Boy from Mars – Auf der Jagd nach der Wahrheit - Christian Linker - E-Book
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Boy from Mars – Auf der Jagd nach der Wahrheit E-Book

Christian Linker

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Beschreibung

Rückkehr in eine fremde Welt Als sein Großvater stirbt, muss der dreizehnjährige Jonto schweren Herzens die Marskolonie verlassen, die bisher sein Zuhause war. Er soll jetzt auf der Erde wohnen, die er nur aus Geschichten kennt – bei einer Mutter, die er seit zwölf Jahren nicht gesehen hat. Im Gepäck hat er das Tagebuch seines Opas voll kryptischer Andeutungen auf eine spektakuläre Erfindung. Angeblich soll es eine Superwaffe zum Schutz des Klimas sein. Neugierig begeben er und seine neuen Freunde sich auf die Suche danach. Doch sie sind nicht die Einzigen, die Interesse am Supergenerator haben … - Ein aufregender Abenteuer- und Zukunftsroman - Für Kinder ab 10 Jahren, die sich für Fridays for Future-Themen interessieren - Mit allem, was Leserinnen und Leser in dem Alter toll finden: Jagd nach einer geheimen Superwaffe, Freundschaft und Telefonieren via Hologramm Ebenfalls erschienen bei dtv:  Back to Mars – Kampf um die Freiheit, RaumZeit, Doppelpoker, Blitzlichtgewitter, Absolut am Limit, Stadt der Wölfe, Dschihad Calling, Der Schuss, Scriptkid – Erpresst im Darknet, Und dann weiß jeder, was ihr getan habt, Influence – Fehler im System, Toxische Macht, Y-Game – Sie stecken alle mit drin

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Seitenzahl: 343

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Über das Buch

Ein Junge vom Mars, der sich auf der Erde zurechtfinden muss.

Eine Gang von Außenseitern.

Und die abenteuerliche Suche nach einer mächtigen Erfindung.

 

Im Jahr 2099 lebt der dreizehnjährige Jonto mit seinem Großvater auf dem Mars. Als Opa Ben stirbt, muss Jonto sich auf den Weg zur Erde machen, zu seiner Mutter, die er seit zwölf Jahren nicht gesehen hat. Im Gepäck hat er das Tagebuch seines Opas voll rätselhafter Andeutungen auf eine spektakuläre Erfindung. Angeblich soll es eine Superwaffe zum Schutz des Klimas sein. Neugierig begeben Jonto und seine neuen Freunde sich auf die Suche danach. Doch sie sind nicht die Einzigen, die Interesse am Supergenerator haben …

 

Ein aufregend und warmherzig erzählter Abenteuerroman

 

Von Christian Linker ist bei dtv außerdem lieferbar:

RaumZeit

Das Heldenprojekt

Blitzlichtgewitter

Stadt der Wölfe

Dschihad Calling

Der Schuss

Scriptkid – Erpresst im Darknet

Und dann weiß jeder, was ihr getan habt

Influence – Fehler im System

Toxische Macht

Y-Game – Sie stecken alle mit drin

Awakened (als »C.L. Born«)

Christian Linker

Boy from Mars

Auf der Jagd nach der Wahrheit

1

Ich nehme meinen Großvater aus dem Kästchen und halte ihn gegen das orangegelbe Tageslicht. Er funkelt in allen Farben des Regenbogens.

»So was von verrückt«, murmle ich. »Vor drei Tagen war er noch ein Mensch in einem Krankenhausbett und jetzt ist er ein Diamant.«

»Darf ich auch mal?«, fragt Kuni.

Ich gebe ihm den Diamanten und er hält ihn ebenfalls gegen das Licht, das durch das große Bullauge in sein Zimmer fällt. Wir sitzen, an die runde Wand gelehnt, auf dem weichen Teppichboden.

»Als meine Oma letztes Jahr gestorben ist und sich in einen Diamanten verwandelt hat, kam mir das auch total verrückt vor«, sagt Kuni. »Aber immer noch besser, als die Toten einfach in eine Kiste zu stecken und im Boden zu vergraben.«

»Bäh«, sage ich, »wer macht denn so was?«

»Auf der Erde machen sie das so«, sagt Kuni. »Nicht überall, aber in vielen Gegenden.«

Ich schüttle mich. Wieder mal wird mir klar, dass ich nicht das Geringste über die Erde weiß. Anders als Kuni, der schwärmt total für unseren Nachbarplaneten. Unser Heimatplanet, sagt er immer. Obwohl er genau wie ich auf dem Mars geboren worden ist. So wie alle Kids hier. Niemand in unserem Alter ist jemals woanders gewesen. Sein ganzes Zimmer ist voll mit Karten von der Erde und Bildern von Wäldern und Meeresstränden, von Elefanten und Adlern, von Menschen, die ohne Raumanzug über grüne Wiesen laufen. Die Erde ist sein Traum.

Für mich ist sie ein Albtraum.

Denn höchstwahrscheinlich muss ich demnächst dorthin umziehen.

Auf einen komplett kaputten Planeten, der von rückständigen, ungebildeten, gewalttätigen Idioten bevölkert wird. Einen Ort mit nichts als Kriegen, Krankheiten, kriminellen Elementen.

Kuni legt den Edelstein zurück in meine Hand und sagt: »Das mit deinem Großvater ist total traurig. Aber irgendwie ist es auch ein bisschen cool, dass du jetzt bei uns wohnst. Also … fürs Erste.«

»Ja.« Ich nicke. Er hat recht, mir gefällt das auch. Leider ist es nur für kurze Zeit.

Ich habe nie darüber nachgedacht, was geschieht, wenn Opa Ben mal stirbt. Klar, er war schon alt, fast neunzig Erdenjahre, aber trotzdem ziemlich fit, und überhaupt – darüber machst du dir doch keine Gedanken. Bis es dann passiert.

Vor drei Tagen, mitten im Schulunterricht, piepte mein Kommunikator. Kuni und ich waren gerade dabei, in einem der großen Glaskästen mit einem künstlichen Gewitter zu experimentieren.

»Deinem Großvater geht es nicht gut. Du sollst rasch zur Krankenstation kommen!«

Kuni durfte mich begleiten.

Von der Schule aus gesehen liegt die Krankenstation am anderen Ende von Kolonie 7, aber mit der neuen Magnetbahn brauchten wir weniger als zehn Minuten. Eine Krankenschwester brachte uns zu Ben. Er sah klein aus in seinem Bett, vielleicht war aber auch einfach das Bett viel zu groß. Über ihm schwebten holografische Zahlen in der Luft, sie zeigten seinen Herzschlag und Blutdruck und solche Sachen an. Die Zahlen verstand ich nicht, aber ich verstand das Gesicht der Krankenschwester.

»Dein Großvater hat vor zwei Stunden den Notruf betätigt, weil ihm plötzlich ganz übel war«, flüsterte die junge Frau und beugte sich etwas übertrieben tief zu mir herab, als wäre sie eine Riesin und ich ein Zwerg. »Dein Großvater ist sehr, sehr alt«, flüsterte sie, »und manchmal funktioniert ein alter Körper einfach nicht mehr, weil er – nun ja – ganz müde ist von den vielen, vielen Lebensjahren. Und dann kann es ganz plötzlich passieren, dass er …« Sie schluckte.

Ich hatte direkt begriffen, dass Ben starb. Jedenfalls im Kopf hatte ich es begriffen, aber richtig spüren konnte ich es nicht. Da waren keine Tränen, nur ein hartes Kratzen in meinem Hals.

Er schlug die Augen auf und lächelte mich schwach an. Kuni setzte sich auf einen Besucherstuhl und ich hockte mich auf Bens Bettkante und nahm seine Hand in meine, wie er es oft andersherum getan hatte.

»Es tut mir leid«, sagte er mit schwacher Stimme, »ich hätte gern noch mehr Zeit mit dir verbracht. Aber ich muss wohl jetzt gehen. Dabei wollte ich dir eines Tages …« Er richtete seinen Blick aus dem großen Fenster. Man hatte von hier eine fantastische Sicht auf die schroffen Klippen des mächtigen Olympus Mons, wo er und ich so oft zusammen Urlaub gemacht hatten und am Rand des Kraters entlanggewandert waren. Jenseits des gewaltigen Bergmassivs verlor sich der orangegelbe Himmel im Gewirbel eines entfernten Staubsturms.

»Ich wollte dir doch eines Tages noch meine Erfindung zeigen«, krächzte er und starrte auf den gigantischen Berg. »Der … Vulkan …«

»Ja, Opa«, flüsterte ich. »Das weiß ich doch.« Tausende Male hatte er mir gesagt, dass wir am Fuße des größten Vulkans im ganzen Sonnensystem leben.

»Vulkan …« Er hustete, dann riss er seinen Blick endlich von dem Bergmassiv los und sah mich direkt an. Ich fasste seine Hand fester, als könnte ich ihn dadurch länger bei mir behalten.

»Sag deiner Mutter …«, hauchte er.

Ich beugte mich tief zu ihm hinab, wie die Krankenschwester es bei mir vorhin getan hatte. Plötzlich war ich der Riese und das machte mir Angst. Ich hielt mein Ohr ganz dicht an seinen Mund. Aber da kam nichts mehr. Nicht mal mehr Atem.

Ich drückte seine Hand noch fester, ich drückte, so fest ich konnte, aber das brachte ihn nicht zurück.

Die Krankenschwester neben mir weinte ein bisschen und auch Kuni schniefte, nur ich nicht. Überhaupt nicht. Mein Hals war so heiß und trocken, dass sicher alle Tränen verdampften, bevor sie mir aus den Augen fließen konnten.

Godwin holte uns an der Krankenstation ab. Godwin ist Kunis Vater und für ihn war sofort klar gewesen, dass ich erst mal bei ihnen wohnen kann, also bei Kunis Familie. Kuni hat einen Vater, eine Mutter und drei Geschwister. Bei denen ist immer total was los. Ich hingegen hatte ja bloß meinen Großvater gehabt. Ziemlich exotisch, denn ich kenne außer mir niemanden in meinem Alter, der nicht bei seinen Eltern wohnt, Vater und Mutter halt. Auf der Erde hingegen soll es ganz anders sein, da gibt es Leute, die entweder nur einen Vater oder nur eine Mutter haben oder zwei Väter oder zwei Mütter plus einen Vater oder was weiß ich. Die Erde ist der Planet des Chaos, glaube ich. Und irgendwo auf diesem chaotischen Planeten habe ich tatsächlich auch einen Elternteil. Meine Mutter.

Kunis Eltern und Geschwister waren jedenfalls wahnsinnig nett zu mir. Zum Abendessen gab es echte Spaghetti und sie haben noch draußen an der Oberfläche Gravity Dunk mit mir gespielt, damit ich auf andere Gedanken kam. Aber als ich irgendwann auf der Besuchermatratze neben Kunis Bett lag, allein mit meinen Erinnerungen, musste ich doch plötzlich losheulen. Die Tränen waren gar nicht verdampft gewesen, sie waren nur aufgestaut wie das Wasser im großen Ozeanbecken von Kolonie 5, und jetzt kamen sie alle auf einmal.

Kuni hat mich getröstet. Also – er tat nichts, sagte nichts, hat mich nur angeguckt und mir gezeigt, dass ich nicht allein bin. Irgendwann waren alle Tränen weggeweint und das fühlte sich gut an. Statt zu schlafen, haben wir einfach die ganze Nacht Wald der Einhörner gezockt.

Aber am nächsten Tag tauchte diese Person von der Jugend-Agentur auf und hat mir erklärt, dass sie mich auf die Erde schicken werden. Paragraf 713, Artikel 3, Absatz a) der Interkolonialen Einwohner-Vermögensrichtlinie – kurz gesagt: Opa Ben war komplett pleite und hat mir offenbar nur eine Handvoll Marsdollar hinterlassen. Warum das aber ein Grund sein soll, mich wegzuschicken, ist mir ein Rätsel. Ich hatte mein Leben lang gedacht, dass Geld auf dem Mars gar keine Rolle spielt. Anders als auf der Erde, wo man angeblich sogar für Essen und Kleidung bezahlen muss, brauchte ich auf dem Mars niemals Geld für irgendetwas. Und jetzt das. Der totale Schock.

Ich sagte zu ihr, ich könnte doch Geld bezahlen, wenn ich groß bin und vielleicht einen guten Job habe. Aber sie hat nur geantwortet, von wegen Paragraf soundso und dass ich es eines Tages verstehen würde, blabla.

»Jonto?« Kuni stupst mich sachte an. »Alles klar bei dir, Bro?«

»Ja. War nur in Gedanken.«

Ich lege den Diamanten, der mein Großvater war, auf den Tisch.

Dann sage ich: »Ich schnall es immer noch nicht. Werden sie mich wirklich fortschicken?«

»Vielleicht ist es nur ein Irrtum«, meint Kuni. Dann fragt er unvermittelt: »Sag mal, was meinte dein Opa mit der Erfindung?«

»Was?«

»Er hat gesagt, er wollte dir eines Tages seine Erfindung zeigen.«

»Ach, das.« Ich winkte ab. »Als ich klein war, hat Ben mir oft Geschichten von früher erzählt, von der Erde, wo er als Ingenieur gearbeitet hat. Da ging es manchmal um eine sagenhafte Maschine, die er angeblich im Haus von seinen eigenen Eltern versteckt hat. Die nannte er Future Boost. Eine Superwaffe gegen die Klimakatastrophe. Ich glaub ehrlich gesagt nicht, dass es diese Erfindung in echt gibt.«

»Hm«, murmelte Kuni bloß. »Und weiß deine Mutter nichts darüber?«

»Keine Ahnung«, sagte ich.

Ich kenne sie ja kaum. Nur aus dem Holo-Chat. Sie meldet sich immer an meinem Geburtstag. Oder an Weihnachten. Oder manchmal zwischendurch. Und natürlich vorgestern, nachdem Ben gestorben war. Oder jetzt gleich, in ein paar Minuten. Da sind wir verabredet.

Dann blinzle ich kurz, um das Display der Digi-Linse in meinem rechten Auge zu aktivieren. Ich denke an das Wort »Uhrzeit« und wie aus dem Nichts tauchen die Ziffern vor mir auf. Ich habe die Linse jetzt schon seit über einem halben Jahr, aber ich finde es trotzdem noch immer jedes Mal total cool, sie zu benutzen.

»Viertel vor vier«, sage ich. »Meine Mutter wird sich gleich melden.«

»Oh Mann, ich beneide dich um das Teil.« Kuni seufzt.

Er bekommt nämlich seine Digi-Linse erst zum siebten Geburtstag. Ich hab meine schon zum sechsten gekriegt. Für meine Mutter bin ich allerdings nicht sechseinhalb, sondern dreizehn, weil Erdenjahre doppelt so schnell vergehen wie die Jahre bei uns auf dem Mars. Wenn wir hier sieben werden, wären wir auf der Erde vierzehn und das ist das Alter, wo die meisten Marskinder von ihren Eltern ihre Digi-Linse bekommen. Dass Ben mir meine schon früher geschenkt hat, kommt mir im Nachhinein vor, als hätte er es geahnt – dass er an meinem siebten Geburtstag nicht mehr da sein würde.

»Und ich beneide dich echt ein bisschen dafür, dass du vielleicht zur Erde reisen wirst«, schiebt Kuni noch nach.

»Von mir aus können wir gerne tauschen«, brumme ich, blinzle wieder und die Ziffern verschwinden.

»Ja, das wäre cool«, sagt er, aber dann wiegt er den Kopf hin und her und meint: »Obwohl, weiß nicht. Das alles hier zurückzulassen …«

Witzig, sein Zimmer besteht ja fast nur aus Erdenkrempel, da würde sich gar nicht viel verändern. Aber er meint natürlich nicht das Zimmer. Sondern seine Familie. Und unsere Freunde, die Schule, Gravity Dunk, was man auf der Erde gar nicht spielen kann, weil da die Schwerkraft viel zu stark ist.

Ich stehe auf und betrachte die Poster an den Wänden. »Ich würde auch mal gerne durch solche Wälder laufen«, gebe ich zu. »Oder auf so einer Wiese liegen. Aber die Bilder sind doch aus der Zeit vor den Klimakriegen. Wenn wir in der Schule Holos von der Erde gucken, sieht man da eigentlich fast nie was Grünes.«

»Immerhin kannst du dort einfach so draußen rumgehen«, entgegnet Kuni, »nicht wie hier.« Er nickt zum Bullauge, das die ganze gewölbte Außenwand seines Zimmers einnimmt. Die Wohnung liegt im dritten Stock und wir sehen unten auf dem Sportplatz an der Oberfläche ein paar Leute in ihren Raumanzügen spielen. Sie passen sich den Ball zu und versenken ihn mit riesigen Sprüngen im Korb. »Okay«, sagt Kuni, »die meisten Erdenmenschen sind leider Idioten, das ist ja bekannt. Aber dafür kannst du einfach die Luft atmen. Aus der Atmosphäre. Und so lange draußen bleiben, wie du willst, ohne Angst vor der Weltraumstrahlung. Du könntest sogar die ganze Nacht über im Freien bleiben, im Sommer zum Beispiel. Du könntest dich ins Gras legen und die Sterne anschauen.«

»Von hier sieht man die Sterne viel besser«, knurre ich. »Unsere dünne Atmosphäre ist doch perfekt dafür. Wer will schon im Freien atmen, wenn er dafür niemals so gut die Sterne sehen kann?«

»Na – ich«, sagt er. »Wobei …« Er schüttelt den Kopf. »Ich kann es immer noch nicht verstehen, dass sie dich einfach so fortschicken. Das kann doch nicht am Geld liegen.«

»Mann, ich versteh es doch genauso wenig«, schimpfe ich und erschrecke mich fast darüber, wie laut ich geworden bin. »Das ist die totale Scheiße«, flüstere ich nach einer Weile.

»Aber stell dir mal vor«, sagt Kuni und grinst plötzlich. »Wenn Geld wirklich der Grund dafür ist, dass du den Mars verlassen sollst, dann musst du auf der Erde unbedingt diesen Future Boost finden. Ich meine – so eine Superwaffe sollte doch sehr wertvoll sein, oder nicht? Du kannst sie verkaufen und wirst vielleicht Millionär! Und dann kommst du einfach wieder zurück!«

Er strahlt mich an. Ganz automatisch strahle ich zurück. Das fühlt sich schön an.

Etwas brummt an meinem Handgelenk. Mein Kommunikator. Dann piept er.

»Deine Mutter«, sagt Kuni. Sein Strahlen ist weg. Meins auch.

Sie meldet sich immer zu früh. Wirklich jedes Mal, wenn wir zum Holo-Chat verabredet sind. Weil nämlich nicht nur das Jahr auf der Erde kürzer ist als bei uns, sondern auch die Tage kürzer sind. Ein paar Minuten nur, aber trotzdem könnte Mama sich ja bitte mal merken, dass 16 Uhr in Neuhamburg, Zentropa, Erde, nicht gleich 16 Uhr in Kolonie 7, Tharsis-Region, Mars ist. Sondern immer ein paar Minuten davor. Typisch Erdenmenschen. Keine Präzision. Ben hat immer gesagt, wenn wir hier auf dem Mars so schlampig wären wie die auf der Erde, dann hätten die Kolonien noch nicht mal das erste Jahr überlebt. Immer hundert Prozent, Jonto. Das war so ein Spruch von ihm, den ich nie ganz verstanden hab. Nur auf hundert Prozent ist Verlass. Neunundneunzig ist zu wenig.

Kuni steht auf und sagt: »Ich lass euch mal allein.«

Kurz will ich ihn aufhalten. Es wäre mir fast lieber, wenn ich nicht unter vier Augen mit meiner Mutter sprechen müsste. Aber er kann mir natürlich auch nicht helfen. Ich muss da alleine durch. Ich bin sechseinhalb, nach Erdenjahren sogar dreizehn, ich komm klar.

Kuni geht hinaus und schließt die Tür seines Zimmers. Ich nehme den Kommi vom Handgelenk und lege ihn auf den Boden, dann gehe ich zwei, drei Schritte rückwärts.

»Chat annehmen«, sage ich.

Im nächsten Augenblick steht sie vor mir im Zimmer. Ihre kurzen schwarzen Haare, die breiten Schultern, die Arme und Beine sind von dem leuchtend blauen Rand umgeben, woran du erkennst, dass sie nicht physisch hier ist. Sondern als Hologramm. Im Hintergrund, direkt im Bullauge von Kunis Zimmer, sehe ich ihre Küche. Es ist, als würden Kunis Zimmer und die Küche meiner Mutter ineinander übergehen.

»Hey, Großer.« Sie lächelt mir zu.

»Hallo, Nelli«, sage ich.

Sie presst ganz kurz die Lippen aufeinander. Ich weiß, dass sie sich freuen würde, wenn ich Mama zu ihr sage. Aber wozu soll sie sich freuen? Ich freu mich ja schließlich auch nicht.

»Wie geht es dir heute?«, fragt sie.

»Okay«, sage ich.

»Besser als vorgestern?«

»Okay«, wiederhole ich.

Wir haben zuletzt vor zwei Tagen gesprochen. Da war Ben schon seit einem Tag tot. Als er starb, war sie nicht erreichbar gewesen, sondern, wie so oft, irgendwo draußen im Land unterwegs. Angeblich ist die Netzabdeckung auf der Erde noch immer nicht wieder so stabil, wie sie es wohl vor den Klimakriegen war.

»Ist er das?« Meine Mutter deutet auf den Diamanten, den ich vorhin auf den Tisch gelegt habe.

Ich nicke.

»Darf ich ihn sehen?«

»Okay.« Ich hebe den Edelstein hoch und halte ihn ihr hin.

Sie kommt näher und streckt die Hand aus. Fast sieht es so aus, als könnte sie ihn berühren. Aber ihre Hand besteht ja nur aus Lichtteilchen. In Wahrheit ist sie über hundert Millionen Kilometer weit weg.

»Du musst wahnsinnig traurig sein«, sagt sie. »Ich wünschte so sehr, ich wäre jetzt bei dir, um dich zu trösten.«

»Okay«, wiederhole ich. Dann kommt mir eine Frage in den Sinn. »Bist du denn eigentlich nicht traurig?«

»Doch, natürlich. Ben war schließlich mein Vater. Auch wenn wir uns nicht so gut verstanden haben … Hat er eigentlich noch irgendwas gesagt?«

»Wie – gesagt?«

»Na ja – über mich?«

Ich zögere. Sag deiner Mutter … Das waren seine letzten Worte.

»Nee«, antworte ich schließlich. Ist irgendwie gelogen, andererseits aber auch nicht. »Was hätte er denn über dich sagen können?«

»Ach, hm.« Sie zuckt mit den Schultern. Dann räuspert sie sich und sagt: »Ich habe nochmals mit der Jugend-Agentur von Kolonie 7 gesprochen und …« Sie stockt.

Für einen klitzekleinen Augenblick schöpfe ich Hoffnung.

»Ja? Und?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Sie machen keine Ausnahme.«

Die Hoffnung ist weg. Als hätte in meinem Kopf jemand eine Kerze ausgepustet. Ich weiß natürlich nicht, wie sich das anfühlt, eine Kerze auszupusten, denn bei uns gibt es keine Kerzen, überhaupt kein offenes Feuer, aus Sicherheitsgründen. Aber meine Fantasie reicht aus, um mir eine Kerze vorzustellen.

Nicht aber, um mir vorzustellen, auf diesem hässlichen Planeten zu leben. Selbst wenn es da Kerzen gibt.

»Das muss ein Irrtum sein«, beharre ich. »Das wird sich alles aufklären.« Ich will gar nicht wie ein trotziges Kind klingen, tu es aber.

»Da wird sich nichts mehr aufklären«, erwidert sie und schaut mich so eindringlich an, wie es über hundert Millionen Kilometer hinweg möglich ist. »Das weißt du, oder?«

»Ja, aber ich versteh es nicht. Niemand erklärt es mir richtig.«

»Kann ich mir vorstellen …«, sagt sie. »Im Grunde ist es auch gar nicht zu verstehen. Aber ich werde versuchen, es dir zu erklären, wenn du erst mal bei mir bist.« Wieder streckt sie die Hand nach mir aus. »Die Umstellung hier auf der Erde wird nicht leicht für dich werden. Da will ich dir nichts vormachen. Das Leben auf dem Mars ist sehr behütet. Aber wir wären endlich zusammen, du und ich. Und du wirst bestimmt viele neue Freundinnen finden. Es gibt hier viel mehr Leute in deinem Alter als auf dem Mars.«

Mit Freundinnen meint sie nicht nur Mädchen. Sondern Mädchen und Jungen. Es ist bloß so, dass sie auf der Erde in der weiblichen Form sprechen, wenn mehrere Geschlechter gemeint sind. Auch das ist doch völlig idiotisch.

»Und außerdem …«, fährt Nelli fort. »Warte mal.«

Sie nimmt ihren Kommunikator vom Küchentisch und geht damit zu dem sechseckigen Fenster. Die flimmernden Umrisse von Nellis Küche schweben auf mich zu. Dann sehe ich, wie sie das Fenster öffnet.

Sie öffnet es!

Klar, wo du die Luft von draußen atmen kannst, kannst du auch das Fenster aufmachen. Sie hält den Kommi nach draußen und plötzlich blendet mich das Sonnenlicht. Es kommt mir vor, als würde ich drei Meter hoch über einer Straße schweben. Häuser gegenüber, Menschen laufen vorbei. Eine Frau winkt mir zu. Also sie winkt natürlich meiner Mutter, nicht mir, aber es sieht so aus, als würde sie mir winken. Die Frau trägt keinen Raumanzug. Ein paar Kinder cruisen auf ihren einrädrigen Solarbikes vorbei. Auch ohne Raumanzug. Ich muss an Kunis Worte von vorhin denken. Dass die meisten Erdenmenschen Idioten sind. Aber immerhin Idioten, die sich ohne Raumanzug bewegen können.

Also – ich bin jetzt nicht überrascht, ich weiß natürlich, dass sie auf der Erde keine Raumanzüge tragen, wenn sie nach draußen gehen. Jedes Kind weiß das. Aber es ist in diesem Augenblick zum Greifen nah. Nicht nur, weil ich es direkt vor mir sehe. Sondern weil es mein Schicksal ist.

Nelli zieht die Hand mit dem Kommi zurück und das holografische Bild in Kunis Zimmer schwankt dabei so stark, dass ich mich aus Reflex an der Wand festhalte, um nicht umzufallen. Kurz fliegt das Bild über die Dächer der gegenüberliegenden Häuser. Irgendwo ganz in der Nähe dieser Stadt ist auch Ben aufgewachsen. Irgendwo da ist vielleicht seine Erfindung versteckt. Die geheime Superwaffe gegen den Klimawandel. Der Future Boost.

Kunis Vorschlag kommt mir auf einmal total logisch und super simpel vor. Ich finde den Future Boost, werde Millionär und kehre zurück.

»Okay«, sage ich. »Okay …« Ich drücke fest den Diamanten, den ich immer noch in der Hand halte. So fest, dass es wehtut. »Dann sehen wir uns demnächst.«

2

In drei Monaten öffnet sich das Startfenster. So nennen sie das. Es ist aber kein echtes Fenster, sondern ein bestimmter Zeitraum im Kalender. Du kannst ja nicht einfach so vom Mars zur Erde fliegen, wann dir danach ist, selbst wenn du mega reich wärst und den allerteuersten Flug bezahlen könntest. Mars und Erde drehen sich beide um die Sonne und der Mars braucht dafür doppelt so lange wie die Erde. Darum sind sich beide Planeten manchmal nah und dann wieder fern, wenn etwa die Erde von hier aus gesehen auf der anderen Seite der Sonne steht. Jetzt gerade nähern wir uns wieder an und darum starten bald die nächsten Flüge zur Erde. Und andersrum natürlich auch. Die Raumschiffe transportieren Waren hin und her, zum Beispiel bringen sie Lithiumsalz vom Mars auf die Erde, das die Erdenmenschen zur Herstellung von Batterien und Akkus brauchen. Umgekehrt kommen Sachen von der Erde zu uns, die hier begehrt sind: vor allem Erde. Ja, klingt komisch, Erde von der Erde; also Pflanzenerde. Davon haben wir hier immer noch zu wenig. Oder solche Sachen wie echte Spaghetti. Die kriegt man auf dem Mars einfach nie so hin wie die auf ihrem blauen Planeten da oben.

Nur Passagiere werden fast nie transportiert.

Ben hat mal erzählt, dass er damals, als mit der Letzten Wellenoch mal fast hunderttausend Menschen von der Erde zum Mars ausgewandert sind, acht Monate unterwegs war. Und dass die Reise extrem anstrengend und extrem teuer gewesen ist. Da war meine Mutter gerade dreizehn gewesen. Es ist ewig her. Die heutigen Raumschiffe brauchen nur noch fünf Wochen für die Reise, aber extrem teuer und extrem anstrengend ist es immer noch. Seit der Letzten Welle ist die Einwanderung auf den Mars nicht mehr erlaubt und umgekehrt möchte fast niemand vom Mars auf die Erde umziehen. Nur ein paar Geschäftsleute fliegen manchmal für ihren Job hin und her. Und es gibt einige wenige Superreiche, die machen sogar Urlaub auf der Erde. Die können sich das leisten.

Ich natürlich nicht. Meinen Flug bezahlt die Regierung von Kolonie 7. Sie nennen das Familienzusammenführung. Das klingt freundlich und von Geld ist in diesem Wort keine Rede. Ich glaube, Kunis Eltern haben bei der Jugend-Agentur gefragt, ob sie mich nicht einfach adoptieren können. So richtig hat Godwin es mir nicht erklärt, er hat bloß rumgedruckst, jedenfalls bleibt die Behörde ganz hart bei ihrer Entscheidung, Paragraf Dingsbums und so weiter. Anders als die Reichen und die Geschäftsleute habe ich eine Reise ohne Rückflugticket.

Bis es so weit ist, kann ich immerhin bei Kunis Familie wohnen. Es ist die schönste und auch die traurigste Zeit meines Lebens. Schön ist es, weil ich bei meinem Freund lebe und Teil seiner großen Familie bin. Das gefällt mir sehr, Ben und ich waren ja immer nur zu zweit. Gleichzeitig vermisse ich ihn total.

Wenn wir nach der Schule rausgehen, Kuni und ich und die anderen, wenn wir in unseren Raumanzügen Gravity Dunk spielen, muss ich an ihn denken. Er hat oft dabeigesessen und uns zugesehen. Und zwischendurch hat er ganz versonnen in den orangegelben Himmel geschaut. Und manchmal hat er dann auf dem Nachhauseweg nach oben gezeigt und zu mir gesagt: »Irgendwo dort oben liegt die Erde. Ein blaues Juwel. Nichts im Sonnensystem ist mit ihrer Schönheit vergleichbar.«

Mal ehrlich – alte Leute erzählen gern komisches Zeug, nicht alles musst du verstehen oder ernst nehmen. Aber jetzt nach seinem Tod ist mir klar geworden, dass er krasses Heimweh hatte. Wobei eine Rückkehr zur Erde für ihn anscheinend nie infrage kam.

»Da ist alles komplett kaputt«, hat er bloß immer gesagt. »Die Leute auf der Erde verstehen einfach nicht, dass man seinen Planeten gut behandeln muss.«

Warum Nelli trotzdem unbedingt dorthin zurückwollte, ist mir nach wie vor schleierhaft. Sie hat zwar oft gesagt, dass jetzt auf der Erde alles besser wird. Dass die Erdenmenschen inzwischen wüssten, was sie falsch gemacht haben, und sie den Planeten neu aufbauen wollten. Und dass sie, also meine Mutter, dabei helfen würde. Das sei ihre Arbeit, ihr Job. Aber richtig kapiert habe ich es nie. Und ich glaube auch nicht, dass das der wirkliche Grund war, weshalb sie mich verlassen hat.

Wie gesagt, es ist die schönste und gleichzeitig traurigste Zeit. Mir fehlt nicht nur Ben. Vor allem macht mich traurig, dass ich jetzt, wo sich bald das Startfenster für den Flug öffnet, alles zum letzten Mal mache. Zum letzten Mal in die Schule gehen, zum letzten Mal Gravity Dunk spielen, zum letzten Mal mit Kuni Wald der Einhörner zocken, ein allerletztes Mal mit Kunis Familie zusammensitzen.

Kunis Eltern haben eine richtige Abschiedsparty für mich organisiert mit einem Berg Soja-Muffins und Chia-Limonade bis zum Abwinken. Und am Ende, bevor wir ins Bett gehen, nimmt mich Godwin beiseite und sagt: »Es gibt da etwas, das ich dir geben möchte.«

Er hält mir eine kleine, blaue Glasscheibe hin. Dünn und nur wenig größer als meine Hand. Ein altes Datenpad, wie wir es manchmal noch in der Schule benutzen. Auf dem du Bilder, Games und Holos speichern kannst. Ich schaue ihn fragend an.

»Vor einiger Zeit hat Ben uns das für dich gegeben«, sagt Godwin. »Er meinte, wir sollten es aufbewahren für den Fall, dass er stirbt, bevor du volljährig wirst. Und falls du dann auf die Erde ziehst.«

»Hä?«, mache ich und nehme das Teil hoch. »Aber er ist vor drei Monaten gestorben. Warum – ich meine: Warum gibst du es mir erst heute?«

»Ich weiß es auch nicht so genau.« Godwin zuckt mit den Schultern. »Ben sagte, wir sollten es dir erst vor deinem Abflug geben. Damit du es auf der Reise lesen könntest.«

»Lesen?« Ich verstehe überhaupt nichts. »Was ist denn da überhaupt drauf?«

»Ich hab natürlich nicht reingeschaut«, sagt Godwin. »Es ist nur für dich bestimmt.«

Ich gehe ein paar Schritte in den Flur, um allein zu sein. Dann tippe ich auf das Pad und es erwacht mit einem matten Leuchten. Datenordner tauchen auf. Darin Hunderte Bilder. Auf den ersten Blick sehen sie alle gleich aus. Alles Fotos von … Seiten eines alten Notizbuches. Ein Buch aus richtigem Papier, mit richtiger Tinte vollgeschrieben.

Ich tippe eines der Bilder an und vergrößere es mit zwei Fingern. So hat man vor langer Zeit auf der Erde geschrieben. Ich kann nicht ein einziges Wort entziffern, ich sehe nichts weiter als endlose Reihen aus tintenblauen Spaghetti-Formen.

Mit einem Blinzeln aktiviere ich die Digi-Linse. Aber die Buchstaben verwandeln sich nicht. Stattdessen erscheint ein Hinweis: Du hast keine App zum Lesen von altirdischer Schreibschrift.

Na toll.

Ich werde mich noch gedulden müssen, um Bens Hinterlassenschaften studieren zu können. Auf der Erde sollte ich wohl jemanden finden, der das lesen kann. Beziehungsweise eine App dafür.

Ich stecke das Pad in meine Reisetasche, die fertig gepackt in Kunis Zimmer steht, und blinzle die Linse wieder aus.

An Schlaf ist natürlich überhaupt nicht zu denken. Ich bin mega aufgeregt. Ich merke, dass die Aufregung jetzt sogar stärker ist als die Traurigkeit.

Das Bullauge von Kunis Zimmer ist so groß und weit gewölbt, dass wir uns mit unseren Decken und Kopfkissen in die Halbkugel legen und nach draußen schauen können. Die Sonne ist längst untergegangen und wir gucken zu, wie allmählich das trübe lila Dämmerungslicht schwindet, bis es endlich richtig dunkel ist.

Zum letzten Mal sehe ich unsere beiden Monde am Himmel. Phobos groß und rund, Deimos eher als kleinen Punkt. Dass er ein Mond ist, erkennst du nur, wenn du es weißt.

»Da ist der kleine Punkt«, sagt Kuni. Aber ich weiß, dass er jetzt nicht vom Marsmond Deimos spricht.

Denn da ist noch ein anderer Punkt. Er ist auf den ersten Blick nicht von den vielen Sternen am Himmel zu unterscheiden, aber in der Schule haben wir gelernt, auf den zweiten, noch kleineren Punkt zu achten, der direkt daneben zu sehen ist. Die beiden Punkte sind die Erde und ihr Mond.

»Ist es nicht verrückt?«, überlege ich. »Im ganzen Sonnensystem gibt es über zweihundert Monde und alle haben einen Namen. Nur der Erdmond hat keinen. Der heißt einfach nur Mond.«

»Na ja, weil die Menschen früher gar nicht wussten, dass es überhaupt noch andere Planeten gibt«, antwortet Kuni, »und dass die anderen Planeten auch Monde haben, sogar mehrere.«

»Warte mal!«, rufe ich und springe auf.

»Was ist?«

Mir ist das Datenpad wieder eingefallen. Wenn hier irgendeiner Bens Schrift entziffern kann, dann Kuni. Ich hole es aus meiner Reisetasche und krieche zurück unter die Decke in unserem Bullaugenbett.

»Was ist das?« Kuni grinst mich an. »Willst du mir was zum Einschlafen vorlesen?«

»Godwin hat es mir vorhin gegeben. Es ist von meinem Großvater.« Ich öffne die Bilder und halte sie ihm hin. »Altirdische Schreibschrift«, sage ich. »Das habt ihr doch mal durchgenommen, oder? In eurer Zentropa-AG in der Schule.«

»Hm«, macht er und beugt sich darüber. »Gar nicht so einfach. Aber ich versuche es mal.«

Er tippt auf eines der Bilder und vergrößert es.

In der ersten Zeile stehen Zahlen.

»Ha, ganz einfach«, sagt Kuni. »Das heißt: 5.1.2024.«

»Toll, du Genie. Das hab ich auch erkannt. Und dann?«

»Dann … warte … ja, genau. Da steht: Gestern sind wir aus dem Skiurlaub zurückgekommen. Max und ich haben einen Snowboard-Kurs gemacht, das war extrem cool.«

»Was ist ein Skiurlaub?«, frage ich.

»Skier, das waren so Bretter«, sagt Kuni, »da konnte man sich draufstellen und einen Berg runterfahren.«

»Wie kann man denn auf Brettern fahren?«

»Auf Schnee«, sagt Kuni. »Also mehr so rutschen, aber man nannte es fahren.«

»Ach, klar.« Ich nicke. »Als Ben ein Kind war, gab es ja noch Schnee in Zentropa. Das heißt … Hey, weißt du, was das ist? Ein Tagebuch!« Ich streiche über das Pad, als könnte ich meinen Großvater dadurch berühren. »Aber warum hat er mir nie davon erzählt? Er hätte mir das doch längst mal zeigen können …«

»Vielleicht …« Kuni holt tief Luft. »Vielleicht, weil es ein Geheimnis enthält? Vielleicht, weil er darin etwas über seine Erfindung schreibt? Den Future Boost, mit dem man alle Probleme der Klimakatastrophe lösen kann?«

»Ach, Kuni.« Ich seufze tief. »Das war doch nur ausgedacht.«

»Und wenn nicht?«, beharrt er.

»Also, nur mal angenommen, das Ding gäbe es wirklich«, sage ich. »Rein theoretisch. Warum zur Hölle hat er es dann versteckt? Anstatt es zu benutzen und die Welt zu retten? Das ergibt doch absolut keinen Sinn.«

Kuni schweigt.

Dann schüttelt er den Kopf und fragt: »Angenommen, rein theoretisch, es gibt keinen Future Boost und gab auch nie einen. Warum sollte dein Opa sich dann so etwas ausgedacht haben? Er war doch kein Angeber und erst recht kein Spinner.«

»Nee, … das war er nicht.«

Inzwischen weiß ich nicht mehr, was ich darüber denken soll.

Bis zum Morgengrauen wischen Kuni und ich durch die Seiten des Tagebuchs. Wir sehen, wie sich die Schrift verändert, wie aus dem Kind Ben ein Teenager wird und später ein Erwachsener. Mein Großvater schreibt viel über seine Arbeit. Er hat am Solar Radiation Management mitgearbeitet – ein Projekt, bei dem die Erdatmosphäre mit Schwefel aufgeladen wurde, um weniger Sonnenlicht durchzulassen und so die Erde abzukühlen. Doch dadurch ist das Klima nur immer noch chaotischer und gefährlicher geworden. Das war ganz sicher keine nützliche Superwaffe, außer man wäre ein Superschurke. Und erfunden hatte das nicht mein Opa alleine, sondern eine Firma namens True Energy Trust, kurz TET, für die er damals gearbeitet hat. Jedes Marskind kennt diese Dinge aus dem Geschichtsunterricht. TET hat erst versucht die Energieversorgung auf der Erde zu retten. Und als das nicht klappte, hat der Konzern im Auftrag der damals wichtigsten Länder die Kolonisierung des Mars organisiert. Der damalige Boss von TET wurde sogar der erste Präsident der Kolonien.

Hm. Vielleicht hat Opa Ben es sich einfach nur total gewünscht, dass er so eine Superwaffe erfunden hätte … Einen richtigen Hinweis entdecken wir jedenfalls nicht.

Als Godwin an die Tür klopft, um uns zu wecken, sind wir immer noch wach, todmüde und kein bisschen schlauer. Dafür rutscht mir mein Herz in die Hose.

Es ist so weit.

Ein letztes Mal drücke ich Kuni und die anderen. Dann begleitet mich eine Frau von der Raumfahrt-Agentur in der Magnetbahn zum Raumhafen von Kolonie 3. Vor der Schleuse zum Raumschiff wird noch einmal alles abgehakt: die ganzen medizinischen Untersuchungen, die ich in den letzten drei Monaten machen musste, jede Menge Impfungen gegen Krankheiten, die es nur auf der Erde gibt und hier nicht. Außerdem checken sie nochmals mein Herz, meine Lunge … alles in Ordnung, klar.

Ich lerne die Offizierin Silenka kennen, meine Betreuerin während des Fluges. Wir werden fünf Minderjährige an Bord sein. Kinder und Jugendliche aus verschiedenen Kolonien, die alle auf die Erde auswandern, zu irgendwelchen Familienangehörigen. Silenka wird sich während des Fluges um uns kümmern. Ein bisschen Schulunterricht mit uns machen, aber auch Spiele und vor allem Sport. Wir müssen mehr Muskeln aufbauen, unsere Lungen trainieren und so weiter, damit wir mit der Schwerkraft und dem Druck der Atmosphäre auf der Erde klarkommen. Ich finde Silenka sympathisch und auch die anderen Leute, und mir geht durch den Kopf, dass ich hier auf dem Mars niemals allein gewesen bin. Immer gab es jemanden, der für mich da war. Ich erinnere mich an Nellis Worte von neulich: Das Leben auf dem Mars ist sehr behütet.

Ich hab nicht genau verstanden, wie sie das meinte. Aber zu meiner eigenen Überraschung merke ich, dass ich Lust habe, unbehütet zu sein. Es kribbelt überall in mir. Reisefieber. Plötzlich bin ich ganz und gar bereit für das Abenteuer. Rasch klopfe ich zur Sicherheit auf meine linke Jackentasche. Darin trage ich Ben – den Diamanten – und sein Tagebuch.

Das Raumschiff ist groß wie ein Hochhaus. Ein Hochhaus, an dem acht riesige Solarsegel befestigt sind. Im Bauch spüre ich die Kraft der Antriebsraketen. Der gewaltige Schub, mit dem wir aus dem roten Staub abheben, drückt mich fest in meinen Sitz.

Dann aber hört es plötzlich auf. Silenka erlaubt uns die Gurte zu öffnen. Wir wollen aufspringen und zum Fenster laufen, aber unsere Füße nicht sind mehr auf dem Boden!

Wohoo, schwerelos!

Wir sind im All.

Wir johlen und lachen und rudern mit den Armen. Doch als wir zum Fenster schweben und hinausschauen, werden wir still.

Da unten liegt der rote Planet, unser Zuhause. Drum herum ist alles schwarz. Schwarzer Weltraum. Der Mars wird kleiner, schrumpft zusammen, und mein Herz fühlt sich in diesem Augenblick genauso an.

Ich bin jetzt hinter dem orangegelben Himmel!

Bevor ich mir noch allzu viele Gedanken machen kann, ruft Silenka uns fünf zusammen. Es gibt Snacks und Kennenlernspiele und dann gleich eine Trainingseinheit. Radfahren, Laufband, Gewichte.

So vergeht der erste Tag an Bord ohne Langeweile, allerdings auch mit wenig Freizeit. Und die nächsten Tage ebenso. Während am Fenster die kleine rote Kugel immer winziger wird, folgen wir hier drin dem Rhythmus aus Essen, Sport, Schule, ein bisschen Holo-Zocken, wieder Sport, wieder Essen, Schlafen. Schule heißt, dass wir uns auf die Erde vorbereiten. Alles Mögliche über die Sitten und Gebräuche dort lernen, was man isst (Fleisch zu essen ist seit ein paar Jahren verboten, also kein Unterschied zum Mars), wie man sich fortbewegt und welche Gebiete gesperrt sind (weil durch die Klimakriege verseucht).

Für den Unterricht installieren wir auch ein paar neue Apps auf unseren Digi-Linsen. Eine davon kann sogar Schreibschrift lesen. Aber sie funktioniert nicht gut – oder Bens Schrift ist einfach zu krakelig. Jedenfalls lässt die App beim Umwandeln der Buchstaben ganze Wörter und manchmal halbe Sätze aus. Ich kämpfe mich trotzdem hindurch und verbringe den größten Teil meiner Freizeit damit, Bens Aufzeichnungen zu entziffern. In dem, was er als Erwachsener notiert hat, geht es hauptsächlich um seine Arbeit, seine Kollegen, seine Meetings und darum, dass dieses Solar Radiation Management, also Schwefel in die Atmosphäre zu pusten, am Ende einfach nichts bringt.

Seltsamerweise deutet überhaupt nichts darauf hin, dass mein Opa oder seine Eltern irgendwie besonders reich gewesen wären. Obwohl jedes Kind weiß, dass nur die allerreichsten Leute es sich überhaupt leisten konnten, auf den Mars auszuwandern. Seine Kindheit scheint ziemlich durchschnittlich gewesen zu sein. In seinen frühen Einträgen, als Teenager, schreibt er, wie er freitags mit seinen Freunden (er schreibt: Freund*innen) gegen die Klimakatastrophe demonstriert hat. Offenbar hat es nicht geholfen.

Tja.

Und die geheime Erfindung?

Manchmal kommt es mir vor, als wären indirekte Hinweise in dem Puzzle aus Wörtern verborgen. Wobei meine App leider nach wie vor viele Stellen nicht entziffern kann. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass es da um eine Superwaffe geht. Sondern eher um Milena. Die Mutter meiner Mutter. Meine Großmutter, die lange vor meiner Geburt gestorben ist und über die Ben nur selten gesprochen hat.

Doch je weiter ich in seinem Tagebuch lese, desto öfter finde ich kleine Andeutungen, was den mysteriösen Future Boost betrifft. An einer Stelle schreibt mein Großvater zum Beispiel, dass sein Boss nicht wollte, dass er an der SACHE arbeitet. Dann wieder, dass er ES endlich fertig kriegen muss. Und am Ende landet ES einfach in der Garage von seinem Elternhaus. In einem kleinen Ort mit dem lustigen Namen Buxtehude. Wenn ich die Schriftzeichen richtig entziffere.

Und dieses Elternhaus kommt mit jedem Tag 1,57 Millionen Kilometer näher.

3

Nach vier Wochen ist die Erde im Fenster so groß wie ein Tennisball. Aber nur ein halber, als wäre er in der Mitte durchgeschnitten. Die eine Hälfte wird von der Sonne beschienen, die andere ist dunkel.

Trotzdem erkennen wir jetzt, dass sie nicht einfach nur blau ist. Sie sieht vielmehr wie eine Murmel aus. Wir sehen Ozeane und Kontinente und darüber ziehen Wolkenbänder hinweg.

Schließlich erreichen wir den Erdmond. Den Mond ohne Namen. Dort landet unser Raumschiff und wir Minderjährigen verabschieden uns von Silenka und voneinander. Wir steigen in verschiedene kleine Shuttles um, die uns und die Fracht an verschiedene Orte auf der Erde bringen. Ich soll bei Rhein-Ruhr-City landen. Dort wird Nelli mich abholen. Die letzte Etappe der Reise ist die aufregendste. Beim Eintritt in die Erdatmosphäre werden wir krass durchgerüttelt und dann wird es plötzlich hell.

Noch nie habe ich so helles Licht gesehen. Es flutet unser Shuttle durch die Fenster bis in die letzte Ritze. Die Crew verteilt Sonnenbrillen, aber ich setze meine nicht auf. Ich will ganz und gar in dem Licht baden. Auf dem Mars ist das Tageslicht meistens gelb oder orange, morgens und abends ist es lila oder blau. Natürlich hatten wir auch Lampen, Leuchten und superhelle Lichtstrahler. Aber noch nie habe ich so ein Licht wie das hier gesehen, es ist – ja, Mann, einfach blendend.

Unter uns liegt das Meer. Es sieht wirklich aus wie auf den Postern in Kunis Zimmer. Dann kommt Land in Sicht. Das wiederum sieht leider ganz anders aus als auf den Postern. Nicht grün, sondern braun. Und weiß, als jetzt Gebäude auftauchen. Ich habe gehört, dass seit ein paar Jahren auf der Erde nur noch Häuser aus weißem Material oder mit weißem Anstrich erlaubt sind. Und dass auch Straßen und Plätze mit weißer Farbe angestrichen sind, weil sich dann in den Städten weniger Hitze staut. Diese Stadt da unten jedenfalls könnte wohl mega viel Hitze stauen, denn sie ist gigantisch. Nicht nur größer als alle Kolonien auf dem Mars zusammengenommen, sondern größer als alles, was ich mir bisher vorstellen konnte. Dreißig Millionen Menschen leben in RRC, Rhein-Ruhr-City. In ganz Zentropa sind es sogar knapp sechshundert Millionen. Einer davon steht jetzt irgendwo da unten am Raumhafen und will mich abholen.

Der Raumhafen liegt außerhalb der Stadt. Große weiße Hallen, breite weiße Landepisten, drum herum nur brauner Boden. Meine Digi-Linse meldet sich.

Willkommen im Metaverse-Netz der Erde. Bitte beachte: Die Netzabdeckung in Zentropa ist nicht durchgehend optimal, es kann zu Ausfällen kommen. Wir bitten um Verständnis.

Der Druck beim Abbremsen des Shuttles ist extrem. Seltsamerweise lässt er nicht nach, als das Shuttle endlich zum Stillstand kommt. Ich öffne meinen Gurt und will aufstehen. Klappt aber nicht. Ich stütze mich mit beiden Händen an den Armlehnen hoch und stemme mich ächzend aus dem Sitz, als wäre ich hundert Jahre alt und drei Tonnen schwer. Meine Tasche fühlt sich an, als hätte jemand ein paar Felsbrocken reingeschmuggelt.

Die Tür des Shuttles öffnet sich. Zusammen mit der kleinen Crew und den wenigen anderen Passagieren trete ich hinaus.

An die Luft.