Aus dem Leben einer Missgeburt - Christian Manhart - E-Book

Aus dem Leben einer Missgeburt E-Book

Christian Manhart

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Beschreibung

Der Bauernfamilie Gurrer im oberbayerischen Schliersee wird im Jahre 1802 ein sonderbares Kind geboren. Eine für die damalige Zeit, klassische Missgeburt. Das Kind wirkt sehr schwach, atmet und trinkt kaum. Es wächst nicht. Bläulicher Teint, wunderschöne eisblaue Augen, Seidenglänzende glatte Haut und schwarzes sehr dichtes Haar, sind seine äußeren Merkmale. Seine Eltern sind mit dieser Strafe Gottes überfordert. Seine älteste Schwester nimmt sich daher seiner an und zieht ihn groß. Erst nach ihrem Tod, als Jacob Gurrer auf sich allein gestellt ist, beginnt sein wahres Leben. Intensiv und grausam lebt er sich durch die Zeit. Vor allem Frauen sind von ihmfasziniert.UnzähligeAffären und Anfeindungen aus den Reihen der betrogenen Männer, zwingen ihn immer wieder seinen Aufenthaltsort zu wechseln. Bei seinem späten Tod wird ein zerfleddertes Heftchen gefunden. Da Jacob Gurrer im Zusammenhang mit mehreren ungeklärten Mordfällen gesucht wird, verschwindetdas Heftchen in der Asservatenkammer als Beweisstück. Dort kommt es einige Zeit später eine Angestellte in die Finger und kopiert sich die in winzigkleiner altdeutscher Schrift gefassten Aufzeichnungen. Ein befreundeter Autor hat ausden aufgeschriebenen, schierunglaublichen Erlebnissen dieses ungewöhnlichen Mannes einen Roman, eine Biographie verfasst.

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Der Autor:

Jahrgang 1958, lebt seit Jahren mit seiner Familie in München. Hauptberuflich in der Elektronik und Elektrotechnik tätig hat er jahrelang Handbücher und detaillierte illustrierte Reparaturanleitungen verfasst. Zuletzt arbeitete er als gefragter Ideengeber für komplizierte elektronische Anlagen und Prozesse. Einige beachtliche Comicbücher und Kurzgeschichten zählen zu seinem Portfolio. Die vierte Dimension Zeit spielt in der Elektronik eine große Rolle. Daher drehen sich die Geschichten in seinen Romanen um das zentrale Thema der Zeit und ihre Auswirkung auf den Menschen.

Ehrgeizig sein Projekt fünf unterschiedliche Romane zu verfassen und zu veröffentlichen.

Die Veröffentlichung der weiteren Titel,

Sterilis

Das zweite Gefühl

Der Steinzeitmenscherfolgt in Kürze.München, 2010

Aus dem Leben einer

Missgeburt

von

CHRISTIAN MANHART

Die ungewöhnliche Biographie eines ungewöhnlichen Menschen

Impressum:

Aus dem Leben einer Missgeburt

Christian Manhart

Copyright : © 2010 Christian Manhart

published by epubli GmbH, Berlin,

www.epubli.de

ISBN: 978-3-8442-0053-9

Schwere Geburt

Am Abend des 2.April 1802 lag im oberbayrischen Schliersee eine Bauersfrau in den Wehen. Es war bereits ihr siebtes Kind. Diese Schwangerschaft hatte aber besonders lange gedauert. Manchmal hatte die werdende Mutter das Gefühl, das Kleine wolle gar nicht auf die Welt kommen. Aber es war nicht tot. Es rührte sich. Sie spürte die Bewegungen jeden Tag in ihrem Bauch. Aber jetzt war es endlich soweit. Schon die ganze Woche quälte sich die Bäuerin mit dem werdenden Kind. Aber als sie mit den Mägden das Abendessen herrichtete, fühlte sie eine Flüssigkeit ihre Beine hinab rinnen. Die Fruchtblase war geplatzt. Eine Magd führte sie nach oben. Ein Knecht setzte sich auf den Einspänner und holte die Hebamme von zu Hause ab. Als sie nach zwei Stunden eintraf, hatte sie als erste Handlung alle aus dem Elternschlafzimmer verbannt. Die zwei Mägde wurden angewiesen unverzüglich ausgekochte, weiße Tücher herzurichten und in der Küche einen weiteren großen Topf mit heißem Wasser vorzubereiten. Kurz darauf lagen die dampfenden Tücher auf einem Stapel in der engen Kammer. Dann ging alles ganz schnell. Als hätte der Kleine nur darauf gewartet bis alles für ihn bereit war. Ein paar kurze feste Presswehen und schon war das Köpfchen zu sehen. Geschickt und routiniert nahm die Hebamme das Neugeborene in Empfang. Sie musste nur ganz wenig helfen. Wie von selbst kam das kleine Kind heraus. Sie begutachtete sogleich den kleinen schrumpeligen Körper. Gott sei Dank war alles an ihm dran.

Dann nahm die Hebamme den Kleinen und wickelte die Nabelschnur um einen Holzstab. Mit einem scharfen Messer schnitt sie das Fingerdicke Ding ab. Geschickt verknotete sie das Ende und drückte es dem Säugling in den Bauch. Sie schüttelte ihn ein wenig, dabei wog sie ihren den Kopf hin und her. Mit misstrauischem Blick mustert sie die Mutter, die noch keuchend auf dem Bett lag. Der kleine Bub hatte dichte, fast pechschwarze Haare. Aber es war etwas anders an ihm. Er war nicht dunkelrot wie die unzähligen Säuglinge die sie schon gesehen hat. Nein, schon wenige Minuten nach der Geburt, war seine Haut straff, samtig weich und glatt. Sie konnte es trotz dem schlechten Licht sehr gut sehen. Er hatte eine ungewöhnliche Farbe. Blau. Ein Blau das aussah als würde er frieren. Ein Blau, das durch die Haut schimmerte, als hätte er am ganzen Körper einen Bluterguss. Sie drückte vorsichtig leicht an seinem Ärmchen um die Adern darunter zu sehen. Ihre Farbe erschien ihr viel zu dunkel. Der Hebamme lief ein Schauer über den Rücken. War er am Ende vergiftet? Sie wusste, dass die Bäuerin weit über der Zeit war. Aber der Kleine bewegte sich. Machte den Mund auf und gähnte herzhaft. Der Mund war innen richtig dunkelblau. Rasch hielt sie ihm den Finger hin. Er begann heftig zu nuckeln. Sie seufzte.

Die Mutter rief nach ihr. Sie möchte ihren Sohn im Arm halten. Sie möchte ihn sehen.

„Gibs mir, is a Bua?“

Der Kleine machte einen glucksenden Quäker.

„Gleich, Anna.“

Die Hebamme hatte ihn schnell gesäubert und in ein festes Wickeltuch eingeschlagen. Das Baby hatte bereits am ganzen Leib gezittert und geschlottert. Mit einem flauen Gefühl im Magen hielt sie ihn der Mutter hin.

Die erschrak beim Anblick des blauen Kindes.

„Um Gottes Willen, der is ja ganz blau, frierts denn den? So koit is doch gar ned.“

‚Jacob’ so wird er heißen, war immer noch blassblau als würde er gotteserbärmlich frieren. Die Hebamme hatte es eben gleich gesehen, dass mit dem Neugeborenen etwas nicht stimmt. Missgeburten waren ihr Tagesgeschäft. Es gab schließlich viele verkrüppelte Kinder, Totgeburten und weitere Behinderungen. Solche Kinder sahen alle Beteiligten als eine große Strafe Gottes an. Im tiefgläubigen katholischen Oberbayern waren die Menschen immer besonders erschüttert, wenn in ihren Familien solche Kinder geboren wurden. Meistens wurden sie vor den anderen Dorfbewohnern versteckt, weil es eben eine Schande für die Familie darstellte. So etwas wie dieses blaue Kindchen deutete auf eine Blutvergiftung hin. Die Hebamme gab dem Kleinen nur ein paar Tage. Wenn er überhaupt die Nacht überlebte. Aber diesmal täuschte sich die erfahrene Hebamme.

Das Kind war eine zufällige Laune der Natur. Es hatte einen genetischen Defekt. Aus unserer Sicht der Normalität war es ein Defekt. Doch diese Sammlung von Anomalien zeigte bei Jakob einige bemerkenswerte positive Fähigkeiten. Die negativen Auswirkungen unter denen der kleine Jacob litt, sollten in gleichsam sein ganzes Leben begleiten.

Da war als deutliches äußeres Merkmal seine bläulich schimmernde Haut. Sie kam vom enorm hohen Stickstoffgehalt in seinem Blut. Er sollte unfassbar langsam wachsen. Seine körperliche Leistungsfähigkeit war nicht mit anderen Menschen vergleichbar. Bei allen schnellen und anstrengenden Tätigkeiten wird er ziemlich eingeschränkt sein. Erst viel später wird er gehen, aber niemals laufen oder Sport treiben können. Noch dazu wird es enorm lange dauern, bis er eine normale Menschliche Reife erreichen wird. Seine Zellen teilten sich dermaßen langsam, dass er weit mehr als doppelt so langsam altert wie ein normaler Mensch. Theoretisch würde ihm dieser Umstand, optimale Bedingungen, vorausgesetzt, ein sehr langes Leben bescheren.

Die Hebamme kam am nächsten Tag wieder und die Stimmung in der Familie Gurrer war gedrückt. Alle hatten natürlich das neue Familienmitglied genauestens in Augenschein genommen. Der Vater hatte ihn sogleich und unverblümt als Missgeburt bezeichnet. Die männlichen Geschwister schlossen sich erwartungsgemäß der Meinung des Bauern an. Schnell war allen bewusst:

Der Neue wird keine wirkliche Konkurrenz, kein Spielkamerad und schon gar keine Hilfe bei der schweren Arbeit auf dem Hof werden. Die Schwestern waren noch zu klein, um das Übel, das Jacob über die Familie gebracht hatte zu verstehen. Einzig in Anna, mit zehn Jahren schon ein großes Mädchen, entbrannte eine richtige Geschwisterliebe zu dem kleinen Kind mit der bläulich schimmernden kühlen Haut. Sie spürte, der Jacob braucht sie. So verband die beiden schon einen Tag nach der Geburt ein unsichtbares Band der Liebe. Außerdem gefiel ihr der Kleine. Er sah in ihren Augen traumhaft schön aus.

In der Kammer der Eltern betrachtete die Hebamme den kleinen Jakob noch einmal ausführlich. Die Mutter war noch erschöpft und nutzte die Gelegenheit sich auf dem Bett etwas auszuruhen.

Wohlproportioniert war sein Körper. Er hatte strahlend, eisblaue, wache Augen. Ein sehr hübscher Junge. Das sehr dunkle, tiefschwarze Haar hatte jetzt einen Tag nach der Geburt einen seidigen Glanz, angenommen. Es war fest und von einer glatten Oberfläche. Es fühlte sich an wie feinste Glasfäden. So ein Haar hatte die Hebamme noch niemals gesehen oder gefühlt. Er sah aus wie eine Porzellanpuppe. Nur seine Haut störte das Bild. Oder besser: was durch diese inzwischen dünne weißliche Haut durchschimmerte. Dieser dunkle rotblaue Ton des Neugeborenen war über Nacht verschwunden. Jetzt gab dieser blassbläuliche Farbton dem kleinen Jacob einen fast vornehm anmutenden Teint. Die Hautoberfläche war sehr glatt und fest. Sie fühlte sich sehr angenehm an. Aber er atmete sehr langsam. Viel zu langsam. Sie wiegte ihn in den Armen. Er knarrte und quiekte ein wenig – das war ein typisches Neugeborenengeräusch.

Doch alles in Ordnung? Nein, seine Atmung war viel zu langsam und unregelmäßig. Die Hebamme befühlte seine winzigen Händchen. Seine Fingerspitzen. Sie fühlten sich kalt an. Aber Jacob war in mehrere Lagen Tücher eingewickelt und es war sehr warm in dem Raum. Sie legte ihn auf das Bett und befreite ihn von den Tüchern. Als er so fast nackt vor ihr lag erschreckte sie sich förmlich. Diese bläuliche Haut. Sie beugte den Kopf zu ihm herunter und legte ihr Ohr auf den ihrer Erfahrung nach zu kühlen Brustkorb des Säuglings. Sein Herz schlug genauso langsam wie er atmete. Seltsam. Sie befreite ihn weiter von den Windeln. Da nahm sie einen sonderbaren Geruch war. Der Kleine stank unangenehm. Seine Windel war voll. Der Geruch wurde stärker. Die Hebamme kämpfte mit sich. Eine Übelkeit stieg in ihr auf. Dieses Gemisch aus Fäkalien und Verwesung erfüllte mittlerweile den ganzen Raum. Sie schluckte, versuchte die Übelkeit zu unterdrücken. Mit schnellen Schritten war sie am Fenster und riss es energisch auf. Tief atmete sie die frische Frühlingsluft ein. Sie liess das Fenster offen und ging wieder zu dem Säugling. Sie zuckte zusammen.

Ihr war plötzlich alles klar! Sie kannte diesen Geruch. Es war der eklige Gestank des Todes. Sie säuberte den Kleinen. Dabei beruhigte sie sich langsam wieder. Vielleicht erledigte sich die Sache ja auch von selber. Die Kindersterblichkeit war sehr hoch in Bayern. Und dieser durchdringende Verwesungsgeruch deutete auf abgestorbenes Gewebe in seinem Inneren hin.

Doch die Frau täuschte sich. In Jakobs Inneren war nichts abgestorben. Es waren lediglich seine Ausscheidungen die so stanken. Die Bakterien in seinen Gedärmen zersetzten die Nährstoffe wesentlich effektiver. Der dabei produzierte Kot stank im wahrsten Sinne des Wortes gottserbärmlich. Die Bäuerin war wieder aufgestanden und wollte von der Hebamme wissen:

„Was meinst? Is des normal?“

„Mhmm, also so fehlen tut ihm nix. Trinkt er?“

„Ja, aber so langsam, des konn i ned braucha.“

„Weißt du Bäuerin, a bissl schwach ist er schon, der Jacob. Wenn er aber die ersten zwei Wochen überstanden hat, dann brauchst dir keine Sorgen mehr machen.“

Traurig senkte die Bäuerin den Kopf und streichelte über das Köpfchen von Jakob.

„Hast’ du’s auch gerochen? Der stinkt ja wie zehn Odelgrubn zusammen.“

„Ja, Bäuerin, vielleicht kommt des, weil du schon über der Zeit warst.“

Die Bäuerin nickte verständnisvoll.

Die Hebamme holte nun eine Dose aus ihrer Tasche und schmiert den Jacob die Händchen und das Gesicht mit dem Inhalt ein. Die Dose gab sie der Mutter Gurrer.

„Er hat halt a bissl a dünne Haut, dass die Leut ned reden, schmierst ihn damit ei... und... Bäuerin, der Kloane is ned krank oder damisch, es is oas dro an eam. Vielleicht ist er was Besonderes. Aber nimms ned zu schwer wenn er es wirklich ned packen sollt.“

Die Bäuerin schaute die Hebamme fragend an. Die wickelte den Jacob wieder ein und legte ihn ihr auf die Brust. Jetzt sah der Jacob ganz normal und zufrieden aus. In der Salbe war eine Farbe reingemischt, wie in modernem Rouge. Die Mutter lächelte.

„So gfallt a ma schon viel besser.“

„Siehst du Bäuerin.“

Anders als die Hebamme befürchtet hatte, stirbt Jakob nicht. Im Gegenteil. Er lag in seinem Bettchen und schlief friedlich. Er erfreute sich bester Gesundheit. Er liess sich mit dem Trinken an der Brust unheimlich viel Zeit. Und wenn er die Stoffwindel füllte, war es fast nicht auszuhalten.

Wann immer der kleine Jacob fremden Personen gezeigt wurde, schmierte ihn seine Mutter vorher mit der roten Salbe ein. Die Familie findet sich notgedrungen mit seiner blauen Hautfarbe ab. Nicht jedoch mit seiner sonstigen Behinderung. Vor allem der Bauer selber beklagt mit den Jahren den zusätzlichen Esser, der ihm auf dem Hof nie wird helfen können. Außerdem fürchtet er das Gerede der Leute im Dorf. Ihnen allen wurde schon sehr bald nach seiner Geburt bewusst, dass er völlig anders als alle anderen Menschen ist.

Jacob musste deshalb den größten Teil seiner Kindheit im Haus verbringen. Man kann sagen, dass er von seinen Eltern und den Geschwistern regelrecht versteckt wurde.

Von seinen Schwestern wurde er allerdings geliebt und beschützt. Mädchen und Frauen wurden von seinem Aussehen und seiner seltsamen Art förmlich angezogen. Jacob wurde immer hübscher, je älter er wurde. Er hatte ein engelhaftes, fast androgynes Aussehen. Rein und unverdorben. Kühl und unnahbar. Sie verehrten ihn, weil er so anders war. Als wenn die Frauen und Mädchen wüssten welche Wirkung er als erwachsener Mann auf sie ausüben würde.

Seine Langsamkeit war für seine Mutter eine riesengroße Belastung, die sie jedoch gewillt war zu meistern. Kind war Kind, da machte sie keinen großen Unterschied. Das Anlegen an die Brust dauerte im Vergleich zu ihren anderen Kindern eine kleine Ewigkeit. Auch seine Bewegungen waren unendlich langsam. Richtig gegraust hat es der Mutter aber nur beim Wickeln des Säuglings. Sein Urin und Kot verbreitete einen ungeheuerlichen Gestank. Sein Urin den er in der Windel hinterließ war eher bräunlich und roch richtig unangenehm. Aber sein großes Geschäft, das war auch für die Mutter eine Herausforderung. Von grauer bis fast schwarzer Farbe war der Kot eingefärbt. Und der Gestank war eine ekelhafte Mischung aus Fäkalien und Verwesung. Das lag vielleicht wirklich daran, dass er nicht wie andere Kinder dauernd die Hosen voll hatte, sondern nur alle zwei, drei Tage oder noch länger. Es war aber wirklich abstoßend.

Nach gut einem halben Jahr war Jacob nur unmerklich größer geworden. Die herbeigerufene Hebamme untersuchte das Baby ein weiteres Mal ausgiebig. Sie konnte aber wieder nichts Krankhaftes feststellen. Seine Haut war noch fester geworden, genauso wie seine Ärmchen und Füße. Wenn er schrie, dann nur sehr kurz und mit langen Pausen dazwischen. Dabei wurde er fast dunkelblau im Gesicht. Das verlangsamte Wachstum konnte sich auch die erfahrene Hebamme nicht erklären. Dergleichen war ihr bis jetzt noch nicht begegnet. Sie war außerstande der Familie einen Rat zu geben, wie sie mit dem kleinen Jacob umgehen sollten. So blieb alles beim Alten. Denn zu einem ordentlichen Arzt oder ins Hospital, das konnten sich die Gurrers keinesfalls leisten.

Anna, seine Schwester kümmerte sich anstelle ihrer Mutter um Jakob, sooft und so gut es ging. Die anderen hatten genug mit sich selbst und der Bewirtschaftung des Hofes zu tun. Freie Zeit war sehr knapp auf dem Bauernhof. Jede Hand wurde gebraucht.

Zwei Jahre später lag Jacob immer noch in seinem Wiegebettchen. Er war jetzt schon erheblich größer geworden. Er konnte auch schon sitzen. Ein erheblicher Fortschritt in seinem Leben. Wenn es die Zeit zuließ, wurde er gerne von seinen älteren Schwestern herumgetragen. Wobei seine älteste Schwester Anna weiterhin ein besonderes Verhältnis zu ihm entwickelte. Sie war inzwischen auch die einzige, die es schaffte ihn zu säubern wenn er in die Windeln gemacht hatte. Die Mutter oder die Mägde wurden bei dieser Tätigkeit von einem nicht zu unterdrückenden Brechreiz befallen.

Ansonsten gingen sie mit ihm um wie mit einem Spielzeug. Wenn sie ihn auf den Boden legten, drehte er sich in Zeitlupentempo auf den Bauch. Dort verharrte er schwer atmend minutenlang. Bis er sich dann mühsam aufstützte und mit abgehakten Bewegungen wie eine Echse loskrabbelte. Immer mit Pausen zwischen jeder Bewegung. Nach ein paar Metern, war er meist so erschöpft, dass er zu Boden sank und einschlief. Die anderen Kinder lachten. Der Ton auf dem Bauernhof war ausgesprochen derb. Die männlichen Mitglieder dieser Gemeinschaft hatten nicht nur im wörtlichen Sinn die Hosen an. So wurde Jacob von ihnen nur als unnötiges Spielzeug, als Puppe für die Mädchen angesehen. Akzeptiert wurde Jacob von den Männern jedenfalls nicht im Geringsten. Da waren die Männer, jung wie alt, alle auf einer Linie. Für sie war Jacob ein lästiges Anhängsel. Eine Missgeburt. Ein unnötiger stinkender Esser. Etwas, wofür man sich zu schämen hatte. Auf Jakob brauchte man keinen der männlichen Gurrers ansprechen. Wenn außerhalb des Hofes, in der Dorfwirtschaft, oder bei anderen Feiertagen ein abfälliges Wort über den schwächlichen jüngsten Bruder fiel, flogen schon mal die Fäuste.

In der Bauernfamilie schliefen die Kinder, solange sie noch kleiner waren, normalerweise alle in einem Bett. Nur mit Jacob wollte keiner in einem Bett schlafen. Das lag natürlich hauptsächlich an seiner gelegentlichen Ausdünstung. Den Jacob war auch mit zwei Jahren immer noch nicht sauber. Deswegen konnte es passieren, dass er im Schlaf einen ziemlichen unangenehmen Geruch verbreitete. So zog die Anna mit Jacob in eine Gesindekammer. Ihr machte Jacob keine Angst und ihr grauste es auch nicht vor seinen körperlichen Absonderungen. Sie liebte ihn so wie er war. Für sie war Jacob etwas ganz Besonderes. Ein Geschenk Gottes. Für alle anderen eine Schande, eine Missgeburt.

Mit vier Jahren versuchte Jacob seine ersten Schritte. Das Gleichgewicht halten konnte er sehr gut. Aber sein Tempo sich zu bewegen, konnte man nicht als agile, kindliche Mobilität bezeichnen, eher als das Gegenteil. Die Mädchen sahen darüber hinweg, denn er war ein unglaublich hübscher Junge. Sein pechschwarzes Haar war sehr, sehr dicht und stets seidig glänzend. Auch ohne Waschen verfilzte es niemals. So glatt war es. Und fest. Man brauchte eine sehr scharfe Schere um es zu schneiden. Das Innere seines Mundes und seine Zunge waren gleichfalls von blauroter Farbe. Dazu die eisblauen leuchtenden Augen und sein bläulicher Teint. Diese Mischung gab ihm etwas mystisches, ja Exotisches. Und er entwickelte eine sehr freundliche, liebevolle Art. Wenn er lachte, blitzten seine makellosen weißen Zähne zwischen diesen blauroten Lippen hervor. Es verlieh ihm ein unwirkliches Aussehen.

So mancher Besuch, der ihn zu Gesicht bekam, schreckte vor ihm zurück. Ein kleiner hübscher Junge, der nicht redete, für sein Alter viel zu klein war und diese kühle Hautfarbe besaß, das war doch ziemlich unheimlich. Er lernte aber doch zu reden, sehr langsam und abgehackt. Das Keuchen zwischen den Worten wurde zu seinem Markenzeichen.

Wenn er abends mit Anna im Bett lag erzählte sie ihm immer Geschichten. Sie erzählte ihm von den Arbeiten auf dem Hof und was sie den ganzen Tag gearbeitet hatte. Geschichten aus der Schule interessierten ihn besonders. Bald merkte sie, dass Jakob diese Geschichten begierig aufnahm. Er verstand jedes Wort. Sein Körper passte nur nicht so richtig zu seinem Geist. Sie trug ihm in unzähligen Übungen kurze Sätze vor und Jakob versuchte sie flüssig nachzusprechen. Es fehlte ihm nicht am geistigen Verständnis, nein, er schaffte es nur nicht, mehrere Wörter hintereinander zu sprechen ohne Luft zu holen. Es klang sehr seltsam wenn er ein Gedicht aufsagte. Trotz seiner Fortschritte schickten sie ihn nicht auf die Schule. Schulpflicht gab es in Bayern erst seit wenigen Jahren. 1806 wurde sie eingeführt. Auf dem Land gab es verständlicherweise große Widerstände dagegen. Die Kinder wurden als Arbeitskräfte gebraucht. Deshalb wurde die allgemeine Schulpflicht bei der Landbevölkerung nicht flächendeckend eingehalten. Die staatlichen Behörden hatten große Nachsicht mit den Schulunwilligen. So war es nicht verwunderlich, dass Jakob von den Behörden gar nicht erst erfasst wurde.

Sein gesamtes Wissen und seine Bildung vermittelte ihm seine Schwester Anna. Dazu muss man wissen, es war üblich nur ein oder zwei Kinder zur Schule zu schicken, das genügte meistens, denn diese gaben ihren Lernstoff an die anderen Geschwister weiter. Ohne Anna hätte Jakob niemals Lesen und Schreiben gelernt. Sie war diejenige, die dafür sorgte dass ihr kleiner Bruder von der Welt da draußen etwas mitbekam. Jakob durfte, als er selber gehen konnte nur bei diversen familiären und kirchlichen Feiern dabei sein. Die restliche Zeit verbrachte er in der Kammer seiner Schwester. Manchmal, im Sommer, meistens am Sonntagnachmittag, da wurde nicht auf den Feldern oder im Haus gearbeitet, half Anna dem kleinen Jungen mit der blauen Hautfarbe ins Freie, an die frische Luft zu kommen. Das freute ihn besonders. Das Grün, die Blumen, das Geschwirr von Insekten, Jakob konnte sich nicht satt sehen.

Die Jahre vergingen. Die Kindheit dehnte und streckte sich über viele Jahre hinweg. Zäh und langsam waren die Tage für Jakob. Er wurde größer und größer, aber alle hatten das Gefühl er würde sein ganzes Leben lang ein Kind bleiben. Auch Jakob selber wusste nicht so recht ob er jemals die Größe und das Erscheinungsbild seiner Brüder oder seines Vaters erreichen würde. Wie er seine Tage als Erwachsener gestalten sollte, darüber hatte er keinerlei Vorstellung. So blieb ihm nichts anderes als zu warten.

Anna

Meine ersten Erinnerungen sind ziemlich schwach. Nur langsam formen sich Bilder. Eindrücke, Erinnerungen. Die mit Abstand wichtigste Person, die für mich mehr Mutter als Schwester war, ist Anna. Ohne sie wäre ich irgendwo dahinvegetiert und bestimmt früh gestorben. Aber Gott sei Dank hatte sie sich um mich gekümmert. So lange sie lebte. Dafür werde ich sie immer lieben und verehren. Leider habe ich sie später einmal sehr verärgert und ihr großes Unheil zugefügt. Das tut mir immer noch aufrichtig leid. Wenn ich an Anna denke, wünsche ich mir immer öfters das Geschehene rückgängig zu machen. Nur ihretwegen. Doch damals war mir nicht bewusst wie die Ereignisse sie treffen würden. Aber das ist alles sehr lange her. Alles der Reihe nach.

Meine Aufzeichnungen habe ich später verfasst. An meinem wohlverdienten Lebensabend. Ich liege schon seit geraumer Zeit in einem Altenheim. Gut gepflegt. Man kann nichts schlechtes sagen. Mir geht es gut. Womöglich habe ich manche Erlebnisse weggelassen, vielleicht weil sie mir nicht wichtig genug waren. Aber die wichtigsten Stationen meines Lebens habe ich notiert. Mein Gedächtnis funktioniert immer noch hervorragend. Die Geschichten die ich nachfolgend beschreibe sind noch so lebendig in mir, als wäre es gerade eben geschehen. Schade, dass mir jetzt im hohen Alter, in dem ich mehr oder weniger gezwungen bin, tagaus, tagein untätig herum zu liegen, das Leben draußen in der Welt ohne mich, ohne meine Mitwirkung abspielt. Im Grunde ist mein jetziger Zustand vergleichbar mit meiner Kindheit.

In die Schule wurde ich natürlich nicht geschickt. Wie denn auch. Der Weg dahin wäre für mich niemals zu bewältigen gewesen. Meine Geschwister mussten den Weg zur Dorfschule Sommers wie Winters zu Fuß gehen. Das waren damals einige Kilometer Fußmarsch. Außerdem schämte sich fast die ganze Familie für mich. Ich sollte so wenig wie möglich mit den anderen Dorfbewohnern in Kontakt treten. Auch Anna wollte nicht, dass ich wie eine Kuriosität herumgezeigt wurde. Dafür war ich ihr das ganze Leben lang dankbar. Damals wie heute, bin ich nur in der Lage kurze Distanzen zu gehen. Auch das Sprechen, das ich als kleiner Junge angefangen hatte zu lernen, viel mir Anfangs viel zu schwer. Schnell reden, oder lange Sätze machen mir auch heute noch schwer zu schaffen.

Mein Atmungsrhythmus ist vermutlich genetisch bedingt so langsam, dass ich bei der geringsten Anstrengung keine Luft mehr habe um schnell zu sprechen. Ich habe mir so im Laufe meines Lebens angewöhnt, Unterhaltungen auf das Wesentliche zu reduzieren und nur das Nötigste zur Konversation beizutragen. Wer mich nicht kannte, nicht wusste, wer ich bin, gewann ansonsten gleich den Eindruck einer geistigen Behinderung. Denn wer sich mit Jacob Gurrer unbedingt länger unterhalten wollte, musste viel Zeit und Geduld mitbringen. Bei solchen Gesprächen zeigte ich allerdings meinen Gesprächspartnern, dass ich in keiner Weise einen geistigen Makel hatte. Im Gegenteil.

Zehn Jahre war ich nun schon alt. Zehn lange Jahre kümmerte sich Anna bereits um mich. Und ich war nur so groß wie ein vier- oder fünfjähriger Bub. Wer mich tatsächlich für nur fünf Jahre alt hielt, war allerdings erstaunt über meine geistige Entwicklung. Meine Schwester Anna brachte ungeheuer viel Mühe auf, mir etwas bei zu bringen. Meine geliebte treue Anna. Ich habe sie so geliebt. So geliebt wie nie einen anderen Menschen auf dieser Welt.

Immerhin funktionierte mein Gedächtnis so gut, dass ich mir unheimlich viel merken konnte. Selten vergaß ich etwas. Nur beim Rechnen hatte ich leider große Schwierigkeiten. Das dauerte einfach viel zu lange. Allerdings machte ich dabei niemals Fehler. Ich löste alle Aufgaben die sie mir stellten. Wenn ich genug Zeit hatte waren die Aufgaben kein Problem. Ich musste nur Zeit dafür haben. Ich glaube, die Leute wenn mir beim Rechnen zusahen, konnten sich vorstellen, wie sich die Zahlen in meinem Gehirn formierten. Wenn Anna und ich Rechnen übten, stellte sie mir eine Frage. Besser wäre es gewesen sie hätte mir die Fragen aufgeschrieben und ich hätte die Rechnung schriftlich erledigen können. Aber Papier war teuer und bei uns auf dem Bauernhof brauchte man im täglichen Leben kein Papier. Wozu auch? Meine Eltern konnten sowieso nicht Lesen und Schreiben. So blieb mir nichts anderes übrig als Kopfrechnen. Oft konnte ich Anna erst am nächsten Morgen mit dem richtigen Ergebnis überraschen. Nach dieser Nacht, dieser kleinen Ewigkeit, das richtige Ergebnis in meiner typischen Art, die ich mein Leben lang beibehielt, zwischen zwei langen Atemstößen auszusprechen, das war die größte Freude für mich. Manchmal benötigte ich sogar mehrere Anläufe um die Lösung aufzusagen. Da nahm sie mich immer in den Arm und drückte mich ganz fest. Das liebte ich so sehr an ihr. Sie war so heiß und roch wunderbar. Ich fühlte mich so geborgen und sicher wenn sie mich drückte.

Die Zeit verrann so unsagbar zäh, ohne dass sich viel in meinem Dasein änderte. Aber dann plötzlich, wie über Nacht, kam eine andere Zeit. Es passierte ein Unglück nach dem anderen. Als hätte das Schicksal mit dem Finger auf unsere Familie gedeutet um uns zu bestrafen. Wann es ganz genau angefangen hatte weiß ich nicht mehr, da wir keinen Kalender kannten. Ich weiß aber noch, es war kurz vor Pfingsten. Ich war gerade vierzehn Jahre alt geworden, da starb überraschend meine Mutter. Sie hatte ihr Leben lang schwer auf dem Bauernhof gearbeitet. Mit ihren 48 Jahren hatte sie ein Alter erreicht, in dem viele hart arbeitenden Menschen starben. Ihr Körper war durch das pausenlose Werkeln, das mit dem Sonnenaufgang begann und erst wenn es schon lange dunkel war endete, ausgelaugt.

Sie hatte keine Kraft mehr. Keine Kraft sich gegen Krankheiten zu wehren. Im Winter hatte sie angefangen zu Husten. Es hörte nicht mehr auf. Auch nicht als es wärmer wurde. Sie hustete und hustete unentwegt. Eines Morgens stand sie nicht auf. Sie blieb einfach im Bett liegen. Mein Vater schimpfte. Kein Mitleid, keine Liebe hatte er für seine Frau übrig. Anna erzählte mir die Mutter hätte es versucht, aber die Beine trugen sie nicht mehr. Am Abend lag sie im Sterben. Ich durfte nicht zu ihr. Sie hatten den Pfarrer gerufen. Der kostete wenigstens nichts. Als sie tot war, ging mein Vater mit meinen Brüdern in die Wirtschaft.

Spät in der Nacht kamen sie vollkommen betrunken nach Hause und veranstalteten ein großes Geschrei. Zwei Tage später war die Beerdigung. Anna bestand darauf mich mitzunehmen. Sie schmierte mich tüchtig mit der ekelhaften roten Salbe ein. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich in der Kirche war und einen Friedhof sah. Alle weinten viel. Man spürte die Trauer und das Mitgefühl. Die anderen Leute aus dem Dorf tuschelten trotzdem. Anna, meiner geliebten Anna war es egal. Unseren Brüdern und dem Vater nicht. Für meinen Vater war mit unserer Mutter vor allem eine Arbeitskraft gestorben, und erst an zweiter Stelle seine Frau. Nach der Beerdigung gingen die Männer alle ins Wirtshaus. Anna, meine Schwestern und die Mägde und ich natürlich fuhren wieder auf den Hof zurück. Es galt das Vieh zu versorgen und das Abendessen herzurichten. Für mich war es trotzdem einer der schönsten Tage die ich bisher erlebt hatte.

Die nächsten Jahre wurden nicht einfacher ohne meine Mutter, der Bäuerin. Mein Vater verbrachte leider viel Zeit im Wirtshaus. Nach dem Tod seiner Frau merkte er erst, was er an ihr hatte. Seine Kinder, außer mir natürlich, die Knechte und Mägde bewirtschafteten den Hof nun ohne ihn. Als er sich eines Tages besoffen auf den Heimweg machte, rutschte er beim Bieseln einen Abhang hinunter. Sein Rausch hinderte ihn daran sich abzustützen. Mit dem Kopf prallte er gegen einen Baum und zog sich einen Schädelbruch zu. Zusätzlich riss er sich noch den Unterschenkel auf. Aus einer langen Fleischwunde strömte unaufhaltsam sein Blut. Er verblutete in kurzer Zeit. Niemand hätte ihm helfen können. Nur zwei Jahre nach dem Tod meiner Mutter war nun auch mein Vater, der Bauer Josef Gurrer tot. Und ich war damals erst sechzehn Jahre alt.

Danach übernahm der älteste Sohn, mein Bruder Josef den elterlichen Hof. Auf die Übergabe des Hofes hatte der 27jährige Jungbauer sich gut vorbereiten können. In den letzten beiden Jahren nach dem Tod unserer Mutter, hatte er sowieso allein das Sagen. Der Bauer hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass ihm der Hof nicht mehr wichtig ist. Der Tod beider Elternteile war schon schlimm genug, doch es sollte noch viel schlimmer kommen. Kurze Zeit später nahm sich Josef Gurrer nämlich eine Frau. Und damit war eine neue Bäuerin auf den Hof der Gurrers eingezogen. Mit diesem Tag begann für alle eine schwere Zeit. Vor allem für mich und Anna. Alles änderte sich. Viel zu schnell für mein Empfinden. Die Verhältnisse auf dem Hof waren wie ein täglicher Schlag in die Magengrube. Zum Kotzen würde man heute sagen.

Aber auch meine anderen Geschwister hatten es nicht leicht unter der Regie von Bauer Josef und seiner Frau. Sie war aus einer Bauernfamilie aus Fischbachau. Sie wollte vor allem den Hof für sich, ihren Mann den Bauer und ihre zukünftigen Kinder allein haben. Sie duldete uns anderen Geschwister nicht und behandelte uns denkbar schlecht. Unser Bruder Josef fügte sich ohne Widerrede ihren Wünschen. Eine tolle Familie hatte ich da. Sie drängte ihren Mann die Geschwister nach und nach fortzuschicken. Was hatte er da nur für eine Frau geheiratet?

Man glaubt es nicht, aber es dauerte nicht einmal ein halbes Jahr, dann hatte sie ihr Ziel erreicht und alle meine Geschwister waren vom Hof verschwunden.

Der dreiundzwanzigjährige Michael hatte schon seit längerer Zeit mit einer Bauerntochter in der Nähe angebandelt. Er hielt dort offiziell um ihre Hand an, und der Bauer war einverstanden. Sein Glück.

Max fand eine Anstellung als Bergmann in einem Bergwerk bei Holzkirchen. Ihm lag die Landwirtschaft eh nicht so im Blut. Die Arbeit im Bergwerk war noch anstrengender und Gesundheitsverzehrender als die Arbeit auf dem Feld. Aber er wollte es so.

Die Marie, zwanzig Jahre alt, verdingte sich als Magd in Bayrisch Zell, heiratete später ins Österreichische.

Theresa, die hübscheste, war erst achtzehn Jahre alt, sie wurde aber schon von einigen Bauernsöhnen heftig umworben. Bald hielt einer um ihre Hand an, und Josef willigte ein.

Anna, die bisher den Haushalt besorgt hatte, musste sich der neuen Frau ihres Bruders fügen. Sie hatte es am schwersten unter der Fuchtel der Bäuerin. Es gab eine Menge Streitereien auf dem alten Besitz. Anna, schon bald davon genervt, beschloss ebenfalls eigene Wege zu gehen. Ihr ein und alles war, Gott sei Dank ich. Sie wollte mich in jedem Fall mitnehmen. Einen größeren Gefallen konnte sie der neuen Bäuerin gar nicht tun. Sie war froh diesen unheimlichen, nutzlosen, blauen Bastard endlich loszuwerden. Ein Behinderter, der ewig ein Kind zu bleiben schien. Ich glaube, sie hasste mich nicht. Sie hatte Angst vor mir. Ich glaube, sie hatte Angst ich würde sie verhexen und Unglück über sie bringen. Dabei war sie selber ein Unglück.

Anna träumte seit ihrer Kindheit davon, Krankenschwester, oder Ärztin zu werden. Sie wurde im Kreiskrankenhaus Holzkirchen vorstellig. Krankenschwestern konnte man immer brauchen.

Im Februar 1821, an Lichtmess, dem traditionellen Stellenwechsel in Bayern, verließen wir den elterlichen Bauernhof. Es war ein Abschied in Bitterkeit. Anna hatte ihre und meine wenigen Habseligkeiten zusammengepackt. Mit kurzen Worten und Handschlag gingen wir fort. Kein sehnsüchtiger Blick zurück. Anna war traurig und enttäuscht von ihrem Bruder.

Ein Knecht brachte uns ins Dorf. Von dort fuhren wir mit der Postkutsche nach Holzkirchen.

Am nächsten Tag schon begann sie im Hospital zu arbeiten. Sie wurde dort in die Heilkunde eingeführt. Da ich noch so klein war, durfte ich mit ihr zusammen im Schwesternheim wohnen. Anna erzählte niemanden wie alt ich in Wirklichkeit schon war. Das hätte einen Skandal verursacht. Wir hatten zusammen ein kleines Zimmer. Mich, den kleinen Jakob, der inzwischen 19 Jahre alt war, aber immer noch wie ein Schuljunge von 8 oder 10 Jahren aussah, nahm sie kurzerhand überall mit. Ich war, so sagten es jedenfalls alle, ein wunderschöner Junge geworden. Nichts Bäuerliches war an mir. Ich sah nicht nur aus als wäre ich blaublütig. Im wörtlichen Sinne war ich es auch. Die Mädchen und Frauen des Krankenhauses mochten mich allesamt. Trotz meiner blauen Haut schlossen sie mich, den kleinen Jungen in ihr Herz.

Wenn ich nicht mit Anna im Krankenhaus unterwegs war, saß ich meistens in unserem Zimmer. Das Krankenhaus hatte einen schönen Park. Dort setzte mich Anna auf eine Bank. Sie besorgte mir immer etwas zum Lesen. Mit anderen Kindern, die das Hospital als Besuch bevölkerten, spielen? Nein, das wollte ich nicht. Dafür fühlte ich mich nicht in der Lage und zu alt. Ich wollte mit anderen Kindern eigentlich nichts zu tun haben. Die anderen Kinder mit mir auch nicht.

Holzkirchen war trotzdem eine tolle Abwechslung. Nachdem ich praktisch die letzten 19 Jahre ausschließlich auf dem Hof verbrachte hatte und nichts anderes kannte als die Kammer, den Misthaufen, Heu und allerlei Nutztiere. Ich war heilfroh, endlich diesen Bauernhof mit der neuen Bäuerin verlassen zu können. Der derbe manchmal gemeine Ton den mir einige meiner Brüder und die Knechte jahrelang entgegenbrachten, war für mich die ganze Kindheit über schwer auszuhalten gewesen. Wie oft musste ich heimlich in der Nacht weinen. Immer wenn Anna eingeschlafen war. Dann kuschelte ich mich an ihren, für mein Empfinden heißen Körper und weinte mich in den Schlaf. Bekümmert darüber anders zu sein als alle anderen. Es ärgerte mich auch maßlos, mich nicht wehren zu können. Meinen Hassgefühlen gegenüber Leuten die mich beleidigten oder kränkten ließ ich meistens nachts freien Lauf. Ich malte mir aus wie ich sie bestrafte. Obwohl ich feste Arme und Beine hatte, zuschlagen oder treten konnte ich damit nicht. So blieb es bei der bloßen Vorstellung von Rache und Vergeltung. Schon damals legte ich mir verschiedene Taktiken zurecht, um mich notfalls auch ohne Kraft und Aufwand zur Wehr zu setzen und gegebenenfalls meine Ehre wieder herzustellen. Damals waren das noch Phantastereien eines kleinen Jungen. Aber sie wurden stärker. Bei Beleidigungen und Ehrabschneidungen konnte ich meinen wachsenden Zorn kaum bändigen. Immer war der Tod dabei im Spiel. Vergeltung und Rache hatten meiner Vorstellung nach nur einen Sinn, wenn sie endgültig waren. Endgültig bedeutete den Tod. Jemanden einen Denkzettel zu verpassen, machte und macht auch heute noch keinen Sinn, wenn der Betreffende dies jederzeit wiederholen könnte.

Deshalb, und nur deshalb gab und gibt es für die Kränkungen und Beleidigungen die Jakob Gurrer betreffen nur eine wirksame Strafe: Den Tod.

Ich hatte und habe nach wie vor kein schlechtes Gewissen. Ich werde, auch im Anblick meines eigenen Todes niemals etwas bereuen was ich während meines Daseins getan habe. Es gibt keinen Grund dafür. Wenn mich eines Tages Gott fragen sollte: Warum Jakob?

So werde ich ihm antworten:

Warum hast du ihnen einen Grund gegeben? Wieso sehe ich so aus?

Warum hast du mich so geschaffen?

1822

Als Zwanzigjähriger hatte ich nun das Aussehen eines ganz normalen Jungen von vielleicht zehn oder zwölf. Aber mein Wissen und mein Geist waren wie ich schon erwähnt hatte, wesentlich weiterentwickelt. Wenn ich mit meiner Schwester sonntags spazieren ging, ließen wir uns viel Zeit. Ich konnte ja nur sehr langsam gehen um nicht völlig außer Atem zu, kommen. Sie schmierte mich zu diesem Zweck gerne mit diesem roten Zeug ein. Ich hasste dieses Versteckspiel. Die Leute sollten mich so sehen wie ich wirklich war. Aber Anna hatte Angst um mich. Vielleicht zu recht.

Denn den Männern war ich unheimlich. Vielleicht weil ich auf irgendeine Weise eine seltsame unbekannte Schönheit verkörperte, die viele Männer aus der Oberbayerischen Gegend mit ihrer gewissen bäuerlichen Grobschlächtigkeit an Typen nicht kannten. Genau betrachtet verabscheuten sie mich, dieses Wesen, das Jacob Gurrer verkörperte. Ein Mann hatte Muskeln, ein kerniges, markantes Gesicht, rote Flecken darin, vielleicht ein paar Narben, eine kräftige Stimme und war im Besonderen trinkfest. Das war aber so ziemlich das Gegenteil von Jacob Gurrers Erscheinung. Ich war sanft, schwächlich und doch puppenhaft schön. Eigenschaften mit der man im oberbayrischen Raum keine Bauerntochter beeindrucken konnte. In heutiger Zeit hätten sie mich vielleicht als kranke Schwuchtel beschimpft. Aber mein Wesen war alles andere als sanft und schwuchtelhaft.