Zwischen Zen und Zoigl - Melanie Schubert - E-Book

Zwischen Zen und Zoigl E-Book

Melanie Schubert

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Beschreibung

Das ruhige Leben des Schreiners Rick im beschaulichen Fichtelgebirge gerät völlig durcheinander, als er unvermittelt auf seine Traumfrau Tamara trifft. Die junge Frankfurterin mit dem Esoterik-Geschäft ist ganz anders als alle Frauen, die Rick bisher getroffen hat. Ihre Beziehung, im Zoiglrausch erwacht, ist so perfekt, wie eine Fernbeziehung mit all der schmerzlichen Sehnsucht eben sein kann. Bis sich Tamara plötzlich seltsam verhält ... Was verbirgt sie vor ihrem neuen Freund? Ein neuer Oberfranken-Liebesroman, der jedes Herz erobern kann. Auch das der Oberfranken selbst.

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Für meine Familie

Inhaltsverzeichnis

Umstände

Rampenlicht

Schneeberg

Zoiglbrödl

Abschied

Rudi

Taschenfrau

Drags

Geheimnisse

Worte

Ungesagt

Frust

Suche

Zen

Simon

Wasser

Epilog

Umstände

Der Akkuschrauber drehte die finale Schraube schwungvoll in das Holz. Rick strich mit der Hand darüber, um den Staub zu entfernen. Mühsam richtete er sich auf. Zum Ende hin hatten sich die letzten Einbauteile für den begehbaren Kleiderschrank ziemlich gewehrt. In seiner Werkstatt, wo er die Teile vorbereitet hatte, war es einfach deutlich kälter als hier gewesen. Da musste er für den Lückenschluss ganz schön nacharbeiten, damit alles auch passte.

„Wow“, erklang es hinter ihm. „Das sieht noch besser aus, als ich es mir vorgestellt habe.“

Er klopfte sich seine Hände an der Arbeitshose ab und drehte sich zu Maike um, die mit hingerissenem Blick den nagelneuen Kleiderschrank musterte.

„Rick, du bist ein Künstler. Nein, was sag ich, ein Zauberer.“

„Ein Holzmagier“, ergänzte Bastian, der hinter Maike aufgetaucht war und seinen Blick anerkennend über Ricks neues Werk schweifen ließ.

„Danke euch.“ Rick grinste. Für seine Freunde etwas zu bauen, machte ihm immer am meisten Spaß.

Bastian schlang seine Arme von hinten um Maike und meinte: „Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Deine Klamotten werden nie wieder woanders sein wollen.“

„So wie ich“, sagte sie und küsste ihren Freund.

„Langsam, Leute. Lasst mich raus, bevor ihr hier übereinander herfallt.“

„Was hältst du von uns?!“, rief Bastian mit gespielter Entrüstung.

Rick sparte sich die Antwort und bückte sich, immer noch grinsend, zu seinen Werkzeugen, um sie zurück in den großen, zigfach ausklappbaren Koffer zu räumen. Dieser Koffer war sein Heiligtum. Der hatte schon seinem Vater gehört.

‚Nur mit gutem, sauber sortiertem Werkzeug kann man gute Arbeit leisten‘, war einer der Sätze, mit denen Rick aufgewachsen war. Und ein anderer war: ‚Nach fest kommt ab.‘

„Könntet ihr mir einen Staubsauger, einen Lappen und einen Eimer heißes Wasser bringen?“, fragte er seine beiden Zuschauer.

„Was hast du damit vor?“, wollte Maike wissen. „Du willst doch nicht putzen, oder?“

„Klar. Gehört für einen guten Schreiner dazu, alles in perfektem Zustand zu hinterlassen.“

„Jetzt mach mal halblang.“ Maike klang entrüstet. „Du hast deinen Teil überragend erledigt. Den Rest machen wir dann schon. Du hast dir ein Bier verdient.“

„Sie hat recht“, sagte Bastian. „Außerdem ist Sonntag und schon spät.“

„Also gut.“ Rick klopfte sich noch mal die Klamotten ab. „Da sag ich nicht nein.“

In der Küche stießen sie mit Bier an. Ricks Blick ging zum Fenster. Das Licht aus dem Küchenfenster erhellte die dicken Schneeflocken, die draußen in der Dunkelheit fielen. Besorgnis trübte seine Stimmung. Er würde unterwegs nach Hause seinen Waldweg wohl noch mal räumen müssen, wenn morgen der Marius mit seinem Lkw durchkommen sollte.

Weihnachten im Fichtelgebirge war, wie so häufig in den letzten Jahren, mild und grün gewesen. Aber kaum war der Jahreswechsel vollzogen, fielen die Temperaturen und ein schneereicher Winter brach über die Gegend herein. Es schneite nun seit fast zwei Wochen immer wieder. Für die Skifahrer und Wintertouristen natürlich großartig, war es für Rick einfach nur mühselig. Sein Haus mit der Werkstatt befand sich im Wald, mit der Zivilisation nur durch einen etwa fünfhundert Meter langen Waldweg verbunden. Den befahrbar zu halten, wurde in so einem Winter zu Ricks Tages- und manchmal auch Nachtgeschäft.

„Ich muss dann wohl los. Morgen früh kommt der Lkw für die großen Lieferungen und den kriegen wir nicht durch, wenn ich nicht räume.“

„Du Ärmster“, sagte Maike.

Er winkte ab. „Macht nichts. Bin es gewohnt. Außerdem hab ich ja meinen Rudi.“

„Wer ist Rudi?“, fragte Maike. Bastian lachte.

„Mein Schneeräumer. Hab vor vielen Jahren dem Bauhof einen alten Unimog abgekauft, als sie einen neuen bekommen haben. Mittlerweile ist Rudi schon ziemlich altersschwach, aber er hat mich noch nie im Stich gelassen.“

Mit großen Schlucken trank er das Bier aus und bedankte sich bei den beiden, die ihn ihrerseits mit Dankesbekundungen überschütteten.

„Das Geld überweise ich gleich morgen“, sagte Bastian beim Abschied, während er Rick umarmte und fest auf den Rücken klopfte.

„Kein Stress. Zahlungsziel sind 14 Tage.“

„Kommt gar nicht infrage“, sagte Maike. Um sie zu umarmen, musste sich Rick etwas bücken. „Wir sind Geschäftsleute. Wir haben einen Ruf zu verlieren. Morgen ist Zahltag.“

Eine Böe riss Rick beinahe die Haustür aus den Händen, als er sie öffnete. Schneeflocken stoben in den Hauseingang. Mit einem leisen Seufzer schritt Rick über die Schwelle mitten hinein in den Wintertraum. Oder Winteralbtraum. Kam auf die Sichtweise an.

In den paar Stunden, die er bei Bastian gewesen war, hatte es so stark geschneit, dass die Räder seines Allrad-Volvos mehr als zur Hälfte im Neuschnee versanken. Die Flocken fielen so dicht, dass das Scheinwerferlicht Mühe hatte, den Weg vor ihm zu erreichen. Die Straßen bis hierher waren frisch geräumt gewesen, aber um seinen Waldweg musste er sich allein kümmern. Und das intensiv, die paar Hundert Meter würden sonst zu einem unüberwindbaren Hindernis werden. Er konnte kaum die farbigen Holzpfosten der Seitenmarkierung erkennen, die er vor ein paar Wochen zur Orientierung neben dem Weg in den Boden getrieben hatte, so stark war der Schneefall.

An Tagen wie diesen bereute er es manchmal, die Schreinerei an dem Wohnhaus seines verstorbenen Vaters übernommen und auch noch ausgebaut zu haben. Er hätte locker irgendwo im Ort eine leer stehende Werkstatt finden und sein Geschäft in der Nähe der Zivilisation aufbauen können. Aber nein, es musste ja im Haus im Wald sein. Noch dazu im Herzen des Fichtelgebirges. Seine sture Liebe zu diesem Gebäude konnte er manchmal selbst nicht verstehen.

Plötzlich schälten sich aus der Dunkelheit direkt vor ihm die Umrisse eines umgestürzten Baumes. Mit beiden Füßen trat er fest auf die Bremse und brachte seinen Wagen gerade so vor dem Hindernis zum Stehen.

„Scheiße!“, stieß er hervor. „Verdammte Scheiße!“ Vor Wut schlug er mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Er stieg aus und kämpfte sich durch eine kniehohe Schneewehe auf den Baum zu. Eine Fichte hatte offenbar unter dem Gewicht des Schnees nachgegeben und war auf den Weg gestürzt. Der Schneefall, der seit ein paar Tagen stetig über sie kam, hatte sich heute noch einmal verstärkt, die Temperaturen lagen allerdings nur knapp unter dem Gefrierpunkt und so war der Schnee schwer, voluminös und nass. Unbehaglich ließ Rick seinen Blick nach oben gleiten. Einige der Bäume um ihn herum machten einen recht krummen Eindruck. Die Gefahr eines Umsturzes konnte er zwar bei keinem erkennen, aber wenn er großes Pech hatte, würde der ein oder andere seine Schneemassen auf ihn abschütten. Mit dem Eis, das dabei oft mitgerissen wurde, konnte das durchaus riskant werden.

Er versuchte, sich zu orientieren. Dunkel glaubte er sich zu erinnern, dass er eben am Holzlagerplatz der Staatsforsten vorbeigekommen war. Oder? Wenn er doch nicht so in Gedanken gewesen wäre. Wenden ging nicht, also würde er rückwärtsfahren müssen. Großartig. Wo man schon vorwärts so einen tollen Überblick hatte bei dem Wetter. Aber es blieb ihm ja keine Wahl, der Wagen musste vom Weg runter, sonst würde er nur die Räumarbeiten behindern.

Immerhin hatte er sich nicht getäuscht, um die nächste Biegung herum war wirklich der Holzlagerplatz. Er stellte sein Auto ab, zog sich den Reißverschluss der Winterjacke hoch, setzte seine Mütze auf und arbeitete sich durch die Reifenspuren zurück zum Baum. Das Handylicht, das ihm als Leuchthilfe diente, konnte nicht unbedingt durch seine Strahlkraft bestechen. Zu seinem Unglück lag die Fichte so über dem Weg, dass er nirgendwo um sie herumkam. Herzhaft fluchend begann er, sich über den Baum zu kämpfen, aber nicht, ohne sich kräftig das Knie anzustoßen, seine Mütze im Gestrüpp zu verlieren und sich einen Ast schmerzhaft in den Oberarm zu piksen.

Nach wenigen Metern auf dem zugeschneiten Weg war von oben so viel Schnee in seine Stiefel gelangt, dass seine Fußgelenke bereits unangenehm kalt prickelten. Als das Handy in seiner Hand vibrierte, hätte er es vor Schreck beinahe fallen lassen. Linda! Na die konnte er gerade ja unbedingt gebrauchen!

„Wolfrum!“, blaffte er ins Telefon.

„Rick, hi! Hier ist Linda!“ Zuckersüß trällerte ihm seine Ex-Freundin ins Ohr. „Entschuldige, dass ich so spät anrufe.“

Na, das hatte sie bestimmt mit Absicht gemacht, so wie Rick sie kannte. Ihn konnte sie mit ihrer niedlichen Art und ihren schmeichlerischen Worten nicht mehr so schnell täuschen.

„Was gibt’s? Ich hab zu tun.“ Selbst wenn er gewollt hätte, freundlich ging heute nicht. Dazu war er zu gereizt.

„Was musst du denn machen? Es ist doch Sonntagabend!“

„Schon mal aus dem Fenster geguckt?“

„Ahh, ach so“, sagte sie langsam. „Da hab ich kein Mitleid. Du willst es ja nicht anders.“ Ja, das hatte ihr nie gepasst. Während ihrer ganzen Beziehung hatte sie immer gejammert, wie mühevoll das Leben bei Rick wäre. Und damals war es noch nicht einmal Winter gewesen! Als sie ihm das Ultimatum gestellt hatte, – „das Haus oder ich“ – war ihm die Entscheidung sehr leichtgefallen.

Als Rick nichts darauf erwiderte, sagte sie endlich: „Warum ich anrufe. Hast du sie schon gefunden?“

„Was? Für Rätsel hab ich grad keine Zeit.“ Der geschmolzene Schnee erreichte mittlerweile seine Fersen. Bald würden seine kompletten Füße nass sein. Der Tag wurde immer besser.

„Na meine Halskette! Die mit dem gelben Citrin. Ich hatte sie das letzte Mal bei dir an. Du solltest sie doch suchen. Sie muss bei dir sein.“

„Aha. Keine Ahnung. Hab nicht geschaut.“

„Mann, Rick!“, rief sie entrüstet. „Die war von meiner Urgroßmutter. Die brauch ich wieder!“

„Du bist vor einem Monat das letzte Mal hier gewesen. Seither ist sie mir nicht in die Hände gefallen. Vielleicht hast du sie woanders verloren.“

„Nein!“, schrie sie beinahe. „Ausgeschlossen. Die ist unbezahlbar. Wenn du sie nicht suchst, werde ich vorbeikommen und es selber machen.“

„Nein!“ Jetzt war es an ihm, entrüstet ins Handy zu rufen. „Das wirst du nicht. Ich mach schon. Ich meld mich bei dir.“ Bevor sie noch etwas sagen konnte, legte er auf.

Die anfangs süße, nette Linda hatte sich als unheimlich anstrengend erwiesen. Diese kurzen drei Monate Beziehung mit ihr waren ihm wie Jahre vorgekommen. Er hatte sich eigentlich auch nur auf sie eingelassen, weil er schon so lange keine Freundin mehr gehabt hatte. Verliebt war er nie in sie gewesen. Er bereute es, überhaupt etwas mit ihr angefangen zu haben.

Die Bäume machten der großen Lichtung Platz, als er sein Anwesen erreichte. Der mickrige Lichtkegel des Handys erreichte kaum die Gebäude. Zügig überquerte er den Hof und steuerte auf die Scheune zu, in der Rudi geparkt war und in der er sein Forstwerkzeug aufbewahrte. Schnell zog er sich seine schnittfeste Hose über, packte Forsthelm, Handschuhe, Kettensäge und Stahlkette und lud es auf die offene Ladefläche des orangefarbenen Unimogs. Genervt strich er sich eine nasse und kalte Strähne seines halblangen Haares aus dem Gesicht. Wenn er doch bloß seine Mütze nicht im Baum verloren hätte.

Der Schnee an den Stiefeln machte das Einsteigen in das Fahrerhaus des Räumfahrzeugs schwierig. Die Steighilfen wurden nass und schlüpfrig und er musste sich gut an den Handgriffen festhalten. Seine Eins-neunzig-Körpergröße halfen da auch nicht gerade.

„Rudi, zick nicht rum!“, rief er seinem Gefährt zu, das nach dem dritten Anlassversuch immer noch nur jaulte, aber nicht zünden wollte. „Alter, komm. Lass mich nicht im Stich.“ Er streichelte sanft das Lenkrad. Es wirkte. Der vierte Versuch wurde von Rudi mit einem lauten Aufheulen quittiert, bevor der Dieselmotor ratternd seine Arbeit aufnahm. Erleichterung durchströmte Rick. Im Hof senkte er das vorne montierte Räumschild und begann, sich zum Baum vorzuarbeiten.

Es war schon weit nach Mitternacht, als er endlich todmüde in seinem Haus ankam. Erschöpft schälte er sich aus den verschwitzten Klamotten, duschte heiß und föhnte sich seine nassen Haare. Zum Trocknenlassen war es im Schlafzimmer zu kalt, er würde sich den Tod holen. „Ich sollte mir die Haare mal abschneiden“, war sein letzter Gedanke, nachdem er sich ins Bett hatte fallen lassen. Sofort schlief er fest ein.

Der nächste Tag begann, wie der letzte geendet hatte. Mit viel Schweiß und Schnee. Nach einer kurzen Nacht fuhr er gegen sechs mit dem Unimog noch einmal den Waldweg ab, dann holte er sich seine Schneefräse und bearbeitete damit die Randbereiche des Hofes. Er war gerade rechtzeitig fertig, als um sieben Uhr seine Kollegen Arno und Martin mit dem Azubi Robin auftauchten.

„Servus“, grüßte Rick die drei. „Und? Fit, Robin?“, fragte er seinen Azubi, der heute seinen ersten Arbeitstag nach dem Weihnachtsurlaub hatte.

„Basst scho“, gab der 18-jährige Schreinerlehrling zurück und winkte ab. „Noch etwas müd.“

„Na, das wird schon.“ Martin, Ricks dienstältester Kollege, der bereits für Ricks Vater gearbeitet hatte, lachte herzhaft, sodass sein eindrucksvoller Bauch nur so wippte. Fest klopfte er dem schlaksigen Robin auf den Rücken, sodass der taumelte.

„Mach ihn nicht kaputt“, mischte sich der Vierte im Bunde, Arno, ein. „Wir brauchen ihn noch.“

„So schnell geh ich nicht kaputt!“ Robin richtete sich grinsend auf und schob die Brust raus.

„Das ist gut. Ich hab dir auch extra letzte Woche ein paar deiner Lieblingsarbeiten aufgehoben“, sagte Arno und zwinkerte dem Azubi zu. Robin war im Laufe seiner Ausbildungszeit so sehr gewachsen, dass der kleine Arno nun zu ihm hochblicken musste.

„Mir schwant Böses“, meinte Robin.

„Ah gee“, sagte Rick. „Back mers, Leut! Der Marius wird gleich da sein.“

Und als hätte der seine Worte gehört, heulte ganz in der Nähe im Wald ein Dieselmotor laut auf. Kurze Zeit später schwankte der bestellte Lkw auf die Lichtung und in den Hof. Mühsam konnte der Fahrer den Wagen wenden und stellte ihn rückwärts an der Lagerhalle ab. Marius’ Geschimpfe schwoll an, als er sich von der Fahrerkabine nach unten auf die geräumte Schneedecke wuchtete.

„Meine Herrn! Noch an bleederen Ort fier die Werkstodt hättst da a net aussung känna!“

„Servus, Marius! Dir a an scheener Morgn!“, gab Rick lachend zurück. Er kannte Marius schon so lange und wusste, dass „Grantig“ Marius’ „Freundlich“ war.

„Jaja“, winkte der ab. Die Winterjacke, die er trug, spannte sich gefährlich an seiner Körpermitte. „Wennst ma an Kaffee gibst, bin iech fier die Scheißfohrd doraher endschädichd.“

„Freilich! Waas iech doch! Der is doch glei ferdich!“ Kumpelhaft legte er den Arm um Marius’ Schulter und bugsierte den störrischen Lastwagenfahrer sanft in die Küche des neuen Werkstattanbaus.

„Am Wech doraher, hob iech die Audo im Wold steh säng. Kabudd?“

„Nee. Bloß im Wech.“

Rick erläuterte Marius kurz seine gestrige Abendgestaltung, was der mit einem herzhaften, anteilnehmenden „Bleed!“ kommentierte.

Als der Fahrer schließlich durch Kaffee besänftigt und der Lkw mit den auszuliefernden Möbelstücken beladen war, atmete Rick erleichtert auf. Arno kletterte zu Marius in den Lastwagen. „Am Schrank hab ich schon alles vorinstalliert. Musst bloß noch die Schubladen reinmachen“, gab Rick letzte Anweisungen an Arno. „Beim Bett weißt du ja selber, was du alles gemacht hast. Und beim Couchtisch ist so weit alles fertig. Vergesst nicht, in Weiden für diese Garderobe genau abzumessen.“

„Jaja, Rick. Haben wir alles aufm Schirm. Die heutige Oberpfalzrunde wird ja nicht ewig dauern. Wir sind bis heut Nachmittag zurück, dann mach ich gleich an der Vitrine weiter.“

„Basst“, antwortete Rick und streckte zur Bestätigung den Daumen nach oben. „Ich bin heut aber etwas früher weg wegen Bandprobe.“

„Ach ja. Na, vielleicht seh mer uns noch. Servus dann!“

Erst beim zweiten Versuch bekam Arno die verzogene Tür auf der Beifahrerseite geschlossen. Schwankend verließ der Lkw den Hof.

Während er am Mittag für sich, Martin und Robin Würste warm machte, kam eine Whatsapp von seinem Freund Bastian in die Bandgruppe: „Heute Probe. 17.30. Net vergessen. Gibt Pizza.“

Sofort kam von Flo ein Daumen nach oben. Während Rick seine Antwort – „Geht klar“ – verfasste, trudelte ein „OK“ von Thorsten ein. Rick freute sich darauf. Wegen der Weihnachtszeit hatten sie einige Proben ausfallen lassen, aber da im Sommer drei Auftritte geplant waren, mussten sie mal wieder aktiv werden.

Mittlerweile war Rick der Einzige in der Band, den Borderline Spruces, der keine Partnerin hatte. Seit Bastian mit Maike zusammen war, wurden die Zeitfenster, die er für seine Kumpels und die Musik zur Verfügung hatte, deutlich kleiner. Aber Rick machte es trotzdem sehr glücklich, Bastian mit seiner neuen Freundin zu sehen. Sie war hübsch, sauklug und hatte in Bastians Kunststofffirma eine leitende Position übernommen. Die war für seinen besten Freund in jedem Fall ein Jackpot. Vor allem, weil Maike sich tatsächlich bereit erklärt hatte, von Frankfurt in die fränkische Provinz zu ziehen. Rick hatte sie vom ersten Moment an gemocht. Da konnte man schon neidisch werden.

Arno kam am frühen Nachmittag zurück und nachdem Marius mit Kaffee versorgt war, machten sich Rick und Arno daran, die Maße für die Garderobe in die Möbelskizze einzuarbeiten. Am späten Nachmittag dann verließ Rick die Werkstatt durch eine Seitentür. Die Schreinerei war früher ein Stall gewesen und die Tür war als direkter Zugang zum Haus beibehalten worden. Im Verbindungsflur entledigte er sich seiner Arbeitsschuhe, betrat das Treppenhaus und stieg in Socken die knarzende Holztreppe nach oben in den ersten Stock des alten Bauernhauses.

Seine Arbeitskleidung – ein braunes T-Shirt mit dem Logo der Schreinerei, einem stilisierten Hobel über dem Firmennamen ‚Möbelschreinerei Wolfrum‘ – ließ er zusammen mit der braunen Hose neben seinem Bett auf den Boden fallen. Auf dieses Möbelstück war er richtig stolz. Er hatte es aus Altholz selbst designt, einer seiner ersten umgesetzten Entwürfe. Im angrenzenden Bad wusch er sich schnell das Gesicht und befreite sich vom Holzstaub. Seufzend trocknete er sich ab. Rasieren müsste er sich auch mal wieder, verriet ihm ein kurzer Blick in den Spiegel. Er rasierte sich ungern, kam im glatten Gesicht seine markante, große Nase doch deutlich zum Vorschein. Er kaschierte sie gerne mit einem leichten Bart. Sein Blick fiel im Spiegelbild auf die Uhr hinter sich. Jetzt musste er sich aber beeilen. Zurück im Schlafzimmer zog er sich ein T-Shirt der Metalband Slipknot und eine Jeans an, streifte sich ein schwarzes Sweatshirt über und verließ die obere Etage.

Im Erdgeschoss angekommen, packte er seine Winterjacke und den Rucksack, in den er schon ein paar Noten von Songs, die er noch nicht auswendig konnte, und seine Drumsticks gepackt hatte. Als er seine Schlüssel in die Hand nahm, fiel ihm ein, dass sein Auto ja noch am Waldweg stand. Ach Mist. Den ganzen Tag über war er nicht dazu gekommen, es holen zu gehen. Tja, dann musste er eben jetzt den ungeliebten Spaziergang machen. Immerhin hatte es mal aufgehört zu schneien. Das ersparte ihm heute Abend vielleicht die Extratour mit Rudi. Diesmal mit Taschenlampe bewaffnet, stapfte er durch den winterlichen Wald zu seinem Auto, ließ sich mit einem tiefen Seufzer auf den Fahrersitz gleiten und konnte sich nun endlich auf den Weg in Richtung Oberstemmenreuth machen.

Die Sonne war schon lange untergegangen und der Lichtkegel seines Autos wurde von den hohen, ausgefrästen Schneerampen am Straßenrand der Staatsstraße reflektiert, auf die er von seinem Waldweg aus abgebogen war. Wenn es so viel Schnee gab wie in diesem Jahr, hatte man beim Autofahren immer ein bisschen das Gefühl, in einer Bobbahn zu sein.

Kurze Zeit später bog er in das Gewerbegebiet von Oberstemmenreuth ein. Die erste Firma, an der er vorbeikam, war Bastians ‚Polytech‘. Im Bürogebäude brannte Licht, Maike war offenbar noch fleißig. Als er das Gewerbegebiet fast durchfahren hatte, bog er zu einem kleinen Lagerhaus ab. Das Grundstück hatte Bastians Vater Alois Langmaier vor vielen Jahren erworben und an eine Töpferei vermietet. Leider war der Inhaber kurz darauf unerwartet verstorben, also hatte Bastian die Werkräume von seinem Vater gemietet, um sie als Proberaum für die Borderline Spruces zu nutzen. Der alte Lagerraum stand nach wie vor leer, aber früher oder später würde sich dafür eine Nutzung oder ein Mieter finden lassen.

Vor einigen Jahren hatten sie in der Lagerhalle ein paar Bandkonzerte gegeben. Allerdings waren die Vorschriften zum Brandschutz und für Veranstaltungsräume im Allgemeinen so streng geworden, dass es zu mühselig geworden war, etwas zu organisieren.

Die vier Freunde kannten sich bereits aus ihrer gemeinsamen Schulzeit und hatten irgendwann beschlossen, ihre musikalischen Talente zusammenzulegen und eine Band zu gründen. Anfangs waren sie eine reine Coverband gewesen, doch dann begannen sie, eigene Sachen zu schreiben. Sie standen sogar kurz vor einem Plattenvertrag, da entschieden sie sich, ein normales Leben führen zu wollen. Bis auf Rick waren alle in Beziehungen gebunden, Ausbildung beziehungsweise Studium neigte sich jeweils dem Ende zu und am Scheideweg angekommen, kamen sie überein, den bürgerlichen Weg weiterzugehen. Einzig Rick war daraufhin ein wenig enttäuscht gewesen, denn er hatte sich und seine Freunde schon fast als erfolgreiche, auch außerhalb der Provinz beliebte Musiker gesehen. Vielleicht hatte es daran gelegen, dass er als Einziger keine feste Beziehung hatte und scheinbar dazu gar nicht fähig war.

Ein Leben als Musiker entsprach eher seinem Selbstbild als das des spießigen Ehemannes. Aber ohne seine Freunde, ohne die Band, machte es auch keinen Sinn für ihn. Mittlerweile hatten sie ihre eigenen Songs beiseitegelegt und konzentrierten sich wieder mehr auf Cover. Das kam besser an auf den Dorffesten, auf denen sie meistens auftraten. Die Leute wollten einfach mitgrölen und mitsingen können. Er hatte sich damit arrangiert und seinen Frieden geschlossen.

Flos Golf stand schon vor dem Probenraum. Florian Schmied war das kleinste der vier Bandmitglieder, aber dafür hatte er den vollsten Bart. Seine Frau Marianne und er hatten zwei Kinder. Die kleine Franziska war diesen Herbst in den Kindergarten gekommen und der zweite Nachwuchs, Max, war gerade mal anderthalb Jahre alt und hielt die Familie mit seiner Quirl igkeit ziemlich auf Trab. Musste er wohl von Flo haben, dachte sich Rick grinsend, als er sein Auto abschloss. Flo war Lehrer am Walter-Gropius-Gymnasium in Selb und mit Abstand die größte Plaudertasche der vier Freunde. Eigentlich müsste er irgendwann mal müde werden, wenn er in der Schule schon den ganzen Tag redete, aber weit gefehlt. Flo war unermüdlich. Und der kleine Max kam ganz nach seinem Papa.

„Servus, Rickimaus!“, wurde er von Flo fröhlich begrüßt.

„Servus, Schmiedsi!“

Routiniert klatschten sie sich ab und schlenderten zur Eingangstür.

„Die andern sin noch net da, werden aber jeden Moment auftauchen. Und? Hast geübt?“, fragte Flo, während er drinnen nach dem Lichtschalter tastete. Mit lautem Klack ging das Licht in der Halle an.

„Ja, geht so“, antwortete Rick. „‚Waiting on a War‘ von den Foo Fighters klappt jetzt ganz gut. Ich hab aber noch Probleme mit dem Mittelteil von ‚Space‘ von Biffy Clyro.“

„Glaubst du, der Thorsten bekommt ‚The Pot‘ von Tool hin heute? Ist auch echt übelst schwer auf dem Bass.“

„Heut krieg ich’s hin!“, rief ihnen Thorsten beim Reinkommen zu.

„Geil! Bluten deine Finger?“, scherzte Flo, während Thorsten mit ihnen beiden abklatschte.

„Fast.“ Er grinste sie an. Thorsten Kolb war der ruhigste der Freunde. Etwas größer als Flo und immer mit gepflegten kurzen Haaren. Anders als Flo, der einen dichten blonden Bart trug, und Rick, der sich selten rasieren wollte, waren Thorstens Wangen stets tadellos glatt. Seinen Job als Steuerberater konnte man förmlich riechen, wenn man ihn ansah. Er war der Mann von Bastians Schwester Resi und hatte mit ihr eine dreijährige Tochter, Laura.

„Servus!“, rief ihnen Bastian zu, der sich gerade mit dem neuen Monitor für Flos Gitarre durch die Tür quetschte. Der alte war bei der letzten Probe abgeraucht und hatte ihnen damit einen verfrühten Feierabend beschert.

„Hättest du halt was gsagt. Ich hätte ihn doch bei dir abholen können“, rief Flo aus.

„Nee, basst scho. Ist eh erst heute angekommen. Hab ihn in die Firma schicken lassen, damit auch jemand da ist und wir das Teil sicher heute haben.“

„Du siehst wieder blendend aus, Mann“, gab Rick staunend von sich.

Bastian hatte sich, seit Maike bei ihm wohnte, von einem mürrischen Typen in einen strahlenden, gut gelaunten Mann verwandelt. Das machte ihn noch attraktiver, als er sowieso schon war. Tatsächlich war Bastian der mit Abstand bestaussehende Mann, den Rick kannte, was ihm bei aller Liebe zu seinem besten Freund manchmal einen Stich versetzte. Er beneidete ihn um sein tolles Aussehen, fand er sich selbst doch eher wenig attraktiv. Seine Unsicherheit verbarg er gerne hinter einem exzentrischen Auftreten und so konnte er die meisten Leute täuschen – bis auf Bastian.

Ihm erzählte Rick Dinge, die er sonst niemandem anvertraute, und Bastian wusste wahrscheinlich am ehesten von allen, was für ein Mensch Rick wirklich war und welche Rolle er oft anderen gegenüber spielte. Als beste Freunde hatten sie schon viele Gespräche darüber geführt. Die beiden klatschten sich ab und umarmten sich wie jedes Mal.

„Maike kommt später und bringt uns Pizza. So um sieben, hat sie gemeint.“

„Super, dass sie sie uns vorbeibringt. So blöd, dass der Alfonso die Lieferungen eingestellt hat. War der letzte Lieferdienst im Ort“, sagte Flo und schüttelte bedauernd seinen Kopf, dass der Bart nur so wackelte. „Also los. Dann bauen wir mal das neue gute Stück auf. Bin schon gespannt, wie sie klingt.“ Hoch motiviert schleppte er den Karton mit der Lautsprecherbox zu seinem Platz.

Am Kopfende der alten Töpferei hatten sie einen Teppich ausgelegt. Dort waren alle Instrumente, Verstärker und das restliche Equipment aufgebaut. Das Zentrum bildete das große Schlagzeug, an dem sich Bastian und Rick abwechselten. Heute würden sie nur Sachen proben, bei denen Rick den Gesangspart und die Begleitgitarre übernahm. Bastian saß dabei an den Drums. Wenn die Leadgitarre reichte und eine andere Stimmfarbe als die von Rick benötigt wurde, zum Beispiel bei Popsongs und etwas ruhigerem Rock, tauschten die beiden Freunde die Rollen. Eines der wenigen Dinge, die Bastian nicht konnte, war Gitarrespielen, dafür war er in Ricks Augen der bessere Drummer. Für komplizierte Rock- und Metalsongs war er der beste Mann hinter den Toms und Becken. Dafür hatte Rick in seiner Stimme einen raueren Ton kultiviert, der gut zu den härteren Sachen passte. Es gab über die Rollenverteilung also beinahe nie eine Diskussion.

Rick staunte nicht schlecht, als sie mit ‚The Pot‘ loslegten und Thorsten am Bass wie ein Berserker arbeitete. Da hat der Herr Steuerberater aber fleißig geübt, dachte er und ein leichtes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Trotz allem waren sie nach einer Stunde kaum über ‚The Pot‘ hinausgekommen, da erschien Maike mit einem großen Stapel Pizzakartons im Probenraum.

„Hi, Jungs! Essen fassen!“

„Woa, zum Glück“, rief Thorsten aus. „Meine Finger haben in der letzten Stunde wahrscheinlich 3 000 Kalorien verbrannt.“

„Schmarrkopf“, meinte Bastian kopfschüttelnd. Als er Maike ein strahlendes Lächeln mit makellos weißen Zähnen schenkte, hatte Rick das Gefühl, dass sie kaum an sich halten konnte, ihn nicht an Ort und Stelle niederzuknutschen. Himmel waren die verliebt. Aber es war ihnen zu vergönnen. Beide hatten in der Vergangenheit nicht sehr viel Glück mit ihren Partnern gehabt.

Wie hungrige Wölfe stürzten sie sich auf die Pizzakartons und trugen sie zur Couchecke, die auf der anderen Seite des Raumes stand. Eine Weile aßen sie stumm, bis Maike schließlich das Schweigen brach.

„Ich hab heute mit meinem Freund Tommy aus Frankfurt telefoniert. Er und meine beste Freundin Tamara werden uns am nächsten Wochenende besuchen kommen.“

„Ah, cool“, antwortete Rick mit dem Mund voller Salamipizza. „Musst uns dann auch vorstellen. Vielleicht können wir ja gemeinsam was machen.“

„Das wäre super.“ Maike strahlte.

Rampenlicht

Am nächsten Abend hatte Rick es sich gerade mit einem Glas Wein in seinem Ohrensessel gemütlich gemacht, als sein Handy klingelte.

„Servus, Richard! Däi Wochn gibt’s an Zoigl va uns im Wirtshaus. Kummst umma?“1 Donnernd bellte sein Cousin Matthias die Frage in das Telefon. Immer wenn er anrief, hielt Rick das Handy etwas vom Ohr weg. Durch seine Arbeit war er Lärm zwar gewohnt, aber Matthias‘ Organ übertraf noch die Sägen in der Schreinerei.

„Servus, Hias! Samstag oder Sonntag?“, fragte Rick nach.

„Vo Doaschta bis Sunta“2, antwortete Matthias.

„Samstag bin ich beim Wandern mit Bekannten vom Basti aus Frankfurt.“

„Wo seitzn?“3

„Schneeberg. Aber vielleicht kann ich Basti überreden, dass wir danach zu dir nach Althauptsberg fahren, um den Tag ausklingen zu lassen.“

„Fraali! Däi Preissn bringst miid! Des wird a fetzn Gaudi!“4

„Also gut. Ich sag mal, halb sieben könnten wir da sein.“

„Sua mach mas! Oba niat spader. Woißt ja: koi Reservierung beim Zoigl. Servus, Richard! Gfrei mi!“5, verabschiedete sich Matthias.

„Ich mich auch, Hias. Bis dann.“

Rick grinste. Er liebte den starken oberpfälzischen Dialekt seines Cousins, denn der erinnerte ihn immer an seine Mutter Hildegard, die leider sehr früh, als Rick erst vierzehn Jahre alt gewesen war, einer schweren Krebserkrankung erlegen war.

Ricks Vater Peter war seit dieser Zeit nicht mehr derselbe gewesen und hatte mit ihrem Tod zu viel seines Lebens willens eingebüßt. Kurz nach dem Abitur fand Rick den Vater, an einem Herzinfarkt verstorben, in der Schreinerei. In seinem Testament fielen ihm als Alleinerben die Werkstatt, das Wohnhaus und die vielen Wald- und Wiesengrundstücke zu. Das meiste hatte Rick verpachtet, aber einige Hektar Wald und die große Lichtung mit dem Haus behielt er. Er beschloss, nicht Architektur zu studieren, wie er es eigentlich vorgehabt hatte, und begann im Nebenort eine Ausbildung zum Schreiner. Seither wohnte er allein auf seinem Einsiedleranwesen. Seine einzigen noch lebenden Verwandten waren zwei Cousins und eine Cousine aus Althauptsberg, einer beschaulichen Ortschaft in der nördlichen Oberpfalz.

Matthias betrieb dort den familieneigenen Gasthof mit kleiner Brauerei. Regelmäßig einmal im Monat öffnete das Gasthaus seine Pforten zu einem besonderen Anlass. Dann wurde das selbst gebraute Zoiglbier ausgeschenkt und ein am Eingang angebrachter Zoiglstern zeigte den interessierten Trinkwilligen die Verfügbarkeit an. Ein- bis zweimal im Jahr ging auch Rick mit seinen Freunden in die Zoiglstube seines Cousins, meist, um neue Setpläne für zukünftige Auftritte zu besprechen. Das wäre für Maikes Besucher aus Frankfurt sicherlich ein besonderes Erlebnis. Regional und traditionell, sogar ein immaterielles Kulturerbe. Wenn Maike sie noch nicht anderweitig verplant hatte, wäre das ein prima Programmpunkt.

Er schrieb Bastian dazu auf Whatsapp an und prompt reagierte dieser auf seinen Vorschlag mit einem Daumen-hoch-Emoji. Na also. Zum Bier würden sie eine regionaltypische Brotzeit essen, die bei Matthias stets ausgezeichnet war, und wenn sie Glück hatten, würde noch eine Musikkapelle aufspielen. So was fanden auswärtige Besucher immer riesig.

Das würde ein cooles Wochenende werden. Endlich mal wieder was los. Ricks letzte Monate waren in einem Sog aus Arbeit an ihm vorbeigezogen. Bis auf die Bandproben hatte er seine Freunde kaum gesehen und wenn er mal nicht gearbeitet hatte, saß er wie jetzt allein in seinem Ohrensessel im Wohnzimmer, trank ein Glas Wein und hörte Musik auf dem alten Plattenspieler.

So ganz ohne Familie fühlte sich sein Leben an wie eine Abfolge von Bluesakkorden. Sich immer wiederholend und eine leicht depressive Stimmung verbreitend. Es war nicht so, als hätte es in den letzten Jahren keine Bewerberinnen für die Frau an seiner Seite gegeben. Im Gegenteil. Auf den Dorffesten, bei denen sie auftraten, war er ein regelrechter Frauenmagnet. Mit seiner lockeren Art rannte er bei den Damen offene Türen ein und von seinem etwas verwegenen Aussehen und seinem Gesang erhofften sie sich Abenteuer. Von Dauer war das nie, aber das Bedauern über die Trennungen hielt sich immer in Grenzen, als wäre ihm seine Unabhängigkeit wichtiger als die Liebe.

Vielleicht war er einfach nicht beziehungsfähig. Andererseits hatte er auch noch keine Frau getroffen, mit der er sich nicht mehr allein gefühlt hatte. Ein kleiner Rest Einsamkeit war in jeder seiner vergangenen Beziehungen verblieben. Und das sollte doch eigentlich anders sein, oder? So fühlte man sich doch nicht, wenn man wirklich verliebt war. Was war nur los mit ihm?

Seufzend nahm er einen kleinen Schluck Rotwein und spürte dem bitteren, fruchtigen und leicht schokoladigen Geschmack nach, bis er verweht war und den Wunsch nach mehr hinterließ.

Als sich Rick am Freitagabend zum zweiten Mal innerhalb einer Woche im Flur von Bastians schickem neuen Einfamilienhaus die Winterstiefel auszog, drang ihm aus dem angrenzenden Wohnzimmer schon lautes Gelächter entgegen.

„Wow, die Party geht ja gleich richtig ab!“ Rick grinste, als er sich Bastian zuwandte, der übers ganze Gesicht strahlte.

„Auf jeden, Mann! Tamara und Tommy sind wie ein Sturm hereingebrochen. Im Auto bei der Fahrt von Marktredwitz hierher war es lauter als auf einem Rockkonzert direkt an den Lautsprechern.“

„Habt ihr sie dort am Bahnhof abgeholt?“

„Klar. Alles andere wär a Gwaaf6 gwesen. Du kennst ja die Busverbindungen hier. Die waren eh schon vier Stunden im Zug unterwegs, da wollten wir ihnen nicht noch den großartigen öffentlichen Nahverkehr zumuten.“

„Vier Stunden geht eigentlich“, meinte Rick.

„Ja, ne? Einmal umsteigen in Nürnberg. Da die beiden kein Auto haben, war das die einzig sinnvolle Möglichkeit, herzukommen. Schön, dass du da bist“, sagte er und klopfte Rick kräftig auf die Schulter.

„Supergerne!“, meinte Rick.

Um hierherzukommen, hatte er zwar extra seinen Waldweg räumen müssen, aber der geplante Abend war es ihm wert. Immerhin hatte Bastian ihn ausdrücklich eingeladen. Anscheinend glaubte er, Unterstützung gegen die Frankfurt-Allianz zu brauchen. Als Bastians bester Freund konnte Rick da nicht Nein sagen, zumal es versprach, ein weniger einsamer Freitagabend zu werden als sonst.

Bisher hatte Rick immer gedacht, keinen bestimmten Frauentyp zu haben. Aber das war, bevor er Bastis Wohnzimmer betrat. Kaum stand er drinnen, hätte er seine Traumfrau bis ins kleinste Detail beschreiben können: groß, breite Schultern für die schlanke Figur, lange braune Locken. Hellbraune Augen, die vor Lebenshunger glühten. Die Frau seiner Träume kam mit eleganten Schritten in einem dunkelblauen Strickkleid auf ihn zu, gab ihm ihre perfekte schmale Hand, an deren Handgelenk mehrere exotisch aussehende Armreifen leise klirrten, und sagte mit glockenreiner Stimme: „Hi! Ich bin Tamara!“

„Rick.“ Mehr brachte er gerade nicht zustande. Er spürte Bastians Blick und wendete ihm verunsichert den Kopf zu. Der runzelte die Stirn und musterte ihn aufmerksam. Dem konnte Rick nichts vormachen, Basti kannte ihn einfach zu gut. Er musste deutlich spüren, dass Rick völlig von der Rolle war.

Er räusperte sich. Da musste doch noch mehr drin sein. War er vierzehn, oder was? Er hielt Tamaras klarem Blick stand, als er sagte: „Freut mich riesig, dich kennenzulernen.“ Na bitte.

„Ich mich auch! Ich hab schon total viel von dir gehört.“

„Ach echt? Hoffentlich nur Gutes!“

„Was hätten wir denn Schlechtes über dich erzählen sollen?“, fragte Maike grinsend, die ebenfalls auf ihn zugekommen war. „Gibt es da was?“

„Natürlich nicht!“, antwortete Rick übertrieben energisch und zwang sich zu einem Lachen.

„Und hier haben wir noch den Tommy“, sagte Bastian und deutete mit ausgestreckter Hand auf einen dunkelhaarigen, attraktiven Mann um die dreißig. Seine Augen waren fast so dunkel wie seine Haare und sein ganzes Erscheinungsbild war äußerst gepflegt. Mehr als es Rick von den Männern seiner Umgebung, und vor allem von sich selbst, gewohnt war.

Die Hand, die Tommy ihm zur Begrüßung reichte, war perfekt manikürt. Ricks eigene Hände waren rau, trocken und an manchen Stellen etwas schrundig von der Arbeit. Auf seinem linken Handrücken hatte er einen frischen Kratzer, den er sich heute Morgen an einer unfertigen Tischkante zugezogen hatte. Vor lauter Scham geriet er ins Schwitzen.

„Wow! So hab ich mir Handwerkerhände immer vorgestellt“, sagte Tommy. „Toll!“

Bei diesen Worten schwitzte er gleich noch mal so viel. Spitze, mit der Aussage hatte Tommy alle Blicke auf seine Hände gelenkt. Und mit diesen rohen Pratzen hatte er eben Tamaras zarte Hand geschüttelt. Scham floss langsam von seinen Wangen ausgehend den ganzen Körper hinab.

Bastian musste was gespürt haben, denn er klopfte Rick fest auf die Schulter und meinte laut: „Und vor allem noch mit sämtlichen Fingern!“

Das allgemeine Gelächter nahm die Aufmerksamkeit von Rick und Bastian bugsierte alle Richtung Sofa. Wie es das Schicksal so wollte, landete Rick ausgerechnet zwischen Tamara und Tommy. Er konnte nicht sagen, welcher der beiden besser roch. Tommy trug ein Parfum, das ihn wie in ein Seidentuch hüllte. Süß und herb zugleich. Es passte perfekt zu ihm. Tamaras Geruch dagegen war eher holzig als süß. Nach blühender Waldlichtung. Nach zu Hause. Viel fehlte nicht mehr, dann würde er jegliche sprachliche und geistige Kompetenz einbüßen. Bastian drückte ihm ungefragt ein Bier in die Hand und er nahm dankbar ein paar Schlucke.

„Du bist also der Einsiedler aus dem Wald“, meinte Tommy.

„So ist es“, bestätigte Rick.

„Find ich ja wahnsinnig spannend. Fürchtest du dich da nachts nicht? Ganz allein, nur von Wald umgeben?“

„Nö. So furchterregend ist es nicht. Besucht mich doch mal, dann merkt ihr, dass es harmloser ist, als es sich anhört.“

„Würde ich gerne mal sehen“, sagte Tamara mit ihrer glockenreinen Stimme rechts neben ihm. Rick wurde es sehr heiß. Und das hatte nichts mit dem Bier zu tun.

„Ich stelle mir das total beruhigend vor“, ergänzte Tamara noch.

„Beruhigend?“, fragte Tommy nach. „Nicht beängstigend?“

„Nein. Warum? Ein Waldspaziergang reduziert nachweislich den Stresslevel. Wie ausgeglichen muss man erst sein, wenn man da wohnt? Find ich faszinierend.“ Sie blickte Rick strahlend an. Und erwartungsvoll.

„Äh … geht so, denk ich. Ich lebe schon immer dort und weiß gar nicht, wie ich mich anderswo fühlen würde.“

„Das ist eine interessante Frage“, meinte Tamara, sah ihm nachdenklich in die Augen, nahm ihr Glas und trank einen großen Schluck daraus. Aber anscheinend etwas zu schnell, denn sie verschluckte sich und wedelte sich hustend hilflos Luft zu, während Rick ihr sachte auf den Rücken klopfte. Seine Hand brannte.

Um den Moment zu überspielen, sagte er rasch: „Und ihr wart die Mitbewohner von Maike in Frankfurt? Lebt ihr noch zusammen?“

„Noch, ja“, antwortete Tommy. „Ich überlege ernsthaft, mit meinem Lebensgefährten Elios zusammenzuziehen. Aber der ziert sich noch etwas.“