Aus dem gleichen Nest - Anny von Panhuys - E-Book

Aus dem gleichen Nest E-Book

Anny von Panhuys

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Beschreibung

Vereint in Freud und Leid schreiten die beiden Schwestern Franziska und Therese hinter dem Sarg ihres Vaters her. Doch bald ist ihnen neues Glück beschieden. Beide, frisch verheiratet, erwarten Nachwuchs. Franziska wird Mutter von zwei süßen Zwillingsmädchen. Doch Therese stürzt vor der Geburt, ihr Kind kommt tot zur Welt. Aus Mitleid überlässt Franziska eines der Mädchen ihrer Schwester. Für Therese ist es ein so großes Glück, dass sie Klein-Maria nicht wieder hergeben mag. Als sie sogar deswegen einen Selbstmordversuch unternimmt, lässt Franziska sich erpressen und stimmt gezwungenermaßen der Adoption zu. Verbittert darüber wendet sie sich von der Schwester ab und will sie niemals wiedersehen. Während Franziska in einfachen Verhältnissen lebt, gelingt Therese mit ihrem Mann der gesellschaftliche Aufstieg. Um Maria bemüht sich eines Tages sogar der adelige Stefan von Hornstein. Doch ausgerechnet er begegnet eines Tages in der Straßenbahn einer jungen Frau, die Maria zum Verwechseln ähnlich sieht. Per Zufall gelingt es ihm, die Bekanntschaft der jungen Frau zu machen, während Maria völlig ahnungslos seinen vorsichtigen Fragen antwortet.Faszinierend und psychologisch differenziert beschreibt Anny Panhuys die so unterschiedlichen Leben zweier getrennter Zwillinge, die der Zufall eines Tages zusammenbringt. Ihr seltsames Schicksal ist auch das ihrer Mütter. Anny Panhuys ist ein ergreifender Frauenroman gelungen.-

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Aus dem gleichen Nest

Frauen-Roman

Anny von Panhuys

Aus dem gleichen Nest

© 1952 Anny von Panhuys

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711592267

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Der von Amorbach nach Seckach fahrende Zug hielt nur wenige Augenblicke auf der kleinen Station Hainstadt.

Vom Dorf klangen die Glocken.

Der Zugführer nahm die Mütze ab und schlug ein Kreuz:

„Gott schenke seiner armen Seele die ewige Ruhe, Amen!“

Im Dorfe senkte man zur selben Zeit seinen Kollegen, den Zugführer Falk, hinunter in die Gruft.

Die Eisenbahn ratterte weiter ins badische Land hinein, und ein schriller Lokomotivpfiff gellte weithin bis zum Friedhof und klang dem stillen Schläfer nach, gleich einem letzten Gruß des „Zügles“, mit dem er lange Jahre auf der heimatlichen Strecke hin und her gefahren.

Die Schulkinder sangen, und der Priester segnete mit schmalen durchgeistigten Händen den Toten. Zwei junge Frauen schluchzten laut und in den feinen, wolkenzarten Weihrauchduft, der ein bißchen zum Hüsteln reizte, fielen rasche Regentropfen. Ein Frühlingsregen, der das erste Grün der Büsche besprengte und den Blättern eine gläserne Klarheit gab.

Die Zeremonie war zu Ende. Der junge Priester trat zu den beiden schluchzenden Frauen. Er reichte ihnen nacheinander die Rechte:

„Der Herrgott hat einen braven Mann zu sich gerufen, Sie aber dürfen sich nicht so sehr Ihrem Kummer hingeben, Sie müssen nun an die Kommenden denken, müssen ein heiteres Gemüt bewahren für die Kindlein, die Ihnen Gottes Gnade schenken will.“

Die jungen Frauen lächelten weich und schamhaft und in den Augen, die noch feucht waren von Tränen um den Vater, blitzte schon ein kleines frohes Lichtlein auf.

Und neben ihren Männern, deren Namen sie erst seit einem halben Jahre trugen, schritten sie durch die frühlingslauen Dorfstraßen. Betraten mit ihnen das kleine Häuschen, in dem sie unter der Obhut der Eltern groß geworden, und aus dem man erst die Mutter und nun auch den Vater hinausgetragen hatte nach dem Orte der Toten.

Es galt die Hinterlassenschaft zu regeln. Schwestern und Schwäger wurden sich schnell einig, nur zwei kleine Bildchen gaben Anlaß zu einigem Hin- und Hergerede.

Zwei alte kleine Bildchen, verblaßt und matt. Vater und Mutter aus jener Zeit, da sie noch Brautleute gewesen. Und dann einigte man sich auch darüber. Franziska, die ältere der Schwestern, die den Volksschullehrer Alois Kaiser aus der nahen Kreisstadt Buchen geheiratet, entschied sich für das mütterliche Bild. Das väterliche nahm die jüngere Schwester Therese, die Frau des Technikers Robert Normann aus Aschaffenburg.

Die Bilder der Eltern, die zusammengehörten, waren, wenn auch räumlich getrennt, doch gewissermaßen immer noch eng verbunden durch die Liebe der Schwestern, die sehr aneinander hingen.

Für Zugführer Falks Häuschen fand sich in Kürze ein Käufer, und es gab nun für die Schwestern keinen Grund mehr, das Heimatsdorf aufzusuchen, wenngleich es der Kreisstadt Buchen sehr nahe lag und von Aschaffenburg ohne Unbequemlichkeiten zu erreichen war. Ab und zu flog ein kurzer Brief über allerlei häuslichen Kleinkram, der doch den jungen Frauen unendlich wichtig dünkte, von Aschaffenburg nach Buchen und ebenso zurück, dann trat längeres Schweigen ein, bis eines Tages ein von glückszittriger Hand geschriebener Brief des Lehrers Alois Kaiser den Verwandten meldete, er sei Vater eines Zwillingspärchens geworden, zwei winzige blonde Mädelchens, die er Barbara und Maria taufen lassen wolle, seien angekommen.

Acht Tage danach erwartete man auch in dem kleinen Aschaffenburger Heim ein Mädchen oder einen Buben, aber Frau Therese, die in ihren Bewegungen immer etwas zu lebhafte, stürzte beim Fensterputzen vom Stuhle und rabenschwarz schwebte der Todesengel ob ihrem jungen hübschen Haupte. Ein kleines Mädel, das niemals die Augen dem Erdenlicht entgegengeöffnet, betrog das junge Paar um eine schöne Hoffnung.

Therese Normann weinte und flehte in bangen Fieberträumen um ihr Kind, und ihr Mann sann verzweifelt, wie dem geliebten Weibe zu helfen sei. Sann und sann und wußte sich endlich auch einen Rat. Er ließ die Schwerkranke unter der Obhut einer Pflegerin und fuhr eines Morgens in aller Herrgottsfrühe nach dem badischen Städtchen Buchen. Schon am Abend kehrte er wieder heim, und in seiner Begleitung befand sich Franziska Kaiser. Sie trug ein weißes Bettenbündel, und daraus schaute ein kleines Köpfchen mit krausen flaumigen Härchen und Augen wie Veilchen, so samten und dunkel.

Die Pflegerin legte der fiebernden Frau ein kleines Mädelchen in die Arme und sonderbar, von Minute an wich das Fieber, und langsam ward die Schwerkranke dem Leben wiedergewonnen.

Erst vier Wochen danach durfte es Robert Normann wagen, Therese darüber aufzuklären, wer in Wahrheit die Mutter des Kindes war.

Ein wilder Tränenstrom war die Antwort.

„Ich gebe Klein-Maria nicht wieder her“, schrie sie in fassungslosem Jammer auf und dann: „Hättet ihr mich lieber sterben lassen, dann wäre mir wohler!“

Franziska war gekommen, um ihr Mädelchen zu holen, aber das Entsetzen und Weh der Schwester bedrückte ihr Herz unsäglich.

„Behalte Klein-Maria, bis dir wieder Hoffnung wird auf ein eigenes Kind“, sagte sie weich.

Robert Normann zerrte an seinen Fingern herum, als wollte er sie zerbrechen, ihm war zumute, als müsse er laut aufheulen vor Schmerz, gleich einem verwundeten Tiere. Er gedachte der Worte des Arztes, die ihm plötzlich wieder lebendig wurden und in ihm brannten wie fressendes Feuer: „Auf Mutterfreuden muß Ihr junges Weib für immer verzichten.“

So hatte der alte erfahrene Arzt gesagt.

Robert Normann trug die Last des entsetzlichen Wissens mit sich herum und wagte nicht die leisteste Andeutung.

Er selbst, gut, er wollte und mußte sich bescheiden, aber Therese in ihrer beinahe fanatischen Sehnsucht nach einem Kinde, du lieber Gott, sie würde unter dem Ausspruch des Arztes einfach zusammenbrechen.

Er zwang ein Lächeln auf sein Gesicht:

„Gut, laß uns Klein-Maria, bis Therese wieder Hoffnung wird auf ein Kindchen.“

Er dachte, auf diese Art gewann er wenigstens Zeit. Therese würde ruhiger werden und irgendeine trauliche Dämmerstunde gab ihm dann wohl den Mut, ehrlich zu ihr zu sein.

Seine starke Liebe mußte der Halt sein, an den sie sich anklammerte, nachdem sie erfahren hatte, daß sie niemals ein kleines Wesen von ihrem Fleisch und Blut in den Armen halten durfte. Niemals. — —

Nach einigen Monaten fragte Franziskas Mann, der Lehrer Alois Kaiser, an, ob man noch nicht bald daran denken könne, Klein-Maria in das Haus zu schaffen, wo es doch von Gottes und Rechts wegen hingehöre, und an jenem Tage raffte Robert Normann sich auf und ganz zart und vorsichtig sprach er zu seiner Gefährtin von dem harten Schicksal, das der Himmel über sie verhängt.

Thereses Antlitz war blaß geworden, und die Augen weitete das Grauen.

„Das kann nicht wahr sein, Robert“, zwängte sie mühselig hervor.

Robert Normann hätte Jahre seines Lebens hingegeben, wenn er gewußt, wie er die hübsche geliebte Frau zu trösten vermochte, aber er wußte es nicht, und kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn.

Therese schlang ihre Arme ungestüm um seinen Hals.

„Robert, ich gehe zugrunde“, wimmerte sie, „ich gehe zugrunde!“

Ihre Wangen brannten plötzlich in dunkler Röte.

„Ich will dem Schwager schreiben und ihn die Wahrheit wissen lassen“, sagte Robert Normann zärtlich tröstend und strich liebkosend über das glänzende Scheitelhaar der Frau. „Er wird dir darauf das Kind noch einige Zeit lassen“, fuhr er fort, „und wenn du willst, können wir ja später irgendein nettes Kind als eigen annehmen.“

Therese blickte ihn mit seltsam versonnenen Augen an.

„Ein nettes Kind als eigen annehmen“, wiederholte sie leise, aber mit einem gewissen Nachdruck.

Ein Fältchen schob sich zwischen ihre schmalen Brauen.

„Franziska besitzt zwei Kinder, ich keins, das ist ungerecht. Sie müßte mir Klein-Maria schenken.“

Eine Pause entstand.

Robert Normann war um eine Antwort verlegen. Er fand keine Erwiderung auf dieses so bestimmt ausgesprochene Verlangen seiner Frau. Trotzdem er sicher war mit einer diesbezüglichen Bitte bei Schwager und Schwägerin auf Widerstand zu stoßen, versuchte er Therese doch hinzuhalten.

Aber sie, völlig unter dem Eindruck ihres Gedankens, baute schon an der Brücke zur Ausführung desselben.

Wie in einen Taumel redete sie sich hinein.

„Franziska braucht nicht zwei Kinder, sie war niemals so kinderlieb wie ich, und der liebe Herrgott hat’s sicher so gemeint, daß sie mir das eine abgeben soll. Ich werde ihr das erklären, und mit dem Schwager werde ich auch fertig. Gerichtlich aber muß die Sache geordnet werden. Verbrieft will ich’s haben, daß ich fortan Klein-Marias Mutter bin, und Maria Normann muß das Kind heißen, Normann wie wir. Morgen suche ich Franziska auf, und sie darf sich nicht sträuben. Sie darf nicht!“

Gewichtig mit dem Nachhall einer heimlichen Drohung schloß sie.

Die Frau Lehrer Kaiser aber sträubte sich doch, und zwar sehr gründlich.

„Du tust mir sehr leid, Resi“, sagte sie einfach und herzlich, „aber Klein-Maria gehört hier ins Lehrernest, und da ich nun weiß, du wirst niemals ein eigenes Kindchen haben, so rate ich dir, Umschau nach einem fremden zu halten. Es gibt so viele arme Waisen. Betreue davon eine. Mir aber laß, was mir gehört.“

Therese hatte kaum zugehört.

„Ich habe Klein-Maria so lieb, könnte ein eigenes kleines Leben nicht lieber haben“, sprach sie innig, „ich will eine gute Mutter sein, und du brauchst niemals Angst zu haben, um das Menschenblümchen.“ Sie faltete die Hände. „Laß mir das Kind für immer, Fränze, sonst stößt du mich in Not und Verzweiflung.“

Franziska wehrte:

„Sei vernünftig, Resi, und füge dich, mein Kind muß mein bleiben.“

Therese blickte erschreckt auf die ältere Schwester. Dann lachte sie zornig auf.

„Hast mich deshalb gerettet vom Fieber, das sicher zum Tode geführt hätte, um mich nur in Wahnsinn zu stürzen? Hast du mir deshalb in böser Fieberstunde Klein-Maria in den Arm legen lassen, um mir heute mein Glück wieder zu entreißen und mich zur Bettlerin, zur Ärmsten unter dem Himmel zu machen? Das kannst du nicht und das darfst du nicht!“ Die hellen Tränen liefen ihr mit einem Male über das Gesicht. „Schwester, hast du kein Herz, empfindest du nichts von dem Jammer, der um mich herum ist, um mein ödes Leben?“ Sie hob der anderen die Hände wie flehend entgegen. „Du kannst vielleicht noch mehr Kinder dein eigen nennen, ich nie — nicht ein einziges. Ich liebe Klein-Maria, und nimmst du sie mir, dann ist’s aus mit mir, im Main ist so viel Platz, und da drinnen denke ich dann nimmer an mein Leid.“

„Therese, du redest irre, du versündigst dich!“ rief Franziska erschrocken, „komm zu dir, besinne dich!“

Therese Normann aber lächelte schwermütig und geheimnisvoll.

„Nimmst du mir Klein-Maria, dann bete für meine arme Seele.“

In Franziskas Kopf stürmten die Gedanken unablässig hin und her.

Beim Himmel, was sollte sie tun? Die Schwester tat ihr wirklich bitter leid, aber sie durfte ihr doch nicht das Kind geben für alle Zeit. Konnte ihr doch nicht ihre Mutterrechte abtreten, das ging und ging doch nicht an.

Therese lächelte noch immer schwermütig und geheimnisvoll, und ohne Gruß wandte sie sich zur Tür.

Franziska war traurig, aber zugleich ärgerlich. Weshalb gelang es ihr nur nicht, vernünftig mit der Schwester zu reden. Sie rief ihr nach, aber Therese hörte nicht auf sie und fuhr heim.

Am gleichen Abend beobachteten zwei Aschaffenburger Schiffer eine junge weibliche Person, die weit draußen am Main herumwanderte, um dann mit jähem Entschluß in das Wasser zu springen. Die Männer eilten hinzu und brachten Therese Normann noch lebend, aber von tiefer Ohnmacht umfangen, ans Ufer. Einer der Männer kannte zufällig die Lebensmüde, und triefend auf einer Bahre ward Therese in die Wohnung ihres Mannes gebracht. —

Kurze Wochen danach hieß Klein-Maria Maria Normann.

Franziska, die sich die Schuld an Thereses Tat zumaß, bezwang jeden Gedanken, der sich gegen ihren Entschluß wandte, in den tiefsten Herzenswinkel, sie wollte gutmachen, wollte der armen Schwester Frieden verschaffen, und Lehrer Alois Kaiser, der ihr niemals widersprach, tat es auch in diesem Falle nicht.

Inbrünstig dankte Therese.

„Du sollst deine Güte gegen mich niemals bereuen, Fränze“, gelobte sie, und ihr war zumute, als schwöre sie einen heiligen Eid.

Klein-Maria aber schaute mit dunklen Veilchenaugen um sich, sie ahnte noch nichts von den schweren Seelenkämpfen, zu denen ihr junges Dasein schon Veranlassung gegeben. Sie ahnte noch nichts von den Schmerzen und Sorgen der beiden Frauen, die beide ihre Mütter waren, die eine von der Natur, die andere durch Herzenswahl.

Aber Therese Normann besaß nun schwarz auf weiß, daß Maria ihr Töchterchen war. Da ein Zeugnis des Arztes beigebracht worden, in dem es hieß, sie würde niemals ein eigenes Kind haben, so stand einer Adoption nichts im Wege.

Maria Normann! flüsterte Theres oft dem Kinde ins Ohr oder rief es ganz laut. Sie freute sich, den Namen aussprechen zu dürfen und fand ihn schön und klangvoll.

Sie tändelte mit dem Kinde, putzte es wie ein Prinzeßchen und eiferte ihren Mann in seinem Berufe zum Vorwärtsstreben an. Klein-Maria müsse einmal ein reiches, vornehmes Fräulein werden, sagte sie zu ihm.

Robert Normann lachte froh und glücklich. Gewiß, was in seiner Macht lag, das wollte er tun. Er grübelte schon seit langem über eine Erfindung, eine neue Gußmasse, und er war überzeugt, die Sache ward. Aber Geduld gehörte dazu, und nochmals Geduld. Gott sei Dank besaß er die und einen klaren Kopf dazu. Seine hübsche Therese blickte wieder freudig in die Welt, und Klein-Maria war ihr Kindchen und das seine. Da mußte er ja sorgen und ein Vorwärtskommen erstreben, um den beiden eine schöne Zukunft zu schaffen.

Lange Nachtstunden durchwachte er und probte an seiner Erfindung, bis er dann so weit war, vor Hermann Stinner, den Chef der Maschinenfabrik und Gießerei, in der er beschäftigt war, hintreten zu können und ihm seine Erfindung zu erklären, die viele Vorteile vor der bisherigen Gießmethode aufwies. Sie gab einen glatteren, sauberen Guß, stellte sich auch um vieles billiger. —

Der Chef, ein Junggeselle von fünfunddreißig Jahren, der die Fabrik als ein liebes Lebenswerk seines Vaters übernommen, ließ gründliche Versuche mit der Erfindung anstellen.

Danach berief er Normann zu sich und besprach sich stundenlang mit ihm.

Hermann Stinner hatte ja nicht geahnt, welch gescheiter Mensch da unter ihm arbeitete und dachte. — Dachte, darauf kam es besonders an. — Solche Leute hält man, hebt man, schiebt man vorwärts.

Hermann Stinner verbesserte von Minute an Normanns Lage außerordentlich und beteiligte ihn für die Erfindung an den Einnahmen.

„Klein-Maria hat das Glück mitgebracht!“ behauptete Frau Therese. Klein-Maria war damals gerade zwei Jahre und ein richtiges süßes blondes Dingelchen.

Wie Therese Normann sich wandelte!

Sie war von je die hübschere der beiden Falkschen Mädchen gewesen, aber sie sowohl als auch Franziska hatte so ein leiser Hauch von Ländlichkeit umweht. Franziska blieb dieselbe oder vielmehr, sie riß als Frau des Buchener Volksschullehrers ihre Scheitel noch etwas straffer zurück, aber Therese blühte unter der Sonne des Glücks, der über ihrem kleinen Heime stand, auf wie eine Rose, die man in ein Erdreich verpflanzt, indem sie erst richtig Wurzel zu schlagen vermochte. Allmählich war die Wandlung vor sich gegangen, nach und nach, unauffällig, und war dann doch plötzlich allen in die Augen springend, da.

Die „schöne Frau Normann“ hieß sie in Aschaffenburg, und Hermann Stinner, der anfangs die kleine blonde Hainstädterin kaum beachtet hatte, machte, wenn er sie zuweilen traf, bewundernde Augen und murmelte ein entzücktes: Donnerwetter! in sich hinein. So eine Frau, so eine Frau! Der alte Junggeselle fühlte fast so etwas wie einen leichten Neid auf seinen Angestellten.

Der allein schien blind zu sein, merkte vor lauter Arbeitseifer nicht, wie schön die blonde Frau war und fand das stille Leben, das sie führte, ganz in der Ordnung.

Jahr um Jahr rann so hin, und Therese war zufrieden.

Du lieber Gott, was sollte sie sich noch Besseres wünschen? Klein-Maria gedieh prächtig, Robert verdiente viel Geld, und sie konnte sich kaufen, wonach sie Verlangen trug.

Umgang, Bekanntschaften?

Sie verspürte keine Sehnsucht danach. Die Angestellten der Fabrik, die sich mit ihrem Manne in einem Range befanden, als sie geheiratet, standen längst weit unter ihm, er hatte sich schon gewissermaßen zur rechten Hand des Fabrikherrn emporgearbeitet.

Die Honoratioren der Stadt aber erblickten in ihr noch ein bißchen die kleine Technikersfrau, die Dörflerin, die mit einem schlechtsitzenden Kleide und Garnhandschuhen in die Stadt eingezogen war.

Wozu sich da möglicherweise Demütigungen aussetzen? Dafür las sie, da sie über ein tüchtiges Dienstmädchen verfügte, in ihrer freien Zeit viele Romane, die in den vornehmsten Kreisen spielten, und immer wies sie sich selbst auch eine Rolle in diesen Romanen zu und träumte davon, daß ihr ein leibhaftiger Baron oder gar ein Graf die Hand küßte und sie „gnädige Frau“ nannte, wie es hier im Städtchen bisher nur ihr Dienstmädchen tat.

„Gnädige Frau!“ Diese Anrede gab den Anlaß zu einem Zwiespalt mit Franziska, die sich so ungefähr in jedem Vierteljahr einmal blicken ließ. Franziska hatte verwundert den Kopf geschüttelt, da sie zum ersten Male hörte, wie das Mädchen die Schwester „gnädige Frau“ ansprach.

Sie wartete, bis das Mädchen das Zimmer verlassen hatte, um dann aber gleich ihrem Erstaunen Ausdruck zu verleihen.

„‚Gnädige Frau‘, das war daheim die Herrschaftsdame im Hainstädter Schlosse, aber bei dir, Resi, hängt solcher Titel wie eine lächerliche bunte Fahne aus. Du heißt Frau Normann, wie ich Frau Kaiser.“

Thereses zartes Gesicht, an das sie nur feinste Veilchenmandelkleie brachte, ward rot von dem Blute, das ihr wie eine rasche Welle bis zu den Schläfen emporstieg.

„Du täuschest dich, beste Fränze“, erwiderte sie spitzig, „denn zwischen unseren Männern besteht doch wohl ein Unterschied. Der deine ist Volksschullehrer und wird es bleiben, der meine ist ein kluger Erfinder, vertritt bereits in vielen Dingen Herrn Stinner und verdient viel Geld.“

Die Antwort reizte die um zwei Jahre ältere Schwester.

„Unser Vater war der Zugführer Falk in Hainstadt, und seine Töchter haben nicht das Zeug dazu, ‚gnädige Frau‘ zu heißen.“ Sie wiegte bedenklich den Kopf, über den der hartsträhnige Scheitel lag. „Überhaupt verdrießt es mich längst, was du aus dir machst. Siehst fast wie eine Komödiantin aus mit der Haartracht, Wellen und Löckchen, daß man meint, du zahltest einen Haarkünstler.“

Therese lachte vergnügt auf, die Schwester erschien ihr jetzt in ihrem Puritanertum urkomisch.

„Nein, Fränze, einen Friseur bezahle ich nicht, aber eine Haarkünstlerin, und noch dazu eine sehr geschickte. Jeden Morgen tritt sie an und macht mich schön und striegelt dann auch jedesmal etwas an Klein-Marias Härchen herum. Nebenbei bemerkt, meint sie, Maria würde einmal sehr schönes Haar bekommen.“

Franziska war sprachlos.

An dem Kinderköpfchen versuchten bezahlte Hände Wirkungen zu erzielen? Das war ja gräßlich, abscheulich!

Endlich zeterte ihre Stimme auf.

„Du, laß es dir gesagt sein, Resi, mach’ mir aus meinem Kinde keinen Putzaffen, behängst es sowieso schon zuviel mit Spitzen und Korallenketten. Mein Kind soll keine Närrin werden!“

Da erhob sich Therese Normann ganz langsam von ihrem Stuhle.

„Klein-Maria ist mein Kind, und wie ich mein Kind erziehe, ist meine Sache!“

In diesem Augenblick ward die Klinke niedergedrückt und Maria wirbelte ins Zimmer. Ein lichtblaues Kleid mit vielem Gefältel und einem seidenen Gürtel umhüllte das schlanke gepflegte Körperchen. Die dunklen Veilchenaugen lachten, die geraden, blendendweißen Zähnchen blitzten. Sie knixte vor Franziska und reichte ihr die Hand, an der schon ein schmales Goldringlein aufleuchtete.

„Grüß Gott, Tante Fränze!“

Mit einer jähen Bewegung riß Franziska Kaiser das sechsjährige Mädchen in ihre Arme.

„Mein Kind, mein liebes Kind, du bleibst fortan bei mir, hier macht man eine Zierpuppe aus dir. Aber ich nehme dich wieder mit heim.“

Die Kleine wehrte sich erschreckt. Sie verstand den Sinn der Worte nicht, aber die rauhschalige Tante gefiel ihr lange nicht so gut, wie die Mutter, und sie wollte nicht mit ihr gehen nach Buchen. Dort war es gar nicht nett.

Sie löste sich mit kräftigen Ärmchen von Franziska los, floh auf Therese zu und barg ihr Gesicht in die Falten von deren Seidenbluse, die so wunderhübsch nach weißem Flieder duftete.

Leise und beruhigend redete die blonde Frau ein Weilchen auf das Mädchen ein und schob es dann mit sanfter Hand zur Tür hinaus.

„Geh draußen im Garten spielen, mein Liebling, Dörte soll dir den neuen großen Ball geben.“

Da lachte Klein-Maria schon wieder, aber keinen Blick mehr warf sie auf Tante Fränze zurück.

Die saß starr und steif wie eine Holzfigur auf ihrem Stuhle. Auch ihre Züge waren hart, als seien sie aus Holz geschnitzt, nur die Augen verrieten, wie es im Innern dieser Frau aussah.

„Es ist gottlob noch nicht zu spät, alles wieder einzurenken“, sagte sie dumpf, „aber es ist die höchste Zeit dazu. Maria ist mein Kind so gut wie Barbara, und man darf nicht trennen, was von Natur zueinander gehört. Deshalb fordere ich jetzt mein Kind von dir zurück, damit ich wieder gutmache, was ich schlecht gemacht.“

Bei dem letzten Wort erhob sich Franziska und stand da mit einem harten festen Entschluß um den Mund.

Therese gab sich einen Ruck. Wachte sie, träumte sie? Hatte die Schwester den Verstand verloren? Oder forderte sie im Ernste Klein-Maria, ihr höchstes Glück, von ihr?

Sie schaute mit blitzenden Augen auf die Schwester, die in ihrer Ehe so alt und eckig geworden.

„Was redest du nur, Fränze“, sprach sie, und sie hörte deutlich das Beben in ihrer Stimme, „du kannst mir doch unmöglich nehmen wollen, was du mir gegeben hast. Freiwillig gegeben hast, denn erzwingen konnte doch niemand das Kind von dir.“

Straff und hoch reckte sich die Frau in dem schlichten Wollkleide, die ihr gegenüberstand.

„Und doch hast du Maria von mir erzwungen, von meiner Schwesterliebe erzwungen. Oder hast du vergessen, daß man dich aus dem Main zog, und daß ich Maria hergab, um dein Leben zu retten?“ Ihre Wangen flammten. „So übtest du sogar einen starken, gewaltigen Zwang auf mich aus, und meine Liebe zu dir brachte das Opfer. Aber nun habe ich längst erkannt, wie unnatürlich ich handelte, sehe auch, daß aus dem Kinde bei deiner Erziehung nur ein eitler Fratz werden muß, und deshalb, hörst du, fordere ich Maria von dir zurück, und zwar gleich, auf der Stelle.“

Therese verharrte minutenlang wie versteinert, dann aber siegte die Klugheit über den Zorn, der in ihr gärte.

„Fränze, ich begreife dich nicht. Weshalb alles so gekommen ist, wie es nun ist, dürfte doch ziemlich gleich sein, es handelt sich vorläufig lediglich darum, wer von uns beiden ein Recht hat auf das Kind. Darauf kommt es an! Und da sag’ ich dir, magst du nur alle Gerichte der Welt in Bewegung setzen, das Kind ist mein, so steht es geschrieben. Deshalb, schon um des Kindes willen, sei meine gute treue Schwester wie früher, reich’ mir die Hand und laß uns die bösen Reden, die zwischen uns gefallen, vergessen.“

Sie trat einen Schritt auf die Ältere zu und bot ihr die Rechte.

Franziskas Antlitz blieb hart.

„Es ist eine Schande vor Gott und den Menschen, wenn ein Kind seine leibliche Mutter ‚Tante‘ ruft, und ich will ein Ende haben. Es quält mich schon lange und frißt an mir, daß ich Unrecht tat. Deshalb nochmals: gib mir mein Kind, damit ich es forme, wie es sein muß!“

Um Thereses Mund huschte Spott.

„Möchtest Klein-Maria wohl ein baumwollenes Läppchen anziehen und das Seidenhaar mit Rindertalg in einen dünnen Zopf zwängen? Möchtest ein Bauernmädel aus meinem süßen Liebling machen.“ Sie hob die Hand wie drohend. „Ehe ich mir Klein-Maria entreißen lasse, um sie in deine Finger zu geben, eher setze ich Himmel und Hölle in Bewegung. Das Kind ist mein und bleibt mein!“

Fest und nachdrücklich stampfte der kleine Fuß auf dem Teppich.

„Um Gottes willen, was ist denn nur los?“

Robert Normann, der zufällig vom Flur aus die immer lauter werdenden Stimmen vernommen, trat hastig ins Zimmer. Beide Frauen redeten gleichzeitig und überstürzt auf ihn ein. Therese fing an zu weinen.

Der Mann begriff endlich. Das Weinen seiner geliebten Frau tat ihm weh. Er schlang seinen Arm wie schützend um sie und auf seiner Stirn lag eine Wolke.

„Seien Sie friedlich, Schwägerin“, wandte er sich an Franziska, „denn Sie sind im Unrecht. Wir sind Ihnen lebenslänglich dankbar für das Glück, das Sie uns mit Maria schenkten, aber nun dürfen Sie auch dieses Glück nicht grundlos wieder vernichten wollen. Im übrigen finden Sie auf der weiten Welt keinen Richter, der Ihnen recht gäbe. Maria trägt unseren Namen und behält ihn, fügen Sie sich darein.“

„Nein und tausendmal nein, ich will und werde das nicht tun“, gellte Franziskas Stimme auf.

Therese weinte laut, es schüttelte sie wie ein Krampf.

„Wollen Sie meine Frau krank machen?“, empörte sich der geängstigte Mann, und sein Blick zeigte deutlich, er wünschte, Franziska möge das Haus verlassen.

„Ich bin im Recht“, schrie sie empört.

Der Mann zuckte die Achseln.

„Es steht Ihnen frei, Ihr Recht zu suchen, wo Sie wollen, Schwägerin, jetzt aber bitte ich Sie, meine Frau nicht noch mehr zu erregen, Sie erreichen dadurch doch gar nichts.“

Franziska griff, ohne noch etwas zu erwidern, nach ihrem einfachen Strohhut, der auf der Sofalehne lag und drückte ihn auf das glatte Haar. Sie war in den wenigen Ehejahren so gealtert, daß sie fast wie Thereses Mutter wirkte. Mit festem Schritt ging sie auf die Tür zu. Draußen im Gang stand noch der kleine Korb, den sie aus Buchen mitgebracht, sie nahm ihn und stieg eilig die niedrige Treppe hinab.

So stand sie gleich darauf im Garten, darin Klein-Maria mit einem großen bunten Ball spielte.

Das Kind jauchzte: „Schau, Tante, wie ich schon fangen kann!“

Franziska durchdrang das Wort „Tante“ in der Verfassung, in der sie sich eben befand, wie ein Dolchstoß.

Sie packte das eine Kinderhändchen.

„Komm, Maria, ich bin nun deine Mutter, und ich nehme dich mit nach Buchen, da spielst du mit Barbara, sollst sehen, wie hübsch das wird.“

Sie zerrte das Mädchen mit sich.

Maria schrie geängstigt auf und versuchte, sich dem rauhen Griffe zu entwinden.

So schroff und gewalttätig hatte sie noch niemand anzufassen gewagt.

„Ich will bei Mutter und Vater bleiben!“ jammerte das Kind, aber die grausame Hand ließ nicht locker, sondern schleifte das Kind förmlich nach.

Leute blieben verständnislos stehen. Mit einem Male stürzte Robert Normann aus dem Hause, und seine Stimme zwang Franziska zum Stehenbleiben.

„Augenblicklich lassen Sie Maria los, sonst rufe ich polizeiliche Hilfe herbei!“

Ein Fremder schimpfte: „Welch ein rohes, gewalttätiges Weib!“

Ein paar Fäuste erhoben sich gegen die Frau, die atemlos vor Wut, Schmerz und Scham endlich die Hand der Kleinen losließ, um dann wie gehetzt dem Bahnhof zuzustürzen.

Das Handgelenk Marias war ganz blau und rot unterlaufen, und Robert Normann nahm sie auf den Arm und kehrte mit ihr in das Haus zurück.

„Diese Furie!“ murmelte er und küßte und herzte die Kleine, der schwere große Tränen an den Wimpern hingen.

Therese eilte ihm entgegen.

„Dem Himmel sei Dank, daß unser Liebling gerettet ist!“

Ein zärtlicher Kuß war des Gatten Lohn.

„Aber wird Franziska auch nicht wiederkehren, um Klein-Maria zu rauben?“ fragte sie angstvoll.

Die Augen des Mannes blickten plötzlich hart.

„Sie soll es nur wagen, was ich an Mitleid und Sympathie für sie bisher besaß, das hat sie heute selbst vernichtet. Aber ich werde ihren Gelüsten ein für allemal einen Riegel vorschieben und ihr klarmachen, wem das Kind nach dem Gesetze zusteht.“

Und Robert Normann tat, wie er gesagt, nahm dabei aber nicht die mindeste Rücksicht auf Marias leibliche Mutter. Er ließ ihr ganz klar und kalt durch einen Anwalt die Rechtslage mitteilen und drohte bei einer Wiederholung der letzten Szene mit Anzeige.

Der Brief traf Franziska, die schon einzulenken beabsichtigte, wie ein Faustschlag.

So behandelte man sie, so niederträchtig, fast wie eine Verbrecherin? Demgegenüber schwand alle Milde. Wohl tat es entsetzlich weh, das eigene schuldlose Kind aus Herz und Gedächtnis zu reißen, aber was blieb ihr übrig? — Daß alles sich nun so entwickelte, das war ihre gerechte Strafe, weil sie Klein-Maria hergegeben.

Alois Kaiser runzelte zu dem Geschehenen die Brauen und zwinkerte mit den kurzsichtigen Augen.

„Den Normanns geht es zu gut, denen hat sich bisher alles fein sauber zu Willen gefügt, und davon steigt ihnen der Übermut zu Kopf. Müßte ihnen mal etwas verquer geraten, damit sie ihren Herrgott erkennen täten.“ Und er redete Franziska zu, sich zu fügen. Heimlich war er froh, daß die Frau verhindert wurde, Maria mit ins Lehrerhaus zu bringen. — Man hätte durch sie doch so allerlei Unkosten gehabt.

„Keinen Fuß setze ich mehr über Thereses Schwelle“, sagte Franziska in rauhem Tone. „Wenigstens nicht eher, als bis sie mich kniefällig darum anfleht.“

„Dann werdet ihr wohl für immer geschiedene Leute sein“, stellte Alois Kaiser fest und griff nach einem Buche. Die Sache war vorläufig für ihn abgetan. Ihm war am wohlsten, wenn man ihm seinen Frieden ließ.

Fortan hörten die Normanns nichts mehr von den Kaisers, und diese nichts mehr von jenen. Mit scharfem Schnitt war das Tischtuch zwischen ihnen entzwei geschnitten und blieb es.

Zuweilen dachte Therese an die Schwester und hätte ihr gern ein freundliches versöhnendes Briefchen geschrieben, aber dann fiel ihr ein, wie schroff Franziska das Kind begehrt und fürchtete einen neuen derartigen Auftritt.

Franziska aber grollte schwer und tief, denn man hatte ihr ja mit der Polizei und Anzeige gedroht, ihr, der Mutter Marias. Das vermochte sie nun und nimmer zu vergeben, nein, nun und nimmermehr. Sie besaß fernerhin nur ein kleines Mädelchen, das hieß Barbara. Die Normanns hatten es ja schwarz auf weiß, daß Maria ihr eigen war, für alle Zeit.

Franziska grollte nachhaltend.

In seinem einfach, aber behaglich ausgestatteten Privatkontor saß der Fabrikherr Hermann Stinner Robert Normann gegenüber. Seit einer Stunde saßen die beiden schon zusammen, und Hermann Stinner hatte sich bereits ganz warm geredet. Robert Normanns Augen waren von tiefem frohem Glanze erfüllt, da er nun sprach: „Ich danke Ihnen aufrichtigen Herzens für das Vertrauen, das Sie mir schenken, Herr Stinner; ich will Ihrem Wunsche gemäß gern Ihre neue Fabrik in Frankfurt am Main einrichten und auch die Leitung übernehmen. Nur will es mir noch immer wie ein Traum erscheinen, daß ich, gerade ich — — —“

Seine Stimme gehorchte ihm vor Erregung nicht mehr.

Hermann Stinner drehte an dem breiten Ringe seiner Linken herum.

„Niemand ist für die Stellung berufener als Sie, mein lieber Normann, Sie sind strebsam, gescheit und unserem Werke ergeben, ich könnte keine bessere Wahl treffen.“ Er beugte sich dem Jüngeren ein wenig entgegen, sprach unwillkürlich leiser, als fürchte er, einer der Beamten nebenan vermöge etwas von seiner Rede aufzufangen.

„Sehen Sie, bester Normann, ich denke, es ist in jeder Beziehung für Sie richtig, wenn Sie jetzt hier aus unserem Städtchen herauskommen. In einer großen Stadt bieten sich Ihnen allerlei Anregungen, die Sie anfeuern werden, unseren Zwecken und Zielen noch anders zu dienen als hier. Und dann müssen Sie auch etwas Rücksicht auf Ihre Familie nehmen. Sie besitzen eine schöne, junge Frau, die ihre wertvollsten Jahre gewissermaßen hier versauert. Junge, schöne Frauen sollen das Leben genießen, und man muß ihnen das gönnen. Hier aber, in unserem Städtchen, findet sich der rechte Umgang nur schwer, hier weiß einer zuviel vom anderen, und die Menschen haben mehr Kastengeist als in der Großstadt. Hier fragt man gleich: wo stammt dieser oder diese her? Dort heißt es: was und wer ist dieser oder diese? — Was einer geworden, das ist die Hauptsache in der Stadt, in der Tausende von Menschen tagtäglich aneinander vorbeigehen, ohne sich zu kennen.“ Er nickte Robert Normann zu. „Sie sind einer, der es verdient, hoch zu kommen, und Ihre Frau ist eine bildungs- und anpassungsfähige kluge Gefährtin, deshalb ist der Großstadtboden für Sie beide der richtige. Auch meine ich, müsse es Ihnen erwünscht sein, hier fortzugehen um Ihres Kindes willen, nach dem häßlichen Auftritt mit Ihrer Schwägerin. Sie beugen dadurch am sichersten einer Wiederholung des peinlichen Geschehnisses vor.“

Robert Normann neigte den Kopf.

„Alles, was Sie da sagen, Herr Stinner, ist richtig, aber mich freut es besonders, welch regen Anteil Sie an meiner Familie nehmen.“

Der Fabrikherr lächelte ein wenig.

„Vielleicht kommt das daher, weil ich selbst unbeweibt geblieben bin und bleiben werde —“

Robert Normann überflog mit prüfendem Blick die hohe Gestalt des Sitzenden, und sah dann, wie von einem plötzlichen Gedanken erfaßt, in das gutgeschnittene sympathische Gesicht.

„Verzeihen Sie, Herr Stinner, aber einem Freier wie Ihnen stehen doch alle Türen offen.“

Stinner rückte mit den Schultern.

„Möglich, aber ich heirate nicht! Oder aber —“ er sprach nicht weiter und Normann wagte das Schweigen nicht zu unterbrechen. Erst nach einer geraumen Weile fuhr Hermann Stinner fort: „Vor Jahren hatte ich ein Mädel lieb, aber dicht vor der Hochzeit erfuhr ich aus sicherer Quelle, und überzeugte mich auch selbst davon, daß sie es mit einem anderen hielt, mich aber dennoch, meines Geldes wegen, nehmen wollte. Seitdem bin ich nicht mehr ehelüstern.“

Robert Normann sagte weich und zufrieden:

„Es gibt auch ehrliche, gute Mädchen, die einem das Glück zu schenken vermögen.“

Er dachte an Therese, sah im Geiste ihre sonnige Blondheit, die immer um ihn besorgt war und ihn betreute.

„Die Ehe ist eine Lotterie, Sie haben darin halt einen Treffer gemacht“, lächelte Hermann Stinner und lenkte wieder auf das geschäftliche Thema zurück.

Er mochte nicht an die Dinge denken, die ihm einmal sehr weh getan.

Es ist eine alte Geschichte,

Doch bleibt sie ewig neu — — —

Ganz in der Nähe Frankfurts hatte Hermann Stinner eine Fabrik erworben, die ihren Betrieb eingestellt, und diese ward nun in der gleichen Weise wie die Aschaffenburger Fabrik und Gießerei instand gesetzt. Schon seit langem hegte Hermann Stinner den Wunsch, sein Werk zu vergrößern, jetzt aber waren verschiedene Umstände zusammengetroffen, die ihm die Verwirklichung nahelegten. Robert Normann ward der Direktor des Frankfurter Unternehmens, und Therese jubelte auf, als sie erfuhr, welche einschneidenden Veränderungen ihre nächste Zukunft bringen sollte.

So übersiedelte denn die kleine Familie bald nach Frankfurt, und es war, als erfüllte Therese von der Stunde an, da sie den Fuß auf großstädtischen Boden setzte, ein vollkommen neuer Geist.

Ihrem Dienstmädchen hatte sie noch in Aschaffenburg gekündigt, sie wollte nichts aus dem alten Leben mit hinübernehmen in das neue, das jetzt beginnen sollte.

Jetzt durfte ihr niemand das „gnädige Frau“ wie eine halbe Gunst schenken, von jetzt an nahm sie die Anrede als selbstverständlich in Anspruch.

„Mein Direktor und seine Familie müssen von Anfang an standesgemäß auftreten“, hatte Hermann Stinner zu ihr gesagt und danach zu Robert Normann: „Überlassen Sie die Äußerlichkeiten nur ruhig Ihrer Frau, Frauen haben von Natur ein gewisses Geschick für dergleichen.“

Er hatte die Entwicklung der kleinen Hainstädterin schon seit langem mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgt und wußte, daß solche Frauen wie Therese, gleichviel wo ihre Wiege gestanden, in eine vornehme Lebensrolle hineingleiten wie in ein eigens für sie zurechtgemachtes Gewand.

So mietete denn Therese Normann ein einstöckiges Häuschen im Westend, nahm Köchin und Hausmädchen an und ließ sich die Inneneinrichtung der Wohnung von einem Geschäft fix und fertig hinstellen. Von den Aschaffenburger Möbeln war nichts mitgenommen worden außer ein paar Kleinigkeiten.

Mehrere Wochen lang wohnten die Normanns im Hotel, und während Robert fast von morgens bis abends draußen in der Fabrik die Aufstellung der riesengroßen Maschinen leitete, beschäftigte sich Therese damit, ein hübsches Heim zu schaffen. Hermann Stinner, der öfters von Aschaffenburg herüberkam, sprach beiden seine Anerkennung aus. Und er selbst nannte Therese von nun an „gnädige Frau“. Er fand das in der Ordnung.

An einem herrlichen Herbsttage zog dann Robert Normann mit Frau und Tochter endgültig in das weiße villenförmige Westendhäuschen ein, und Therese schlug ein Kreuz, als sie über die Schwelle trat und murmelte leise: „In Gottes Namen!“

Am nächsten Morgen schon meldete sie Klein-Maria in der vornehmsten Töchterschule an, und das Hausmädchen mußte das Kind stets zur Schule begleiten und wieder abholen.