Aussicht auf Fichten - Melanie Schubert - E-Book

Aussicht auf Fichten E-Book

Melanie Schubert

0,0

Beschreibung

Ausgerechnet Oberfranken! Statt nach Hamburg, Brüssel oder London wird die erfolgreiche Unternehmensberaterin Maike aus Frankfurt ins bayerisch-tschechische Grenzgebiet geschickt. Dort machen ihr nicht nur die Provinz und die Einheimischen mit ihrer grummeligen Art zu schaffen. Auch Bastian, der Sohn ihres Auftraggebers ist ein typisches, missgelauntes Exemplar eines Oberfranken. Doch je länger sie dort ist, desto mehr entdeckt sie von der Liebenswürdigkeit des Fichtelgebirges, seiner Einwohner - und auch Bastians ... Ein Liebesroman, der in Oberfranken spielt? Das ist nicht so unmöglich, wie es sich im ersten Moment anhört ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 340

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Jürgen

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Vier Monate später

Kapitel 1

Je länger die Fahrt dauerte, desto schlechter wurde Maikes Laune. Die war bei der Abfahrt in Frankfurt schon nicht gut gewesen, jetzt war sie richtig mies.

Und die Fahrt wollte kein Ende nehmen. Viel zu lange fuhr sie bereits auf dieser schrecklichen Bundesstraße Richtung Osten. Kaum hatte sie auf einem der wenigen Überholstreifen einen Lkw mit tschechischem Nummernschild überholt, war der nächste vor ihr.

Felder und kleine Ortschaften wechselten sich in ihrer Trostlosigkeit mit finsteren Waldstücken ab. Mehr hatte dieses Mittelgebirge bisher nicht zu bieten. Wie zäher Kaugummi zog sich die Fahrt nun schon seit Beginn. Nach dem stundenlangen Stau, in den sie kurz hinter Frankfurt geraten war, war sie um jeden Kilometer froh, den der Firmenwagen sie dem Ziel näher brachte.

Oberfranken. Hochstätt lachte sich wahrscheinlich gerade krumm und schief über sie. Es passte ihm sicherlich großartig in den Kram, dass Herr Kaiser ausgerechnet sie für diesen Auftrag in der bayerischen Provinz ausgewählt hatte. Sie hätte jetzt auf dem Weg nach Hamburg sein können, aber stattdessen hatte sich Hochstätt als ihr direkter Vorgesetzter den Job dort selbst unter den Nagel gerissen. Der bekam sogar ein ganzes Team dafür. In Oberfranken brauchte sie kein Team, auch keine Assistenten, hatte er süffisant grinsend zu ihr gesagt. Für eine Firma dieser bescheidenen Größe seien ihre fachliche Kompetenz und ihr weibliches Einfühlungsvermögen wichtiger. Pah! Der wollte sie doch nur als Konkurrentin loswerden.

Energisch drehte sie die Lautstärke ihres Radios höher. Viel leicht half ja der USB-Stick mit Tamaras Aufmunterungsmusik. Ihr Herz setzte vor Schreck aus, als ohrenbetäubend laut ein Anruf angekündigt wurde. Schnell drehte Maike den Regler etwas herunter und drückte auf die Anrufannahme.

„Frau Kellermann?“, meldete sich eine Frauenstimme aus der Freisprechanlage.

„Ja? Hallo?“

„Hier ist Bauer von Polytech! Wo sind Sie gerade?“

„Hallo, Frau Bauer! Ich bin noch auf der Anreise. Ich hatte großes Pech mit dem Verkehr. Mein Navi meldet, dass ich noch etwa zwanzig Minuten nach Oberstemmenreuth brauche.“

„Das ist gut, dann schaffen Sie es ja vor 18 Uhr. Herr Langmaier hätte Sie gerne heute noch persönlich gesprochen.“

„Wäre es möglich, dass ich mich vorher irgendwo etwas frisch machen und vorbereiten kann?“

„Herr Langmaier verabschiedet sich ab morgen für drei Wochen in einen kurzfristigen Kuraufenthalt. Daher will er Sie vorher noch treffen. Er wartet auf Sie.“

Das hieß dann wohl nein.

„Ist gut“, gab Maike resigniert nach. „Ich bin in spätestens einer halben Stunde in der Firma.“

„Großartig. Dann bis gleich.“

„Ja, bis gleich.“

Super. Der Tag wurde immer besser. Dreißig Kilometer noch bis zur tschechischen Grenze, zeigte ihr ein Schild im Vorbeifahren an. Erst hatte sie gedacht, Bayern, das sei gar nicht so schlimm. München und die Alpen hatten ihr immer gefallen. Leider war Bayern groß. Leider war Bayern vielseitig und leider lag die Firma ihres Kunden rund 250 Kilometer von München entfernt.

Polytech war im östlichsten Oberfranken zu Hause, wenige Fahrminuten von der tschechischen Grenze und nur fünfzig Kilometer von der sächsischen weg. Maike war Großstädterin durch und durch und mit jedem durchfahrenen Waldstück wurde ihr klarer, dass das hier nichts mit München oder den Alpen zu tun hatte. Die kommenden Wochen würden eine besondere Herausforderung werden.

„Bitte die nächste Ausfahrt nehmen und nach 150 Metern rechts nach Oberstemmenreuth abbiegen!“

Vor Schreck verriss sie fast das Lenkrad. Zum Glück konnte sie gleich von dieser verdammten Bundesstraße abfahren.

Die Trostlosigkeit, die sie erfüllt hatte, während sie hinter den Lkws hergefahren war, steigerte sich, als sie Oberstemmenreuth erreichte. Viele der Häuser an der Hauptstraße standen leer. Alle benötigten einen neuen Anstrich und keines sah einladend aus. Die Geschäfte, an denen sie vorbeifuhr, versprachen kein Einkaufsvergnügen und die meisten Menschen, die sie sah, hatten die besten Jahre hinter sich. So wie ihre Häuser.

Die Hauptstraße führte bergab, wo sich ein großer Teich befand – der Dorfweiher, wie ihn ein Hinweisschild nannte – und schließlich wieder einen Hügel nach oben.

Die Gehwege waren heruntergekommene Stolperfallen und die buckelige Hauptstraße erst recht. Ihr Audi schüttelte sie hin und her, während er von einem Schlagloch ins nächste rumste.

Den Hügel erklommen, erstreckte sich vor ihren Augen eine leicht abfallende Fläche. Von hier aus überblickte sie den ganzen Rest der Gemeinde Oberstemmenreuth. Am Ortsrand sah sie alte und neue Wohngebiete und im weiteren Verlauf der Hauptstraße konnte man ein Gewerbegebiet ausmachen. Dahinter durchzogen Felder und Wiesen die Landschaft, durch deren Kahlheit Maikes Niedergeschlagenheit nur noch mehr zunahm. In der Ferne stieg das Gelände wieder zu einem Berg hin an, der von dunklen Nadelhölzern und blattlosen Laubbäumen bedeckt als gewaltige finstere Front ihren Blick auffing. Lag da oben am Waldrand tatsächlich noch Schnee? Es war doch schon April! Der Bordcomputer ihres Audi zeigte sieben Grad Celsius an. Bei 18 Grad war sie in Frankfurt losgefahren. Sie hatte nicht einmal eine warme Jacke dabei.

Mit einem dicken Kloß im Hals steuerte sie ihr Auto auf das Gewerbegebiet zu und fuhr auf den Parkplatz der Firma Polytech. Das Navi hätte sie dafür kaum gebraucht, denn viel Auswahl an Betrieben gab es hier nicht. Unter den paar kleineren Gewerbebauten, an denen sie vorbeifuhr, war Polytech bei Weitem das Größte.

Das Unternehmen bestand aus mehreren großen, grauen Hallenbauten und einem Bürogebäude an der linken Seite. Dazwischen erstreckte sich ein breiter Werkshof. Vor dem Bürogebäude befand sich ein gepflasterter Parkplatz mit gut drei Dutzend Stellplätzen. Eingerahmt von einem gepflegten Vorgarten lag der Eingang zum Gebäude, über dem ein großes Schild auf die „Anmeldung“ hinwies.

Der Parkplatz war fast leer, nur wenige Wagen standen dort. Aber es war auch bereits später Nachmittag und wahrscheinlich hatten die meisten Mitarbeiter schon Feierabend.

Maike wählte einen für Gäste ausgewiesenen Parkplatz auf der rechten Seite zwischen einem leeren Parkstreifen mit dem Schild „Geschäftsführung“ und einer mannshohen, noch kahlen Hecke.

Sie zog ihr Schminktäschchen aus der Aktentasche, die sie im Fußraum des Beifahrersitzes abgestellt hatte, und kramte ärgerlich darin herum. Wenn sie gewusst hätte, dass sie sich vor dem Treffen mit ihrem Auftraggeber nicht mehr richtig schickmachen konnte, hätte sie auf der Fahrt an einem Rastplatz gehalten, um das zu erledigen. In der Unternehmensberatung war ein professioneller Eindruck einfach alles.

Sie verpasste ihrem Make-up mit Wimperntusche gerade den letzten Schliff, als ein schwarzer BMW recht energisch neben ihr einparkte. Heavy-Metal-Musik dröhnte so laut daraus, dass sogar die Scheiben ihres Wagens im Bassrhythmus vibrierten. Das irritierte sie so sehr, dass ihr die Wimperntusche verrutschte. Ärgerlich fummelte Maike in ihrer Hosentasche nach einem Taschentuch und entfernte das Malheur aus dem Augenwinkel.

Dann riskierte sie einen vorsichtigen Blick zum BMW-Fahrer. Der saß immer noch bei voll aufgedrehter Musik hinterm Steuer und tippte in seinem Handy herum. Er musste etwa in ihrem Alter sein, Ende zwanzig, Anfang dreißig. Die laute Metalmusik passte nicht zu dem eleganten Hemd, das er trug. Plötzlich wandte er ihr sein Gesicht zu und ein feindseliger Blick traf Maike. Mist! Er musste gemerkt haben, wie sie ihn angestarrt hatte. Wie peinlich! Maike bemühte sich um ein würdevolles Lächeln, das nicht erwidert wurde.

Er wandte sich seinem Radio zu und stellte die Musik ab. Die plötzliche Stille verursachte Maike zusätzliches Unbehagen. Das musste der Sohn des Geschäftsführers sein. Maike hatte im Vorgespräch mit ihrem Chef und dem Firmeninhaber von Polytech, Herrn Alois Langmaier, davon gehört, dass die Firma demnächst an den Sohn des Gründers übergeben werden sollte. Die Unternehmensberatung Kaiser & Locke war von Herrn Langmaier hinzugezogen worden, um eventuelle strukturelle Probleme zu identifizieren und zu beseitigen. Er wolle reinen Tisch machen, bevor er ginge, hatte der Seniorchef gemeint.

Mit geübten Fingern band Maike ihre langen blonden Haare zu einem Zopf und raffte die auf dem Beifahrersitz verstreuten Schminkutensilien in das Täschchen zurück. Sie zwang sich, tief Luft zu holen. Das würde schon werden, sie hatte schließlich bereits ganz andere Dinge geschafft. Wenn sie sich hier gut schlug, würde sie bald sicher attraktivere Aufträge bekommen. Auf in den Kampf!

Das Aussteigen gestaltete sich aber leider schwierig und ihr Kampfesmut schmolz dahin, als sie sich mühselig aus dem Auto quetschte. Der BMW hatte so nahe neben ihr geparkt, dass sie sich unbeholfen aus ihrer Tür herauswinden musste, um ihn nicht damit zu touchieren.

Mann, war das kalt! Sie war in einer leichten Stoffhose losgefahren und trug dazu nur eine dünne Bluse. Also kämpfte sie sich zum Kofferraum durch und nahm einen Blazer aus ihrer Reisetasche, den sie sich überwarf. Zusätzlich wechselte sie rasch von Autoschuhen zu ihren nagelneuen Pumps von Lodi. Jetzt noch die Aktentasche und es konnte losgehen. Die Aktentasche! Die lag nach wie vor im Fußraum vor dem Beifahrersitz.

Seufzend begann sie sich zwischen ihrem Auto und der Hecke zur Beifahrertür durchzuschieben. Die Zweige der Hecke rissen ihr Strähnen der eben zusammengebundenen Haare aus dem Zopf.

Sie öffnete die Tür und versuchte, ihre Tasche durch den Türspalt zu erreichen. „Scheiße!“ Was war das für eine blöde Hecke? Die war so dicht, dass sich die Tür nicht weit genug öffnen ließ. Es würde ihr wohl nichts anderes übrig bleiben, als sich über die Fahrerseite zurück ins Auto zu quetschen. Wütend befreite sie sich aus den Klauen der Hecke und schob sich vorsichtig zwischen den beiden Wagen zur Fahrertür. Wieso hatte sie sich nur schon die Pumps angezogen?

Auf dem Fahrersitz kniend fingerte sie nach den Griffen ihrer Tasche, als sie die Tür des BMW zufallen hörte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie erfolgreich ignoriert, dass sie bei ihrer Turneinlage einen Zuschauer hatte. Wenig elegant quetschte sie sich wieder aus ihrem Auto heraus und bugsierte sich und die Aktentasche so vorsichtig wie möglich zwischen den Wagen hindurch. Erleichtert und etwas verschwitzt seufzte sie auf.

Der Herr mit dem BMW war gerade dabei, eine Anzugjacke von seiner Rückbank zu nehmen. Sie wappnete sich, ihn freundlich und strahlend zu begrüßen, obwohl sie ihn lieber gefragt hätte, warum er sie so zugeparkt hatte. Schließlich wäre ja wohl genug Platz gewesen! Aber sie verkniff es sich, atmete tief ein und legte ein freundliches Lächeln auf.

Voller Elan und Schwung schulterte sie ihre Aktentasche. Mit dem gleichen Elan und Schwung schrammte der silberne Mandala-Anhänger, den sie als Glücksbringer von Tamara geschenkt bekommen hatte, über den Lack des BMW. Schockiert und fassungslos starrte Maike auf den Kratzer, den der Glücksbringer am Kofferraum des schwarzen Wagens hinterlassen hatte.

„Sauber!“, erklang eine tiefe, verärgerte Stimme.

Kalter Schweiß brach Maike aus allen Poren aus. Das durfte doch nicht wahr sein! Zaghaft wandte sie ihren Blick dem Fahrzeugbesitzer zu, der neben sie getreten war.

„Und was machen wir da jetzt?“

Abwartend und zornig blickte er sie aus kalten, blauen Augen an. Ihr gefror der Magen. Wenn es etwas in der Unternehmensberatung gab, was unter keinen Umständen passieren durfte, dann war es ein solcher erster Eindruck. Dazu gehörte dummerweise auch, sich jetzt eine entsprechende Antwort zu verkneifen. Der Kratzer, den sein stumpfes und ungehobeltes Verhalten auf ihrem Ego hinterließ, war deutlich tiefer als der auf dem Lack.

Die Situation wurde auch dadurch nicht gerade angenehmer, dass dieser Mann absolut fantastisch aussah. Er war etwa einen halben Kopf größer als sie, seine braunen, kurzen Haare hatte er elegant hochgegelt und der Anzug, den er trug, betonte seine sportliche Figur. Allerdings verpasste der verkniffene Ausdruck um seinen vollen Mund der ansonsten makellosen Erscheinung einen gehörigen Dämpfer.

Mit vor Wut und Scham bebenden Fingern suchte sie in ihrer Hosentasche nach dem Taschentuch, dass sie eben beim Schminkunfall benutzt hatte.

„Vielleicht kann man es wegpolieren?“

Sie schickte sich an, mit dem make-up-geschwärzten, spuckefeuchten Tuch auf der zerkratzten Stelle herum zu wischen, als er energisch ihre Hand festhielt.

„Lernt man das in der Unternehmensberatung? Lackreparatur?“

Er wusste also, wer sie war. Die Schamesröte brannte auf ihrem Gesicht wie Feuer. Er hatte recht. Wie dumm von ihr. Sie machte alles nur noch schlimmer.

„Nein. Natürlich nicht“, antwortete sie mit fester Stimme.

„Dann lassen Sie es bitte.“

Er ließ ihre Hand los und sie senkte sie langsam, das gebrauchte Taschentuch immer noch in den Fingern.

„Ich werde natürlich für den Schaden aufkommen“, erklärte Maike hastig.

„Hm“, war seine gebrummte Antwort.

„Es tut mir wirklich sehr leid. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir das tut.“

Ohne ihr einen weiteren Blick zu schenken, wandte er sich ab und murmelte mit einer wegwerfenden Handbewegung: „Ja, ja. Basst scho. Sie haben übrigens etwas Hecke im Haar.“

So ließ er Maike stehen und verschwand im Bürogebäude. Mit bebenden Fingern zog sie einige kleine Ästchen aus ihrer Frisur und band sich ihren zerzausten Zopf neu. Dann gestattete sie sich einen kurzen Moment, um sich zu sammeln und zu beruhigen.

Was für eine fürchterliche Situation! Sie musterte noch mal ihr Zerstörungswerk, fröstelte beim Anblick des langen Kratzers und nahm sich fest vor, dass ab jetzt alles ganz großartig werden würde.

Sie atmete tief durch und drückte die Eingangstür auf. Die graue Wolke, die über ihrem Gemüt hing, versuchte sie mit einem Lächeln abzuschütteln. So trat sie an die Empfangstheke, wo sie eine blendend aussehende Brünette strahlend begrüßte.

„Frau Kellermann! Wie schön, dass Sie da sind! Verena Bauer mein Name. Ich bin die Empfangsdame, Sekretärin und rechte Hand der Geschäftsführung.“

Zwar wirkte ihr Lächeln freundlich, aber es erreichte nicht die etwas zu stark geschminkten Augen der Frau, die Maike kalt musterten. Es verlieh ihr eine beunruhigende Ausstrahlung.

Maike schüttelte dieses Gefühl schnell ab und erwiderte Frau Bauers Begrüßung so professionell und freundlich wie möglich.

„Wie schön, Sie kennenzulernen. Maike Kellermann. Ich bin froh, endlich angekommen zu sein.“

„Das glaub ich Ihnen. War die Fahrt sehr schlimm? Bitte hier entlang.“

Die Antwort schien Frau Bauer nicht zu interessieren, denn sie ließ Maike keine Zeit, zu reagieren. Schon hatte die Sekretärin ihre Theke verlassen, die benachbarte Tür zu einem Konferenzraum geöffnet und sie hineingeschoben. Der Raum war groß und hell und die Fensterfront an der gegenüberliegenden Stirnseite gab den Blick auf die kahlen Felder hinter Oberstemmenreuth frei. Zwei Männer standen am Fenster und stritten. Sie fuhren gleichzeitig zu ihr herum.

Bei dem rechten Mann handelte es sich um den Firmenchef, Alois Langmaier, den Maike bereits in Frankfurt beim Vorgespräch kennengelernt hatte. Er war an die sechzig Jahre alt, trug einen eleganten Anzug und trat sofort mit ausgreifender Geste auf Maike zu.

„Frau Kellermann! Ich freue mich, Sie wiederzusehen!“, rief er ihr strahlend entgegen.

Er war ihr bei der Vorbesprechung bereits sympathisch gewesen. Sein Lächeln schien aufrichtig und warm. Er zerquetschte ihr beinahe die Hand mit seinem kräftigen Händedruck.

„Das geht mir genauso, Herr Langmaier.“

„Das hier ist mein Sohn und Nachfolger, Bastian Langmaier“, stellte er den Mann neben sich vor.

„Freut mich sehr, Herr Langmaier.“ Sie mühte sich um ein Lächeln, als sie die Hand des Sohnes schüttelte.

Der Händedruck war nicht so forsch wie der des Vaters, allerdings eiskalt. Kälter als sein Händedruck war sein Blick. Er hatte sich seit ihrer Begegnung eben noch mehr verdüstert. Wenn das überhaupt möglich war.

Bastian Langmaier wirkte nun noch größer als vorhin am Auto. Jetzt, bei näherer Betrachtung, fiel Maike auf, dass sein Teint für Anfang April ziemlich braun war. Er schien sich viel an der frischen Luft aufzuhalten. Dazu passte, dass er leichte Stoppeln auf den Wangen hatte, als hätte er sich ein paar Tage nicht rasiert. Das verlieh ihm in Verbindung mit der eleganten Kleidung etwas Verwegenes. Alles in allem machte ihn das zum wohl attraktivsten Mann, dem Maike je die Hand gegeben hatte. Allerdings auch zum Unfreundlichsten. Er sagte kein Wort zur Begrüßung, ließ schnell ihre Hand los und setzte sich mit nach wie vor steinerner Miene an den Konferenztisch.

Professionell bleiben, professionell bleiben, war das Mantra, das Maike in Gedanken wiederholte, während ihr das Lächeln auf dem Gesicht gefror.

„Bitte setzen Sie sich. Kaffee? Kaffee für alle, Frau Bauer!“, schmetterte der Seniorchef und räumte so jeden Zweifel an der Hierarchie in dieser Firma aus.

Er schob sie zu dem Platz gegenüber seinem Sohn und setzte sich selbst an das Kopfende des Tisches zwischen die beiden.

„So, Frau Kellermann. Auch wenn nicht alle am Tisch diese Ansicht teilen“, Herr Langmaiers Blick ging scharf nach links auf seinen Sohn, „bin ich doch sehr erfreut, dass dieses Arrangement zustande kommen konnte.“

„Das bin ich auch, Herr Langmaier“, antwortete Maike. „Ich werde mein Bestes tun, um Sie und Ihre Firma mit meiner Beratung zufriedenzustellen.“

Ihr Blick ging geradeaus zum Junior, der mittlerweile bockig die Arme vor der Brust verschränkt hatte und sie kühl musterte. Bei ihren letzten Worten schnaubte er kaum hörbar. Sein Vater warf ihm einen warnenden Blick zu.

Was war denn mit dem los? Das konnte nicht nur an dem Kratzer liegen.

In dem Moment schwebte Frau Bauer mit einem Tablett mit dampfenden Kaffeetassen in das Konferenzzimmer. Sie hinterließ beim Hinausgehen eine Wolke von Kaffee- und starkem Parfümgeruch, der Maike kurz ablenkte.

„Wir hatten eigentlich ein Pensionszimmer im Ort für Sie vorgesehen“, erklärte Herr Langmaier nach einem großen Schluck Kaffee. „Leider ist die Pension ‚Zur Goldenen Aussicht‘ letzten Monat niedergebrannt.“

„Um Gottes willen!“, entfuhr es Maike erschrocken. Welch unerwartete Gesprächswendung!

„Es ist niemand verletzt worden, aber bewohnbar ist es auch nicht“, setzte der Senior fort. „Es war die einzige akzeptable Unterkunft in unserem bescheidenen Dorf. Wir haben hier im Haus allerdings eine Firmenwohnung. Sie ist als eine Art Notfallwohnung für Firmenangehörige gedacht und hat sich schon einige Male bewährt. Es gibt dort alles, was Sie brauchen: Bad, Küche, Wohnzimmer, Arbeitszimmer, Schlafzimmer und so weiter. Nur versorgen müssten Sie sich selber. Die Möglichkeit auf Halbpension ist leider mit der ‚Goldenen Aussicht‘ in Rauch aufgegangen.“ Er schmunzelte leicht, offenbar belustigt von seinem kleinen Witz.

Maike wusste nicht, ob sie es gut oder schlecht finden sollte, am Rand dieses trostlosen Ortes in einer Firma, die nachts leer stand, Quartier beziehen zu müssen. Es war ihr von vornherein klar gewesen, dass man sie hier in der Provinz eher nicht in einem Fünfsternehotel unterbringen würde. Sie rang sich ein, wie sie fand, begeistertes Lächeln ab und versicherte Herrn Langmaier ihre Dankbarkeit zu dieser improvisierten Unterkunft.

„Ich werde Ihnen die Wohnung gleich zeigen. Später wird meine Tochter vorbeikommen und Sie zum Essen abholen. Zwei Ortschaften weiter gibt es ein gutes indisches Restaurant, falls Sie indisch mögen.“

„O ja! Vielen Dank! Aber machen Sie sich keine Mühe“, erwiderte sie höflich.

„Keine Mühe! Meine Tochter freut sich schon auf Sie. Wir haben sie mit ins Boot geholt, damit sie sich etwas um Sie kümmert, was das alltägliche Leben hier so betrifft. Da ich ja so spontan meine Kur antreten muss, kann ich das nicht selbst übernehmen.“

„Wie Sie im Vorgespräch angedeutet haben, sollen wir die Firma auf eventuelle strukturelle Probleme untersuchen.“

„So ist es. Mein Studienfreund, Herr Kaiser, hat mir versichert, dass Sie eine seiner besten Mitarbeiterinnen sind, mit einem beeindruckenden Portfolio für Ihr junges Alter. Besonders hervorgetan haben sollen Sie sich bei einem Auftrag in London vergangenes Jahr. Da müssen Sie sich hier ja vorkommen wie auf dem Mars.“

Er lachte laut und herzlich. Maike erwiderte das Lachen höflich, fand aber, dass er erstaunlich nahe an die Wahrheit herangekommen war. In ihren vier Jahren bei der Unternehmensberatung Kaiser & Locke in Frankfurt war sie die Karriereleiter schnell und zielsicher emporgeklettert. Sehr zum Leidwesen ihrer meist männlichen Kollegen.

Hochstätt hatte wahrscheinlich Albträume, wenn er an ihren Erfolg in London dachte. Da Herr Kaiser sehr wohl wusste, wer dort die Arbeit gemacht hatte, hatte ihr intriganter Kollege es nicht geschafft, sich selbst damit zu brüsten. Er versuchte gerne mit Machosprüchen, Anmachen und frauenfeindlichen Bemerkungen ihre Autorität zu untergraben, doch das steigerte Maikes Ehrgeiz nur noch weiter.

Auch diesen Auftrag würde sie zur vollsten Zufriedenheit abwickeln. Das Vertrauen von Herrn Kaiser, dass er gerade sie zu seinem alten Studienfreund Langmaier schickte, würde sie ihm um ein Vielfaches zurückzahlen.

In der nächsten Stunde besprachen sie Maikes Vorgehen in den kommenden Wochen, in denen sie die Firma begutachten und Mitarbeiter interviewen würde. Maike führte das Gespräch ausschließlich mit dem Seniorchef. Es fiel ihr wahnsinnig schwer, sich darauf zu konzentrieren, da Bastian Langmaier ihr die ganze Zeit schweigend gegenübersaß und sie anscheinend mit seinen Blicken zu töten versuchte.

Mit Feindseligkeit von Firmenangehörigen empfangen zu werden, gehörte seit jeher zum Berufsbild der Unternehmensberatung, das war sie gewohnt. Trotzdem kribbelten ihr Gesicht und ihr Hals unangenehm. Sie hatte sich selten in der Gegenwart eines Menschen so unwohl gefühlt. Abgesehen von jedem einzelnen Mal, wenn sie mit Blödmann Hochstätt in einem Raum war. Aber diese Begegnung hier rangierte auf ihrer persönlichen Unwohlseinsskala definitiv unter den Top Fünf.

Wobei man sagen musste, dass der ältere Herr Langmaier ein wirklich vor Begeisterung und Freundlichkeit sprühender, einnehmender Charakter war, der diese Situation schon wieder viel positiver gestaltete.

„So, jetzt zeig ich Ihnen die Wohnung“, schloss Herr Langmaier.

Er stand auf und auch Maike wollte sich gerade erheben, als er sich wieder setzte und sie ernst ansah: „Ich muss Sie noch darauf vorbereiten, dass die Menschen hier teilweise ein wenig … schwierig sind.“

Aha. Super. So wie Junior?

„Sie sind anfangs etwas verschlossen und könnten Ihnen vielleicht die kooperative Mitarbeit versagen. Wir Oberfranken neigen zur Eigensinnigkeit und sind bisweilen nicht unbedingt aufgeschlossen Veränderungen gegenüber.“

Puh. Der Sohn war also nur ein Beispiel für die Leute, mit denen sie in den nächsten Wochen zu tun haben würde. Ganz großartig.

Der Blick von Bastian Langmaier wandte sich nun seinem Vater zu. Mit zusammengekniffenem Mund und vor Wut sprühenden Augen fixierte er ihn.

„Aber Sie müssen keine Angst haben, Frau Kellermann. Mein Sohn hier wird sich um Sie kümmern, solange ich weg bin. Wenn Sie also Schwierigkeiten mit den Mitarbeitern haben, wenden Sie sich vertrauensvoll an ihn.“

Das klang weniger wie ein Ratschlag für sie, als wie eine rhetorische Spitze für seinen Filius. So schien es auch Bastian Langmaier aufzufassen, der hörbar Luft einsog.

Endlich erhob sich Herr Langmaier. Maike folgte seinem Beispiel und stand von ihrem Stuhl auf, erleichtert, bald eine Tür zwischen sich und den stechenden blauen Blick zu bekommen.

Zum Abschied zwang sie sich, Bastian Langmaier in die Augen zu sehen und ihm ihr strahlendstes Lächeln zuzuwerfen.

„Auf Wiedersehen, Herr Langmaier.“

„Bis morgen.“

Lieber Himmel! Seine Worte klangen eher wie eine Drohung als wie ein Versprechen.

Kapitel 2

Zusammen verließen Maike und die beiden Langmaiers den Konferenzraum. Frau Bauer eilte ihnen entgegen.

„Herr Langmaier“, wandte sie sich an den Junior. „Herr Heidenreich wünscht einen Rückruf wegen des Termins zur Vertragsverhandlung.“

„Danke, ich rufe ihn gleich zurück“, brummte Bastian Langmaier zur Antwort, dann fügte er noch hinzu: „Können Sie bitte den Schorsch anrufen? Er soll, wenn er in der Nähe ist, vorbeikommen und sich mein Auto anschauen. Ich hab da einen Kratzer.“

Maike schoss das Blut ins Gesicht. Alois Langmaier wandte sich um.

„Biste wohl wo gegengerumst?“

„Nein. Jemand anderes ist drangerumst“, antwortete Bastian Langmaier mit einem scharfen Blick auf Maike. Mehr sagte er dazu nicht.

Der Seniorchef zuckte die Achseln und führte die leicht schwitzende Maike an Frau Bauers Theke vorbei durch eine Glastür in ein Treppenhaus.

„Hier im ersten Stock sind die Büros der Schreibtischhengste, sag ich mal“, meinte er lachend, als sie die Glastür passierten und die Treppe zum nächsten Stockwerk nahmen. „Die Chefbüros liegen im Erdgeschoss, bei den repräsentativen Räumen und dem Sekretariat von Frau Bauer. Im ersten Stock sind hauptsächlich Verwaltung und Kundenbetreuung untergebracht. Und hier kommt auch schon Ihr Reich.“

Er hielt ihr die Tür im zweiten Stock auf und ließ sie zuerst eintreten.

„Dieses Stockwerk besteht nur aus einem Flur. Auf der linken Seite ist das Labor. Dort werden Qualitätsuntersuchungen durchgeführt und auch Neuentwicklungen erarbeitet. Hier werden Sie des Öfteren auf meinen Sohn treffen, der für das Labor zuständig ist. Und hier, genau gegenüber, ist die Tür zur Firmenwohnung.“

Wunderbar! Die schlechte Energie von Junior Langmaier würde sicherlich bis in ihre Unterkunft durchsickern. Maike schwand der Mut mehr und mehr.

„Bitte einzutreten!“, rief Herr Langmaier und hielt ihr die aufgesperrte Tür auf.

Vorsichtig, um nicht in Kollision mit dem mittelgroßen Bauch des Firmenchefs zu kommen, schob sie sich an ihm vorbei in einen weiteren Flur. Er war fensterlos und dunkel, bis Herr Langmaier einen Lichtschalter neben der Eingangstür betätigte. Die Lampen schienen neu zu sein. Es roch deutlich nach Reinigungsmittel. Der Boden war mit hellem Laminat belegt und an der Wand gegenüber der Tür stand eine Kommode mit Garderobe. Anscheinend erstreckte sich der Flur parallel zum eben verlassenen Korridor. Drei Türen waren hier angeordnet, eine an jedem Ende und eine neben der Kommode.

„So, hinten links haben wir Wohn- und Esszimmer und die Küche.“

Sie folgte Herrn Langmaier in einen sonnigen Raum mit großen Fenstern mit Blick auf Felder und Wald. Auch hier lag helles Laminat und an den weißen Wänden hingen einige Kunstdrucke, die hauptsächlich Wälder zum Motiv hatten. Ein gemütlich aussehendes, relativ neues Dreisitzersofa mit Chaiselongue stand in der Mitte des Raumes. Davor war ein großer, moderner Fernseher auf einem niedrigen Lowboard aufgebaut.

Sie drehte sich um und ließ ihren Blick über einen Esstisch mit vier Stühlen und eine offene kleine Küche schweifen. Die Küche war nicht von der modernsten Art, aber ganz passabel. Zumindest schien sie sehr gepflegt und sauber zu sein.

„Hier können Sie auf die Dachterrasse gehen, die sich über die ganze Länge der Wohnung erstreckt. So kommen Sie auch von den anderen Räumen aus drauf“, erklärte Herr Langmaier nicht ohne Stolz in der Stimme.

Sie betraten wieder den Flur und Herr Langmaier öffnete die Tür neben der Kommode. Hier befand sich ein kleines Badezimmer mit Dusche, WC und Waschbecken.

„Kein Fenster, aber Abzug und leider keine Badewanne“, merkte er an.

„Macht nichts. Ich dusche sowieso lieber“, sagte Maike.

„Waschen können Sie in unserer Waschküche im Keller. Dort haben wir Waschmaschinen für das, was hier im Haus eben so anfällt an Textilien. Besprechen Sie am besten mit unserem Reinigungspersonal und dem Hausmeister, zu welchen Zeiten die Maschinen nicht gebraucht werden.“

„Okay. Mach ich.“

„So und jetzt noch Schlaf- und Arbeitszimmer.“

Er öffnete die Tür am anderen Ende des Ganges und sie betraten ein kleines Arbeitszimmer mit Schreibtisch an der Fensterfront und Regal an der Wand. Durch eine Schiebetür gelangten sie in das Schlafzimmer. Ein großes Boxspringbett beherrschte den Raum.

„Wow!“, entfuhr es Maike. In ihrem WG-Zimmerchen hatte sie nur Platz für ein 120er-Bett mit Lattenrost. Das hier war purer Luxus. Hier roch es ebenfalls frisch geputzt und noch nach etwas anderem. Ein Geruch, den sie nicht einordnen konnte, aber auf keinen Fall unangenehm.

„Das Bett ist wie der Fernseher und das Sofa noch ein Überbleibsel des letzten Bewohners“, merkte er an. „Hier haben Sie, wie gesagt, auch einen Zugang zur Dachterrasse.“

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Herr Langmaier. Ich bin gerührt von Ihren Mühen. Das ist sehr großzügig von Ihnen.“

„Dafür sind Sie hier am Arsch der Welt. Den können Sie von hier aus sogar sehen, bei gutem Wetter!“ Er lachte so herzlich, dass Maike sofort mit einstimmte.

Sie begann, sich etwas zu entspannen. Der Seniorchef schien sehr nett zu sein. Hoffentlich hielt das an.

Nachdem Herr Langmaier ihr die Schlüssel zum Gebäude und zur Wohnung ausgehändigt hatte, verließ er sie mit den besten Wünschen für ihren Arbeitsstart und verabschiedete sich für die nächsten drei Wochen.

Als die Tür hinter ihm zufiel, atmete sie erst einmal tief durch. Ihr Puls beruhigte sich etwas und schließlich verließ auch sie die Wohnung und ging zu ihrem Auto, um ihre Koffer zu holen. Der schwarze BMW von Bastian Langmaier war bereits weg und sie seufzte darüber erleichtert auf.

Theresa Kolb war eine dunkelhaarige, leicht stämmige junge Frau mit fröhlichen grauen Augen, die kurze Zeit später vor ihrer Tür in der Firma stand. Sie war Maike sofort sympathisch. In Art und Auftreten kam sie ihrem Vater sehr nah und schien so gar nicht wie ihr Bruder zu sein.

„Ich dachte, wir gehen zum Inder. Da gibt es einen in Marktredwitz. Ist nicht allzu weit von hier.“

„Ja, sehr gerne.“

Maike bemühte sich, etwas mehr Zuversicht und Fröhlichkeit in ihre trübe Stimmung fließen zu lassen. Teresa Kolb konnte ja nichts für den schlechten Eindruck, den ihr Bruder bei Maike hinterlassen hatte. Das galt umgekehrt sicher genauso.

Die kurze Fahrt kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Mittlerweile war es dunkel geworden. Maike war Großstädte gewöhnt, in denen es nie richtig Nacht wurde, daher war ihr diese Dunkelheit unheimlich. Das Mondlicht ließ die oberfränkische Provinz noch öder erscheinen, als sie Maike tagsüber vorgekommen war. Die Finsternis jenseits des Fernlichtkegels war vollkommen, nur hin und wieder holte es den Waldrand schemenhaft und kalt aus der Dunkelheit hervor. Sie wünschte sich fröstelnd in die hell erleuchteten Straßen Frankfurts zurück. Dort offenbarten die Straßenlaternen alle Geheimnisse und nichts blieb im Verborgenen.

Nach etwa 15 Minuten erreichten sie eine Kleinstadt und Teresa parkte ihr Auto, einen Familienvan mit Kindersitz, in einer Seitenstraße. Zu Fuß gingen sie noch ein kurzes Stück, bis sie schließlich ein gemütliches, kleines Lokal betraten und von einem zuvorkommenden Kellner an ihren Tisch in einer Ecke geführt wurden.

Wie jedes indische Restaurant, in dem Maike je gewesen war, war auch dieses überladen mit Deko. Der Kitsch quoll aus allen Ecken: Tücher und die Götter Shiva, Ganesha und Vishnu als Statuen in Keramik, Ton oder vergoldet. Die Lampen über den Tischen hatten rote Schirme mit Goldrändern und silbrigen Kordeln. Alles in allem maximal bunt. Und wie in jedem ihr bekannten indischen Restaurant machte das in Kombination mit den Gerüchen von Ingwer, Gewürzen, Reis und Curry den Besuch erst so richtig schön. Sie fand es großartig und begann, sich etwas zu entspannen.

Nach erfolgter Bestellung faltete Teresa Kolb ihre Hände vor sich auf dem Tisch, blickte Maike herausfordernd in die Augen und sagte: „Sie sind also die Unglückliche, die meinem Bruder erklären soll, wie er Papas Firma nach der Übergabe zu führen hat.“

Ein überraschender, aber auf jeden Fall sehr direkter Gesprächseinstieg. Maike war froh darum, sonst hätte sie den ganzen Abend versucht, das Thema zu meiden, weil sie nicht wusste, wie Teresa dazu stand. Diese Bemerkung ersparte ihr die Sorgen und zwang sie zur Ehrlichkeit.

Dennoch um Souveränität bemüht, räusperte sich Maike leise und antwortete vorsichtig: „So scheint es wohl. Wobei ich natürlich nur Empfehlungen geben kann. An meine Ratschläge muss sich niemand halten. Ich beobachte nur und gebe Hinweise. Manchmal ist der Blick von außen für eine Weiterentwicklung bei, zum Beispiel, festgefahrenen Strukturen sehr hilfreich und auch notwendig.“

„Da bin ich sicher“, pflichtete ihr Teresa Kolb mit einem geheimnisvollen Schmunzeln bei. „Das Problem werden wahrscheinlich eher die empfehlungsresistenten Klienten sein.“

„Die Bereitschaft zur Veränderung war bisher eigentlich immer ziemlich groß. Dafür wird unser Büro ja konsultiert.“

„Dann scheint das hier für Sie ja auch Neuland zu sein. Der Einzige, der Sie hier sehen will - nichts für ungut, Sie sind mir sehr sympathisch – ist mein Vater. Die Menschen hier in Oberfranken sind im Allgemeinen etwas schwerfällig, was Veränderungen betrifft. Vorsichtig ausgedrückt. Mein Bruder ist sicher ein sehr typisches Exemplar.“

„Haben Sie irgendwelche Ratschläge für mich, wie ich mit den Leuten hier umgehen soll?“, fragte Maike hoffnungsvoll.

„Da kann ich Ihnen kaum helfen. Aber ich kann Ihnen sagen, wie Sie die Zeit hier am besten rumkriegen. Nehmen Sie sich die Reaktionen nicht zu sehr zu Herzen. Die meisten meinen es nicht so. Machen Sie Ihr Ding und ignorieren Sie meinen Bruder und all diejenigen, die Ihre Ratschläge zerreden wollen.“

Maike schluckte schwer, als sie Teresa Kolb zuhörte. Das war ein Albtraum. Sie wünschte sich augenblicklich nach London zurück. Der Auftrag dort war zwar wahnsinnig stressig und anstrengend gewesen, aber das hier würde Maike vor neue psychologische Herausforderungen stellen.

Offenbar musste sie vor allem die zukünftige Geschäftsführung von ihrer Arbeit überzeugen.

„Konfrontation nützt hier wenig. Da stoßen Sie auf Granit.“ Teresa Kolb lachte auf einmal herzlich los. Auf Maikes irritierten Blick hin erklärte sie: „Granit. Das hier alles ist auf Granit gebaut. Der Untergrund besteht daraus. Da haben Sie Ihren Rat! Die Menschen hier sind wie der Boden, auf dem sie wohnen. Aber der Granit ist auch rissig, zerklüftet. Seien Sie wie Sand! Versuchen Sie, in die Ritzen des Granits zu kommen.“

Teresas Lachen steckte Maike schließlich an, und als sie sich beide die Tränen auf den Augenwinkeln strichen, wurde ihr Essen gebracht und Teresa meinte: „Lassen Sie uns Du sagen. Wir haben ja beruflich nichts miteinander zu tun.“

„Warum nicht?“ Maike streckte ihr über dem Tisch die Hand hin und musste grinsen, als Teresa sie nahm.

„Maike.“

„Teresa. Oder einfach Resi.“

Es war ein bisschen, als hätten sie einen Pakt besiegelt, mit Vishnu als Zeugen und Elefanten als Wächter inmitten einer Explosion von Düften und Farben.

Beim Essen plauderten sie angeregt und Resi erzählte von ihrer Familie, damit Maike die Konstellationen besser verstand. Die Langmaiers waren eine Akademikerfamilie. Alois Langmaier war studierter Betriebswirt und ihre Mutter Edith hatte ein Jurastudium absolviert, ehe sie die zwei Kinder bekommen hatte und als Hausfrau daheimgeblieben war.

„War damals so. Ist eigentlich eine totale Schande, denn meine Mutter ist ein sehr sachlicher und gerechter Mensch. Etwas kühl vielleicht im ersten Eindruck.“ Schmunzelnd fügte sie hinzu: „Das muss Bastian von ihr haben.“

Vom Vater hatte er das jedenfalls nicht, dachte Maike.

„Ich bin davon überzeugt, dass meine Mutter eine großartige Karriere als Juristin hingelegt hätte. Aber sie hat dann eben die Entscheidung getroffen, das alles für die Familie zu opfern. Hm, kann man das so sagen?“

„Doch. Ich würde es als Opfer bezeichnen.“

Resi erzählte ihr auch von einer schwierigen Zeit, die sie nach dem Abitur gehabt hatte: Sie war mit ihrem damaligen Freund zum Studium nach Regensburg gezogen. Dort hatte sie mit Jura angefangen, war allerdings immer stärker den Gewohnheiten ihres Freundes Klaus verfallen, der sich irgendwann mehr für Gras als für Bücher interessiert hatte. Studium und Beziehung wurden nach drei Jahren abgebrochen.

„Ich habe nur noch gekifft, eine Prüfung nach der anderen verhauen und begann langsam, Depressionen zu kriegen. Klaus hat das nicht wirklich gekümmert. Also bin ich zurück nach Hause. Ich hatte gar nichts mehr. Geld verbraucht, Zeit verschwendet, Zuversicht verloren. Da hat mich mein Bruder zum Geburtstag eines seiner Kumpel mitgenommen und da hab ich dann meinen heutigen Mann getroffen. Thorsten. Bin schnell zu ihm nach Kirchenstemmenreuth gezogen, hab eine Ausbildung als Erzieherin angefangen und ihn schließlich geheiratet. Unsere Tochter Laura ist jetzt zwei Jahre alt.“

Im Gegenzug für so viel Offenheit erzählte Maike Resi von ihrer Studienzeit in Frankfurt und von Ex-Thomas, der von ihr verlangt hatte, ihre Karriere seiner hintanzustellen. Ein Opfer, das Maike nicht bereit gewesen war, für ihn zu bringen. Für keinen Mann würde Maike das tun. Sie hatte, seit sie sechs Jahre alt war, dafür geschuftet, beruflich erfolgreich zu werden.

Ihr Ex hatte das nach einiger Zeit, in der er sie gerne und stolz vor seinen Freunden vorgezeigt hatte, anders gesehen. Eine Familie wäre nett, da könne man als Frau doch nicht heute nach London und morgen nach Luxemburg jetsetten. Solle er etwa bei den Kindern zu Hause bleiben? Dafür hätte er zu hart gearbeitet.

Der Streit, der danach ausgebrochen war, musste in ganz Frankfurt zu hören gewesen sein. Er wusste doch, dass sie aus einer Arbeiterfamilie stammte. Seit sie denken konnte, hatte sie sich gegen die Schublade gestemmt, in die sie die Gesellschaft drängen wollte. Ein Kind aus der Sozialbausiedlung am Gymnasium? Würde sie die Schule überhaupt schaffen, wenn ihr zu Hause niemand helfen konnte? Eine junge Frau aus der Sozialbausiedlung an der Uni? Wie wollte die ihr Studium hinkriegen neben all den Nebenjobs, die sie brauchte, um mit dem mickrigen BAföG einigermaßen leben zu können?

Man benötigte eine gute Portion Selbstbewusstsein, Entschlossenheit, Mut, ein dickes Fell und viel, viel Sturheit.

Diese Sturheit hatte die Trennung von Thomas besiegelt. Was fiel ihm ein, ihre Bedürfnisse seinen unterzuordnen? Maike war noch in der Nacht des Streits zu ihren Freunden Tommy und Tamara in die WG gezogen, einem Ort, an dem jeder so sein konnte, wie er wollte.

Mehr mochte sie nicht erzählen, denn sie sprach ungern mit Fremden über ihre Herkunft. Nach einigen schlechten Erfahrungen war sie vorsichtig geworden, daher verschwieg sie Resi diesen Aspekt ihrer Trennungsgeschichte.

„Momentan wohne ich bei meinen Freunden Tamara und Tommy. Tamara hat einen eigenen kleinen Esoterikladen und Tommy … na ja … ist in einem Varietétheater als Dragqueen tätig.“

„Eine Dragqueen? Wie abgefahren ist das bitte“, stieß Resi mit aufgerissenen Augen hervor.

„Ja, schon irgendwie krass. Aber ich kenne Tommy schon so lange, dass das zu meinem Alltag gehört. Vor allem, seit ich mit bei ihm wohne. Er sieht einfach wunderschön aus, wenn er sich hergerichtet hat. Seltsam ist es eigentlich nur noch, wenn er mit seinen Kollegen eine Show bespricht oder sie neue Outfits probieren. Das machen sie dann immer in unserem Wohnzimmer.“

Der ungläubige Ausdruck auf Resis Gesicht wurde langsam durch ein breites Grinsen verdrängt.

„Tommy ist durch und durch Performancekünstler. Das ist oft sehr anstrengend, aber auch abwechslungsreich und witzig. Darüber hinaus liebe ich ihn wie einen Bruder. Er ist toll!“

„Wow! Das glaub ich! Ist schon ein anderes Leben in der Großstadt als hier. Und was sagen deine Eltern zu deiner Wohnsituation?“

„Die lieben Tommy und kennen ihn genauso lange wie ich. Sie hätten mich allerdings lieber weiter mit meinem Ex Thomas gesehen. Der hat Geld, einen tollen Job, ‘ne super Wohnung …“

Maike zögerte. Resi zog neugierig die Augenbrauen zusammen. Sollte sie ihr mehr erzählen? Nein. Sie wusste nicht, ob Resi es an ihren Bruder oder ihren Vater weitergeben würde. Das konnte sie nicht riskieren. Das Bild, das sie geschäftlich abgab, musste neutral bleiben.

Ihre soziale Herkunft kam in manchen Kreisen nicht gut an. Ex-Thomas hatte seinen Freunden gegenüber nie etwas erzählt und auch innerhalb der Firma machte Maike ein Geheimnis daraus. Nur Herr Kaiser und die Personalabteilung wussten aus ihren Bewerbungsunterlagen und dem Vorstellungsgespräch von ihrem familiären und sozialen Hintergrund. Für Herrn Kaiser war das nie ein Problem gewesen, aber Maike wollte sich nicht ausmalen, was Hochstätt mit dieser Information anstellen würde. Bei dem Gedanken daran fröstelte sie.

Ihre schwierige Familiengeschichte würde sie sicherlich nicht mit ihren Auftraggebern teilen. Also erzählte sie Resi von all dem nichts.

„Na ja, wir können nicht immer unser Leben so leben, wie unsere Eltern das gerne wollen, oder?“

„Nein“, antwortete Maike, erleichtert, dass Resi das Thema Herkunft und Eltern damit ad acta legte. „Wir müssen so leben, wie wir es für richtig halten.“

„Ganz genau!“

Breit grinsend stießen sie miteinander an.

Wieder zurück in ihrer neuen Bleibe rief Maike Tommy an. Der war um 23 Uhr stets noch erreichbar, denn da saß er meistens in der Garderobe des Nachtklubs, in dem er gegen Mitternacht auftrat, und bearbeitete sein Gesicht mit Farbe, Puder und Enthaarungsmitteln.

Bei ihnen zu Hause in normaler Kleidung und ohne Schminke würde keiner auf seinen Beruf und seine homosexuelle Neigung kommen. Tommy hasste Klischees, aber er war ein großartiger Schauspieler und machte sich oft einen Spaß daraus, Menschen mit Vorurteilen gegen die LGBTQ-Community im Allgemeinen oder ihn im Besonderen mit klischeehaften Einlagen und deren spontaner Auflösung hinters Licht zu führen. Er war außerdem äußerst attraktiv und charmant, sodass ihre tiefe Freundschaft mit ihm oftmals Eifersuchtsanfälle von Ex-Thomas hervorgerufen hatte.

„Ich stell dich auf laut, ja?“, rief er anscheinend aus einiger Entfernung in sein Handy.

Sie erzählte ihm von ihrem merkwürdigen Tag in der Provinz und Tommy stieß an den richtigen Stellen abwechselnd Schnauben, Brummen und Seufzen aus.

Nachdem sie alles bis ins kleinste Detail berichtet hatte, sagte er: „QED!“

„Hä?“

„Wieder einmal beweist sich, dass die schönsten Männer entweder vergeben, arrogant oder schwul sind. Siehst du doch an mir.“

„Für so was hab ich jetzt keine Nerven, Tommy.“

Maike wurde wütend. Sie hockte hier, am Arsch der Welt, mutterseelenallein nachts in einer Fabrik. Was hatte sie falsch gemacht, um diese Strafe zu verdienen? Tamara würde ihr jetzt vom Universum erzählen, das da sicher aus gutem Grund seine Finger im Spiel habe, und dass sich alles zum Allerbesten wenden werde. Weil sie auf diese Art Aufheiterungsversuche keine Lust hatte, hatte sie Tommy angerufen, der ihre recht sachliche Sicht auf die Dinge für gewöhnlich teilte.

„Warte es ab, Maike“, sagte Tommy beschwichtigend. „Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.“

„Danke für die Allgemeinplätze und noch einen schönen Abend.“

Wütend legte sie auf. Sollten ihr doch alle gestohlen bleiben! Dann musste sie eben allein da durch.

Als gerade eine Träne der Wut auf ihr Display tropfte, leuchtete es auf und zeigte eine Nachricht von Tommy an.

„Halt die Ohren steif! Und lass dich drücken! Wenn es jemand schaffen kann, dann du!“

Das Emoji, das sie als Antwort schickte, drückte den Zweifel aus, den sie fühlte. Mit diesen Zweifeln im Gepäck legte sie sich in das fremde, riesige Bett mit den fremden Gerüchen in fremder Umgebung und sollte sich am nächsten Tag darüber wundern, dass sie sofort tief und fest eingeschlafen war.

Kapitel 3