sie aufgesaugt.“

„Aufgesaugt“: an das Wort kann ich mich genau erinnern. Stille kehrte für einen Moment ein. Es gab keine Rückfrage oder Ermahnung, nun bitte bei der Wahrheit zu bleiben. Mein Satz wurde, so schien es mir, geglaubt. Was hatte mich getrieben? Mein leichter Ton war mir selbst eher fremd. Höfliche Scherze waren erlaubt. Es überschritt nun eine Grenze. Ich hatte gelogen und stand mir selbst ungläubig gegenüber.

Maren war zumindest beeindruckt und bedauerte mich angesichts meines Missgeschicks. Vielleicht bewunderte sie mich sogar für dieses Unglück. Sie erzählte meine Geschichte den anderen. „Oh, sieh an!“; „Was es nicht alles gibt.“ Die Geschichte gewann ihren Raum: Sie war interessant. Ich erfuhr eine Aufmerksamkeit, die mich rührte. Doch nach wenigen Minuten wurde mir das Geschehen unangenehm. Es war mir peinlich. Ich hatte mich wichtig gemacht. Eine hilfreiche Korrektur fiel mir nicht ein. Ich wagte keine Deutung, um meinen Satz zu korrigieren. „Oh, dieser Scherz ist mir aber gelungen!“ Ich war wie gefangen. Ein Satz hat das Leben verändert. Auch dies konnte ich keinem sagen. Ich war unruhig wie ein verwundetes Tier. Was denken die Menschen von mir? Meiner Mutter sah ich nicht mehr in die Augen. An meinen Vater wollte ich gar nicht denken. Und Marens Großvater ging ich nur noch aus dem Weg. Wie könnte ich seinem Blick standhalten? ‚Ich genüge ihm nicht‘, dachte ich. Er wird mich durchschauen und entlarven. Der Rausch der Aufmerksamkeit war allemal verflogen. Ich konnte mich nicht erklären. Ich schämte mich.

Noch am späteren Nachmittag legte ich die Mütze in unsere Mülltonne. Ich legt sie sorgfältig, geradezu behutsam zur Asche. Es tat mir zutiefst leid. Doch mir blieb nur dieser Weg. Nur so konnte ich das Unheimliche, das ich angerichtet hatte, verdecken. Und so kam es in gewisser Hinsicht auch: Keiner sprach mehr davon. Wobei es auch daran lag, dass ich den Nachbarn – speziell Maren – einfach aus dem Weg ging.

Ich spürte die Macht der Regeln. Und doch gab es da noch ein kleines Licht der Wahrheit in mir. Immerhin versprach mir meine Übereinstimmung mit ihr eine gewisse Ruhe und Annahme. Doch die Wellen der Welt erfassten mich immer wieder. Ich musste mit ihnen schwimmen. In den Abendstunden betete ich damals immer ein Gebet. In diesen Wochen hatte ich mich selbst dazu verpflichtet, das Gebet fehlerfrei und flüssig dreimal hintereinander zu sprechen. Meistens gab es eine Störung. Ein Geräusch tauchte auf; ich musste schlucken oder husten; der Text geriet mir durcheinander. Ich musste dann, das gehörte zu meiner Abmachung, wieder neu anfangen. Es hat in den Wochen oft gedauert, bis ich einschlafen konnte.

Einige Zeit später, so gegen Ende November, fielen die ersten Schneeflocken. Der Winter kam und es wurde kalt. Und bei der Suche nach meinen Wintersachen fand ich in meiner Kommode meine alte grüne Pudelmütze wieder. Sie lag akkurat bei meiner Winterkleidung und war ganz sauber und frisch gewaschen. Sie war einfach da. Ich hatte sie wieder!

Ich saß sprachlos in meinem Zimmer und konnte mir diesen Fund nicht erklären. Ich hielt die Mütze in der Hand und blieb für mich stillsitzen. Fragen jagten durch meinen Kopf. Ich konnte keine Erklärung finden. Es war wie ein unerwartetes Wunder. Meine Gefühle tanzten. In der Familie nahm es, so schien es mir, jeder einfach hin, dass sie wieder da war. Es gab keine einzige Bemerkung. Wer hatte sie gefunden, gereinigt und bei mir in die Kommode gelegt? Es war für mich rätselhaft. Ich wagte es nicht, darüber zu sprechen. Das Geheimnis wurde nie besprochen.

Am nächsten Morgen sah ich ein rotes Leuchten am Rand des Horizonts. Der Himmel glühte. „Die Engel backen für Weihnachten", meinte meine Mutter leichthin.

Eine Freundschaft (Protokollfragment)

„Von mir willst du den Weg erfahren?“ „Ja“, sagte ich (…) „Gibs auf, gibs auf“, sagte er und wandte sich mit einem großen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.“ Kafka, Franz (*)

Als ich am Nachmittag zu Besuch kam, lag Pit bereits im Bett. „Bist du müde? Krank?“ „Nein, nein“, lautete die Antwort. „Vielleicht aber doch.“ Er wirkte auf mich leicht verlegen. Seine Zähne hatte er sich geputzt: „Ich habe mich dann ausgezogen und schlafen gelegt. Mir fiel auf, dass es gar nicht dunkel war.“ Wir schauten uns an und schwiegen. Eine Spur von Verunsicherung wurde spürbar, wohl auf beiden Seiten. „Ich putze mir abends immer die Zähne und gehe schlafen.“ „Du bist überarbeitet. Mach Urlaub!“ Wir sprachen über Rituale und über den Menschen als Tier und als geistiges Wesen. Diese Verbindung zwischen den Dimensionen interessierte uns. Vielleicht auch, da sie den Glauben berührt. Und dieser Glaube spielte eine Rolle in unserem Leben. Er verband uns. Heute erscheint es mir so, als ob dieser Glaube uns ein anerkanntes Abseits im gesellschaftlichen Leben und einen sicheren Ort außerhalb der üblichen Sphären ermöglichte. Einen simplen Humor teilten wir und eine gewisse Unbekümmertheit und Lebendigkeit prägte unsere Begegnungen. Bei manchen Gesprächen kam ich mir sehr erwachsen vor. Es gab auch spektakuläre Aktivitäten. Ich erinnere eine ‚Schimpfreise‘ an die innerdeutsche Grenze: Wir stellten uns vor die örtlichen Mikrofonanlagen und sprachen von Menschenrechten und Freiheit. Wie naiv waren wir! Es gab eine Kanufahrt bei einem Sturm auf der Ostsee. (Mehrere Menschen verunglückten. Es gab Todesfälle. Wir haben den Schrecken erst später realisiert.) In einem Winter fuhren wir nachts von einer Festveranstaltung hinter einem Bus in Pits Ente bei kräftigem Schneetreiben fast dreißig Kilometer nach Hause. Bei mir vorm Haus sprang ich aus dem fahrenden Pkw, da wir Angst hatten, dass der Wagen sonst nicht mehr fahren würde. Ich landete in einer hohen Schneewehe. Pit gab Gas und fuhr weiter. Es gab viele kleinere Begegnungen: Lange Diskussionen nachts im Kanu auf einem See erinnere ich und Fütterungen von Enten am Wochenende. (Manchmal kaufen wir frisches Brot dafür.) Die Besuche verliefen oftmals ähnlich: Wir erzählten und gingen dann auseinander. Jedoch standen wir noch im Flur oder vor der Haustür und sprachen weiter. Manchmal waren diese Nachgespräche – wie eine späte Zigarette (wobei wir beide nicht rauchten) – viel länger als die ursprüngliche Verständigung. Hierbei trat eine Übereinstimmung auf, die vorher so nicht spürbar war. Die Abschiede waren immer unsere besonderen Leistungen. Von Pit wusste ich familiär kaum etwas. Es gab die Eltern und Geschwister. Ich kannte noch nicht einmal die Namen. An ein Telefonat kann ich