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Wer eine Zukunft in Freiheit will, muss dafür kämpfen Im Jahr 2100 führt der dreizehnjährige Will ein glückliches Leben auf der Erde – bis ihn ein Hilferuf seiner Freunde Jonto und Solnik erreicht: Die beiden wurden bei einem Besuch der Mars-Kolonien vom Geheimdienst ARES verschleppt! Angeblich haben sie sich gegen das diktatorische Regime auf dem Roten Planeten geäußert. Und die irdische Regierung kann ihnen nicht helfen. Will und seine Freunde brechen zu einer abenteuerlichen Rettungsmission auf, bei der nicht nur ihre Zukunft auf dem Spiel steht – sondern die des ganzen Mars. - Ein warmherzig erzählter Abenteuerroman ab 10 Jahren - Fesselnd und actionreich – Will und seine Freunde entdecken eine faszinierende Welt auf dem Mars - »Ein spannender und kluger Sci-Fi-Krimi, der auch für Jugendliche oder Erwachsene lesenswert ist.« Agnes Sonntag auf spiegel.de über ›Boy from Mars – Auf der Jagd nach der Wahrheit‹ Ebenfalls erschienen bei dtv: Boy from Mars – Auf der Jagd nach der Wahrheit, RaumZeit, Doppelpoker, Blitzlichtgewitter, Absolut am Limit, Stadt der Wölfe, Dschihad Calling, Der Schuss, Scriptkid – Erpresst im Darknet, Und dann weiß jeder, was ihr getan habt, Influence – Fehler im System, Toxische Macht, Y-Game – Sie stecken alle mit drin
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Seitenzahl: 371
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ein geheimnisvoller Hilferuf vom Mars.
Eine gefährliche Rettungsmission.
Und eine Gruppe junger Freunde, die die Zukunft verändern könnte …
Im Jahr 2100 führt der dreizehnjährige Will ein glückliches Leben auf der Erde – bis ihn ein Hilferuf seiner Freunde Jonto und Solnik erreicht: Die beiden wurden bei einem Besuch der Mars-Kolonien vom Geheimdienst ARES verschleppt!
Angeblich haben sie sich gegen das diktatorische Regime auf dem Roten Planeten geäußert. Und die irdische Regierung kann ihnen nicht helfen. Will und seine Freunde brechen zu einer abenteuerlichen Rettungsmission auf, bei der nicht nur ihre Zukunft auf dem Spiel steht – sondern die des ganzen Mars.
Ein warmherzig erzählter Abenteuerroman über Hoffnung und die Macht der Freundschaft
Von Christian Linker sind bei dtv außerdem lieferbar:
Boy from Mars – Auf der Jagd nach der Wahrheit
Awakened (als »C. L. Born«)
Y-Game – Sie stecken alle mit drin
Stadt der Wölfe
Toxische Macht
Der Schuss
Influence – Fehler im System
Und dann weiß jeder, was ihr getan habt
Scriptkid – Erpresst im Darknet
Dschihad Calling
RaumZeit
Blitzlichtgewitter
Christian Linker
Kampf um die Freiheit
Band 2
Dumpfe Donnerschläge dröhnen durch mein Hirn.
Ich träume manchmal von den Klimakriegen, was bescheuert ist, denn ich bin ja gar nicht dabei gewesen, das war lange vor meiner Geburt. Trotzdem sind da diese Bilder. Jetzt lösen sie sich auf, rieseln aus meinem Kopf und ich reibe mir die Augen. Keine Ahnung, wie spät es ist. Und keine Ahnung, warum ich immer noch die Explosionen höre, obwohl ich eindeutig wach bin.
Ich richte mich auf, betrachte das schwarz schimmernde Carbon-Gehäuse meines künstlichen rechten Unterarms und lasse die Finger meiner Roboterhand spielen. Das dunkle Material hebt sich auf den ersten Blick kaum von meiner echten, biologischen Haut ab. Ich lausche. Das ist definitiv kein Traum, da sind echte Explosionen, irgendwo oberhalb der Wasserlinie, wie von Bomben oder Raketen.
Kurz frage ich mich, ob ich irgendwie an einen anderen Ort in eine andere Zeit gereist bin. Mitten in den Krieg hinein, in das Jahr meiner Geburt.
Aber nein. Zumindest der Ort ist immer noch derselbe: Nieuw Rotterdam, die ehemals schwimmende Stadt, die jetzt schräg in der Bucht von Neuhamburg feststeckt. Genauer gesagt: mein Kellerversteck sieben Meter unter dem Meeresspiegel. Vor meinem Fenster steht die nachtdunkle Nordsee. Der Lichtschein meiner Zimmerlampe lässt das Wasser grünlich leuchten, und ein kleiner Katzenhai gleitet draußen vorüber.
Eigentlich also alles völlig normal.
Bis auf diese Explosionen. Das darf doch nicht … Ich will einfach nicht wahrhaben, dass plötzlich der Dritte Klimakrieg ausbricht. Vor zwei Monaten, bei meinem letzten Kontakt zur Außenwelt, hat nichts darauf hingedeutet. Im Gegenteil: Als wir diese legendäre Maschine gefunden hatten, meinte doch jede, dass es jetzt nie wieder Krieg geben müsste; jedenfalls nicht wegen so was wie Energie.
Ich springe auf, schlittere über den schrägen Boden hinab zum Schrank und krame zwischen Konserven und Wasserfiltern herum und zwischen all den alten Büchern aus echtem Papier, die ich über die Jahre gerettet habe. Drehe mich zur anderen Seite und wühle im Haufen meiner Anziehsachen, die sich unter der steilen Treppe zum Erdgeschoss stapeln. Irgendwo muss doch der Zeozwei-Kommunikator sein. Beziehungsweise: der Scheißkommunikator, wie Jonto jetzt sagen würde, in diesem altmodischen Siedlerinnen-Dialekt, den er auf dem Mars gelernt hat. Zum Schluss schaue ich unter der Matratze nach, die ich auf der einen Seite mit Holzstützen hochgebockt habe, damit sie trotz der Schräge der ganzen Stadt irgendwie halbwegs waagerecht liegt. Und da, unter der Matratze, steckt er. Mein alter Kommi.
Ich schalte ihn ein und er säuselt los: »Willkommen zurück, Will. Du bist 60 Tage, 14 Stunden und 9 Minuten offline gewesen. Du hast 237 unbeantwortete Sprachnachrichten von Jonto Winter, 132 unbeantwortete Sprachnachrichten von Gülcan Yeter und 16 unbeantwortete Textnachrichten des Jugendamtes Neuhamburg …«
»Stopp!«, rufe ich. »Sag mir lieber, was da oben los ist. Wer schießt da? Mitten in der Nacht?«
»Ach so, bitte entschuldige, dass ich nicht gleich darauf eingehe …«
Ich hasse es, dass Künstliche Intelligenzen sich andauernd für alles Mögliche entschuldigen.
»Ich wünsche dir ein frohes neues Jahr 2100, Will.«
»Hä?«, mache ich.
»Die Geräusche, die du hörst, sind das Silvester-Feuerwerk«, erklärt der Kommi.
»Okay«, murmle ich, wie Jonto es sagen würde. Auch so ein Mars-Wort. Keine Teenagerin auf der Erde sagt heute noch okay. »Dobri«, schiebe ich hinterher. So, wie Kids es eben hier sagen. Verdammt, Jonto geht mir nicht aus dem Kopf. Meinetwegen soll er glücklich werden, auf seinem toten roten Planeten da oben. Und – ja, klar, weder er noch Nelli oder Solnik können was dafür, dass Oma Sharon gestorben ist, und dass niemand da ist, der das Zeozwei-Sorgerecht für mich übernimmt. Doch bevor ich in irgend so’n Kinderheim gehe, verrotte ich lieber hier unten in meinem Kellerversteck.
»Du hast insgesamt 528 unbeantwortete Nachrichten«, fährt der Kommi unbeirrt fort. »Soll ich zuerst die älteste oder zuerst die neueste abspielen?«
»Keine«, brumme ich.
»Vielen Dank für deine Auswahl. Ich habe außerdem 1089 News-Artikel und 3456 Holo-TV-Videos gespeichert, in denen dein Name erwähnt wird. Möchtest du …«
»Nein!«
»… außerdem ein Holo-TV-Video, wo die Verhaftung deiner Freunde Jonto und Solnik …«
»Nein, verdammt!«
»Vielen Dank für deine Auswahl«, sagt der Kommi.
Er klingt immer so höflich, fast fröhlich. Ich hasse ihn.
Jetzt sagt er: »Vielleicht möchtest du stattdessen den Dreimonatswetterbericht für das Ende der Regenzeit …«
»Warte!«, rufe ich, weil das Wort nur langsam aus meinen Ohren in mein Gehirn sickert und von dort direkt in meine Magengrube rutscht. »Verhaftung? Jonto und Solnik sitzen im Knast?«
»Ja, laut einem Holo-TV-Video vom 17. Dezember 2099.«
»Abspielen!« Ich merke, dass ich gebrüllt habe. »Entschuldige«, schiebe ich hinterher, obwohl es bescheuert ist, sich bei einer KI zu entschuldigen. »Bitte spiel das Video ab. Ich will es sehen.«
Ich lege den Kommi auf den Boden vor meine Matratze. Seine Linse projiziert eine sirrende Lichtkugel in den Kellerraum und gleich darauf stehen sie alle um mich herum: Gülcan, damals die Chefin unserer Gang. Die eine Seite ihres Kopfes ist umweht von ihrem langen grünen Haar, die andere Seite ist kahl rasiert und trägt ein Tattoo mit dem Sternbild Schwan. In ihrem Gürtel steckt ihr gefürchteter Laser-Blaster. Neben ihr steht die bleiche baumlange Elondra, deren holografisch flackernder Kopf fast an die Betondecke meines Kellers stößt. Daneben der kleine muskelbepackte Uddi, der seit letztem Jahr nur noch Mädchenklamotten trägt. Und Jonto. Der Boy from Mars. Dann noch Jontos Mitschüler Solnik mit seinen riesigen Ohrringen. Jontos Mutter Nelli mit ihrem zurückhaltenden Lächeln. Und natürlich der Junge mit dem Roboterarm. Mit der dunkel schimmernden künstlichen Hand. Wilhelm van de Ven. Ich.
Wir posen für die Holo-Kameras um die große Maschine aus Röhren und Zylindern und undefinierbarem Metallgestänge herum. Wir lachen und albern miteinander und klatschen uns ab. Alle, auch ich, haben leuchtend blaue Umrisse. Hologramme eben. Ich könnte mich einfach unter sie mischen, als würde das alles genau jetzt passieren. Aber wir sind ja nicht echt, wir sind nur eine Lichtprojektion. Und diese Szene liegt lange zurück. Ich setze mich auf meine Matratze und schaue zu, wie das Bild einfriert und alle Personen mitten im Raum stehen bleiben. Dann tritt aus dem Nichts eine Frau hinzu. Über ihrem Kopf blinkt in knalligen Buchstaben: Raissa Schulz, Reporterin, Neuhamburg.
»Sie sind die vielleicht berühmtesten Kids im Sonnensystem«, sagt die Reporterin und geht von der einen zur anderen Person, wobei jeweils deren Name über dem Kopf aufblinkt. »Elondra ist ein Computer-Genie, Uddi ein Kampfkünstler. Wilhelm war es, der das Tagebuch des Ingenieurs Benjamin Winter entzifferte. Jonto Winter ist dessen Enkel – er wuchs auf dem Mars auf und wurde gegen seinen Willen zur Erde geschickt. Ihm verdanken wir, dass das Geheimnis des sagenhaften Future Boost gelöst werden konnte – und damit alle Energieprobleme der Erde, denn seither kann jede Stadt, jedes Dorf einen eigenen Fusionsgenerator betreiben. Solnik hat die übrigen Kinder gerettet, als sie in einer aussichtslosen Lage gefangen waren. Und Gülcan war zu jener Zeit die Chefin der berüchtigten Gang, die in der Bucht von Neuhamburg ihr Unwesen trieb, bevor sie dem Jungen vom Mars bei der Suche nach dem Future Boost entscheidend halfen. Das alles ist längst bekannt.« Die Reporterin wendet sich um und schaut mich direkt an. Das heißt – sie blickt natürlich in die Kamera, aber es sieht so aus, als würde sie mir unmittelbar in die Augen sehen. »Jede Erdenbewohnerin kennt vermutlich die abenteuerliche Geschichte von der Entdeckung des Future Boost. Aber abgesehen von dieser ersten und einzigen Pressekonferenz der Kinder aus dem letzten Sommer – hier Archivbilder – meiden alle Beteiligten die Öffentlichkeit. Soweit bekannt ist, hat sich die Gang in alle Winde zerstreut.«
Unsere Hologramme verschwinden, und für einen kurzen Moment ist bloß Raissa Schulz inmitten der Schwärze des Weltalls zu sehen. Dann taucht eine kleine rote Kugel auf, die näher kommt und rasch größer wird. Der Anblick versetzt mir einen kleinen Stich.
»Jonto Winter ist auf seinen Heimatplaneten zurückgekehrt, jedenfalls für einen längeren Besuch in seinem alten Zuhause, der Kolonie 7. Begleitet wird er von seiner Mutter Nelli und seinem Schulfreund Solnik, der auf dem roten Planeten ein Gastschuljahr verbringt.«
Der Mars löst sich auf und verschwindet in den Wellen der Nordsee, denn jetzt steht das Hologramm der Reporterin am Hafen von Neuhamburg, wo im Hintergrund ein großer Solarsegler ablegt.
»Über den Verbleib von Gülcan, Uddi und Elondra gibt es lediglich Spekulationen. Es heißt, die drei seien zu einer Weltreise aufgebrochen.« Raissa Schulz setzt einen dramatischen Blick auf. »Elondra ist erst siebzehn, Gülcan vierzehn und Uddi ist sogar erst elf Jahre alt. Dass die jungen Leute ohne erwachsene Begleitperson unterwegs sind, ist natürlich höchst besorgniserregend.«
Finde ich nicht, die sind alt genug. Doof find ich nur, dass ich nicht mitkonnte, wegen Oma …
Sie fährt fort: »Das Sorgerecht für die Minderjährigen haben offiziell Nelli Winter und Sharon van de Ven, Wilhelms Großmutter. Doch Nelli Winter befindet sich auf dem Mars, und Sharon van de Ven …«, die Reporterin schlägt die Augen nieder, »… ist im Oktober überraschend verstorben.« Jetzt baut sich das flimmernde Abbild eines großen Bauernhofs hinter ihr auf. »Dieses alte Obstgut im Hinterland von Neuhamburg hatten Nelli, Sharon und die Kinder ursprünglich gekauft, um dort gemeinsam zu wohnen. Zuletzt lebten hier nur noch Wilhelm und seine Großmutter. Aber seit Sharons Tod fehlt von ihrem Enkel jede Spur.«
Mich nervt, dass sie immer von Kindern spricht. Wir sind schließlich Teeangerinnen. Jedenfalls sagt Gülcan das immer, wenn jemand uns Kinder nennt.
Der Gutshof löst sich auf und plötzlich regnet es holografische Geldscheine aus der Betondecke meines Kellerverstecks. »Eins Komma zwei Milliarden Euro haben die Kinder dafür bekommen, dass sie den Future Boost und dessen Baupläne der Allgemeinheit zur Verfügung stellten. Also verfügt jede von ihnen über zweihundert Millionen Euro. Soweit bekannt ist, haben sie den Großteil des Vermögens an die Twenty-two Hope Foundation gespendet; eine Stiftung, die sich fürs Klima und für globale Gerechtigkeit einsetzt. Trotzdem sind die Kinder immer noch Multimillionärinnen. Was macht das mit so jungen Menschen, wenn sie plötzlich unfassbar reich werden? Hat sich der arme Wilhelm mit seinem Teil des Geldes aus dem Staub gemacht, aus Sorge, dass man ihn ansonsten in ein Kinderheim steckt?«
»Schön wär’s«, knurre ich. Sie hört mich natürlich nicht, sie ist ja nur ein Hologramm aus einer Sendung von vor zwei Wochen. Trotzdem rufe ich ihr mürrisch zu: »Wie soll ich mich denn bitte mit dem Geld aus dem Staub machen? Wussten Sie, dass man als Dreizehnjähriger höchstens hundert Euro von der Bank abheben darf? Selbst wenn man zwanzig Millionen besitzt?«
Sie kann ja nicht auf mich reagieren. Stattdessen wedelt sie die holografischen Geldscheine weg und steht plötzlich in einer der verlassenen, steil abfallenden Straßen von Nieuw Rotterdam. »Seit vielen Jahren steckt diese künstliche Insel mitten in der Bucht von Neuhamburg fest«, erklärt Raissa Schulz. »Die ehemals schwimmende Stadt wurde in einer Sturmflutnacht hier angespült. Dort auf Nieuw Rotterdam hatte einst die berüchtigte Gülcan-Gang ihre Basis. Und natürlich wurde vermutet, dass Wilhelm sich hierher zurückgezogen hat. Doch jede Suche blieb bislang erfolglos.«
»Na logisch«, brumme ich und winke der holografischen Reporterin mit meiner Roboterhand zu. »Ich bin ja kein Anfänger.«
Das Hologramm der Ruinenstadt, auf deren Unterseite ich jetzt gerade sitze, löst sich auf. Das ganze Bild wird schwarz. Dann taucht der Mars wieder auf.
»Und darum kann es sein«, sagt die Reporterin, »dass Wilhelm und seine Freundinnen Gülcan, Uddi und Elondra noch gar nicht wissen, welche beunruhigenden Nachrichten uns aktuell von unserem Nachbarplaneten erreicht haben: Jonto und Solnik sollen vom berüchtigten Mars-Geheimdienst ARES verschleppt worden sein. Eine offizielle Bestätigung seitens der Behörden von Kolonie 7 gibt es nicht. Unsere Korrespondentin hat versucht, ein Statement von Jontos Mutter zu bekommen, doch Nelli Winter war für unseren Sender nicht erreichbar. Angeblich steht sie unter Hausarrest und darf ihre Wohnung in der Kugelstadt von Kolonie 7 nicht verlassen. Auch eine Interview-Anfrage unseres Senders an die Sicherheitschefin des Mars, Ministerin Laura Diaz, wurde abgelehnt. Kritische Nachfragen kann die Regierung wohl gerade überhaupt nicht gebrauchen – besonders jetzt, wo bald das umstrittene Terraforming-Projekt beginnt. Darum gibt es bislang auch keine belastbaren Hinweise darauf, was man den beiden Teenagern vorwirft. Stattdessen blühen Gerüchte, die man sich in den Glastunnelröhren der Kugelstadt hinter vorgehaltener Hand zuraunt. Die einen sagen, dass Jonto und Solnik wohl einfach nur ganz unbedacht einen Witz über den Mars-Präsidenten und Chef des TET-Konzerns Bo Wang gemacht haben. Andere halten es für möglich, dass sich die beiden Jungs dem Widerstand gegen das Regime des Präsidenten angeschlossen haben.«
In meinem Kellerversteck erscheint jetzt das Hologramm eines riesigen verschlossenen Stahltores, das anscheinend in die steile Felswand eines Canyons eingelassen ist.
Raissa Schulz deutet auf das Tor und sagt: »Was auch immer der Grund dafür sein mag, dass der vierzehnjährige Jonto und sein gleichaltriger Freund Solnik den Zorn der Mars-Regierung auf sich gezogen haben – ihnen droht ein grausiges Schicksal. Denn von den Menschen, die in das berüchtigte Hochsicherheitsgefängnis von Noctis Labyrinthus geworfen werden, kommt fast nie jemand lebend wieder heraus. Und all das vermutlich nur deshalb, weil die Jungs sich für Freiheit und Demokratie eingesetzt haben? Sobald wir Neues über das Schicksal der beiden herausfinden, erfahren Sie es hier auf unserem Sender. Abonnieren Sie den Holotag #backtomars und bleiben Sie mit Holo-TV immer auf dem Laufenden.«
Ende. Aus. Schluss.
Raissa Schulz wird durchsichtig und verschwindet zusammen mit der Lichtkugel wieder in meinem Kommi.
In die plötzliche Stille dröhnt dumpf das Feuerwerk von oben, oberhalb des Meeresspiegels.
Ich räuspere mich.
»Ja bitte?«, antwortet der Kommi.
»Spiel mir …« Ich muss mich wieder räuspern. »Spiel mir die Nachrichten von Jonto Winter ab. Ähm – zumindest die wichtigsten.« Dobri, ich gebe zu, ich weiß gar nicht, welche die wichtigsten sind oder woran man das erkennt, aber der Kommunikator ist schließlich eine KI, er wird es schon merken.
Komischerweise zucke ich zusammen, als plötzlich Jontos Stimme durch mein Kellerversteck hallt:
»Hey du, ich verstehe, dass du sauer bist. Und wir sind alle traurig, dass Sharon gestorben ist. Meine Mutter hat den halben Tag geweint, weil wir nicht bei der Beerdigung sein können. Und mir ist natürlich klar, dass du keinen Bock hast auf eine Art Kinderheim. Aber ich hab das doch nicht gesagt, um dich zu ärgern. Ja, Scheiße, Mann! Beziehungsweise Zeozwei. Wenn wir auf der Erde wären, könnte Nelli das Sorgerecht für dich übernehmen, und wenn das irgendwie möglich wäre, dann würden wir ja sofort zurückkehren, aber es geht eben nicht, weil sich das Startfenster erst in etlichen Monaten wieder öffnet. Willst du dir denn dieses Jugenddorf nicht wenigstens mal anschauen?«
»Hey, Wilhelm, hier noch mal ich. Meine Mutter hatte noch die Idee, dass Elondra nächstes Jahr schon achtzehn wird. Dann könnte die doch das Sorgerecht für dich übernehmen. Also wenn die drei von ihrer Reise zurück sind. Hatten sie nicht geschrieben, dass sie spätestens bis Ende des Erden-Jahres wieder in Neuhamburg ankommen? Dann müsstest du eigentlich nur ein paar Monate in dieses Jugenddorf, bis das Jugendamt zugestimmt hat.«
»Wilhelm? Mann, melde dich doch mal. Ich mach mir ein bisschen Sorgen, ehrlich gesagt. Dein Kommi ist seit Tagen offline.«
Bei der nächsten Nachricht wechselt plötzlich der Tonfall. Jonto klingt unterdrückt, fast flüstert er.
»Hey, hier ist mal wieder Jonto. Ich habe ein Problem, aber ich kann nicht richtig drüber reden – wir werden vielleicht abgehört. Bitte melde dich doch mal.«
Die nächste ist im Gegensatz dazu überlaut, richtig panisch:
»Ich will nur schnell tschüss sagen, Wilhelm. Sie kommen! Sie holen uns! Keine Ahnung, wann ich mich wieder bei dir melden kann. Wo immer du steckst, pass auf dich auf, Mann!«
Stille.
Sogar das Feuerwerk hat aufgehört.
»Weiter«, sage ich zu dem Kommi. »Spiel die nächste Nachricht ab.«
»Das war die letzte«, antwortet der Kommi. »Soll ich von vorn beginnen?«
»Nee, schon gut.« Ich kratze mich am Kopf.
Jonto sitzt im Knast. Auf dem Mars. Was für ein Zeozwei.
Ich muss irgendwas tun.
Nur keine Ahnung, was.
Sonst war es immer Gülcan, die die guten Ideen hatte.
Ich starre mein Regal an, als hätten all die Bücher dort einen Tipp für mich. Haben sie aber nicht.
Ich sage zu dem Kommi: »Stell eine Verbindung zu Gülcan her.«
»Das kann ich tun«, antwortet er. »Aber ich weise dich darauf hin, dass ich dazu die Tarnung abschalten muss. In dem Augenblick, in dem ich die Verbindung herstelle, wird dein Standort möglicherweise für die Kommunikatoren anderer Nutzerinnen sichtbar.«
Weiß ich doch. Trotzdem zögere ich kurz.
Dann brumme ich: »Egal, ich muss mit ihr reden.«
Dass ein neuer Tag angebrochen ist, kann ich hier unten nur daran erkennen, dass das Wasser vor dem dicken Fensterglas ein klein wenig heller wirkt. Meistens gehe ich ja nur nachts nach draußen, aber jetzt ist es elf Uhr morgens, und mein Kommi meldet, dass sie unterwegs zu mir sind. Wir hatten in der Nacht noch miteinander gesprochen. Ganz kurz nur, aber Gülcan hat gesagt, dass sie auf der Rückfahrt von ihrer Weltreise schon die Nordsee erreicht haben und auf jeden Fall heute Vormittag gegen elf zu mir nach Nieuw Rotterdam kommen werden.
Sie hat mir nicht den geringsten Vorwurf gemacht. Also dafür, dass ich mich seit zwei Monaten nicht gemeldet habe. Habe ich trotzdem ein schlechtes Gewissen? Ich bin mir nicht sicher. Ich weiß bloß, dass ich mich freue, die drei zu sehen.
Ich ziehe mich an und setze außerdem zum ersten Mal seit zwei Monaten wieder meine Digi-Linse ins rechte Auge ein. Eigentlich spürt man es nicht, wenn sich diese Linsen mit dem Gehirn verbinden. Aber nachdem ich so lange offline war, spüre ich doch ein kleines Kitzeln. Dann tauchen die üblichen Daten vor meinen Augen auf: Datum und Uhrzeit, Koordinaten, meine Pulsfrequenz … Ich blinzle sie weg und steige die Treppe zum nächsthöheren Kellergeschoss hoch und von da zum Erdgeschoss, das auch bei Flut immer noch knapp über der Wasserlinie liegt. Ich durchquere den Hausflur, in dem dieses alte, völlig verrostete Kinder-Solar-Bike steht, so als wären die Hausbewohnerinnen nur im Urlaub und kämen bald zurück. Als hätten nicht schon vor Jahrzehnten sämtliche Menschen die künstliche Insel verlassen, bevor diese schwimmende Geisterstadt in einer Sturmflutnacht hier in der Bucht gestrandet ist. Der vordere Teil von Nieuw Rotterdam steckt seitdem im Meeresboden und der hintere Teil ragt aus den Wellen heraus. Wenn du hier lebst, gewöhnst du dich schnell an diese Schräge. Einfach immer ein Bein nach vorn setzen und mit dem anderen ausbalancieren. Nur wenn ich wie jetzt aus dem Haus trete und in die Bucht blicke, bin ich für einen Moment irritiert. Denn wenn du rüber zum Strand schaust und zum großen Deich, hinter dem Neuhamburg liegt, wird dir plötzlich wieder bewusst, wie abschüssig der Boden ist. Hinter mir ragen Wohntürme auf, dazwischen Supermärkte, Bürogebäude, eine Schule, krumme Bäume und jede Menge Unkraut, das an den Fassaden emporwächst. Vor mir fallen die Straßen zum Wasser hin ab und verlieren sich in der sanften Brandung. Ein Garagendach befindet sich fast auf Höhe der Wasserlinie. Dort postiere ich mich und halte Ausschau nach meinem Besuch.
Plötzlich fühle ich mich ein bisschen so wie früher. Als das hier unser gemeinsames Zuhause war. Also nicht das von Jonto, aber von uns anderen. Diese ganze Stadt ist natürlich Sperrgebiet, höchste Einsturzgefahr, Betreten strengstens (!) verboten und so. Darum war das hier der ideale Ort für unsere Gang. Als es die Gang noch gab.
Nur ein paar Straßenecken weiter steht das Haus, in dem wir unsere Basis hatten. Da setze ich natürlich keinen Fuß hinein. Denn falls mich Leute suchen – und anscheinend tun das einige, sogar Holo-TV! –, werden sie als Erstes dort nachschauen. Nelli hat uns ja ständig gewarnt. Also nicht vor dem Holo-Fernsehen, sondern vor allem vor irgendwelchen Erpresserinnen, die uns entführen und Lösegeld verlangen könnten. Schließlich sind wir unfassbar reiche Kids. Deshalb hab ich mich in meinem Kellerversteck unter der Wasserlinie eingerichtet. Von außen sieht es aus, als sei es komplett überflutet.
Der Wind weht mir ins Gesicht. Angenehm mild, wie immer im Januar. Mein Lieblingsmonat, bevor es ab Februar immer wärmer wird und ab April dann unerträglich heiß.
Ein hohes Sirren aus der Luft reißt mich aus meinen Gedanken. Über mir kreisen zwei Drohnen und senken sich langsam zu mir herab. An ihren Unterseiten sind kleine Laserkanonen montiert, die mich von zwei Seiten anvisieren. Irgendwie kommen mir die Modelle dieser Drohnen bekannt vor, und im nächsten Moment sehe ich auch, woher. Denn am linken Rand der Stadt taucht der hohe Bug eines großen schwarzen Schiffes auf.
Plötzlich flimmert die Luft vor mir. Ein Hologramm filtert sich aus dem trüben Januarmorgen-Licht heraus: ein bulliger Kerl mit wildem rotem Bart.
»Ahoj, Wilhelm.« Er grinst breit. »Freust du dich, einen alten Bekannten wiederzusehen?«
»Käpt’n Blutfinger«, erwidere ich und versuche, mir meinen Schreck nicht anmerken zu lassen. »Tierschmuggler und Fleischdealer, Auftragskiller und Kindesentführer.«
Während ich spreche, schaue ich haarscharf an dem Hologramm vorbei und spähe in die Bucht hinaus. Meine Augen suchen nach dem Solarsegler meiner Freundinnen. Sie müssten ganz in der Nähe sein. Und ich muss sie irgendwie warnen! Wobei – vielleicht haben sie Blutfingers Schiff schon früher gesehen als ich. Und haben sich hoffentlich irgendwas einfallen lassen … Jedenfalls ist weit und breit kein Boot zu erkennen. Oder hat er sie schon längst geschnappt?
Ich wende mich wieder dem Hologramm zu und frage möglichst lässig: »Was willst du von mir?«
»Na, ich bin hier, um dich zu retten. Es ist sehr gefährlich auf Nieuw Rotterdam, wusstest du das nicht? Für schlappe 199 Millionen bringen wir dich sicher aufs Festland.«
»Warum nicht gleich alle meine 200 Millionen?«, frage ich höhnisch und überlege gleichzeitig fieberhaft, wie ich ihm entkommen kann. Ihm, seinem Schiff und seinen beiden Drohnen, die mich umkreisen. Ich schließe die Finger meiner Roboterhand zu einer Faust und öffne sie wieder.
»Wir sind doch keine Unmenschen.« Er lacht. »Eine Million darfst du meinetwegen behalten. Und denk nicht, dass du meinen beiden fliegenden Babys entkommen kannst. Die Drohnen haben Laserkanonen mit Verfolgungsmodus.«
»Danke, dass du so fürsorglich bist«, sage ich. »Aber ich muss gar nicht von der Insel gerettet werden.«
»Ich fürchte, doch«, erwidert er und gibt irgendwem neben sich ein Zeichen mit der Hand.
An Bord des schwarzen Schiffes löst sich ein heller Lichtblitz – und dann rauscht eine Rakete direkt auf mich zu! Innerhalb von Sekunden ist sie ganz nah und erst da höre ich ihr Zischen. Ich überwinde meine kurze Schockstarre und werfe mich auf den Boden, und die Rakete schlägt irgendwo weiter hinten ein. Die Explosion lässt die ganze Stadt erbeben. Ich springe auf, wirble herum und sehe, wie von einem der Wohntürme etwa dreißig Meter entfernt eine Feuersäule in den Himmel steigt.
Blutfinger steht mir ungerührt gegenüber. Er ist ja nur ein Hologramm, der echte Käpt’n steht da drüben auf dem Schiff.
»Du hättest nicht von eurem Gutshof abhauen sollen«, höhnt er. »Die Mutter von dem Mars-Jungen hat euch doch alle schön von der Außenwelt abgeschirmt und euch und euer Geld beschützt. Jetzt können nur noch wir dich retten. Lass dich einfach zu uns rübertragen.«
Bei seinem letzten Satz sinken die beiden Drohnen tiefer zu mir herab und fahren jeweils einen Greifarm aus. Wenn ich die Hände austrecken würde, könnte ich sie fassen. Im selben Moment stürzt der getroffene Wohnturm komplett in sich zusammen. Und dann erfüllt ein entsetzliches Kreischen die Luft. Als würden hunderttausend Seevögel über mich herfallen. Aber das Kreischen kommt nicht aus der Luft, sondern aus dem Boden. Es ist das Geräusch, mit dem sich Metall verbiegt. Sehr viel Metall, mit sehr großen Ausmaßen. Und zwei Schritte vor mir erscheint ein breiter Riss im Boden! Der spröde Asphalt platzt auf wie eine klaffende Wunde und die Stahlträger im Innern der Inselkonstruktion werden sichtbar. Ich mache einen Satz rückwärts. Der Riss verbreitert sich und läuft rasend schnell in beide Richtungen quer über die Straßen auf die beiden Ränder der Insel zu. Ich hebe den Kopf und sehe, wie sich der Horizont vergrößert. Weil die Stadt oberhalb von mir sich absenkt. Also der hintere Teil der Insel, der über das Wasser hinausragt. Einzelne Gebäude knicken um wie tote Gänseblümchen am Anfang der Trockenzeit. Einer der Wohntürme kippt und stürzt gegen einen anderen, eine riesige Dominobahn Richtung Abgrund setzt sich in Bewegung. Die ganze Stadt beginnt auseinanderzubrechen wie ein alter krümeliger Keks!
»Ups«, macht Blutfinger und wirkt tatsächlich überrascht. »So ein Zeozwei, damit hab ich nicht gerechnet.«
Der Riss wird zu einem tiefen Graben. Abwasserrohre reißen auseinander, Kellergeschosse zerbersten und aus einem überdehnten Stahlträger schießen armdicke Eisenschrauben heraus wie Torpedos. Zum Glück nicht in meine Richtung. Die ganze Stadt jault wie ein sterbendes Tier. Die Drohnen sind jetzt direkt über meinem Kopf und halten mir ihre künstlichen Hände hin, um mich sicher rüber auf das Schiff zu bringen. Sicher, das heißt: Sicher als Geisel von Blutfinger, damit er von der Bank meine Millionen erpressen kann.
»Komm schon, Wilhelm«, ruft er, »wir haben nicht mehr viel Zeit.«
»Ich schon«, zische ich, »aber du nicht.«
Wie zur Bestätigung kommt jemand aus seiner Crew ins Bild, der ihm zuruft: »Käpt’n, uns bleiben noch drei Minuten, bis die Küstenwache hier ist.«
»Los, Wilhelm!«, schimpft Blutfinger. »Sonst stirbst du!«
»Ich heiße nicht mehr Wilhelm«, knurre ich. »Ich bin jetzt Will.«
Der vibrierende Boden schüttelt mich durch, aber meine Roboterhand bewegt sich absolut sicher. Ich strecke sie nach einer der Drohnen aus.
»Braver Junge«, sagt der Käpt’n. »Fass richtig zu! Sie werden dich retten!«
Meine Roboterhand schwebt wenige Fingerbreit von dem Greifarm der Drohne entfernt. Ich spüre die übernatürlichen Kräfte der bionischen Finger und konzentriere mich darauf. Doch statt des Greifarms fixiere ich die kleine Laserkanone unter ihrem Bauch, packe sie mit meiner Roboterhand und drehe sie von mir weg, in Richtung der zweiten Drohne. Ihr Laserstrahl schießt los und trifft ihren eigenen Zwilling genau in dessen Kameraauge. Die Drohne explodiert in der Luft und ich presse schützend meine Arme vors Gesicht. Ein Trümmerteil trifft mich am Ohr und ein anderes am Ellbogen, aber es hat funktioniert. Die zweite Drohne ist nur noch eine Schrottwolke. Die erste zappelt derweil in meiner Roboterhand hin und her, ihr Laserstrahl schneidet zischend in die Mauer eines Hauses auf der anderen Straßenseite, bis ich die Kanone mit einer ruckartigen Handbewegung abreiße und die Drohne vor mir auf dem Boden zerschmettere. Dann sehe ich mich panisch um. Wie komme ich hier weg? Vielleicht hätte ich mir einen Plan B überlegen sollen, bevor ich die beiden Drohnen ausgeschaltet habe. Jetzt gibt es kein Zurück.
Das Jaulen und Kreischen der Stadt steigert sich zu einem unmenschlichen Getöse und dann geschieht es: Die obere Hälfte der Stadt löst sich komplett und schlägt mit einem gigantischen Knall auf die Wasseroberfläche. Ich mache einen vorsichtigen Schritt nach vorn und stehe an der Klippe, wo vorhin noch eine Straße verlief. Die Ruinen beginnen schäumend und gurgelnd zu versinken. Aber dann flutet das Wasser zurück – und eine Welle baut sich auf. Klar eigentlich, wenn man was Großes ins Wasser wirft, dann muss ja eine Welle kommen, und diese hier türmt sich hoch und höher und erfasst den Rest der künstlichen Insel und hebt ihn an. Ich verliere das Gleichgewicht und stürze rücklings zu Boden, rolle auf dem immer steiler aufragenden Untergrund hinab und lande im Meer. Vor Schreck reiße ich den Mund auf, schlucke Salzwasser, kämpfe mich zurück zur Oberfläche, wo sich die restliche Stadt immer steiler vor mir aufbäumt, als wollte sie sich gleich überschlagen. Ich drehe mich um und schwimme so schnell ich kann.
Das schwarze Schiff nähert sich jetzt mit Höchstgeschwindigkeit. Das Hologramm von Blutfinger ist verschwunden – vermutlich waren es die Drohnen, die das dreidimensionale Bild vorhin vor meine Füße projiziert haben. Dafür kann ich schon den echten Käpt’n aus Fleisch und Blut erkennen. Er steht vorn am Bug seines Schiffes, das auf mich zuschießt. Neben ihm ist Torry, die Killerin seines Vertrauens, ich erkenne sie direkt an ihrer Augenklappe. Sie hält einen Rettungsring in der Hand. Hinter mir erheben sich die Reste der Stadt jetzt immer höher in den Himmel und Trümmerteile stürzen knapp hinter mir ins Wasser. Wenn ich nicht davon – oder am Ende von der kompletten Insel – erschlagen werden will, muss ich mich von Blutfinger an Bord nehmen lassen. Verzweiflung steigt in mir auf. Ich habe keine andere Überlebenschance, als an Bord des schwarzen Schiffes so schnell wie möglich von hier wegzukommen. Niemand kann so rasch weit genug wegschwimmen.
Ich will gerade winken, damit Torry mir den Ring zuwirft, da packt mich etwas an den Füßen. Ich werde so schnell nach unten gezogen, dass ich nicht mal mehr aufschreien kann. Schon habe ich wieder Wasser im Mund, im Rachen, in der Nase.
Ich will um mich treten und mich von dem Seemonster befreien oder von was auch immer mich da gepackt hat. Aber dann wallt grünes Haar vor mir auf. Gülcan! Eine Hand schiebt mir ein Paar Amphibles in den Mund, künstliche Kiemen, mit denen ich unter Wasser atmen kann. Ich versuche, mich nur darauf zu konzentrieren und nehme einen tiefen Atemzug. Meine Panik geht weg und jetzt erkenne ich tatsächlich unsere ehemalige Gang-Chefin verschwommen vor mir. Mit der Hand macht sie Zeichen, dass ich ihr folgen soll. Etwas tiefer unter uns bemerke ich jetzt Lichter. Und während meine Augen sich an die grüne Finsternis gewöhnen, bildet sich der knallgelbe bauchige Körper eines U-Bootes heraus. Wir schwimmen darauf zu, mit kräftigen Arm- und Beinzügen, aber wir kommen nicht näher, denn ein Sog hat uns erfasst, der uns in die Gegenrichtung zieht. Weg von dem U-Boot und hin zu der Ruinenstadt, die sich über uns aufbäumt. Sehen kann ich das nicht, aber ich weiß es natürlich, und sicher wird sie gleich über uns zusammenstürzen. Da kommt das Boot auf uns zugeschossen und dreht sich dabei. Das Heck wird sichtbar und eine offene Einstiegsluke, aus der ein dickes Seil herauspendelt. Gülcan schnappt es sich und ich greife ihre andere Hand und so zieht sie uns beide in die Luke hinein, die in einen winzigen Raum mündet. Eine Schleuse. Die ist etwas eng für zwei Personen, aber uns fehlt die Zeit, um nacheinander in das Boot einzusteigen. Gülcan schließt die runde Klappe über uns, dreht sie fest und betätigt einen Hebel. Daraufhin beginnt das Wasser abzulaufen. Es sinkt auf die Höhe meiner Nase herab und dann auf die Höhe meiner Schultern und ich ziehe prustend die Amphibles aus dem Mund und schnappe nach Luft. Dann drücke ich Gülcan an mich. Im nächsten Moment werden wir gegen die Wand gepresst, weil das Boot einen abrupten Schwenk gemacht hat und eine scharfe Kurve fährt, weg von der versinkenden Insel.
Als der Rest des Wassers zwischen unseren Füßen in einem Abfluss verschwindet, zieht Gülcan an einem zweiten Hebel. Eine Tür öffnet sich und wir taumeln ins Innere des Bootes. Wir sind klatschnass und außer Puste, aber wenigstens weder ertrunken noch zerquetscht.
Das Boot besteht nur aus einer einzigen großen Kammer. Im vorderen Teil ist eine Art Cockpit mit Holo-Monitor und Mikrofon für Sprachsteuerung, mit etlichen Knöpfen und Hebeln und einem Kommandosessel. Darin sitzt Elondra, die sich anscheinend sehr auf unseren Kurs konzentrieren muss und uns gar nicht beachtet. Der hintere Teil des Bootes besteht aus einem richtigen Wohnbereich mit kleiner Küche, Essecke, Sofa und vier Schlafplätzen unter einem breiten Panoramafenster. Dort wartet Uddi mit besorgter Mine auf uns.
»Ahoj, Wilhelm«, ruft er. »Das war knapp.«
»Ich korrigiere dich ungern«, knurrt Elondra von vorn, ohne sich umzudrehen. »Aber es war nicht knapp, es ist knapp.«
Durch das Fenster sehe ich Trümmerteile herumwirbeln.
»Ist Blutfinger jetzt komplett durchgeknallt?«, keucht Gülcan und schüttelt ihre nassen grünen Haare aus. Wassertropfen fliegen durch den Raum.
»Ich glaub, das war keine Absicht«, sage ich. »Der wollte mir mit seiner Rakete nur Angst machen. Jetzt versenkt er die ganze Insel, dieser Zeozwei-Idiot.«
Auf dem metallenen Boden bilden sich große Pfützen um uns herum, aber das ist nicht unser Hauptproblem, wie mir scheint.
Eine Computerstimme sagt: »Wir haben vollen Schub!«
»Reicht nicht«, erwidert Elondra, »wir brauchen mehr Energie, um von hier wegzukommen.«
»Warst du die ganze Zeit hier auf Nieuw Rotterdam?«, fragt mich Uddi. »Warum hast du nicht auf Gülcans Nachrichten reagiert? Wir haben uns so krass Sorgen gemacht!«
Elondra fragt: »Kannst du irgendwas abschalten, um die Energie auf den Antrieb umzuleiten?«
Sie meint anscheinend den Bordcomputer.
Uddi fragt: »Warum sagst du nichts?«
Er meint anscheinend mich.
»Ja«, antwortet die Computerstimme höflich auf Elondras Frage, »du kannst das Licht ausschalten, die Temperaturregelung und die Sauerstoffzufuhr.«
»Ich … es tut mir leid«, sage ich zu Uddi.
Ich sehe anhand der Umrisse draußen vor dem Fenster, dass wir uns rückwärts bewegen statt vorwärts. Die abgebrochene Hälfte der künstlichen Insel, die jetzt senkrecht aufragt, beginnt wieder zurückzukippen. Dadurch strömt das Wasser unaufhaltsam zur Unterseite und der Sog zieht unser Boot einfach mit.
Elondra kommandiert: »Schalte alles aus und leite alle Energie auf den Antrieb um.«
»Ich leite die Energie auf den Antrieb um«, meldet die Stimme.
Augenblicklich erlöschen sämtliche Lichter und wir halten instinktiv die Luft an. Was eigentlich Quatsch ist, denn noch haben wir ja genug Luft hier im Innenraum, die wir erst einmal verbrauchen können. Also atmen wir nach einem Moment weiter, aber die Gesichter der anderen, die ich jetzt im Dunkeln nur noch schemenhaft sehen kann, entspannen sich trotzdem nicht. Meines vermutlich auch nicht. Denn das ganze Schiff brummt und vibriert, aber wir bewegen uns nicht vom Fleck.
»Zeozwei!«, schimpft Elondra. »Es reicht immer noch nicht.«
»Keine Sorge«, meldet die Computerstimme. »Der Sauerstoff im Innenraum reicht für dreizehn Stunden, neun Minuten und zweiunddrei …«
»Hey«, ruft Elondra dazwischen. »Können wir dich eigentlich auch abschalten?«
»Selbstverständlich«, antwortet der Computer, »ich bin ja nur eine KI.«
Der letzte Satz klang einen Hauch beleidigt, habe ich den Eindruck.
»Dann gib mir die manuelle Steuerung und schalte dich ab«, befiehlt Elondra.
»Ich wollte nur helfen«, sagt der Computer. »Bitte entschuldige, wenn meine Bemerkung unpassend war. Manuelle Steuerung ist freigegeben. Ich gehe jetzt offline und stelle meine Energie dem Antrieb zur Verfügung.«
»Danke«, seufzt Elondra und macht sich an den Hebeln zu schaffen. Jetzt dreht sie sich doch mal zu uns um und ruft: »Ich geh auf einen Zickzack-Kurs. Haltet euch fest! Ahoj, Wilhelm, übrigens.«
»Will«, murmle ich und schnappe genau wie Gülcan und Uddi nach einer Haltestange, die unter der Decke verläuft.
Keine Ahnung, was Elondra da macht und woher sie das eigentlich kann oder wieso die drei überhaupt mit einem U-Boot unterwegs sind. Die Vibrationen werden heftiger und auf einmal bewegen wir uns tatsächlich vorwärts. Das Schiff ruckt mal nach rechts und mal nach links wie ein flinker Fisch und nimmt dabei immer mehr Fahrt auf, bis Elondra plötzlich ruft: »Vorsicht, Zusammenstoß!«
Der Holo-Monitor ist zwar offline, aber es gibt ein altes Radar, auf dem ich jetzt erkenne, dass wir gleich mit einem großen Etwas kollidieren werden, das uns entgegenschlingert.
Dann rumst es auch schon und ich werde gegen Uddi geworfen und wir beide prallen gegen Gülcan, mit der wir zu dritt auf einem der Betten niedergehen.
Ein schleifendes Geräusch von Metall auf Metall ertönt, das mir Zahnschmerzen macht.
»Ist das ein Teil von der Stadt?«, fragt Gülcan und reckt den Hals, um aus dem Panoramafenster sehen zu können.
»Nein«, erwidert Elondra mit Blick auf das Radar. »Ich glaube eher, das war Blutfingers Schiff. Es ist vermutlich in der Flutwelle gekentert und sinkt und wir sind mit ihm zusammengestoßen.«
»Sind wir beschädigt?«, will ich wissen.
»Weiß nicht«, meint Elondra, »da müssten wir den Computer fragen, aber den hab ich ja schlafen geschickt.«
Gülcan, Uddi und ich rappeln uns auf.
Uddi fragt: »Was meinst du mit Will? Nennst du dich jetzt nicht mehr Willhelm?«
Ich würde ja antworten, aber niemand könnte mich hören, denn plötzlich nähert sich ein dumpfes Dröhnen, es schwillt an und hüllt uns ein, und um uns herum grollt und rumpelt und kocht und blubbert das Meer. Wir sehen es nicht, aber wir wissen trotzdem, dass jetzt gerade die vordere Hälfte der Geisterstadt in sich zusammenbricht und im Meer versinkt. Unser Boot schlingert und zittert und rappelt, das Sofa rutscht über den Boden hin und her und der Esstisch macht Hüpfer, und obwohl mehr als genug Sauerstoff vorhanden ist, halte ich jetzt doch die Luft an. Aber das Boot wird schneller und der Lärm entfernt sich allmählich.
»Ich hole die KI zurück«, sagt Elondra und drückt einen Knopf.
»Willkommen«, meldet sich der Computer freundlich. »Unser Status: Wir erreichen 35 Knoten Geschwindigkeit, Kurs Ost Nordost 62 Komma drei Grad. Beschädigungen der Außenhülle vierten und fünften Grades ohne Relevanz für die Betriebsfähigkeit.«
»Was will er uns sagen?«, fragt Gülcan.
»Bloß ’n Lackschaden«, übersetzt Elondra. An den Computer gewandt fragt sie: »Und das Blutfinger-Schiff? Kannst du die Besatzung orten? Haben sie überlebt?«
»Ich empfange Lebenszeichen von allen«, berichtet die Stimme. »Die Küstenwache ist unterwegs, um sie aufzugreifen.«
»Na, dann dürfen sie wohl wieder in den Knast gehen«, meint Gülcan zufrieden. »Hoffentlich bleiben sie diesmal länger drin.«
»Nelli hat uns immer davor gewarnt, dass so was passieren wird«, murmelt Uddi. »Dass jemand versucht, eine von uns zu entführen und Lösegeld zu erpressen.«
»Nelli ist Millionen Kilometer weit weg«, knurre ich. »Die kann uns auch nicht helfen.«
»Soll ich Nelli Winter kontaktieren?«, fragt der Computer. »Ihr solltet angesichts der Lage dringend eine erwachsene Person …«
»Negativ«, unterbricht Elondra ihn knapp. »Kontaktiere niemanden. Geh einfach auf Autopilotin und fahre uns ein bisschen herum, wir müssen hier erst mal reden.«
»Check, ich übernehme die Steuerung«, meldet der Computer.
Endlich steht Elondra auf und kommt rüber zum Essbereich, wobei sie sich ein wenig bücken muss, um nicht an die Decke zu stoßen. Obwohl ich immer noch klatschnass bin, umarmt sie mich herzlich und davon wird mir tatsächlich warm. Uddi, der sich schon früher immer um Verletzungen aller Art gekümmert hat, untersucht die Schrammen, die die Trümmerteile der Drohne an meinem Ohr und meinem Ellbogen hinterlassen haben. Aber das sind nur kleine Kratzer, er streicht Wundsalbe darauf und fertig. Wir hocken uns alle um den kleinen Esstisch und dann sind drei Augenpaare auf mich gerichtet.
»Erzähl schon«, sagt Uddi. »Warum bist du einfach so verschwunden, ohne dich zu melden?«
»Warum habt ihr ein U-Boot?«, frage ich zurück.
»Nee, nee. Du zuerst«, widerspricht Elondra.
Also erzähle ich. Davon, wie sehr mich das Berühmtsein ankotzt. Wie wenig mir das viele Geld bedeutet. Diese abartig unfassbare Summe von zweihundert Millionen Euro dafür, dass wir den Future Boost nicht für uns behalten, sondern ihn der Menschheit geschenkt haben.
Und ich meine – Menschheit. Was für ein gigantisches Wort, oder? Wir sind historisch geworden, wir werden in den Geschichtsbüchern stehen. Man wird Straßen und Schulen nach uns benennen. Wie willst du als Teenager mit so was klarkommen?
Es war natürlich gut, dass wir den allergrößten Teil des Geldes an die Twenty-two Hope Foundation gegeben haben. Nelli arbeitet schon seit vielen Jahren für diese Stiftung. Das Geld ist für Projekte auf dem ganzen Planeten Erde: für das Anpflanzen neuer Wälder, für die Aufbereitung von Wasser zu sauberem Trinkwasser, für den Bau von Schulen, solche Sachen. Aber danach war immer noch extrem viel Geld übrig, also haben wir uns einen Gutshof gekauft, auf dem wir alle zusammen wohnen konnten. Für ein paar Wochen war das echt super. Aber dann wollte Jonto ein Versprechen einlösen, das er seinem Freund Kuni auf dem Mars gegeben hatte: Als Jonto von dort weggeschickt wurde, hatte er Kuni versprochen, auf der Erde reich zu werden und dann auf den Mars zurückzukehren. Seine Mutter Nelli wollte mit – sie hat ja auch mal ein paar Jahre dort oben gelebt und außerdem wollte sie Jonto natürlich nicht allein lassen. Und Solnik hat sich ihnen angeschlossen, denn der hat schon als kleiner Junge immer vom Mars geträumt.
»Und kurz darauf seid ihr drei einfach so zu eurer Weltreise aufgebrochen«, sage ich. Das sollte eigentlich gar nicht vorwurfsvoll klingen, tut es aber doch. »Und plötzlich saß ich da ganz allein mit meiner Oma auf dem großen einsamen Bauernhof.«
»Ich hab tausend Mal gefragt, ob ihr mitkommen wollt«, entgegnet Gülcan.
»Weiß ich ja. Aber Sharon wollte halt nicht. Und ich wollte sie nicht allein lassen. Und stellt euch mal vor, ich wäre mit euch gekommen und sie wäre dort ohne mich zurückgeblieben.« Ich muss schlucken. »Dann wäre sie ganz allein gestorben.«
»Was ist denn genau passiert?«, fragt Uddi vorsichtig. »In deiner allerletzten Nachricht hattest du nur kurz geschrieben, dass sie friedlich eingeschlafen wäre. Und als wir dir geantwortet haben, da warst du schon offline.«
»Na ja, genau so war es. Sie war nicht mal krank oder so, nur einfach sehr alt. In den letzten Tagen vor ihrem Tod hat sie eigentlich nur noch über früher geredet, über die Zeit der Klimakriege. Und über die Zeit davor, als ihr Heimatland im Meer versunken ist. Sie kam ja aus Holland.« Die anderen nicken. »Sie hat viel über ihre Kindheit geredet und mir zum hundertsten Mal erzählt, wie sich damals Leute auf den Straßen festgeklebt haben, um für den Schutz des Klimas zu protestieren. Sie hat zu mir gesagt, dass die Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts viele Fehler gemacht hätten, und dass wir es im zweiundzwanzigsten Jahrhundert besser machen müssten.«
Für einen Moment schweigen wir.
Dann sagt Gülcan: »Sie war eine sehr kluge Frau. Ich hab sie echt gern gehabt. Und es tut mir leid, dass wir nicht da waren, um dir beizustehen.«
Uddi fragt vorsichtig: »Und warum … nennst du dich jetzt Will? Und nicht mehr Wilhelm?«
»Die …« Ich zögere. »Also die Vorstellung, dass Milliarden Menschen auf der Welt meinen Namen kennen, das hat mich …« Plötzlich muss ich lachen. »Wisst ihr was? Bisher hat mich noch niemand so genannt, außer meinem Kommunikator. Denn ich hab ja seitdem mit niemandem richtig gesprochen.«
Die anderen lachen auch. Gülcan meint: »Will gefällt mir. Klingt irgendwie erwachsener.«
Und Uddi sagt: »Das mit dem Berühmtsein ist echt krass. Darum haben wir uns die Maleficent besorgt, so heißt das Boot.«
»Seid ihr nicht mit einem Solarsegler losgefahren?«, frage ich.
»Den haben wir in Amerika verkauft«, erzählt Elondra. »Als uns sogar dort die Menschen erkannt haben. Mit dem Geld konnten wir die Maleficent bezahlen.«
»Sie ist hübsch«, sage ich.
»Und wahnsinnig praktisch, um versunkene Städte unter Wasser zu besuchen«, ergänzt Uddi. »Wir waren in Venedig, in Shanghai, San Francisco …«
»Habt ihr denn schon einen Plan, wie es weitergehen soll?«, frage ich. »Seit Oma Sharon tot ist, habt ihr auch keine Erziehungsberechtigte mehr. Jedenfalls nicht auf der Erde.«
»Nee, aber auf dem Mars«, widerspricht Gülcan. »Nelli hat uns gesagt, wir sollen vorübergehend in irgend so ein Jugenddorf ziehen, das der Stiftung gehört – also bis Elondra achtzehn ist, dann kann sie das Sorgerecht für uns andere übernehmen.«
»Falls ich darauf überhaupt Bock habe«, wirft Elondra ein und grinst. »Ich möchte nicht die Mutti für euch drei spielen.«
»Inzwischen ist aber der Kontakt zu Nelli abgebrochen«, fährt Gülcan fort. »Keine Ahnung, ob du davon gehört hast.«
»Dass Jonto und Solnik verhaftet wurden? Doch. Seit gestern.« Ich berichte kurz, wie ich wegen des Feuerwerks meinen Kommi angeschaltet und die Holo-TV-Sendung gesehen habe, und dann die Nachrichten von Jonto abgehört habe.
»Wegen Silvester?« Uddi lacht. »Da haben wir ja Glück gehabt, dass dich das Feuerwerk aufgeschreckt hat. Sonst wärst du immer noch offline und wir hätten keine Ahnung, wo du steckst. Wie nennst du eigentlich das neue Jahr?«
»Hä?«, mache ich.
»Na, sagst du einundzwanzighundert oder sagst du zweitausendeinhundert?«, fragt er. »Manche Leute sagen auch bloß einundzwanzig. Und wieder andere einfach nur zwo-eins-null-null.«
»Ist mir eigentlich egal«, brumme ich und schaue an die Decke. »Welches Jahr ist es eigentlich auf dem Mars?«
»Auf dem Mars ist es das Jahr 245«, antwortet Gülcan und verzieht das Gesicht. »Die Marsmenschen halten sich für dermaßen besonders, dass sie sogar ’ne eigene Zeitrechnung haben. Machen auf überlegene Zivilisation, aber dann werfen sie einfach zwei Kids in den Knast. Da haben sie mal wieder ihr wahres Gesicht gezeigt.«