Ausgewählte Dramen - Anton Tschechow - E-Book

Ausgewählte Dramen E-Book

Anton Tschechow

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Beschreibung

Mit den Beiträgen zu allen ausgewählten Werken aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Irgendeinen Sinn muss man dem Leben doch entlocken können?! Anton Tschechows ›Drei Schwestern‹ träumen vom Glück und einem erfüllten Leben – tagaus, tagein, jahrelang. Jobs, Männer, nichts funktioniert: »Ich bin schon vierundzwanzig Jahre, ich arbeite schon lange, und mein Hirn ist ausgetrocknet, ich bin mager, hässlich, alt geworden und nichts, nichts, nicht die geringste Befriedigung, und die Zeit vergeht, und immer ist das Gefühl da, du entfernst dich von dem wahren, schönen Leben, du entfernst dich immer weiter und weiter auf einen Abgrund zu.« Neben »Drei Schwestern« enthält dieses ebook die Dramen »Der Kirschgarten«, »Die Möwe« und »Onkel Wanja«.

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Anton Tschechow

Ausgewählte Dramen

Aus dem Russischen von Andrea Clemen

Fischer e-books

Mit den Beiträgen zu allen ausgewählten Werken aus Kindlers Literatur Lexikon.

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

Die Möwe

(Tschaika)

Komödie in 4 Akten

Personen

IRINA NIKOLAJEWNA ARKADINA, verheiratete Trebljowa, Schauspielerin

 

KONSTANTIN GAWRILOWITSCH TREPLJOW, ihr Sohn, ein junger Mann

 

PJOTR NIKOLAJEWITSCH SORIN, ihr Bruder

 

NINA MICHAILOWNA SARJETSCHNAJA, ein junges Mädchen, Tochter eines reichen Gutsbesitzers

 

ILJA AFANASJEWITSCH SCHAMRAJEW, Leutnant a.D., Gutsverwalter bei Sorin

 

POLINA ANDREJEWNA, seine Frau

 

MASCHA, seine Tochter

 

BORIS ALEXEJEWITSCH TRIGORIN, Schriftsteller

 

JEWGENIJ SERGEJEWITSCH DORN, Arzt

 

SEMJON SEMJONOWITSCH MEDWEDJENKO, Lehrer

 

JAKOW, Arbeiter

 

EIN KOCH

 

EIN STUBENMÄDCHEN

 

Die Handlung spielt auf dem Gut Sorins.

Zwischen dem dritten und vierten Akt

vergehen zwei Jahre.

Erster Akt

Ein Teil des Parks auf dem Gut von Sorin. Eine breite Allee führt vom Zuschauer aus in die Tiefe des Parks zum See hin, wird aber versperrt durch eine Bühne, die man hastig für eine Laienaufführung zurechtgezimmert hat, so daß der See nicht zu sehen ist. Rechts und links von der Bühne Gebüsch. Ein paar Stühle, ein kleiner Tisch. Die Sonne ist eben untergegangen. Hinter dem herabgelassenen Vorhang auf der Bühne stehen Jakow und andere Arbeiter. Man hört sie husten und hämmern. Mascha und Medwedjenko kommen, von einem Spaziergang zurückkehrend, von links.

MEDWEDJENKO

Warum gehen Sie immer in Schwarz?

MASCHA

Aus Trauer um mein Leben. Ich bin unglücklich.

MEDWEDJENKO

Warum? Nachdenklich Das verstehe ich nicht … Sie sind gesund, Ihr Vater ist zwar nicht reich, aber er hat sein Auskommen. Ich habe es viel schwerer als Sie. Ich verdiene nur dreiundzwanzig Rubel im Monat, und davon geht noch die Altersversicherung ab, und trotzdem trage ich keine Trauer.

Sie setzen sich.

MASCHA

Es geht nicht um Geld. Auch ein armer Mensch kann glücklich sein.

MEDWEDJENKO

In der Theorie, aber in der Praxis sieht das so aus: Ich, meine Mutter, zwei Schwestern, mein kleiner Bruder – und dabei ein Gehalt von nur dreiundzwanzig Rubel. Und essen und trinken muß man doch? Und Tee und Zucker braucht man doch? Und Tabak? Wie soll man da auskommen!

MASCHA blickt zur Bühne

Gleich fängt die Vorstellung an.

MEDWEDJENKO

Ja. Spielen tut die Sarjetschnaja, und das Stück ist ein Werk von Konstantin Gawrilowitsch. Die beiden sind verliebt ineinander, und heute verschmelzen ihre Seelen in dem Bestreben, ein gemeinsames Kunstwerk zu schaffen. Aber meine Seele und Ihre haben keine gemeinsamen Berührungspunkte. Ich liebe Sie, ich halte es vor Sehnsucht zu Hause nicht aus, jeden Tag komme ich hierher, gehe zu Fuß sechs Werst hin und sechs Werst zurück und stoße nur auf Gleichgültigkeit bei Ihnen. Das ist ja verständlich. Ich habe kein Geld, meine Familie ist groß … Warum sollten Sie einen Mann heiraten wollen, der selber nichts zu essen hat?

MASCHA

Darum geht es nicht. Schnupft Tabak Ihre Liebe rührt mich, aber ich kann sie nicht erwidern, das ist alles. Reicht ihm die Tabakdose Bedienen Sie sich.

MEDWEDJENKO

Ich will nicht.

Pause

MASCHA

Es ist schwül, es gibt bestimmt ein Gewitter heute nacht. Immer philosophieren Sie oder reden vom Geld. Ihrer Ansicht nach gibt es kein größeres Unglück als Armsein, aber meiner Ansicht nach ist es tausendmal leichter, in Lumpen zu gehen und zu betteln als … Ach, das können Sie nicht verstehen …

Von rechts kommen Sorin und Trepljow.

SORIN stützt sich auf einen Stock

Irgendwie, mein Junge, ist das Leben auf dem Lande nichts für mich, und, das ist doch klar, ich werde mich hier nie einleben. Gestern habe ich mich um zehn hingelegt, und heute morgen um neun wache ich auf mit einem Gefühl, als ob mir mein Hirn am Schädel festklebt und so weiter. Lacht Und nach dem Essen bin ich aus Versehen wieder eingeschlafen, und jetzt bin ich ganz erschlagen, ich fühle mich schrecklich, letzten Endes …

TREPLJOW

Es stimmt, du müßtest in der Stadt leben. Sieht Mascha und Medwedjenko Meine Herrschaften, sobald es anfängt, wird man Sie rufen, aber jetzt können Sie hier nicht bleiben. Gehen Sie bitte.

SORIN zu Mascha

Marja Iljinitschna, seien Sie so lieb, bitten Sie Ihren Vater, er möge den Hund von der Kette lassen, er heult sonst dauernd. Meine Schwester hat wieder die ganze Nacht nicht geschlafen.

MASCHA

Reden Sie selbst mit meinem Vater, ich tue es nicht. Verschonen Sie mich. Zu Medwedjenko Gehen wir!

MEDWEDJENKO zu Trepljow

Also, wenn es anfängt, geben Sie uns Bescheid.

Beide ab

SORIN

Das heißt, wieder wird die ganze Nacht der Hund heulen. So ist das, nie habe ich auf dem Land so gelebt, wie ich wollte. Immer das gleiche: Ich nehme mir Urlaub für achtundzwanzig Tage und fahre hierher, um mich zu erholen, ja ja, und dann machen sie dir hier das Leben so zur Hölle mit diesen ständigen Reibereien, daß du schon am ersten Tag wieder weg willst. Lacht Ich bin immer mit Vergnügen von hier abgereist … Ja, aber jetzt bin ich pensioniert, jetzt kann ich nirgends hin, letzten Endes. Jetzt muß ich hier leben, ob ich will oder nicht …

JAKOW zu Trepljow

Wir gehen baden, Konstantin Gawrilowitsch.

TREPLJOW

Gut, aber in zehn Minuten seid ihr auf euren Plätzen. Blickt auf die Uhr Es fängt bald an.

JAKOW

Jawohl. Geht ab

TREPLJOW betrachtet die Bühne

Das nenne ich ein Theater! Vorhang, dann erste Kulisse, zweite Kulisse und dahinter der leere Raum. Keinerlei Dekorationen. Der Blick fällt direkt auf den See und den Horizont. Genau um halb zehn, wenn der Mond aufgeht, ziehen wir den Vorhang hoch.

SORIN

Großartig.

TREPLJOW

Wenn sich die Sarjetschnaja verspätet, ist natürlich der ganze Effekt dahin. Sie müßte längst hier sein. Es ist schwer für sie, von zu Hause wegzukommen, ihr Vater und ihre Stiefmutter bewachen sie wie eine Gefangene. Rückt dem Onkel das Halstuch zurecht Deine Haare und dein Bart sind ganz zerzaust. Du müßtest sie schneiden lassen, wirklich …

SORIN kämmt sich den Bart

Die Tragödie meines Lebens. Schon in meiner Jugend habe ich immer ausgesehen wie ein Quartalsäufer, jaja. Die Frauen haben mich nie geliebt. Setzt sich Warum ist meine Schwester schlecht gelaunt?

TREPLJOW

Warum? Sie langweilt sich. Setzt sich neben ihn Sie ist eifersüchtig. Sie ist schon jetzt sowohl gegen mich als auch gegen die Aufführung als auch gegen mein Stück, weil nicht sie spielt, sondern die Sarjetschnaja. Sie kennt mein Stück noch gar nicht, aber sie haßt es bereits.

SORIN lacht

Das bildest du dir ein, wirklich.

TREPLJOW

Sie ärgert sich jetzt schon, weil auf dieser kleinen Bühne da die Sarjetschnaja Erfolg haben wird und nicht sie. Blickt auf die Uhr Ein psychologisches Kuriosum – meine Mutter. Unbestreitbar talentiert, gescheit, sie ist fähig, über ein Buch in Tränen auszubrechen, legt dir den ganzen Nekrassow auswendig hin, pflegt Kranke wie ein Engel, aber wage es, in ihrer Gegenwart die Duse zu loben. Hoho! Nur sie darf man loben, nur über sie darf man schreiben, bravo rufen, in Begeisterung ausbrechen über ihr unvergleichliches Spiel in der »Kameliendame« oder im »Rausch des Lebens«, aber weil sie hier auf dem Land diese Droge nicht bekommt, langweilt sie sich und wird böse, wir alle sind ihre Feinde, wir sind schuld. Außerdem ist sie abergläubisch, sie fürchtet sich vor drei Kerzen, der Zahl dreizehn. Und geizig ist sie. Sie hat in Odessa auf der Bank siebzigtausend Rubel – das weiß ich genau. Aber bitte sie mal, dir was zu leihen, da fängt sie an zu weinen.

SORIN

Du hast dir eingeredet, daß dein Stück deiner Mutter nicht gefällt, und schon regst du dich darüber auf, jaja. Beruhige dich, deine Mutter betet dich an.

TREPLJOW reißt einer Blume die Blütenblätter aus

Sie liebt mich – sie liebt mich nicht – sie liebt mich – sie liebt mich nicht – sie liebt mich – sie liebt mich nicht. Lacht Siehst du, meine Mutter liebt mich nicht. Wie soll sie auch. Sie will leben, lieben, helle Blusen tragen, aber ich bin schon fünfundzwanzig und erinnere sie ständig daran, daß sie nicht mehr jung ist. Wenn ich nicht da bin, ist sie zweiunddreißig, aber wenn ich da bin, ist sie dreiundvierzig, und dafür haßt sie mich. Außerdem weiß sie, daß ich das Theater nicht anerkenne. Sie liebt das Theater, sie meint, sie diene der Menschheit, der heiligen Kunst, aber meiner Ansicht nach ist das zeitgenössische Theater reine Routine, Konvention. Wenn der Vorhang aufgeht und bei abendlicher Beleuchtung in einem Zimmer mit drei Wänden diese großen Talente, diese Priester der heiligen Kunst, vorführen, wie Menschen essen, trinken, lieben, herumgehen und ihre Jacketts tragen; wenn sie versuchen, aus trivialen Bildern und Phrasen eine Moral herauszufischen – eine kleine Moral, leicht verdaulich, nützlich für den täglichen Hausgebrauch; wenn sie mir in tausend Variationen immer wieder das gleiche, immer das gleiche, immer das gleiche vorsetzen – dann laufe ich davon, ich laufe davon wie Maupassant vor dem Eiffelturm davongelaufen ist, der ihm das Hirn erdrückt hat durch seine Trivialität.

SORIN

Aber wir brauchen Theater.

TREPLJOW

Wir brauchen neue Formen. Neue Formen brauchen wir, und wenn wir die nicht haben, ist es besser, wir haben nichts. Blickt auf die Uhr Ich liebe meine Mutter, ich liebe sie sehr, aber sie führt ein so sinnloses Leben, immer schleppt sie diesen Schriftsteller mit sich herum, ihr Name wird dauernd durch die Zeitungen gezerrt, das macht mich krank. Manchmal spricht in mir einfach der Egoismus eines normalen Sterblichen, und dann bedauere ich, daß meine Mutter eine berühmte Schauspielerin ist, und denke mir, wäre sie eine normale Frau, wäre ich glücklicher. Onkel, gibt es eine verzweifeltere und dümmere Situation, und das ist oft so: Sie hat Gäste, lauter berühmte Leute, lauter Schauspieler und Schriftsteller, und ich als einziger von allen bin nichts, ich werde nur geduldet, weil ich ihr Sohn bin. Wer bin ich? Was bin ich? Ich bin im dritten Semester von der Universität abgegangen, aus Gründen, die, wie man so sagt, nicht von der Redaktion abhängen, ich habe keinerlei Talent, ich besitze keine Kopeke, laut Paß bin ich ein Kiewer Kleinbürger. Mein Vater war schließlich ein Kiewer Kleinbürger, obwohl auch er ein berühmter Schauspieler war. Ja – und wenn dann all diese Künstler und Schriftsteller in ihrem Salon mir ihre gnädige Aufmerksamkeit schenken, spüre ich, wie sie mit ihren Blicken meine Nichtigkeit abmessen. Ich errate ihre Gedanken, ich leide unter der Erniedrigung …

SORIN

Übrigens, sag bitte, was ist das für ein Mensch, dieser Schriftsteller? Man wird nicht klug aus ihm, er schweigt immer.

TREPLJOW

Gescheit, einfach, ein bißchen, weißt du, melancholisch, sehr anständig, noch keine Vierzig und schon sehr berühmt – satt bis zum Kragen. Was sein Schreiben betrifft, ja … wie soll ich sagen? Nett, begabt, aber … nach Tolstoj oder Zola hat man nicht unbedingt Lust, Trigorin zu lesen.

SORIN

Ich, mein Junge, liebe die Schriftsteller. Früher wollte ich leidenschaftlich gern zwei Dinge: Ich wollte heiraten, und ich wollte Schriftsteller werden, aber weder das eine noch das andere ist mir gelungen … Tja. Auch ein kleiner Schriftsteller zu sein wäre schön, letzten Endes.

TREPLJOW lauscht

Ich höre Schritte … Umarmt den Onkel Ich kann nicht leben ohne sie … Schon der Klang ihrer Schritte ist wunderbar … Ich bin wahnsinnig glücklich. Geht schnell Nina entgegen Meine Zauberin, mein Traum …

NINA aufgeregt

Ich bin nicht zu spät … nein, ich bin nicht zu spät …

TREPLJOW küßt ihr die Hände

Nein, nein, nein …

NINA

Den ganzen Tag war ich in Unruhe, ich war so aufgeregt! Ich hatte Angst, mein Vater läßt mich nicht gehen … Aber jetzt ist er mit meiner Stiefmutter weggefahren. Der Himmel ist rot, gleich geht der Mond auf, und ich habe mein Pferd gejagt … gejagt … Lacht Ich bin so froh! Drückt Sorin fest die Hand

SORIN lacht

Mir scheint, die Äugelchen sind verweint! Aber – aber! Das ist nicht schön!

NINA

Ach, das … Sehen Sie, wie ich außer Atem bin. In einer halben Stunde muß ich wieder weg, wir müssen uns beeilen. Nein, nein, um Gottes willen, halten Sie mich nicht zurück. Mein Vater weiß nicht, daß ich hier bin.

TREPLJOW

Allerdings, es ist höchste Zeit, daß wir anfangen. Jemand muß gehen, und alle rufen.

SORIN

Ich gehe, jaja. Sofort! Geht nach rechts und singt »Nach Frankreich zogen zwei Grenadier …« Dreht sich um Einmal fing ich auch so an zu singen, und da sagt ein Freund des Staatsanwaltes zu mir: »Euer Exzellenz, Ihre Stimme ist gewaltig …« Dann überlegt er kurz und fügt hinzu: »Aber … scheußlich.« Lacht und geht ab

NINA

Mein Vater und seine Frau wollen nicht, daß ich hierherkomme. Sie sagen, hier lebt die Bohème … sie haben Angst, ich könnte Schauspielerin werden … Aber mich zieht es hierher an den See wie eine Möwe … Mein Herz ist ganz erfüllt von Ihnen. Blickt sich um

TREPLJOW

Wir sind allein.

NINA

Ich glaube, da ist jemand …

TREPLJOW

Nein, niemand. Küßt sie

NINA

Was ist das für ein Baum?

TREPLJOW

Eine Ulme.

NINA

Warum ist sie so dunkel?

TREPLJOW

Es ist Abend, alle Dinge werden dunkel. Fahren Sie nicht gleich wieder nach Hause. Ich flehe Sie an.

NINA

Ich muß.

TREPLJOW

Und wenn ich zu Ihnen komme, Nina? Die ganze Nacht werde ich im Garten stehen und zu Ihrem Fenster hinaufschauen.

NINA

Das geht nicht, der Wächter würde Sie bemerken. Und der Hund ist noch nicht gewöhnt an Sie, er wird bellen.

TREPLJOW

Ich liebe Sie.

NINA

Pssst …

TREPLJOW hört Schritte

Wer ist da? Sie, Jakow?

JAKOW hinter der Bühne

Jawohl.

TREPLJOW

Geht auf eure Plätze. Es ist Zeit. Geht der Mond schon auf?

JAKOW

Jawohl.

TREPLJOW

Ist der Spiritus da? Ist der Schwefel da? Wenn die roten Augen erscheinen, muß es nach Schwefel riechen. Zu Nina Kommen Sie, es ist alles bereit. Sind Sie aufgeregt?

NINA

Ja, sehr. Ihre Mama macht mir nichts, vor ihr habe ich keine Angst, aber Trigorin ist bei Ihnen … Vor ihm zu spielen, fürchte ich mich, da schäme ich mich … Ein berühmter Schriftsteller … Ist er jung?

TREPLJOW

Ja.

NINA

Wie wunderbar seine Erzählungen sind!

TREPLJOW kalt

Weiß ich nicht, hab ich nicht gelesen.

NINA

In Ihrem Stück zu spielen ist schwierig. Es hat keine lebendigen Personen.

TREPLJOW

Lebendige Personen! Man muß das Leben nicht so darstellen, wie es ist, und nicht so, wie es sein soll, sondern wie man es sich in seinen Träumen vorstellt.

NINA

In Ihrem Stück ist zu wenig Handlung, es ist nur ein Vortrag. Und, in einem Stück, finde ich, muß unbedingt Liebe vorkommen …

Sie geht hinter die Bühne. Polina Andrejewna und Dorn treten auf.

POLINA

Es wird feucht. Gehen Sie zurück und ziehen Sie sich Galoschen an.

DORN

Mir ist heiß.

POLINA

Sie passen nicht auf sich auf. Diese Dickköpfigkeit. Sie sind Arzt und wissen sehr gut, daß feuchte Luft Ihnen schadet, aber Sie wollen, daß ich leide. Sie sind gestern absichtlich den ganzen Abend draußen auf der Terrasse geblieben …

DORN singt

»Sagt nicht, die Jugend sei dahin …«

POLINA

Sie waren so fasziniert von dem Gespräch mit Irina Nikolajewna … Sie haben die Kälte gar nicht bemerkt. Geben Sie es zu, sie gefällt Ihnen …

DORN

Ich bin fünfundfünfzig Jahre alt.

POLINA

Was sagt das schon, für einen Mann ist das kein Alter. Sie haben sich gut gehalten. Sie gefallen den Frauen immer noch.

DORN

Also was wollen Sie?

POLINA

Einer Schauspielerin liegt ihr alle zu Füßen. – Alle!

DORN singt

»Und wieder liege ich dir zu Füßen …« Wenn die Künstler von der Gesellschaft geliebt werden und man sich gegen sie anders verhält als, sagen wir, gegen Kaufleute, ist das ganz in Ordnung. Das ist Idealismus.

POLINA

Und daß sich alle Frauen immer in Sie verliebt haben und sich Ihnen an den Hals geworfen haben. Ist das auch Idealismus?

DORN zuckt die Achseln

Na und? In den Beziehungen der Frauen zu mir war viel Schönes. Die Frauen liebten in mir vor allem den ausgezeichneten Arzt. Vor zehn, fünfzehn Jahren, Sie erinnern sich, war ich der einzige ordentliche Geburtshelfer im ganzen Gouvernement. Außerdem war ich immer ein anständiger Mensch.

POLINA faßt ihn an der Hand

Mein Lieber!

DORN

Still. Sie kommen.

Es kommen: Arkadina am Arm Sorins, Trigorin, Schamrajew, Medwedjenko und Mascha.

SCHAMRAJEW

Im Jahre achtzehnhundertdreiundsiebzig in Poltawa auf dem Jahrmarkt hat sie umwerfend gespielt. Ein Jubel war das! Wundervoll hat sie gespielt! Sie wissen nicht zufällig, wo der Komiker Tschadin jetzt ist, Pawel Semjonitsch Tschadin? Als Raspljujew war er unnachahmlich, besser als Sadowskij, ich schwöre es Ihnen, Verehrteste. Wo ist er jetzt?

ARKADINA

Sie fragen immer nach irgendwelchen vorsintflutlichen Leuten. Woher soll ich das wissen? Setzt sich

SCHAMRAJEW seufzt

Paschka Tschadin! So jemand gibt es jetzt gar nicht mehr. Mit dem Theater ist es bergab gegangen, Irina Nikolajewna. Früher gab es mächtige Eichen, und jetzt sehen wir nur noch Stümpfe.

DORN

Glänzende Begabungen sind selten geworden, das ist wahr, aber der Durchschnittsschauspieler ist dafür um vieles besser heute.

SCHAMRAJEW

Da kann ich Ihnen nicht zustimmen. Übrigens ist das Geschmacksache. De gustibus aut bene aut nihil.

Trepljow kommt hinter der Bühne hervor.

ARKADINA zu ihrem Sohn

Mein lieber Sohn, wann fängt es an?

TREPLJOW

In einer Minute. Ich bitte um Geduld.

ARKADINA zitiert aus »Hamlet«

Du hast mir meinen Blick gelenkt nach innen

Und tödliche Geschwüre sah ich dort

In meiner Seele – nichts mehr kann mich retten.

TREPLJOW zitiert aus »Hamlet«

Und warum hast du dich dem Laster ergeben,

Im Abgrund des Verbrechens Liebe gesucht?

Hinter der Bühne wird auf dem Horn geblasen.

Meine Herrschaften, es geht los. Ich bitte um Aufmerksamkeit!

Pause

fange an.

Er klopft mit einem Stock laut.

Oh, ihr ehrwürdigen alten Schatten, die ihr zur nächtlichen Stunde über diesen See hier zieht, hüllt uns in Schlaf, damit im Traum uns erscheine, was in zweihunderttausend Jahren sein wird.

SORIN

In zweihunderttausend Jahren wird nichts sein.

TREPLJOW

Dann soll man uns dieses Nichts jetzt zeigen.

ARKADINA

Gut. Wir schlafen.

Der Vorhang geht hoch, man sieht den See, der Mond steht am Horizont, er spiegelt sich im Wasser. Auf einem großen Stein sitzt Nina Saretschnaja, ganz in Weiß.

NINA

Die Menschen und die Löwen, die Adler und die Rebhühner,

Die Hirsche mit ihren Geweihen,

Die Gänse und die Spinnen,

Die stummen Fische im Wasser,

Die Seesterne und alle Wesen,

Die mit Augen nicht zu sehen sind,

Mit einem Wort

Alles Leben, alles Leben, alles Leben

Hat seinen traurigen Kreislauf vollendet, ist erloschen.

Tausende von Jahren schon

Trägt diese Erde kein lebendes Wesen mehr

Und entzündet der arme Mond seine Laterne umsonst.

Auf der Wiese erwachen keine Kraniche mehr mit ihrem Geschrei.

Und keine Maikäfer sind zu hören im Lindenhain.

Kälte, Kälte, Kälte.

Leere, Leere, Leere.

Schrecken, Schrecken, Schrecken.

Pause

Die Körper der lebenden Wesen sind zerfallen zu Staub

Und die ewige Materie hat sie verwandelt

In Steine, in Wasser, in Wolken.

Die Seelen aller sind verschmolzen zu einer Seele

Und diese gemeinsame Seele des Weltalls bin ich … ich …

In mir ist die Seele Alexanders des Großen,

Die Seele Cäsars und Napoleons

Und die Seele des niedrigsten Blutegels.

In mir ist das Bewußtsein der Menschen

Verschmolzen mit den Instinkten der Tiere.

Ich weiß alles, alles, alles

Und jedes Leben durchlebe ich von neuem in mir.

Irrlichter glimmen auf.

ARKADINA leise

Es hat etwas Dekadentes.

TREPLJOW flehend, vorwurfsvoll

Mama!

NINA

Einsam bin ich. Nur einmal in hundert Jahren

Öffne ich die Lippen und spreche

Und meine Stimme klingt trostlos in dieser Leere

Und niemand kann sie hören …

Auch ihr, ihr blassen Feuer hört mich nicht …

Der faulige Sumpf gebiert euch, bevor es Morgen wird,

Und bis der Tag anbricht, irrt ihr umher

Ohne Gedanken, ohne Willen, ohne ein Zucken von Leben.

Aus Furcht, es könnte Leben entstehen in euch,

Vollzieht der Vater der ewigen Materie,

Der Teufel, jeden Augenblick

In euch und im Gestein und im Wasser

Eine Wandlung der Atome

Und ununterbrochen verwandelt ihr euch.

Beständig und unwandelbar im Weltall

Bleibt einzig der Geist.

Pause

Wie ein Gefangener in einen leeren tiefen Brunnen geworfen

Weiß ich nicht, wo ich bin und was mich erwartet.

Nicht verborgen ist mir nur,

Daß im beharrlich grausamen Kampf mit dem Teufel,

Dem Ursprung aller Kräfte der Materie,

Es mir beschieden ist, zu siegen.

Und dann werden Materie und Geist

Verschmelzen in einer Harmonie der Schönheit,

Und die Herrschaft des einen gemeinsamen Willens bricht an.

Aber das wird erst sein, wenn allmählich

Im Laufe einer langen, langen Reihe von Tausenden von Jahren

Der Mond, der leuchtende Sirius

Und die Erde sich in Staub verwandelt haben …

Bis dahin aber nichts als

Grauen, Grauen, Grauen …

Pause. Im Hintergrund am See erscheinen zwei rote Punkte.

Da nähert sich mein mächtiger Gegner, der Teufel.

Ich sehe seine furchtbaren glutroten Augen …

ARKADINA

Es riecht nach Schwefel. Ist das so gedacht?

TREPLJOW

Ja.

ARKADINA lacht

Aha, das ist ein Effekt.

TREPLJOW

Mama!

NINA

Er langweilt sich ohne die Menschen …

POLINA zu Dorn

Sie haben Ihren Hut abgenommen, setzen Sie ihn wieder auf, sonst erkälten Sie sich.

ARKADINA

Der Doktor hat den Hut vor dem Teufel abgenommen, vor dem Vater der ewigen Materie.

TREPLJOW aufbrausend, laut

Das Stück ist zu Ende! Schluß! Vorhang!

ARKADINA

Was bist du denn so wütend?

TREPLJOW

Schluß! Vorhang! Vorhang runter! Stampft mit dem Fuß auf Vorhang!

Der Vorhang fällt.

Verzeihen Sie, ich hatte außer acht gelassen, daß nur wenige Auserwählte Stücke schreiben und auf der Bühne stehen dürfen. Ich habe das Monopol verletzt. Mir … ich … Er möchte etwas sagen, winkt aber ab und geht nach links ab.

ARKADINA

Was hat er denn?

SORIN

Irina, Liebe, so darf man nicht umgehen mit jugendlichem Ehrgeiz.

ARKADINA

Was habe ich denn gesagt?

SORIN

Du hast ihn gekränkt.

ARKADINA

Er hat doch selbst vorher mehrmals gesagt, daß es sich um einen Spaß handelt, also habe ich sein Stück auch als Spaß aufgefaßt.

SORIN

Trotzdem …

ARKADINA

Jetzt stellt sich heraus, daß er ein bedeutendes Werk geschrieben hat! Ich bitte euch! Er hat uns also nicht aus Spaß dieses Stück vorgeführt und uns mit Schwefel eingeräuchert, sondern als Demonstration … Er wollte uns belehren, wie man schreiben muß und was man spielen muß. Allmählich wird das langweilig. Diese ständigen Ausfälle gegen mich, diese Sticheleien, ich bitte Sie, das soll einem nicht auf die Nerven gehen! Dieser launische, ehrgeizige Bengel.

SORIN

Er wollte dir eine Freude machen.

ARKADINA

Ach ja? Warum hat er dann nicht irgendein ganz normales Stück genommen, sondern uns gezwungen, diese dekadenten Fieberphantasien anzuhören? Zum Spaß bin ich ja gern bereit, mir auch Fieberphantasien anzuhören, aber das hier – dieser Anspruch auf neue Formen, auf eine neue Ära in der Kunst. Ich sehe hier keine neuen Formen, sondern einfach einen schlechten Charakter!

TRIGORIN

Jeder schreibt so, wie er will und wie er kann.

ARKADINA

Soll er doch schreiben, wie er will und wie er kann, nur mich soll er damit in Ruhe lassen.

DORN

Jupiter, du zürnst …

ARKADINA

Ich bin nicht Jupiter, sondern eine Frau. Zündet sich eine Zigarette an Ich zürne nicht, mich ärgert nur, daß ein junger Mensch seine Zeit dermaßen langweilig vertut. Ich wollte ihn nicht kränken.

MEDWEDJENKO

Niemand hat einen Grund, den Geist von der Materie zu trennen, vielleicht ist ja der Geist die Gesamtheit der materiellen Atome. Lebhaft zu Trigorin Aber wissen Sie, man sollte einmal in einem Stück beschreiben und dann auf der Bühne zeigen, wie unsereiner lebt – wir Lehrer. Das ist ein hartes Leben, ein hartes Leben!

ARKADINA

Sie haben vollkommen recht, wir wollen nicht mehr über Stücke reden und über Atome – es ist ein so herrlicher Abend! Hören Sie sie singen, meine Herrschaften? Lauscht Wie schön!

POLINA

Das ist drüben am anderen Ufer.

Pause

ARKADINA zu Trigorin

Setzen Sie sich neben mich. Vor zehn, fünfzehn Jahren konnte man hier am See fast jede Nacht ununterbrochen Musik und Gesang hören. Hier am Ufer gibt es sechs Landgüter. Ich erinnere mich – Lachen, Lärmen, Schießen, und immer Romane, Romane … Jeune premier’om und Abgott auf allen sechs Gütern war damals, Deutet auf Dorn darf ich vorstellen, Doktor Jewgenij Sergejewitsch. Er ist auch heute noch bezaubernd, aber damals war er unwiderstehlich. Ach, jetzt quält mich mein Gewissen. Warum habe ich meinen armen Jungen gekränkt? Das läßt mir keine Ruhe. Laut Kostja! Mein Sohn! Kostja!

MASCHA

Ich gehe ihn suchen.

ARKADINA

Bitte, Liebste.

MASCHA geht nach links

Hu – hu! Konstantin Gawrilowitsch! Hu – hu! Geht ab

NINA kommt hinter der Bühne hervor

Offenbar soll es nicht weitergehen, ich kann rauskommen. Guten Abend! Küßt Arkadina und Polina Andrejewna

SORIN

Bravo! Bravo!

ARKADINA

Bravo! Bravo! Wir haben Sie bewundert! Mit diesem Aussehen, mit dieser wundervollen Stimme darf man nicht auf dem Land sitzen, das ist eine Sünde. Sie haben sicher Talent. Hören Sie? Sie müssen unbedingt zum Theater!

NINA

Oh, das ist mein Traum! Seufzt Aber er wird sich nie erfüllen.

ARKADINA

Wer weiß? Darf ich vorstellen: Trigorin, Boris Alexejewitsch …

NINA

Ach, ich freue mich so … Verwirrt Ich lese alles von Ihnen …

ARKADINA setzt sie neben sich

Nicht verlegen werden, meine Liebe. Er ist ein berühmter Mann, aber er hat ein einfaches Herz. Sehen Sie, er ist selber verlegen geworden.

DORN

Ich glaube, jetzt kann man den Vorhang hochziehen, es ist sonst so unheimlich.

SCHAMRAJEW laut

Jakow, zieh doch mal den Vorhang hoch! Der Vorhang geht hoch.

NINA zu Trigorin

Ein seltsames Stück, nicht wahr?

TRIGORIN

Ich habe nichts verstanden. Aber ich habe mit Vergnügen zugeschaut. Sie haben so aufrichtig gespielt. Und die Dekoration war wunderschön.

Pause

In diesem See gibt es bestimmt viele Fische.

NINA

Ja.

TRIGORIN

Ich angle leidenschaftlich gern. Für mich gibt es keinen größeren Genuß, als am Abend am Ufer zu sitzen und auf den Schwimmer zu schauen.

NINA

Aber, ich dachte, wer einmal den Genuß des Schaffens erlebt hat, für den gibt es gar keine anderen Genüsse mehr.

ARKADINA lacht

Sprechen Sie nicht so. Wenn man ihm so große Worte sagt, versinkt er in den Erdboden.

SCHAMRAJEW

Ich erinnere mich, in Moskau in der Oper sang einmal der berühmte Sänger Silva das tiefe C. Und ausgerechnet an dem Abend saß auf der Galerie der Baß aus unserem Kirchenchor und plötzlich, stellen Sie sich unser maßloses Erstaunen vor, hören wir von der Galerie: »Bravo, Silva! « Eine ganze Oktav tiefer … So: In tiefem Baß »Bravo, Silva!« … Das Theater war wie versteinert.

Pause

DORN

Ein Engel flog durch den Raum.

NINA

Ich muß gehen. Leben Sie wohl.

ARKADINA

Wohin? Wohin so früh? Wir lassen Sie nicht gehen.

NINA

Papa wartet auf mich.

ARKADINA

Wirklich, was ist er für ein …

Sie küssen sich.

Nun, was soll man machen. Schade, schade, daß Sie gehen müssen.

NINA

Wenn Sie wüßten, wie schwer es mir fällt!

ARKADINA

Jemand sollte Sie begleiten, mein Kleines.

NINA erschreckt

Nein, nein!

SORIN flehend zu ihr

Bleiben Sie doch noch!

NINA

Ich kann nicht, Pjotr Nikolajewitsch.

SORIN

Bleiben Sie noch eine Stunde, jaja. Was ist das schon, wirklich …

NINA nach kurzem Überlegen, unter Tränen

Es geht nicht.

Drückt ihm die Hand und geht schnell ab

ARKADINA

Ein unglückliches Mädchen, im Grunde. Man sagt, ihre verstorbene Mutter hat ihr gesamtes riesiges Vermögen bis auf die letzte Kopeke ihrem Mann vermacht, und jetzt steht das Mädchen da mit nichts, weil ihr Vater wiederum alles seiner zweiten Frau überschrieben hat. Es ist empörend.

DORN

Ja, ihr Papa ist wirklich ein außergewöhnliches Schwein, da muß man ihm volle Gerechtigkeit widerfahren lassen.

SORIN reibt sich die erstarrten Hände

Gehen wir auch, meine Herrschaften. Es wird feucht. Meine Beine tun weh.

ARKADINA

Deine Beine! Wie zwei Holzbeine – du kannst ja kaum laufen. Also, komm, du unglücklicher Greis. Sie faßt ihn unter dem Arm.

SCHAMRAJEW reicht seiner Frau den Arm

Madame?

SORIN

Ich höre, der Hund heult schon wieder. Zu Schamrajew Seien Sie so gut, Ilja Afanasjewitsch, lassen Sie ihn losbinden.

SCHAMRAJEW

Das geht nicht, Pjotr Nikolajewitsch. Ich habe Angst, daß sich Diebe in die Scheune einschleichen, ich habe dort die ganze Hirse liegen. Geht neben Medwedjenko her Stellen Sie sich das vor, eine ganze Oktav tiefer: »Bravo, Silva!« Dabei war er gar kein richtiger Sänger, nur ein Kirchenchorsänger.

MEDWEDJENKO

Und was für ein Gehalt bekommt so ein Kirchenchorsänger?

Alle gehen ab, außer Dorn.

DORN allein

Ich weiß nicht, vielleicht habe ich keine Ahnung, oder ich habe den Verstand verloren, aber mir hat das Stück gefallen. Irgend etwas hat es. Wie dieses Mädchen über die Einsamkeit gesprochen hat, und dann, wie die roten Teufelsaugen erschienen, haben mir vor Aufregung die Hände gezittert. So frisch, so naiv … Da kommt er. Ich möchte ihm etwas Freundliches sagen.

TREPLJOW kommt

Keiner mehr da.

DORN

Doch, ich.

TREPLJOW

Mascha durchsucht den ganzen Park nach mir. Ein unerträgliches Geschöpf.

DORN

Konstantin Gawrilowitsch, Ihr Stück hat mir außerordentlich gut gefallen. Es ist eigenartig, und ich kenne den Schluß nicht, trotzdem, es hat mich sehr beeindruckt. Sie sind begabt, Sie müssen weitermachen.

Trepljow drückt ihm fest die Hand und umarmt ihn heftig.

Wie nervös Sie sind. Tränen in den Augen … Was ich sagen will: Sie haben ein Sujet aus dem Bereich der abstrakten Ideen gewählt. Das ist richtig, ein Kunstwerk muß unbedingt einen großen Gedanken zum Ausdruck bringen. Nur das ist schön, was ernst ist. Wie blaß Sie sind!

TREPLJOW

Sie meinen also, ich soll weitermachen?

DORN

Ja … Aber schreiben Sie nur das Wesentliche und Unvergängliche. Sie wissen, mein Leben war reich, ich habe es genossen, ich bin zufrieden, aber hätte ich jemals diesen Aufschwung des Geistes erfahren, den die Künstler in ihrem schöpferischen Prozeß erleben, dann, glaube ich, hätte ich meine materielle Hülle und alles, was diese Hülle ausmacht, verachtet und nur danach gestrebt, mich so weit wie möglich über diese Erde zu erheben.

TREPLJOW

Entschuldigung, wo ist die Sarjetschnaja?

DORN

Und noch etwas. Einem Kunstwerk muß ein klarer, bestimmter Gedanke zugrunde liegen. Sie müssen wissen, für was Sie schreiben, sonst, wenn Sie diesen poetischen Weg ohne ein bestimmtes Ziel gehen, werden Sie sich verirren, und dann wird Ihr Talent Sie zugrunde richten.

TREPLJOW ungeduldig

Wo ist die Sarjetschnaja?

DORN

Sie ist nach Hause gefahren.

TREPLJOW verzweifelt

Was soll ich nur machen? Ich will sie sehen … Ich muß sie unbedingt sehen … Ich fahre hin …

Mascha tritt auf.

DORN zu Trepljow

Beruhigen Sie sich, mein Freund.

TREPLJOW

Doch, ich fahre hin. Ich muß hinfahren.

MASCHA

Gehen Sie ins Haus, Konstantin Gawrilowitsch. Ihre Mutter wartet auf Sie. Sie ist beunruhigt.

TREPLJOW

Sagen Sie ihr, ich bin weggefahren. Und ich bitte euch alle, laßt mich in Ruhe! Laßt mich in Ruhe! Geht mir nicht dauernd nach!

DORN

Aber, aber, aber, mein Lieber … So geht das nicht … Das ist nicht gut.

TREPLJOW unter Tränen

Auf Wiedersehen, Doktor. Danke …

Geht ab

DORN seufzt

Die Jugend, die Jugend!

MASCHA

Wenn einem nichts anderes mehr einfällt, sagt man immer: die Jugend, die Jugend … Schnupft Tabak

DORN nimmt die Tabakdose weg und schleudert sie ins Gebüsch

Das ist scheußlich.

Pause

Im Haus spielen sie sicher schon. Wir müssen gehen.

MASCHA

Warten Sie.

DORN

Was ist?

MASCHA

Ich möchte es Ihnen noch einmal sagen. Ich muß es aussprechen … Erregt Ich liebe meinen Vater nicht … aber Ihnen bin ich sehr zugetan. Ich weiß nicht, warum, aber ich fühle von ganzem Herzen, daß Sie mir nahe sind … Helfen Sie mir. Helfen Sie mir, sonst begehe ich eine Dummheit, sonst zerstöre ich mein Leben, ich mache es kaputt … Ich kann nicht mehr …

DORN

Was? Wie kann ich Ihnen helfen?

MASCHA

Ich leide. Niemand, niemand weiß, wie sehr ich leide. Legt ihren Kopf an seine Brust, leise Ich liebe Konstantin.

DORN

Wie nervös alle sind! Wie nervös alle sind! Und wieviel Liebe … Ja, dieser Zauber-See. Zärtlich Aber was kann ich denn tun, mein liebes Kind? Was? Was?

 

Vorhang

Zweiter Akt

Ein Krocketplatz. Im Hintergrund rechts das Haus mit einer großen Terrasse, links ist der See zu sehen, in dem sich die Sonne spiegelt. Blumenbeete. Mittag. Es ist heiß. Auf der Seite des Platzes im Schatten einer alten Linde sitzen Arkadina, Dorn und Mascha auf der Bank. Dorn hat ein aufgeschlagenes Buch auf den Knien.

ARKADINA zu Mascha

Stehen wir auf!

Beide stehen auf.

Stellen wir uns nebeneinander. Sie sind zweiundzwanzig, ich bin fast doppelt so alt. Jewgenij Sergejewitsch, wer von uns ist jünger?

DORN

Sie natürlich.

ARKADINA

Sehen Sie … Und warum? Weil ich arbeite, weil ich fühle, weil ich ständig in Bewegung bin, aber Sie sitzen immer nur auf einem Fleck. Sie leben nicht … Und – ich habe eine Regel: niemals in die Zukunft schauen. Ich denke nie an das Alter, nie an den Tod. Was kommt, das kommt.

MASCHA

Und ich habe das Gefühl, ich bin schon vor langer, langer Zeit auf die Welt gekommen. Ich schleife mein Leben mühsam mit mir herum wie eine endlose Schleppe … Und oft habe ich überhaupt keine Lust zu leben. Setzt sich Natürlich, das sind alles Dummheiten. Man muß sich aufraffen, all das abschütteln.

DORN singt leise

»Sagt ihr, ihr Blumen …«

ARKADINA

Außerdem bin ich korrekt wie ein Engländer. Ich, Liebste, halte mich immer in Form, wie man so sagt, ich bin immer gekleidet und frisiert comme il faut. Daß ich mir jemals erlauben würde, nur in der Bluse oder unfrisiert aus dem Haus zu gehen, und sei es nur in den Garten? Undenkbar. Deshalb habe ich mich ja so gut gehalten, weil ich nie träge war, ich habe mich nie gehenlassen wie so manche andere … Stemmt die Hände in die Hüfte und schreitet auf dem Platz auf und ab Sehen Sie – wie ein junges Küken. Ich könnte noch eine Fünfzehnjährige spielen.

DORN

Na schön, trotzdem lese ich jetzt weiter. Nimmt das Buch Wir waren stehengeblieben bei dem Mehlhändler und den Ratten …

ARKADINA

Und den Ratten. Lesen Sie. Setzt sich Oder geben Sie es mir, ich lese. Ich bin an der Reihe. Nimmt das Buch und sucht mit den Augen Und den Ratten … hier … »Und natürlich ist es für Menschen der Gesellschaft ebenso gefährlich, Schriftsteller zu verwöhnen und an sich zu locken, wie für einen Mehlhändler, Ratten in seinem Speicher zu züchten. Dennoch liebt man sie. Wenn sich also eine Frau einen Schriftsteller erwählt hat, den Sie erobern will, wird sie ihn mit Komplimenten, Schmeicheleien und Gefälligkeiten so belagern …« Na ja, bei den Franzosen ist das vielleicht so, bei uns ist es ganz anders, bei uns gibt es kein Programm. Bei uns ist eine Frau, bevor sie einen Schriftsteller erobern will, gewöhnlich selbst schon bis über beide Ohren verliebt, bitte sehr. Sie müssen gar nicht weit suchen, nehmen Sie mich und Trigorin

Sorin kommt, auf einen Stock gestützt, neben ihm Nina, Medwedjenko schiebt einen leeren Sessel hinter ihnen.

SORIN in einem Ton, in dem man Kinder liebkost

Na? Haben wir heute eine frohe Botschaft? Sind wir heute vergnügt, schließlich und endlich? Zu seiner Schwester Wir haben eine frohe Botschaft! Vater und Stiefmutter sind nach Twer gefahren, und jetzt sind wir drei ganze Tage frei.

NINA setzt sich neben die Arkadina und umarmt sie

Ich bin so glücklich! Jetzt gehöre ich Ihnen.

SORIN setzt sich in den Sessel

Sie ist heute eine kleine Schönheit.

ARKADINA

Elegant, apart … ja, darin sind Sie geschickt. Küßt Nina Aber wir dürfen Sie nicht zu sehr loben, sonst schmeicheln wir ihr zu sehr. Wo ist Boris Alexejewitsch?

NINA

Am Badehaus, er angelt.

ARKADINA

Daß ihn das nicht langweilt. Will weiterlesen

NINA

Was lesen Sie da?

ARKADINA

Maupassant: »Auf dem Wasser«, meine Liebe. Liest einige Zeilen für sich Ach, was jetzt kommt, ist nicht so interessant und stimmt auch nicht. Schließt das Buch Ich bin so unruhig. Sagen Sie, was ist mit meinem Sohn? Warum ist er so bedrückt und finster? Ganze Tage verbringt er auf dem See, ich kriege ihn überhaupt nicht mehr zu Gesicht.

MASCHA

Er ist unglücklich. Zu Nina, schüchtern Bitte tragen Sie etwas aus seinem Stück vor!

NINA zuckt die Achseln

Wollen Sie wirklich? Es ist so uninteressant!

MASCHA mit unterdrückter Begeisterung

Wenn er etwas vorträgt, dann glänzen seine Augen, sein Gesicht wird bleich. Er hat so eine schöne, schwermütige Stimme, und eine Art – wie ein Dichter.

Man hört Sorin schnarchen.

DORN

Gute Nacht!

ARKADINA

Petruscha!

SORIN

Ah?

ARKADINA

Schläfst du?

SORIN

Keineswegs.

Pause

ARKADINA

Du läßt dich nicht behandeln, das ist nicht richtig von dir, mein Lieber.

SORIN

Ich würde mich gern behandeln lassen, aber der Doktor will ja nicht.

DORN

Mit sechzig Jahren sich behandeln lassen!

SORIN

Auch mit Sechzig will man leben.

DORN ärgerlich

Gut! Dann nehmen Sie Baldriantropfen.

ARKADINA

Ich denke, es täte ihm gut, wenn er irgendwohin zur Kur fahren würde.

DORN

Bitte! Kann er machen. Er kann es auch lassen.

ARKADINA

Das soll einer verstehen.

DORN

Was gibt es da zu verstehen? Es ist vollkommen klar.

Pause

MEDWEDJENKO

Pjotr Nikolajewitsch sollte das Rauchen aufgeben.

SORIN

Quatsch.

DORN

Nein, das ist kein Quatsch. Alkohol und Tabak verändern die Persönlichkeit. Nach einer Zigarre oder einem Gläschen Schnaps sind Sie schon nicht mehr Pjotr Nikolajewitsch, sondern Pjotr Nikolajewitsch plus noch jemand; Ihr Ich löst sich auf, und Sie verhalten sich zu sich selbst wie zu einer dritten Person – einem Er.

SORIN lacht

Sie haben gut reden. Sie haben Ihr Leben gelebt, aber ich? Ich habe achtundzwanzig Jahre lang am Gericht gedient, aber ich habe noch nicht gelebt, mein Leben nicht ausgekostet, letzten Endes, und, das ist doch klar, ich – will – leben! Sie sind satt und gleichgültig, und darum haben Sie einen Hang zum Philosophieren. Aber ich will leben, und darum trinke ich zum Essen Portwein und rauche Zigarren, jaja. So ist das.

DORN

Man muß sein Leben ernst nehmen, aber sich mit sechzig Jahren behandeln lassen, klagen, daß man seine Jugend zu wenig ausgekostet hat, das ist, entschuldigen Sie, töricht.

MASCHA steht auf

Ich glaube, es ist Zeit zum Essen. Geht träge und schlaff Mein Bein ist eingeschlafen … Geht ab

DORN

Jetzt geht sie und kippt vor dem Essen noch zwei Gläschen.

SORIN

Sie hat kein Glück im Leben, die arme Seele.

DORN

Unsinn, Exzellenz.

SORIN

Sie reden eben wie ein satter Mensch.

ARKADINA

Ach, was kann langweiliger sein als diese liebe ländliche Langeweile hier. Heiß, still, kein Mensch tut etwas, alle philosophieren … Es ist schön bei euch, meine Freunde, es macht Spaß, euch zuzuhören, aber … im Hotel sitzen und seine Rolle lernen – wieviel schöner ist das!

NINA begeistert

Ja! Ich verstehe Sie!

SORIN

In der Stadt ist es schöner, weiß Gott. Du sitzt in deinem Arbeitszimmer, der Lakai läßt niemanden vor ohne Anmeldung, Telefon … Kutschen auf der Straße, jaja …

DORN summt

»Sagt ihr, ihr Blumen … «

Schamrajew tritt auf. Hinter ihm Polina Andrejewna

SCHAMRAJEW

Da sind Sie ja. Guten Tag! Küßt der Arkadina, dann Nina die Hand Sehr erfreut, Sie bei guter Gesundheit zu sehen.

Zu Arkadina Meine Frau sagt, Sie haben die Absicht, heute mit ihr zusammen in die Stadt zu fahren. Ist das wahr?

ARKADINA

Ja, das haben wir vor.

SCHAMRAJEW

Hm … eine prachtvolle Idee. Nur, womit wollen Sie fahren, verehrte gnädige Frau? Wir bringen heute den Roggen ein, die Leute sind alle bei der Arbeit. Und – mit welchen Pferden, wenn ich fragen darf?

ARKADINA

Mit welchen Pferden? Woher soll ich das wissen, mit welchen Pferden?

SORIN

Wir haben doch schließlich Kutschpferde.

SCHAMRAJEW erregt

Kutschpferde! Und woher nehme ich die Geschirre? Woher nehme ich die Geschirre? Es ist erstaunlich, es ist nicht zu fassen. Hochverehrte gnädige Frau, verzeihen Sie, ich beuge mein Knie vor Ihrem Talent, ich bin bereit, zehn Jahre meines Lebens für Sie zu opfern, aber Pferde kann ich Ihnen nicht geben.

ARKADINA

Wenn ich aber fahren muß? Das ist doch wirklich allerhand.

SCHAMRAJEW

Verehrte gnädige Frau! Sie wissen nicht, was Landwirtschaft ist!

ARKADINA aufbrausend

Immer die alte Geschichte. Wenn das so ist, dann reise ich noch heute nach Moskau ab. Lassen Sie mir im Dorf Pferde mieten, sonst gehe ich eben zu Fuß zum Bahnhof.

SCHAMRAJEW aufbrausend

Wenn das so ist, kündige ich! Suchen Sie sich einen anderen Verwalter! Geht ab

ARKADINA

Jeden Sommer das Gleiche, jeden Sommer werde ich hier beleidigt! Nie wieder setze ich einen Fuß hierher!

Geht nach links, wo das Badehaus zu vermuten ist, später sieht man sie ins Haus hinübergehen, gefolgt von Trigorin mit Angeln und einem Eimer.

SORIN aufbrausend

So eine Unverschämtheit! Weiß der Teufel, was das soll! Jetzt reicht es mir, schließlich und endlich. Auf der Stelle werden sämtliche Pferde vorgeführt!

NINA zu Polina Andrejewna

Irina Nikolajewna etwas abschlagen, einer berühmten Schauspielerin! Als sei nicht jeder Wunsch von ihr, selbst jede Laune wichtiger als Ihre Landwirtschaft! Einfach unglaublich!

POLINA verzweifelt

Was kann ich tun? Versetzen Sie sich in meine Lage: Was kann ich tun?

SORIN zu Nina

Wir gehen jetzt zu meiner Schwester und bitten sie alle inständig, daß sie nicht abreist, ja? Blickt in die Richtung, in der Schamrajew verschwunden ist Ein unausstehlicher Mensch! Dieser Despot!

NINA hindert ihn daran, aufzustehen

Bleiben Sie sitzen, bleiben Sie sitzen … Wir schieben Sie …

Sie und Medwedjenko schieben den Sessel.

Ach, ist das schrecklich!

SORIN

Ja, ja, es ist schrecklich … Aber er wird nicht gehen, ich rede gleich mit ihm.

Sie gehen ab, Dorn und Polina bleiben.

DORN

Trostlose Leute! Im Grunde sollte man Ihren Mann einfach rausschmeißen, aber natürlich wird es so enden, daß Pjotr Nikolajewitsch, dieses alte Weib, und seine Schwester ihn um Verzeihung bitten. Sie werden sehen!

POLINA

Er hat auch die Kutschpferde aufs Feld geschickt. Und jeden Tag gibt es solche Mißverständnisse. Wenn Sie wüßten, wie mich das aufregt! Ich werde noch krank; sehen Sie, ich zittere … Ich halte seine Grobheiten nicht mehr aus. Flehentlich Jewgenij, Liebster, Einziger, nimm mich zu dir … Unsere Jahre vergehen, wir sind nicht mehr jung, wenn wir doch wenigstens am Ende unseres Lebens uns nicht mehr verstecken, nicht mehr lügen müßten …

DORN

Ich bin fünfundfünfzig Jahre alt, es ist zu spät, mein Leben zu ändern.

POLINA

Ich weiß, warum Sie mich abweisen, weil es noch andere Frauen gibt außer mir, die Ihnen nahestehen. Alle können Sie nicht zu sich nehmen. Ich verstehe. Verzeihung, ich gehe Ihnen auf die Nerven.

Nina erscheint in der Nähe des Hauses. Sie pflückt Blumen.

DORN

Nein, nein.

POLINA

Ich bin so schrecklich eifersüchtig. Natürlich, Sie sind Arzt, Sie können den Frauen nicht aus dem Weg gehen. Ich verstehe …

DORN zu Nina, die sich nähert

Was ist nun?

NINA

Irina Nikolajewna weint, und Pjotr Nikolajewitsch hat einen Asthmaanfall.

DORN steht auf

Ich werde ihnen beiden Baldriantropfen geben …

NINA reicht ihm die Blumen

Bitte!

DORN

Merci bien. Geht auf das Haus zu

POLINA geht mit ihm

Was für hübsche Blumen! Am Haus, mit dumpfer Stimme Geben Sie mir die Blumen! Geben Sie mir die Blumen!

Bekommt die Blumen, zerpflückt sie und wirft sie weg, beide gehen ins Haus.

NINA allein

Merkwürdig ist das, zu sehen, wie eine berühmte Schauspielerin weint, und dann noch aus so einem lächerlichen Anlaß! Und ist es nicht komisch, ein berühmter Schriftsteller, ein Liebling des Publikums, alle Zeitungen schreiben über ihn, seine Fotografien gibt es zu kaufen, er wird in fremde Sprachen übersetzt, tut von früh bis spät nichts anderes als angeln und freut sich, wenn er zwei Weißfische gefangen hat. Ich dachte, berühmte Leute sind stolz, unnahbar, verachten die Masse und rächen sich gleichsam durch ihren Ruhm und den Glanz ihres Namens dafür, daß Herkunft und Reichtum höher geschätzt werden als alles andere. Aber hier sehe ich, daß sie weinen, angeln, Karten spielen, lachen und sich ärgern wie alle.

TREPLJOW kommt ohne Hut mit einem Gewehr und einer toten Möwe

Sind Sie allein hier?

NINA

Ja.

Trepljow legt ihr die Möwe zu Füßen.

Was soll das heißen?

TREPLJOW

Ich habe die Niedertracht besessen, heute eine Möwe umzubringen. Ich lege sie Ihnen zu Füßen.

NINA

Was ist mit Ihnen? Nimmt die Möwe auf, betrachtet sie

TREPLJOW nach einer Pause

Bald werde ich mich auf die gleiche Weise umbringen.

NINA

Ich erkenne Sie nicht wieder.

TREPLJOW

Ja, seitdem ich Sie nicht wiedererkenne. Sie sind anders zu mir geworden. Ihr Blick ist kalt, meine Gegenwart ist Ihnen lästig.

NINA

Sie sind so gereizt in letzter Zeit, Sie drücken sich immer so unverständlich aus, in irgendwelchen Symbolen. Und diese Möwe hier ist offensichtlich auch ein Symbol, aber, entschuldigen Sie, ich verstehe es nicht … Legt die Möwe auf die Bank Ich bin zu einfach, um Sie zu verstehen.

TREPLJOW

Es fing an mit dem Abend, an dem mein Stück so peinlich durchgefallen ist. Frauen verzeihen Mißerfolge nicht. Ich habe alles verbrannt, alles bis zum letzten Fetzen. Wenn Sie wüßten, wie unglücklich ich bin! Ihre plötzliche Kälte ist schrecklich, unfaßbar, als wache ich auf und sehe, dieser See hier ist plötzlich vertrocknet oder in die Erde versickert. Sie haben eben gesagt, daß Sie zu einfach sind, mich zu verstehen. Oh, was gibt es da zu verstehen! Mein Stück ist nicht angekommen, und schon verachten Sie meine Ideen, halten mich für mittelmäßig, unbedeutend – einer von vielen … Stampft mit dem Fuß auf Wie gut ich das verstehe, wie gut ich das verstehe! Es sitzt mir im Kopf wie ein Stachel, verflucht soll er sein mitsamt meinem Ehrgeiz, der mir das Blut aussaugt, aussaugt wie eine Schlange …

Sieht Trigorin, der ein Buch in der Hand hat, kommen

Da geht das wahre Talent. Schreitet dahin wie Hamlet, genauso, mit seinem Büchlein. Spottend »Worte, Worte, Worte …« Diese Sonne hat ihre Strahlen noch gar nicht auf Sie geworfen, und schon lächeln Sie, und Ihr Blick schmilzt. Ich werde Sie nicht stören. Geht schnell ab

TRIGORIN schreibt in sein Buch

Schnupft Tabak und trinkt Wodka … trägt immer Schwarz. Der Lehrer liebt sie …

NINA

Guten Tag, Boris Alexejewitsch.

TRIGORIN

Guten Tag. Die Umstände haben sich wider Erwarten so gefügt, daß wir wohl heute abreisen. Wir werden uns kaum mehr wiedersehen. Schade. Es passiert mir nicht oft, daß ich junge Mädchen kennenlerne, jung und interessant – ich habe schon vergessen, ich kann mir gar nicht mehr genau vorstellen, wie man sich mit achtzehn, neunzehn fühlt, und darum sind die jungen Mädchen meistens nicht echt in meinen Romanen und Erzählungen. Ich würde gerne einmal wenigstens für eine Stunde mit Ihnen tauschen, um zu erfahren, wie Sie denken, und überhaupt, was für ein Geschöpf Sie sind.

NINA

Und ich würde gerne einmal mit Ihnen tauschen.

TRIGORIN

Wieso?

NINA

Um zu erfahren, wie sich ein berühmter, begnadeter Schriftsteller fühlt. Wie fühlt man sich, wenn man berühmt ist? Wie empfinden Sie Ihre Berühmtheit?

TRIGORIN

Wie? Ich glaube, überhaupt nicht. Darüber habe ich nie nachgedacht. Überlegt Eins von beiden: Entweder Sie überschätzen meine Berühmtheit, oder man empfindet sie eben nicht.

NINA

Aber wenn Sie in den Zeitungen über sich lesen? trigorin Wenn man mich lobt, freue ich mich, wenn man mich beschimpft, bin ich zwei Tage schlecht gelaunt.

NINA

Komische Welt! Wenn Sie wüßten, wie ich Sie beneide! Das Schicksal der Menschen ist so verschieden. Die einen fristen mühsam ihr langweiliges, unbedeutendes Dasein, einer ist wie der andere, alle sind unglücklich. Aber anderen, Ihnen zum Beispiel – einem unter Millionen – hat das Schicksal ein interessantes, glanzvolles, bedeutendes Leben bestimmt. Sie sind glücklich …

TRIGORIN

Ich? Zuckt die Achseln Hm … Sie reden von Berühmtheit und Glück, von einem glanzvollen, interessanten Leben … aber für mich sind das alles nur schöne Worte, entschuldigen Sie, für mich ist das wie Marmelade, die ich nicht mag. Sie sind sehr jung und sehr lieb.

NINA

Ihr Leben ist wunderbar!

TRIGORIN

Was ist daran besonders schön? Schaut auf die Uhr Ich muß jetzt gehen und schreiben. Entschuldigen Sie, ich habe keine Zeit … Lacht