Balladen - Juliane Dube - E-Book

Balladen E-Book

Juliane Dube

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  • Herausgeber: UTB
  • Kategorie: Fachliteratur
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Die Ballade ist als Unterrichtsgegenstand fester Bestandteil des Literaturunterrichts. Dieser Band hilft dabei, ihr Potential für die Initiierung literarischer Lernprozesse neu zu entdecken. Dazu werden kanonische und jüngere Balladen in einem themenorientierten und mediensensiblen Unterricht aufbereitet. Er umfasst fachwissenschaftliche und fachdidaktische Grundlagen sowie konkrete praktische Unterrichtsvorschläge. Damit gibt er Lehramtsstudierenden, Referendar:innen und Lehrenden des Faches Deutsch Einblick in aktuelle fachliche Diskussionen um die Ballade und deren Vermittlung. utb+: Begleitend zum Buch erhalten Leser:innen Arbeitsblätter und Handouts als digitales Bonusmaterial, die bei der Behandlung der im Buch vorgestellten Unterrichtsangebote in der Schule verwendet werden können. Erhältlich über utb.de.

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Seitenzahl: 468

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Juliane Dube / Carolin Führer

Balladen

Didaktische Grundlagen und Unterrichtspraxis  2., überarbeitete und erweiterte Auflage

Narr Francke Attempto Verlag · Tübingen

Dr. Juliane Dube ist wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Literatur- und Lesedidaktik an der Bergischen Universität Wuppertal. Neben ihrer Arbeit als Lehrerin lehrte und forschte sie in der Vergangenheit als Vertretungsprofessorin an der Universität Duisburg-Essen sowie als wissenschaftliche Koordinatorin eines Forschungs- und Nachwuchskollegs an der TU Dortmund.

 

Prof. Dr. Carolin Führer lehrt und forscht im Fachbereich Deutsche Philologie/Didaktik der deutschen Literatur an der Eberhard Karls Universität Tübingen.

 

2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2023

1. Auflage 2020

 

DOI: https://www.doi.org/10.36198/9783838561066

 

© 2023 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung

 

utb-Nr. 5389

ISBN 978-3-8252-6106-1 (Print)

ISBN 978-3-8463-6106-1 (ePub)

Inhalt

1 Einführung: Balladen im Deutschunterricht2 Fachwissenschaftliche Grundlagen2.1 Begriff der Ballade und gattungsbezogene Definitionsschwierigkeiten2.2 Geschichte der Ballade3 Didaktische Entwicklungen und Theorie(n)3.1 Didaktische Inszenierungen im WandelSind Balladen eine Frage des Alters?3.2 Zum Stand der aktuellen fachdidaktischen DiskussionZwischen Gegenstands- und Kompetenzorientierung4 Balladendidaktische Grundlagen4.1 Balladen auswählenGrundschule: Lesemotivation und literarische Bildung verbindenSekundarstufe I: Textbegriff erweitern und Auswahlkriterien kombinierenLesen – mit Texten und Medien umgehen4.2 Sich über Balladen austauschen4.3 Balladen analysieren und interpretieren4.4 Balladen werten4.5 Balladentexte in Bild und TonBalladen grafisch erleben4.6 Balladen in neuen medialen FormatenBalladen im MedienverbundSchreiben4.7 Referierendes und argumentatives Schreiben zu BalladenBalladeninhalte referieren4.8 Operatives Schreiben zu Balladen4.9 Textproduktives Schreiben zu BalladenSprechen und Zuhören4.10 Balladen vorlesen und vortragen4.11 Balladen auswendig lernenVor dem AuswendiglernenSprache und Sprachgebrauch untersuchen4.12 Balladen übersetzen4.13 Sprache in Balladen reflektierenHistorischer Sprachwandel in Balladen5 Themenorientierte Unterrichtsvorschläge5.1 Freundschaft und Liebe5.1.1 Freundschaft hat viele Gesichter – „Die Freunde“ von Wilhelm Busch5.1.2 Vom Abhandenkommen der Liebe – „Sachliche Romanze“ von Erich Kästner5.1.3 Geschwisterneid, ein tödliches Motiv: „Die zwei Schwestern“5.1.4 Grenzenloser Liebesbeweis – „Der Handschuh“ von Friedrich Schiller5.1.5 Bedingungslose Freundschaft über den Tod hinaus – „Die Bürgschaft“ von Friedrich Schiller5.2 Unheimliches und Geisterhaftes5.2.1 Die Semantik und Ästhetik des Bösen in der Literatur – „Gespenster“ von Alexander S. Puschkin5.2.2 Selbstüberschätzung als Entwicklungsmoment – „Der Zauberlehrling“ von Johann Wolfgang von Goethe5.2.3 Von Leben und Tod – „Der Erlkönig“ von Johann Wolfgang von Goethe5.2.4 „O, schaurig“ – „Der Knabe im Moor“ von Annette von Droste-Hülshoff5.2.5 Poetische Wirkkraft rational kalkulierter Dichtung – „Der Rabe“ von Edgar Allan Poe5.2.6 Vergänglichkeit als Bestandteil des Lebens – „Toten-Tanz“ von Johann Wolfgang von Goethe, Rainer Maria Rilke und „Berliner Totentanz 1 + 2“ von Thomas Kling5.3 Schicksal, Selbstbestimmung und Bewährung5.3.1 Gewagte Sprünge in luftiger Höhe – „Die Ballade vom Seiltänzer Felix Fliegenbeil“ von Michael Ende 5.3.2 Ökologische Nachhaltigkeit – „Holger, die Waldfee“ von Lars Ruppel5.3.3 Zivilcourage auf hoher See – „Nis Randers“ von Otto Ernst5.3.4 Die übernatürliche Macht der Poesie – „Die Kraniche des Ibykus“ von Friedrich Schiller5.4 Geschichte, Gesellschafts- und Sozialkritik5.4.1 Dominium terrae – „Der kleine Vogelfänger“ von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben5.4.2 Wenn Frauen töten – „Ein modernes Weib“ von Maria Janitschek5.4.3 (Ohn-)macht gegenüber der Natur – „Die Brück’ am Tay“ von Theodor Fontane5.4.4 Gewalt und Religion – „Die Füße im Feuer“ von Conrad Ferdinand Meyer5.4.5 Nationalsozialismus und Folgen – „Und es war ein Tag“ von Nora Gomringer5.4.6 Gedankenfreiheit bis zum Tod – „Der Flüchtling“ von Fritz von UnruhRechtsnachweiseLiteraturverzeichnis

1Einführung: Balladen im Deutschunterricht

Juliane Dube und Carolin Führer
Abb. 1.1:

Illustration zu Goethes Ballade „Der Zauberlehrling“ von Ferdinand Barth (1842–1892).

Während Balladen in der gegenwärtigen Unterhaltungskultur eher mit romantischer Pop- und Rockmusik assoziiert werden, sind sie im schulischen Kontext untrennbar mit einer Reihe von Klassikern wie „Der Zauberlehrling“ (Abb. 1.1), „John Maynard“ oder „Der Handschuh“ und ihren unterschiedlichen künstlerischen Adaptionen verbunden. Balladen gehören zu den wenigen (traditionsreichen) Gegenständen im Deutschunterricht, die auch mit der Kompetenzorientierung z. T. noch explizite Benennung in den aktuellen Bildungsplänen von Klasse fünf bis Klasse 10 finden. Im Literaturunterricht zeigt sich wiederholt, dass ihre Epizität schnell Textzugänge schafft, aber unmarkierte Sprecherwechsel, die Rekonstruktion des Handlungsverlaufs, die Linearität der Handlung sowie die veraltete Sprache in Balladen älteren Datums die Schüler:innen auch immer wieder vor Herausforderungen stellen.

Das große Potenzial der Ballade, das angesichts einer vitalen Slamszene und der Gründung junger Verlage (z. B. Voland & Quist, kookbooks, Edition Azur) noch gewachsen ist, wird dabei jedoch, ggf. auch durch die mancherorts noch vereinzelt stattfindende „Verselbstständigung formaler Betrachtungen“ (Kammler 2009: 4) im Umgang mit Lyrik verkannt. Dabei sind die vermeintlichen Volksballaden sowie ihre vielseitigen Nachkommen (Romanze, Bänkelsang, Zeitungslied, Politsong etc.) mit Ausnahme der Kunstvariationen aus dem Bestreben heraus entstanden, Ereignisse vorzutragen, die für das Publikum von besonderem Interesse waren. Aus diesem Grunde sind die in Balladen behandelten Stoffe oft so vielseitig wie das Leben selbst und können es mit ihrem dramatischen Charakter „mühelos mit den bei Kindern so beliebten Grusel- und Abenteuergeschichten“ (Rathmann/Wildemann 2013: 1) aufnehmen. Insbesondere ihre Epizität (womit hier ein leicht fasslicher Erzählkern gemeint ist) erleichtert den Zugang zur Dichtung. Die Ballade wird also oft „genutzt, um an prägnanten Beispielen den ästhetischen Diskurs der jeweiligen Gegenwart oder Teile desselben problematisierend oder propagierend in die Poesie selbst hineinzuholen (…) Position zu beziehen, Reklamierbarkeit zu bestreiten, eigene Rechte und Möglichkeiten der Kunst im Kunstwerk zu behaupten“ (Laufhütte 2000: 627).

Die Vielzahl der Veröffentlichungen im Bilderbuchformat (vgl. hierzu den Balladenband von Kasper 2020 oder die Balladenausgaben des Kindermann Verlags) verweist darüber hinaus auf die Anschaulichkeit und den Bildreichtum der Balladen, die es leicht machen, „in die Geschichte einzusteigen und der Atmosphäre nachzuspüren“ (Franz 1987: 40). Mit ihrem unverwechselbaren Reim, Klang und Rhythmus schließen sie formal an (früh-)kindliche literarische Erfahrungen an und bieten aufgrund ihrer Leerstellen und damit verbundenen Spannungserzeugung genügend Raum für kindliche Vorstellungsbildung und Identifikation. Mit zunehmender geistiger und literarischer Lernreife eignen sie sich hervorragend als Mittel der Welterschließung und Ich-Findung (vgl. Spinner 1995). Und nicht zuletzt stellen Balladen durch ihre Symbol- und Konfliktstruktur sowie Kontext- und Epochenspezifiken einen anspruchsvollen Lerngegenstand bis in die Oberstufe dar. Die besonders in den Gattungsgrenzen feststellbare performative und (musikalische) Dimension dieser Texte macht sie in einer medialen Gesellschaft, in der Präsentation und Wirkung(-ssteuerung) zentrale Schlüsselfunktionen darstellen, zu einem interessanten literarischen Genre.

Angesichts einer sozial, sprachlich und kulturell heterogen zusammengesetzten Schülerschaft stellt sich der Band folgenden Aufgaben:

Balladen mit Blick auf ihr Potenzial für die Kompetenzvermittlung auszuwählen,

eine Auseinandersetzung mit Balladen in allen Jahrgängen der Sekundarstufe I+II anzuregen,

und dementsprechend didaktisch neu zu konturieren.

Damit will der Band das kulturelle Erbe einerseits erhalten und andererseits über die institutionelle Tradition hinausschauen.

 

Dem Anspruch folgend, didaktische Überlegungen auch fachwissenschaftlich verorten und begründen zu können, beschäftigt sich der erste, theoretische Abschnitt mit den Definitionsschwierigkeiten der Ballade.

Neben einer Einführung in theoretische (Kap. 2) und didaktische Grundlagen (Kap. 3 und 4) wurden eine Vielzahl von Balladen(-didaktisierungen) entlang der Prinzipien Analogie und Differenz für einen heterogenitätssensiblen und medienintegrativen Deutschunterricht zusammengestellt (Kapitel 5). Dabei folgen die ausgewählten didaktischen Analysen dem Ziel, Leser- bzw. Subjektorientierung in heterogenen Klassengemeinschaften mit der Frage nach der Sinnhaftigkeit des Textes und seiner spezifischen kulturellen und literarischen Verfasstheit zu verbinden. Ausgewählt wurden neben kanonischen Werken auch Beispiele aus der aktuellen kulturellen Praxis, z. B. in Form von populärer Musik und Performance-Lyrik. Die ausgewählten modernen und zeitgenössischen Balladen zeichnen sich dabei thematisch über die „Zunahme eines reflexiven Moments“ (Bogosavlevic/Woeseler, 2009: 6), z. T. über die Verhandlung der „Trivialität des Alltags“ (Piontek 1964) und formal über ihren Performance-​Charakter und das bewusste Herstellen von Intertextualitäten (vgl. Bogosavlevic/Woeseler 2009) aus. Die jeweiligen Unterrichtsimpulse für die Praxis wurden um ausgewählte literaturwissenschaftliche Diskurse zum jeweiligen Text ergänzt.

Angesichts der Bandbreite der literarischen Gattung stellte sich auch für die Konzeption und Textauswahl dieses Bandes die Frage nach der Gattungszuordnung der Ballade, die von den Autor:innen bisweilen als „Ur-Ei“ (Goethe 1821), aber auch als Erzählgedicht1 (vgl. Piontek 1964), als Gedicht, das dramatische Geschichten erzählt (Segebrecht 2012), oder als Gedicht, „das zeigt, wie jemand eine Grenze setzt, verteidigt oder überschreitet“ (Gaier 2019: 11), beschrieben wird. Neuere Balladenanthologien verzichten angesichts der Vielfältigkeit der Balladentypen daher teilweise auch komplett auf Ausführungen zur Gattungszuordnung.

Vor dem Hintergrund, dass die Beschreibung einer Gattung stets nur als eine „historisch bedingte Kommunikations- und Vermittlungsform“ fungiert und damit als eine historisch-variable bzw. epochenabhängige Größe (vgl. Trappen 2001: 267) verstanden werden muss, haben wir uns in der Erarbeitung dieses Bandes dazu entschieden, eine Sammlung von obligatorischen und fakultativen Merkmalen zur Ballade zusammenzustellen, die uns vor allem auch didaktisch ergiebig erschienen. Balladen sind danach literarische Texte, die in lyrisch gebundener Form ungewöhnliche, konflikthafte, bis ins Dramatische hinein gestaltete Begebenheiten mit exemplarischem Charakter und tragischem Ausgang aufgreifen, wodurch sie ein starkes emotionales Moment besitzen. Die in einem Akt zu erlesende Erzählung, in deren Zentrum wenige Figuren stehen, besitzt fiktionalen Charakter, wobei das Erzählte dennoch historisch verbürgt sein kann. Wiedergegeben wird es in linearen und einprägsamen Szenen und mit Rückgriff auf rhetorische Stilmittel. Weniger eindeutig scheint hingegen die Funktion des Erzählers, die Abgeschlossenheit der Begebenheit sowie die Verwendung fester Strukturen für Strophen, Reim und Metrum. Gleichfalls unzuverlässig findet sich am Ende der Ballade eine moralische Botschaft, die „uns nicht ‚belehren‘, sondern ‚rühren‘ soll“ (Loock 1964: 229). Ebenso unzuverlässig zeigt sich die Erzählzeit in der Ballade, die mal im Präteritum und mal im Präsens verfasst ist (Kap. 2.1).

Ausgehend von diesen mehr oder weniger distinkten Merkmalen zeichnen die ersten Kapitel die Entstehung und Entwicklung der Ballade nach, deren Bedeutung für die Literaturgeschichte nur von wenigen bestritten wird. Thematisiert werden das französische Tanzlied mit Refrain („balada“), sowie die spanische „Romance“ des 14./15. Jahrhunderts. Auch die „erzählenden Lieder im volkstümlichen Ton“ („walad“, „balad“) aus dem skandinavischen Sprachraum, die später den englischen „ballads“ und damit auch den deutschen „Volks“balladen als Vorlage dienten (vgl. Weißert 1993), werden aufgegriffen. Als besonders reiche Quellen für die zukünftigen Balladendichter erwiesen sich die systematischen Sammlungen von Balladen in Ancient English Poetry von Thomas Percy (1765) und The English and Scottish Popular Ballads von F. J. Child (1889) sowie die Sammlung von Volksliedern von Johann Gottfried Herder (1778/1779) und die Sammlung Des Knaben Wunderhorn von Achim von Arnim und Clemens Brentano (1806/1808). Wenngleich von damaligen Kritikern als „ein heilloser Mischmasch von allerlei butzigen, trutzigen, schmutzigen, nichtsnutzigen Gassenhauern, samt einigen abgestandenen Kirchenhauern“ beschrieben, hat insbesondere die letztgenannte Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn mit ihren 723 Liedern wesentlichen Anteil an der Verbreitung der Ballade im deutschen Sprachraum. Hier sei jedoch angemerkt, dass jene „Volks“balladen des 18. Jahrhundert, anders als weiterhin vielfach in digitalen und analogen Unterrichtmaterialien behauptet, Volkstümlichkeit verstärkt ästhetisch inszenieren und nicht nachahmen (vgl. Berner 2020: 1). Jene Balladen, so Berner, „bilden Ursprünglichkeit nicht in der klassischen Tradition der ‚imitatio‘ nach, welche die Existenz einer Vorlage voraussetzt“, sondern fingieren, analog zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, jene Ursprünglichkeit lediglich, sodass offen bleibt, „ob etwas vorgefunden und umgestaltet oder neu geschaffen wurde“ (ebd. 2f.). Demzufolge gibt es nur die Kunstballade (vgl. Gaier 2019: 12).

Um auf die Idealisierung des Ursprünglichen in vermeintlichen Volksballaden hinzuweisen, wird an den jeweiligen Stellen auf eine gesonderte Schreibweise („Volks“balladen) zurückgegriffen.

Durch vielseitige Einflüsse entstand in den darauffolgenden Jahrzehnten eine Variationsvielfalt balladesker Dichtung. Neben der volkstümlichen Inszenierung der Ballade des Spätmittelalters erweitern die romantische Ballade, die ‚Volkstümlichkeit‘ besonders kunstvoll als poetisches Konstrukt inszeniert (vgl. Berner 2020: 3), die klassische Kunstballade, das Erzählgedicht, das Zeitungslied, der historische und moderne Bänkelsang sowie die Kabarett- und Protest-Ballade des frühen 20. Jahrhunderts die Tradition dieser literarischen Gattung. Diese enorme Wandlungsfähigkeit sichert der Ballade ihr Fortbestehen bis in die heutige Zeit.

Der zweite theoretische Teil widmet sich der Ballade als schulischem Lerngegenstand (Kapitel 3). Hier werden aus der langen Tradition der Ballade im Deutschunterricht und ihren didaktischen Inszenierungsmustern und -wendepunkten sowie den gegenwärtigen kompetenzbezogenen Entwicklungen der Deutschdidaktik mögliche aktuelle Zugänge zum Umgang mit der Ballade diskutiert. Balladen galten im Deutschunterricht lange Zeit als literarischer Gegenstand, an dem generationsübergreifende Verständigung stattfinden kann (vgl. Köster 2001). Im Wilhelminismus dienten sie als Fundus von (auswendig gelernten) Lebensmaximen; auch in der Weimarer Republik und dann erst recht im Nationalsozialismus ist der Umgang mit Balladen von einer affirmativ-ideologisierenden Didaktik geprägt. Mit der ideologiekritischen Wende im Umfeld der 68er-Bewegung plädieren u. a. Heinz Ide und Rudolf Wenzel in der alten BRD für eine veränderte Auswahl und diskursive Verfahren im Umgang mit Balladen. Als Mittel der Verständigung wird die Ballade in der alten BRD erst Mitte der 1980er-Jahre im „Neben- und Gegeneinander verschiedener Texttraditionen und darin sich spiegelnder, ästhetisch modellierter Bewußtseinslagen“ (Merkelbach 1984: 185 zit. n. Köster 2001) wiederentdeckt. In der ehemaligen DDR genießt sie durch die Berufung auf das humanistische Erbe und die damit verbundene Vermittlung ideologischer und ästhetischer Erziehungsmaximen von Beginn an eine relativ hohe Wertschätzung. Der Blick in die Deutschbücher der 1990er-Jahre zeigt, dass sich nunmehr im Lese- und Literaturunterricht der Sekundarstufen ein „bereinigter Restbestand von im Schnitt vier bis fünf Kunstballaden“ (Köster 2001: 180) findet. Deren didaktische Aufbereitung ist aber durch eine „starke Fixierung auf Formales, Gattungsspezifisches und handwerklich Spielerisches“ charakterisiert und vergibt damit ihr Potenzial zur Positionierung und Wertediskussion (vgl. Köster 2001: 180).

Neben der Option, der Ballade auch im Kontext ihrer jeweiligen Rezeption als Ausdruck von Werten, Normen und Kulturmustern sowie ihren (historischen) Veränderungen unterrichtlich zu begegnen, ist sie auch für jüngere, mehrsprachige und inklusive Lerngruppen ein Gewinn. Ihre vielfältigen medialen Adaptionen und ihr enormes performatives Potential bieten Möglichkeiten, Textzugänge für alle Lernenden zu schaffen. Dabei besteht die besondere Schwierigkeit in der angemessenen Analyse und/oder dennoch kreativen, individuellen Annäherung: biographische, politische und soziale Umstände der Textentstehung sowie intertextuelle Bezüge des Werkes dürfen weder überfordern noch auf eine (relativ) eindeutige (didaktisch reduzierte) Textaussage verengt werden. Eine Auslotung von (neuen) Bedeutungspotentialen durch die Rezeption aus dem jeweiligen (gegenwärtigen) Kontext des Lesers/der Leserin heraus darf nicht in ein willkürliches Überschreiten von Bedeutungsspielräumen ausarten (vgl. Kammler 2009: 9). Diese Problematik kann aus unserer Sicht behoben werden, indem es beispielweise zu einer Teilung von Kompetenzanforderungen im Klassenverbund und deren Relationierungen zueinander am konkreten Gegenstand kommt. In solchen Lernprozessen kann die Lehrkraft Balladenunterricht beispielsweise zunehmend so organisieren, dass sie Sequenzen bildet, die nicht einen Gegenstand unsystematisch in den Blick nehmen, sondern in der Sequenz fachliche Kontexte modellhaft zeigen.

Die zunehmend eigenständige Erarbeitung der Balladen und eine Texterschließung, die auch textinterne Wertungen wahrnimmt und mit eigenen Positionierungen verbindet, ist an die jeweiligen Jahrgangs- und Kompetenzstufen gebunden. Daher plädieren wir für einen systematischen Einbezug der Ballade, der die Verstehensanforderungen des allgemeines Textverstehens zunehmend um die Besonderheiten literarischen Verstehens und – nicht zuletzt– die wertende Reflexion zur Welt und zu sich selbst aus dem Text heraus erweitert.

Anregungen hierzu finden sich in den balladendidaktischen Grundlagen (Kap. 4), die mit Blick auf die Kompetenzbereiche der Bildungsstandards schulstufenunspezifisch zunächst verschiedene methodisch-didaktische Anregungen aus der aktuellen fachdidaktischen Forschung erläutern. Die jeweiligen Grundlagentexte erheben im Anbetracht ihres Umfangs keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sodass die Ausführungen um weiterführende bzw. vertiefende Literaturhinweise am Ende der einzelnen Überblicke ergänzt sind.

Zielsetzung des sich anschließenden umfangreicheren balladendidaktischen Kapitels zur Unterrichtspraxis (Kap. 5) ist es, themenorientiert und systematisch aufbauend konkrete Textarbeit im Unterricht zu präsentieren. Dabei wird ein Zusammenspiel analytischer Verfahren mit handlungs- und produktionsorientierten Methoden favorisiert. Handlungs- und produktionsorientierte Verfahren werden demnach nicht nur vor dem Hintergrund motivationaler und subjektiver Erwerbsaspekte berücksichtigt, sondern auch im Wissen um ihr heuristisches Potenzial für die Intensivierung von Verstehensprozessen. So fällt ihnen im Rahmen des ästhetischen Erlebens und Wahrnehmens, z. B. von sprachlichen Verdichtungen in der Ballade, aus unserer Sicht eine besondere Erkenntnisfunktion zu.

Die (durch solche Verfahren besonders betonte) Pluralität der Betrachtungsweisen und des Umgangs mit dem Gegenstand wird in den didaktischen Konzeptionen im Hinblick auf in den Bildungsplänen verankerte Kernkompetenzen fokussiert: Sprechen und Zuhören – Schreiben – Lesen – mit Texten und Medien umgehen – Sprache und Sprachgebrauch untersuchen. Ausgehend vom jeweiligen Kompetenzfeld bzw. den für den Umgang mit den ausgewählten Texten relevanten Kompetenzen aus den Bildungsstandards für die Primarstufe (2022), den Mittleren Schulabschluss (2022) und die Allgemeine Hochschulreife (2012) werden die didaktischen Anregungen vorgestellt. Bei deren Konzeption wurde Wert darauf gelegt, vielfältige literarische und mediale Praktiken aus der Alltagswelt der Kinder und Jugendlichen aufzugreifen, um die bestmöglichen Voraussetzungen für die Partizipation dieser am literarischen Leben zu schaffen. Selbstredend ist dabei, dass es den didaktischen Königsweg dafür nicht gibt, sodass alle Anregungen für die individuelle (von den konkreten Gegebenheiten und Überzeugungen abhängige) Gestaltung des Unterrichts angepasst werden müssen.

Die Vorstellung der Unterrichtssequenzen entlang fokussierter Kompetenzen verfolgt dabei nicht das Ziel, Balladen für diese Kompetenzziele zu instrumentalisieren. Vielmehr sind es textspezifische Angebote, um lesend, schreibend, sprechend sowie sprachreflektierend literarische, sprachliche und poetische Erfahrungsräume zu eröffnen. Der Band basiert damit auf der Idee, dass auch mit Kompetenzorientierung eine auf Ganzheitlichkeit ausgerichtete Deutschdidaktik möglich ist, „die weder den dichterischen Text als bloßes Transportmittel für Inhalte, noch als rein formales Gebilde auffaßt, sondern ihn als Gestaltung und Medium der Auseinandersetzung begreift“ (Spinner 1995: 5).

Jedem Textbeispiel sind folglich Gedanken zur Textauswahl und zur didaktischen Schwerpunktsetzung vorangestellt. Dem folgen mögliche Kompetenzzuordnungen hinsichtlich des jeweiligen Angebots zur didaktischen Umsetzung. Vor dem Hintergrund eines kontextorientierten Lernens, das bei fortgeschrittenen Leser:innen durch Sequenzen des vergleichenden literarischen und ästhetischen Lernens abgelöst wird, sind so 21 Unterrichtsangebote entstanden. Diese sollen allen Schüler:innen unabhängig von ihren kulturellen, sozialen und sprachlichen Ausgangsbedingungen einen lebendigen und reflektierenden Umgang mit Balladen ermöglichen.

Zu vielen der didaktisierten Textvorschläge stehen Unterrichtshilfen in der eLibrary des Verlages zum Download bereit. Die Unterrichtshilfen sind im Buch mit einem eindeutigen Hinweis am Seitenrand und einer Zusatzmaterialien-ID gekennzeichnet. Im eBook genügt ein Klick auf die ID, um auf die Zusatzmaterialien zugreifen zu können. Leser:innen des gedruckten Buchs erhalten mit ihrem Gutscheincode auf der zweiten Umschlagseite kostenfreien Zugriff auf das eBook und die Zusatzmaterialien zum Buch.

Zur besseren Orientierung im Buch sind manche Abschnitte in Textkästen gefasst und mit Icons versehen, die unterschiedliche Funktionen haben. Es handelt sich dabei um Abschnitte:

in denen auf Material im Internet verwiesen wird, das für die Vorbereitung oder Gestaltung des Unterrichts interessant sein könnte (Homepages, YouTube-Videos, Tutorials …);

in denen wesentliche Kapitelinhalte zusammengefasst werden;

in denen konkrete Unterrichtsvorschläge vorgestellt werden.

Die Balladen wurden in Anlehnung an das Prinzip der thematischen Sequenzbildung (vgl. u. a. Spinner 1995, 2019) zusammengestellt. Die thematische Sequenzbildung beruht auf der Annahme, dass „Literatur für den Menschen ein Medium der Welterschließung und Ich-Findung ist. Die Schüler:innen sollen die Möglichkeit haben zu erfahren, daß die Beschäftigung mit Texten für ihre Auseinandersetzung mit der Umwelt und mit sich selbst eine klärende Funktion haben kann“ (Spinner 2019: 4). Damit sollen eine möglichst große Vielfalt der in Balladen behandelten Themen sowie entwicklungsspezifische Rezeptionsinteressen und -kompetenzen berücksichtigt werden. Liebe und Freundschaft, dämonisch-spukhafte Stoffe, Schicksal, menschliche Bewährung und Hybris, historische Begebenheiten sowie Kritik an sozialen und politischen Zuständen sind Themenkreise, die in der Geschichte der Ballade bis heute Modellcharakter haben. Sie sind darüber hinaus institutionell im Literaturunterricht verankert und regen zur Auseinandersetzung mit anthropologischen Grundfragen an (vgl. Spinner 1999). Die starke Berücksichtigung der bisherigen literarischen und schulischen Traditionen in diesem Teil soll deren kulturelle Bedeutsamkeit untermauern und durch intermediale und methodisch vielfältige Lehr-/Lernarrangements beleben. Die Auswahl und ihre jeweiligen didaktischen Inszenierungen verfolgen zudem das grundlegende Ziel, Schüler:innen für formale und sprachliche Unterschiede zu sensibilisieren und einen differenzierten Blick auf die im jeweiligen Text verhandelten Problemaspekte zu fördern.

2Fachwissenschaftliche Grundlagen

Juliane Dube

2.1Begriff der Ballade und gattungsbezogene Definitionsschwierigkeiten

Als nicht „reinrassiges Geschöpf unter den Musenkindern“ und „merkwürdiges poetisches Gebilde“ (vgl. Grimm 2002: 11) wird die Ballade zuweilen als „Grenzgängerin zwischen Lyrik, Epik und Dramatik“ (Pinkerneil 2000: 10) eingeführt. So finden sich in Balladen von Sagen und Mythen sowie geschichtlichen und alltäglichen Ereignissen geprägte Erzählungen zu vielfältigen Themen (u. a. Schicksal, Liebe, Tod etc.) (vgl. Bogosavljevic/Woeseler 2009: 35).

Inszeniert sind sie unter Verwendung unterschiedlicher Redeformen, teilweise sogar innerhalb einer Ballade (u. a. Erzähler- und Figurenrede), sowie sprachlicher und formaler Mittel. Die Schwierigkeiten, die mit diesem Grenzgängertum einhergehen, werden bereits nach einem kurzen Blick in verschiedene Erläuterungen zur Ballade deutlich.

Nur selten finden sich heute noch knappe Formulierungen wie z. B. bei Duden online:

Die Ballade ist ein [volkstümliches] Gedicht, in dem ein handlungsreiches, oft tragisch endendes Geschehen [aus Geschichte, Sage oder Mythologie] erzählt wird.

oder im Lexikon Deutschdidaktik (Kliewer/Pohl 2006: 36):

Die Ballade ist eine erzählende Gedichtform, Verbreitung seit dem Ende des 18. Jh. als Kunstballade. Vorläufer sind die (meist) gesungene Volksballade und die Morität. Für moderne Formen der Ballade wird z. T. auch die Gattungsbezeichnung Erzählgedicht verwendet. Die Ballade vereinigt in sich lyrische, epische und dramatische Elemente; immer wieder wird J.W. Goethes Zeitschriftenartikel „Ballade. Betrachtung und Auslegung“ von 1821 zitiert, in dem er auf diesen gattungsverbindenden Aspekt hinweist und die Ballade mit einem „lebendigen Ur-Ei“ vergleicht, weil in ihr die poetischen „Elemente“ noch nicht getrennt sind.

Die nicht nur hier im Lexikon der Deutschdidaktik angeführte Rekurrenz der Ballade als „lebendiges Ur-Ei“ dient auch in einer Vielzahl von Sprach- und Lesebüchern sowie zahlreichen fachwissenschaftlichen Balladenanthologien als Grundlage. Mit Verweis auf Goethes Ausführungen im Aufsatz „Ballade, Betrachtung Auslegung“ (1821) vereinen Balladen die „drey Grundarten der Poesie“ durch ihre epische Erzählweise mit lyrischer Grundform und dramatischer Gestaltung. So heißt es:

Die Ballade hat etwas mysterioses ohne mystisch zu seyn; diese letzte Eigenschaft eines Gedichts liegt im Stoff, jene in der Behandlung. Das Geheimnißvolle der Ballade entspringt aus der Vortragsweise. Der Sänger nämlich hat seinen prägnanten Gegenstand, seine Figuren, deren Thaten und Bewegung, so tief im Sinne daß er nicht weiß wie er ihn ans Tageslicht fordern will. Er bedient sich daher aller drey Grundarten der Poesie, um zunächst auszudrücken was die Einbildungskraft erregen, den Geist beschäftigen soll; er kann lyrisch, episch, dramatisch beginnen, und, nach Belieben die Formen wechselnd, fortfahren, zum Ende hineilen, oder es weit hinausschieben. Der Refrain, das Wiederkehren ebendesselben Schlußklanges, giebt dieser Dichtart den entschiedenen lyrischen Charakter. (Goethe 1821/1981, Bd. 1: 400)

Obwohl die Metapher des Ur-Eis die Balladenforschung bis heute dominiert (vgl. Bartl 2017: 22), scheint sie allein nicht auszureichen, um die Vielfalt der Ballade zu erfassen. Auch deutlich ausführlichere Definitionsversuche zur Ballade verweisen durch ihre verstärkte Verwendung von Abtönungspartikeln wie meist, oft und manchmal überdeutlich auf die bis heute vorherrschende Schwierigkeit, eine „greifbare Kategorisierung und abschließende – oder zumindest als Arbeitsdefinition funktionale – Definition“ (Bartl 2017: 23) auszugeben. So beschreibt Hartmut Laufhütte (vgl. 1979/1992: 25) die Ballade z. B. als „eine episch-fiktionale Gattung. Sie ist immer in Versen, meist gereimt und strophisch, manchmal mit Benutzung refrainartiger Bestandteile und oft mit großer metrisch-rhythmischer Artistik gestaltet“.

Auch im Definitionsversuch von Fauser (2000) heißt es: „Innerhalb des Gefüges der Gattungen verschieden eingeordnet, steht die Ballade formal oft der kurzen Verserzählung am nächsten“ (Fauser 2000: 14)1.

Zu diesen Schwierigkeiten kommt hinzu, dass es keine „spezifisch balladischen Themen gibt“ (Laufhütte 1979, Nachwort: 613, Gaier 2019: 12). Zumbach beschreibt die bisherigen Versuche der Fachwissenschaft, eine konzise Balladendefinition aufzustellen, in Folge dessen als „schwammige Umkreisungen“ (Zumbach 2008: 7). Maren Conrad erklärt sie gar als gescheitert, weil Goethes Definition zur Ballade bis heute vorherrschend ist (vgl. Conrad 2014: 43). Es verwundert daher nicht, dass jüngste Versuche, eine Antwort auf die Frage: „Was ist eine Ballade?“ zu geben, inzwischen ganze Kapitel füllen (vgl. hierzu aktuell Segebrecht 2012, Nachwort; Bartl 2017: 9−19) oder umkehrt, eine Antwort schlicht verweigert wird. So hält Gaier fest: „Mit Absicht sage ich nicht: ‚Die Ballade ist …‘, denn damit gerät man in die Festsetzung eines Begriffs, dem dann die Dichter unter Strafandrohung vernichtender Kritik oder Nichtachtung gehorchen müssen. […] Um Streit zu vermeiden, biete ich keinen Begriff (‚Ballade ist …‘)“ (2019: 11). Gaier wählt stattdessen eine „handlungstheoretische Anweisung“, indem er beschreibt, dass Balladen zu Bewusstsein bringen, „dass jemand eine Grenze setzt, verteidigt oder überschreitet“ (ebd.).

Im Vergleich zu den umfassenderen Ausführungen der jüngsten Zeit macht der erneute Blick auf die Ur-Ei-Metapher deutlich, dass es Goethe damit geradezu charmant gelingt, sich der Frage zu entziehen, zu welcher Gattung die Ballade nun eigentlich gehört (vgl. Weißert 1993: 5). Folglich entstand der Eindruck, die Ur-Ei-Definition und ihre Anhänger:innen würden als Mittler zwischen den lange Zeit konkurrierenden Sichtweisen zur Gattungszuordnung der Ballade fungieren. Auf der einen Seite wird der Ballade eine „epische Grundstruktur mit Zusatzmerkmalen“ zugeschrieben, die ein „Vorgangskontinuum“ beschreibt (Laufhütte 1979: 350). Dies führt dazu, so Käte Hamburger 1957, „dass wir den Inhalt des Balladengedichts nicht mehr als Aussage eines lyrischen Ichs, sondern als fiktive Existenz fiktiver Subjekte auffassen“ (243). Bezeichnet wird die Ballade daher auch als „Handlungsgedicht mit einem Konfliktpotential“ (Grimm 2002, aber auch Segebrecht 2012). Auf der anderen Seite wird die Ballade aufgrund ihrer lyrischen Erzählweise der Lyrik zugeordnet (vgl. auch Müller-​Seidel 1963a, Müller 1980). Bis heute hält der Diskurs um die Ballade als „Gattungshybrid“ (Conrad 2017: 22) weiter an (vgl. die Beiträge im Sammelband Bartl et al. 2017).

Wenngleich auch die neueren Publikationen zur Ballade Goethes Ur-Ei-Definition viel Gutes abgewinnen können, da sie sich einer „apodiktischen Einordnung“ verwehrt und damit den Facettenreichtum der Balladendichtung nicht unzulässig reduziert (vgl. Bartl 2017: 15), dominiert der seit den 1960er-Jahren etablierte Terminus der Ballade als Gedicht mit Erzählfunktion den heutigen fachwissenschaftlichen Diskurs (vgl. Knezevic 2017: 288). Deutlich wird jene starke Verankerung des Epischen, die sich deutlich von traditionellen lyrischen und dramatischen Texten abgrenzt, wenn die gebundene Sprache vieler Balladen aufgebrochen wird. Schnell zeigt sich dann, dass mit nur wenigen Eingriffen in den Text das Umschreiben in eine Erzählung gelingt. Hierzu tragen nicht nur der Einsatz eines heterodiegetischen Erzählers bei, der die ungewöhnlichen konflikthaften bis ins Dramatische hinein gestalteten Begebenheiten und Ereignisse meist im Ur-Tempus des Epischen, dem Präteritum, wiedergibt, sondern auch die lineare und konzise Darstellung der abgeschlossenen Handlung.

Allerdings zeigt der Blick auf verschiedene Balladen, dass die Erzählfunktion ganz unterschiedlich ausgeprägt sein kann. So finden sich einerseits Balladen wie z. B. Ruppels „Holger, die Waldfee“ (vgl. Kap. 5.3.2) oder Hacks „Vom schweren Leben des Ritters Kauz vom Rabensee“, die fast ausschließlich durch einen Erzähler vorgetragen werden. Andererseits ist die Erzählfunktion zum Beispiel in Goethes Ballade vom „Erlkönig“ (Kap. 5.2.3), auf eine die dramatische Wechselrede zwischen Vater, Kind und Erlkönig rahmende Einführungs- und Abschlussstrophe begrenzt. Zu jenen Balladen mit schwach ausgeprägter Erzählfunktion zählt auch Schillers „Die Kraniche des Ibykus“ (Kap. 5.3.4). Nur kurz wird hier die dramatische Wechselrede durch Einschübe unterbrochen, die sich wie Regieanweisungen lesen lassen und zusammen mit dem oftmals musterhaften Freytagschen Schema eines Spannungsbogens aus knapper Exposition, Spannungssteigerung, Peripetie (Höhepunkt), abfallender Handlung (ggf. mit retardierendem Moment) und der Lösung des Konflikts die Nähe zum Drama zeigen (vgl. Bartl 2017: 16). In anderen Balladen wie z. B. Eichendorffs „Waldgespräch“ oder diversen Rollenballaden, u. a. von Julia Engelmann („Die Ballade vom König“, 2016), tritt der Erzähler ganz hinter die Figuren zurück. Einmal mehr zeigt sich die Ballade auch in diesen Beispielen als Grenzgängerin. Folglich verwundert es nicht, dass die Forderungen lauter werden, die fachwissenschaftlichen Diskussionen zur Dominanz des episch-fiktionalen Gehalts der Ballade erneut zu öffnen (vgl. hierzu u. a. Bartl 2017: 15).

Ob die vielseitigen Formen der Balladen mit den veränderten gesellschaftlichen Gegebenheiten zu einem Abschluss gekommen sind oder ob sie sie sich an die neuen Gegebenheiten und Möglichkeiten angepasst haben, ist nach wie vor offen (vgl. Kohl 2011: 94). Kohl verweist hier dezidiert auf die Problematik, dass jeder Definitionsversuch von zeitlichen Abhängigkeiten geprägt ist. Einerseits von der Zeit, in der die Gattungsbestimmung formuliert wurde und andererseits von der Balladenauswahl.

Mit diesem Band möchten wir fachliches Wissen für die didaktische Inszenierung von Lernarrangements zum Thema Balladen vermitteln – insbesondere im Hinblick auf die Thematisierung von gattungsspezifischen Fragen im Unterricht. Insofern müssen auch wir zu jenen definitorischen Schwierigkeiten Stellung beziehen. Die Aufgabe, in einem didaktischen Lehrbuch eine Definition zu Balladen voranzustellen, wird indes jedoch nicht leichter, indem man auf die vielseitigen Schwierigkeiten verweist, die damit einhergehen. Vielmehr blickt man ernüchternd auf die zahlreichen Diskussionen insbesondere dann, wenn man eine allgemeingültige Definition zur Ballade formulieren möchte, welche die „Grenzüberschreitung und Veränderung“ als Kern der Ballade (vgl. Bartl 2017: 10) anerkennt.

 

Ausgehend von jener fachwissenschaftlichen Position der neueren germanistischen Forschung wird die Reduktion der Ballade, z. B. auf eine bestimmte historische Erscheinungsweise, ein Thema oder ein zu vermittelndes Bild (z. B. Heldenideal) dieser Kunstform nicht gerecht (vgl. u. a. Knezevic 2017: 287, Gaier 2019: 12), weil die Übergänge fließend sind. So verweist Gaier als Beispiel auf Bürgers Ballade „Leonore“, einer der Kunstballaden schlechthin, in der sowohl vom Wiedergänger, Geistern, Freunden, vom Hadern mit Gott und dem mangelnden Gehorsam gegenüber der Mutter erzählt wird (vgl. Gaier 2019: 13). Insofern möchten wir keine allgemeingültige Definition der Ballade geben. Auch wenn mit unserem Modell der Verlust „einer überschaubaren Gattungseinheit“ (Grimm 1988: 11) einhergeht, bietet die Zusammenstellung obligatorischer und fakultativer Merkmale der Ballade (Abb. 2.1) eine Dynamisierung, die nicht nur den gattungsüberschreitenden Impetus der Ballade betont, sondern für textanalytische Aushandlungsprozesse im schulischen Kontext besonders fruchtbar gemacht werden kann. Folglich sind die Merkmale sowohl formaler als auch struktureller Natur so ausgewählt, dass sie einerseits eine epochenübergreifende Gültigkeit besitzen (diachrone Ebene) und die Bandbreite der durch sie erfassten Texte (synchrone Ebene) nicht künstlich eingrenzen. Durch die Verbildlichung der im Kopf des Modells aufgeführten Großformen der Ballade und ihrer Nachbargattungen an den übrigen Rändern wird zudem der anhaltende Wandlungsreichtum der Ballade, der im oberen Bereich des Modells zusätzlich durch die Pfeile symbolisiert wird, als existenzbejahende Voraussetzung der Gattung betont.

Wenngleich sich der hybride Charakter der Ballade und damit Goethes „Ur-Ei“-Definition auch in den obligatorischen Merkmalen wiederfindet, erlaubt die Ergänzung um fakultative Merkmale, deren Zusammenstellung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, jeden einzelnen Text ergebnisoffen zu reflektieren. Ob die epische Funktion die lyrischen Bestandteile bestimmt oder die Vorgangsgestaltung einer dominierenden lyrischen Formgestalt untergeordnet ist, gilt es folglich am Einzelbeispiel zu prüfen. Zusammen dient die Merkmalsaufstellung als Grundlage, um mit den Lernenden im Zuge einer analytischen Lektüre, die „Naturformen“ (Segebrecht 2012: 787), die an der Ballade Anteil haben, in ihrer Mehrdeutigkeit herauszuarbeiten. Dadurch sollen die Schüler:innen für die Vielfalt von Balladen als Kern dieser Gattung sensibilisiert werden. Konkret soll folglich keine starre Balladendefinition gegeben werden, sondern eher eine Anleitung zur Präzisierung der historischen Gattung Ballade bzw. ihrer Familienähnlichkeit.

Abb. 2.1:

Obligatorische und fakultative Merkmale der Ballade

Mit Bezug zum Modell verstehen wir Balladen als literarisch-fiktionale Texte, die in lyrisch gebundener Form von „konflikthaften“ (vgl. Wagenknecht 2007: 192), bis ins Dramatische hinein gestaltete Begebenheiten (vgl. Segebrecht 2012: 738) berichten. Ausgelöst wird der weltanschauliche, ethische, politische oder psychologische Konflikt, dessen Schilderung zwischen tragisch-ernst und komisch changiert (vgl. Laufhütte 1979: 372 f.), „weil jemand eine Grenze setzt, verteidigt oder überschreitet“ (vgl. Gaier 2019: 11). Während sich „Nis Randers“ (Kap. 5.3.3.) in der gleichnamigen Ballade von Otto Ernst z. B. über die Bedenken der Mutter hinwegsetzt und der Edelmann Dolorges in Schillers Ballade „Der Handschuh“ (Kap. 5.1.4) mit seiner provokanten Geste die Grenzen des gesellschaftlichen Spiels der Hohen Minne bricht, stehen sich im Brechts Ballade „Der Schneider von Ulm“ weltliche und göttliche Anschauungen und in Fontanes „Die Brück’ am Tay“ (Kap. 5.4.3) Natur und Technik gegenüber. Neben hier beispielhaft aufgeführten ethischen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Differenzen überwinden „Der Knabe im Moor“ (Kap. 5.2.4) von Droste-Hülshoff oder „Felix Fliegenbeil“ (Kap. 5.4.1) von Michael Ende auch topografische Grenzen (vgl. Unterrichtsvorschläge zu den genannten Balladen im Band, Kapitel 5). Folglich ist die Ballade nicht nur durch ihren gattungsüberschreitenden Impetus, sondern auch durch Grenzüberschreitungen auf inhaltlicher Ebene charakterisiert.

Konsequenterweise können im Unterricht ausgewählte Texte zum Thema Ballade auch einen inneren Vorgang beschreiben, jedoch muss dieser durch äußere Gesten umgesetzt oder von ihnen getragen werden. Die Einsträngigkeit der Handlung ist dabei nicht maßgebend, sondern vielmehr die räumlich-zeitliche bzw. kausale Verknüpfung der einzelnen Szenen. Ein Textbeispiel, welches „keinen solchen integralen Vorgang entstehen lässt, sondern – eventuell bei verkümmerten Ansätzen zu dessen Bildung – lediglich einen, wenn auch vom ‚lyrischen Ich‘ verselbstständigten, statischen Zustand entwirft, kann keine Ballade im eigentlichen Sinne sein“ (Bogosavljevic 2009: 42).

Die in der Ballade geschilderten Begebenheiten können sowohl exemplarisch als auch sinnbildlich gedeutet werden und tragen damit wesentlich zur Popularität der Gattung bei (vgl. ebd.: 14). Zu denken ist in diesem Zusammenhang an Goethes „Der Zauberlehrling“ (Kap. 5.2.2), an Buschs Ballade „Die Freunde“ (Kap. 5.1.1) oder Hoffmanns „Der kleine Vogelfänger“ (Kap. 5.4.1), deren Schicksalsschilderungen mal in Form eines direkt formulierten Merksatzes mal als exemplarische Begebenheit den Leser:innen in zur Reflexion zumeist anthropologischer Grundfragen anregen sollen. Mit der damit einhergehenden doppelten Ausrichtung der Ballade auf die Horaz’schen Pole delectare (lat. unterhalten) et prodesse (nützen) erweist sich die Ballade erneut als Grenzgängerin. Folglich verwundert es nicht, dass Balladen lange Zeit als „Chronotop“ (Köster 2001: 175) eingesetzt wurden, an dem generationsübergreifende Verständigung stattfand (Kap. 3.1).

Wenngleich die Balladen fiktionale Texte sind, besitzen sie jedoch häufig einen „Wirklichkeitsanker“ (Bartl 2017: 10). Folglich werden in Balladen historische, politische und ethische, mitunter aber auch alltägliche Situationen in einprägsamen Szenen beschrieben. Die dramatische Darstellungsweise jener Situationen ist geprägt durch die gehäuften Verwendung rhetorischer Redemittel wie direkte Ansprache, Anklage und starke Wechselrede, welche zusätzlich „eine imaginierte Kommunikationssituation“ (Wojcik 2017: 17) mit starkem emotionalen Wirkungspotential schaffen, sodass die Ballade als „eine Gattung mit besonders hohem Leser:innenbezug“ bezeichnet werden kann (Bartl 2017: 14).

Im Mittelpunkt der linearen zumeist einsträngigen Handlung, die „keine Exkurse, Nebenhandlungen oder Weitschweifigkeiten“ enthält stehen meist wenige Figuren, deren Erlebnisse vershaft bisweilen auch strophisch und/oder in Reimform angelegt sind.

Die Ausbildung einer gattungskritischen Haltung ist nicht zuletzt notwendig, um die hier bereits angedeutete unzureichende Anwendung jener Goethe’schen Definition herauszuarbeiten. So ist z. B. nicht nur eine Verlagerung vom naiven zum reflektierten Erzählen (Woesler 2009: 6), sondern auch eine zunehmende Abwendung von der Linearität der Handlung zu beobachten. Folglich wäre die Ballade als „Ur-Ei“ nicht primär als Ursprung und Ausgangspunkt lyrischer, epischer und dramatischer Formen zu verstehen, „sondern als Ferment [dieser Gattungen], das sich als ein produktiver Unruhefaktor bemerkbar macht: Die Ballade verstört die Lyrik mit dramatischer Handlung, der Prosa verordnet sie die gebundene Verssprache, das Dramatische erzählt sie“ (Segebrecht 2012: 788). Diese Grenzüberschreitungen sind jedoch nicht dem Zufall geschuldet, sondern bewusste Setzungen, die wiederum in einen Reflexionsprozess zur Gesamtgestalt der Ballade einbezogen werden müssen. Diesen Reflexionsprozess anzuleiten, ist das Ziel der in Abbildung 2.1 aufgeführten Merkmalsübersicht zur Ballade, welche sich im Sinne von Rüdiger Zymners literaturtheoretischer Gattungstheorie als „ein[en] systematische[n] und auf Prinzipienwissen ausgerichtete[n] Versuch der theoretischen Reflexion über literarische Gattungen“ (2003: 9) versteht. Dabei sind sich die Autorinnen bewusst, dass Gattungsbeschreibungen in der Literaturwissenschaft kontrovers diskutiert werden (vgl. Schmitz-Emans 2010: 109–111). Dennoch sind sie wichtig, um einer Beliebigkeit an Gattungsdefinitionen vorzubeugen (vgl. ebd.). Folglich dient auch das hier zusammengestellte Strukturmodell dazu, eine arbeitsfähige Bestimmung der Gattung Ballade vorzunehmen.

Thematisiert wird die Ballade im Deutschunterricht seit vielen Jahren jedoch nicht nur aufgrund ihres epischen Gehalts, sondern vor allem aufgrund ihrer häufig lyrisch-liedhaften Elemente. So veranlassten ihr oft dominanter Klangcharakter, ihre markante Rhythmik sowie ihre refrainartigen Passagen, die die Stimmung und Empfindungen des Subjekts widerspiegeln, aber auch ihre metrische Form (Vers, Strophe, Reim) Müller-Seidel (1963b) und Müller (1980) dazu, die Ballade der Großgattung der Lyrik zu zuordnen. Unterrichtshilfen fokussieren heute sogar den lyrischen Charakter ausgewählter Balladen, indem sie fächerverbindende Unterrichtsvorschläge konzipieren, in deren Zentrum nicht nur die Ballade, sondern auch ihre musikalische Inszenierung stehen (vgl. Berghaus 2012). Allein die Reduzierung der Ballade auf ihre lyrischen Elemente wird der Gattung, wie bereits mehrfach betont, nicht gerecht, gibt es doch Texte, insbesondere unter den modernen Balladen, die reim- metren- und strophenfrei verfasst sind. Als obligatorisches Merkmal der Ballade lässt sich folglich nur ihre lyrisch gebundene Form festhalten.

Wenngleich die kritische Sammlung von Definitionsmerkmalen zur Ballade in Abbildung 2.1 die Schwierigkeit der Bestimmung nur spiegelt, können die zusammengetragenen Merkmale die Reflexionsprozesse zur gattungsspezifischen Einordnung der behandelten balladesken Texte leiten. Als didaktisches Gerüst stellen sie Hilfen, um die unterschiedlichen Erscheinungsformen der Ballade entlang ihrer historischen Veränderung intersubjektiv zu verhandeln (vgl. hierzu die Ausführungen von Zymner zur Gattungsforschung und -theorie als Sprachspiel 2003: 69–76). Damit verbindet das Strukturmodell neuere Vorschläge, in deren Kern die flexible Zuordnung zwischen „epischen, lyrischen und dramatischen Balladen“ (vgl. Wagenknecht 2007: 195) oder die Einführung hybrider Gattungen bzw. „Brückengattungen“ (vgl. u. a. Pinkerneil 1978: X, Neumann 1980: 25, Bartl 2017: 17f.) steht.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden die Gespräche über Balladen entlang fakultativen und obligatorischen Merkmalen zeigen, dass die Geschichte der deutschen Balladendichtung keinesfalls abgeschlossen (vgl. Müller-Seidel 1963: 83) und die Ballade mitnichten eine „tote Gattung“ ist, wie es Baumgärtner (1979: 65) festhält. Daher ist die Rahmung der zentralen Merkmale der Ballade immer wieder durchbrochen, nicht zuletzt auch um für die Gemeinsamkeiten mit den Nachbargattungen zu sensibilisieren (vgl. Abb. 2.1). Dabei finden sich an den definitorischen Außengrenzen der Ballade musikalisch inszenierte (Kunst-)Formen wie das Volkslied2, der Bänkelsang, das Chanson (der Kabarettsong und der Schlager), Versdichtungen ohne dramatischen Gehalt wie das moderne Erzählgedicht (vgl. Piontek 1964), (Vers-)Erzählungen längeren Umfangs und dramatische Erzählungen ohne Versbindung. Folglich soll das Balladenmodell nicht nur dazu dienen, einen Text als Ballade zu definieren, sondern auch um für die Abgrenzung zu anderen Textgattungen zu sensibilisieren.

Vor dem Hintergrund der vorgestellten Merkmale der Ballade, die mit einer Neubelebung gattungsspezifischer Zuordnungsversuche einhergehen kann, finden sich in diesem Band kanonische Beispiele neben nichtkanonischen Texten bzw. Texten, die ganz bewusst mit vermeintlich gattungsspezifischen Merkmalen (v. a. aus der Klassik) spielen.

Thematisch besprechen wir in diesem Band Balladen, die spannende, traurige und schaurige Geschichten erzählen, das Gemüt bewegen und uns „das Blut in den Adern gefrieren“ lassen (vgl. Zumbach 2008: 7), aber auch moderne Balladen mit ironischen und komischen Tendenzen.

Mit der gesetzten Auswahl ist der Versuch verbunden, der Verengung der literarischen Gattung auf die Kunstballade der deutschen Klassik – wie sie nicht nur im Deutschunterricht, sondern auch in zahlreichen Balladenanthologien dominiert – entgegenzuwirken. Dabei wurde in der hier vorgenommenen Auswahl die lange Tradition der Identitätsstiftung dennoch nicht außer Acht gelassen, wohl wissend, dass diese im Rahmen ideologischer Erziehungspraktiken funktionalisiert wurde und in der Gegenwartsgesellschaft die Herstellung einer kollektiven Identität in dieser Form nicht mehr angemessen ist. Die Grundfunktionen der Ballade,

menschliche Widerfahrnisse zu thematisieren,

kollektive Mythen zu transportieren,

Werte und Normen zu verhandeln,

Handlungsorientierung anzubieten (vgl. Matuschek/Wiesing 2017),

sind jedoch Momente, die auch und gerade in Zeiten fehlenden Zugehörigkeitsbewusstseins und fehlender demokratischer Verantwortung zur Positionsbestimmung auffordern sollen. Damit scheint naheliegend, dass die Ballade nicht nur Poesie für das Gefühl, sondern auch für den Verstand ist. Verstärkt wird diese Wirkung zusätzlich durch ihr hohes performatives Potenzial, der sich in unterschiedlichen medialen Kontexten entfalten kann (Rezitation auf Tonträgern, in Musikclips, als Liveauftritt usw.). Auch deshalb darf sie im heutigen Deutschunterricht nicht fehlen.

Literatur zur Vertiefung

BARTL, Andrea / ERK, Corina / HANAUSKA, Annika / KRAUS, Martin (2017). Die Ballade. Neue Perspektiven auf eine traditionsreiche Gattung. Würzburg: Königshausen & Neumann.

SEGEBRECHT, Wulf (2012). Deutsche Balladen. Gedichte, die dramatische Geschichten erzählen. München: Hanser.

2.2Geschichte der Ballade

Wenngleich die Wirkung der Ballade in anderen Ländern nicht so ein Ausmaß wie im englischen, skandinavischen und deutschen Sprachraum entfaltete, gab die Ballade in Italien, Frankreich, Spanien und später auch in Russland den volkstümlichen Erzählungen – teilweise abgewandelt – eine literarische Form.

Früheste Aufzeichnungen finden sich in Italien. Dort thematisierten bereits im 12./13. Jahrhundert Dante und Petrarca in ihren romantischen Texten Leid und Glück der Minne. In ihrer stark lyrischen Erzählweise grenzten sich diese jedoch deutlich von den im Spätmittelalter (15. Jh.) in Frankreich entstandenen lasterhaften Balladen des François Villon (z. B.: „Sommerballade von der armen Louise“) ab. Im 19. Jahrhundert belebte Jean Arthur Rimbaud, einer der wirkungsmächtigsten französischen Dichter, diese Gattung wieder, der durch die Übersetzungen von Paul Zech bald auch über die Grenzen Frankreichs hinweg bekannt wurde. In Spanien entwickelte sich in den Anfängen des Siglo de Oro („goldenes Zeitalter“) im 14./15. Jahrhundert die Romanze. Als narrativ-lyrische Gedichtform in beliebiger Länge in Achtsilbern mit Assonanzen bei den Versen der geraden Zahlen wurde sie zunächst singend von Spielleuten vorgetragen, bevor sie sich zu dem bis heute gesungenen Volkslied entwickelte. Die im 16. Jahrhundert entstandenen Kunstromanzen u. a. von Lope de Vega und Luis de Góngora y Argote, die nunmehr in großen Sammelbänden wie z. B. den Romancero general (1600) veröffentlicht wurden, beeinflussten auch die deutsche Balladendichtung (vgl. Simson 2001). Lange Zeit u. a. von Goethe als Synonym für Balladen verwendet, erhielten sie erst später mit ihrem deutlich „komischeren Charakter“ einen eigenen Stellenwert. In der modernen spanischen Literatur wurde die mittelalterliche Gattung der Romanze in verschiedenen Werken (z. B. „Romance de la Guardia Civil espanõla“) von Federico Garcia Lorca wieder aufgegriffen.

 

War schon die Antwort auf die Frage nach einer allgemeingültigen Definition der Ballade schwierig, verwundert es nicht, dass auch die Erwartung an eine lineare, einsträngige Entwicklungsgeschichte zur Ballade enttäuscht werden muss. Denn allein schon die etymologische Betrachtung auf die Gattungsbezeichnung Ballade „ist geeignet, irrezuführen“ (Fromm 1982: 383). Hier verweisen die vielseitigen Begriffsdefinitionen stets auf den lateinischen Ursprung von ballare – tanzen. Damit ergeben sich verschiedene Entwicklungsstränge, welche neben dem provenzialischen (ballada) und dem italienischen Tanzlied (ballata) auch das alt-französische balete und das englische ballad, ein volkstümlich-episches Lied, als den Ursprung der Ballade ausweisen. Diese etymologischen Ausführungen betonen die Verbindung der Ballade zu Tanz und Gesang sowie ihre unterschiedlichen europäischen Einflüsse. Inzwischen ist die Auffassung, dass Balladen Tanzlieder seien – obwohl sie sich noch zahlreich in Lehrbüchern finden lässt –, durch verschiedene Arbeiten von Volkskundler:innen und Literaturhistoriker:innen widerlegt. Und so gilt heute: Bei Tänzen wurde selten gesungen, „und wenn doch, dann nie erzählend“ (Gaier 2019:7). Gaier hält demnach resümierend fest: „Balladische Texte wurden nicht getanzt, hatten individuelle Autoren und wurden vom Volk nachgesungen.“ (ebd. 2019: 7). Aufgrund dessen gibt es für ihn keine Volks- sondern nur eine Kunstballade (ebd.: 12f).

Im folgenden Kapitel soll der Blick nicht nur auf nationale und internationale „Anknüpfungslinien“ (Franz 1987: 38) der Ballade, wie das spätgermanische Heldenlied, die in England verbreitete volkstümliche-epische ballad oder das provenzialische Tanzlied gerichtet werden, sondern auch auf verschiedene, sich teilweise parallel herausbildende literarische Nachbargattungen wie das Zeitungslied, den Bänkelsang, die Moritat und die Romanze. Erst dieser umfangreiche Blick ermöglicht es, nicht nur die Kunstballade, die Ballade „im eigentlichen Sinn“ (ebd.) zu erfassen, sondern auch die Besonderheiten der „modernen Ballade“ (u. a. Piontek 1964, Riha 1965 und 1975, Pratz 1967), die eben jene Nachbargattungen wie den Bänkelsang und die Moritat teilweise erneut aufgreift, zu beschreiben.

Ausgehend von den formalen und inhaltlichen Vorläufern der Ballade führt der Blick zurück bis ins 9. Jahrhundert zum spätgermanischen, episch-dramatischen Heldenlied. Das älteste von diesen bis heute erhaltenen Liedern ist das „Hildebrandslied“ – ein germanisches Stabreimgedicht, welches in althochdeutscher Sprache eine Episode aus dem Sagenkreis um Dietrich von Bern thematisiert. Diese Form balladesker Dichtung, in der vornehmlich heroisch-kämpferische Motive in einer ritterlich-aristokratischen Kultur von Spielleuten und Sängern an Fürstenhöfen vorgetragen wurden, findet zwar mit Ausnahme einiger Wächter- und Taglieder im christlichen Mittelalter keine Fortsetzung, wird inhaltlich jedoch in den später entstandenen Balladen, u. a. bei den ausschließlich männlichen Vertretern des Literaturkreises Tunnel über der Spree um Moritz Graf von Strachwitz und anderen, immer wieder aufgegriffen.

Ein weiterer wichtiger Strang in der Entstehungsgeschichte der Ballade ist die „Volks“ballade, die in Deutschland gegen Ende des 13. Jahrhunderts, in einer Zeit tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen (u. a. Ablösung der höfisch-feudalen Kultur durch städtisch-bürgerliche Lebensverhältnisse), entsteht. Wie ihr Name bereits betont, zählt sie nicht zur höfischen Poesie, sondern öffnet sich bewusst dem wachsenden bürgerlich-städtischen Publikum. Während im ‚alten‘ „Hildebrandslied“ aus dem 9. Jahrhundert noch das altgermanische, tragisch-heroische Schicksalsdenken dominiert (Hildebrand tötet seine Söhne), versöhnen sich Vater und Sohn in der jüngeren Fassung. Thematisiert werden überwiegend zeitgemäße Themen und Konflikte, mit denen sich die Bürger:innen identifizieren können, insbesondere in der Blütezeit der „Volks“ballade zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert (vgl. Grimm 2002). Hierzu zählen „Kindesmord, Unschuld und Verführung, Treue und Verrat, ständische Herrschaft und Unterwerfung, soziale Not und Erniedrigung, religiöse Gegensätze zwischen Juden und Christen, Recht- und Gesetzlosigkeit sowie soziale Vergehen aller Art“ (Pinkerneil 1978: Vorwort). Dies sind auch die Themen, die in den mit der Ballade verwandten Gattungen des Zeitungsliedes, des Bänkelsangs und der Moritat aufgegriffen werden. Wenngleich in ihrer Dramaturgie leichte Unterschiede liegen, eint sie doch ihr Bericht von spektakulären Tagesereignissen wie Hexenverbrennungen, Naturkatastrophen, Unglücksfällen und im Fall der Moritat von Mord, Überfall und Hinrichtung. Dabei überzeugen jene literarischen Inszenierungen neuster Nachrichten fahrender Sänger auf öffentlichen Plätzen vor allem durch die in Strophen gefasste und gereimte Vortragskunst und nicht durch literarische Qualität.

Abb. 2.2:

Bänkelsänger mit Frau und ländlichem Publikum, Cornelius Suter d. J., Beromünster, Eglomisé auf Glas, 25,5 x 19 cm, Schweizerisches Landesmuseum, Zürich

Unterstützt wird der Vortrag des Zeitungsliedes ab dem 18. Jahrhundert, wie in Abb. 2.2 dargestellt, durch die Illustration des gesungenen Textes. Vortrag und Demonstration erfolgen dabei von einem erhöhten Standpunkt (Bank, Bänkel) aus, von dem der Sänger mit einem Stab auf die seinen Bericht illustrierenden Bilder verweist und der jener Form der Inszenierung den Namen Bänkelsang gegeben hat. Als „Übermittler von – gereimten – Sensationsnachrichten“ (Berger/Püschel 1961: 6) in Form von schauerlich-rührseligen Mordgeschichten, Naturkatastrophen oder Kriegsläufen sind sie bis ins 19. Jahrhundert hinein auf Jahrmärkten und Messen in ganz Europa anzutreffen. Unterstützt wird der Bänkelsänger meist von seiner Frau, die ihn im Gesang oder Zeigen der Bilder ablöst. Kennzeichnend für den Bänkelsang als Textgattung sind Moralappelle auf der einen und Wahrheitsbekundungen wie „zweifelt an der Wahrheit nicht“ (Hinck 1972: 84) auf der anderen Seite. Damit kann er zwar nicht als Ballade im eigentlichen Sinne bezeichnet werden, sein Charakter ist jedoch ein ähnlich dramatischer.

 

Wiederbelebt wird die Tradition der „Volks“ballade im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, die ‚Volkstümlichkeit‘ erneut als ästhetische Strategie nutzt (vgl. Berner 2020:1); hier vor allem durch die Veröffentlichung von leicht singbaren englischen und schottischen Gedichten im Reliques of Ancient English Poetry (1765) von Thomas Percy, in Gesänge des Ossians (1762/63) von James Macpherson sowie in The English and Scottish Popular Ballads (1889) von F. J. Child.

Die Echtheit der Gesänge aus keltischer Vorzeit, die MacPherson 1762/1763 veröffentlicht, ist bereits zur Entstehungszeit angezweifelt worden – zu Recht, wie sich bereits kurze Zeit später herausstellte. Macpherson gab zu, die Gesänge selbst geschrieben zu haben. Dieser Betrug tat ihrer Verbreitung jedoch keinen Abbruch.

In einer Zeit, die sich erneut von der gekünstelten Hofdichtung des Barock abwendet, treffen die Gedichte und Gesänge, in denen kämpferisch und anklagend gestaltete Schicksale vermeintlich aus dem Leben des Volkes bzw. auserwählter edler Helden thematisiert werden, auf fruchtbaren Boden. In Anlehnung an die Gesänge des Ossian und der Reliques of Ancient English Poetry ruft Johann G. Herder 1777 in einem Essay alle Deutschen dazu auf, gleichfalls die deutschen Kunstformen wie Volkslieder, Balladen und Romanzen zusammenzutragen:

Deutschland, du hast keinen Shakespeare, hast du keine Gesänge deiner Vorfahren, deren du dich rühmen könntest? Die Stimme eurer Väter ist verklungen und schweigt im Staube? […] Du hast keine Abdrücke deiner Seele die Zeiten hinunter? Kein Zweifel! Sie sind gewesen, sie sind vielleicht noch da; nur liegen sie unter Schlamm, sind verkannt und verachtet […]. Nun müssen wir Hand anlegen, aufnehmen, suchen! […] Legt also Hand an, meine Brüder, und zeigt unserer Nation, was sie ist und nicht ist, wie sie dachte und fühlte, oder wie sie denkt und fühlt!

Herders Aufruf, wie jüngst im Band von Berner (Inszenierte Volkstümlichkeit in Balladen von 1800–1850, 2020) herausgearbeitet, nährt einmal mehr den Mythos einer einfachen und einprägsamen Volkspoesie mit anonymer Autorenschaft, mündlicher Tradierung und kollektiver Verbreitung. Sie steht, so wird es inszeniert, im Gegensatz zu einer ‚Gelehrtendichtung‘ und ‚Kunstpoesie‘, die sich durch einen historisch fassbaren einzelnen Autor bzw. Autorin sowie eine für die Rezeption maßgebliche schriftlich fixierte Hauptfassung auszeichnet (vgl. Berner 2020: 7). Wie jedoch bereits mehrfach betont, handelt es sich bei jener ‚Volkspoesie‘ lediglich um ein Interpretationsmuster bzw. „poetisches Postulat“ (ebd.). Das Ergebnis des Aufrufs ist eine große Volksliedersammlung, die er 1778/79 als Stimmen der Völker in Liedern veröffentlicht. Darin enthalten sind jedoch weniger deutschsprachige Originale als vielmehr eine Reihe von Übersetzungen aus dem Englischen, Spanischen, Dänischen, Litauischen, aber auch Nachdichtungen, u. a. aus Percys Sammlung, die durch verschiedene poetische Strategien auf formaler und inhaltlicher Ebene des Textes den Eindruck von ‚Volkstümlichkeit‘ erzeugen (vgl. Berner 2020:7). Neben Herders Volksliedsammlung tragen aber auch der Band von Carl Friedrich Wairz Romanzen und Balladen der Deutschen (1799/1800), die von 1805 bis 1808 in drei Bänden zusammengestellten Volksliedtexte von Clemens Brentano und Achim von Arnim unter dem Titel Des Knaben Wunderhorn herausgegebene Sammlung sowie die Zusammenstellung Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder von Ludwig Uhland (1844) zur Verbreitung balladesker Texte bei, die derzeit zum „Muster für die nun erwachende deutsche Balladendichtung werden“ (Elsner 1955: 14). Die ersten Balladen, die hier genannt werden müssen, sind „Adelstan und Röschen“ (1772) und „Die Nonne“ (1775) von Ludwig Christoph Heinrich Hölty sowie „Leonore“ (1773) von Gottfried August Bürger. Je nach Auswahl der Kriterien gilt mal der eine, mal der andere Literat als Begründer der Kunstballade, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vielerorts in Deutschland entsteht.

Beeinflusst wird die deutsche Kunstballade, welche von manchen als die Ballade „im eigentlichen Sinn“ (Franz 1987: 38) bezeichnet wird und damit das Bild der Gattung für lange Zeit prägt, folglich weniger vom germanischen Heldenlied der frühen Feudalzeit oder dem italienischen und französischen Tanzlied, sondern im Wesentlichen durch die zuvor beschriebene wiederbelebte Tradition der „Volks“-Balladen. Besonders deutlich ist dies in Bürgers Ballade „Leonore“ sichtbar, die eine Reihe vertrauter Elemente der „Volks“-Ballade, wie „ihren liedhaften, rezitativen Grundton, Reime, Lautmalereien, refrainartige Wiederholungen, dialogischen Erzählablauf und ihre dramatische Handlungszuspitzung“ (Pinkerneil 1978/2000: IX) aufnehmen. In Verbindung mit einer größeren Zeitnähe, Individualisierung und symbolischen Durchdringung der einzelnen Vorgänge schafft Bürger jedoch eine Erneuerung volkstümlicher Poesie, die ihn und jene neue Form der Kunstballade überall bekannt macht (vgl. ebd.).

Die Ballade als „Grenzgängerin zwischen Lyrik, Epik und Dramatik“ (Pinkerneil 1978/2000: X) eröffnet dem Sänger des Sturm und Drang, so Goethe, nun eine Vielzahl von Möglichkeiten: „Er kann lyrisch, episch, dramatisch beginnen, nach Belieben die Formen wechseln, fortfahren, zum Ende hineilen oder es weit hinausschieben. Der Refrain, das Wiederkehren eben desselben Schlußklanges, gibt dieser Dichtart den entschieden lyrischen Charakter“ (Goethe, zit. n. Trunz 1974: 400). Diese grundsätzliche Dynamik und Offenheit jener erzählenden Gedichte ist auch Merkmal der Balladen von Goethe und Schiller, deren Schaffenskraft im so genannten Balladenjahr (1797) ihren Höhepunkt erreicht. „Aristokratisiert“ (Hinck 1978: 12) werden die Züge des Volksliedes in einer Reihe von Balladen aufgenommen, die bis heute zu den bekanntesten dieser Gattung zählen. Zu nennen sind hier Goethes „Der Zauberlehrling“ (Kap. 5.2.2), „Die Braut von Korinth“ und die Ballade „Der Schatzgräber“ sowie Schillers „Der Taucher“, „Der Handschuh“ (Kap. 5.1.4), „Die Kraniche des Ibykus“ (Kap. 5.3.4) oder der „Ring des Polykrates“. Aber auch in anderen europäischen Nationen entstanden Balladen, die heute zu den Klassikern der jeweiligen Nationalliteraturen zählen.

Etwa zeitgleich entwickelt sich in Spanien die Romanze als literarische Übermittlerin bedeutender nationaler Geschehnisse und fröhlicher Ereignisse aus dem Alltag. Diese neue literarische Form kann sich in jener Zeit nicht nur als eigenständige Dichtform in Deutschland etablieren, sondern gilt neben den englischen ballads ebenfalls als Quelle der deutschen Balladendichtung. Die Übergänge zwischen beiden Dichtformen sind fließend, bisweilen kaum sichtbar. Lediglich in der thematischen Ausgestaltung sind feine Unterschiede auszumachen. Während sich die Ballade jener Zeit zunächst auf die Darstellung des düster-tragischen und fabelhaften Geschehens beschränkt, werden in der Romanze heitere Begebenheiten, die – im Gegensatz zur Ballade – zumeist friedlich enden, geschildert. Dabei vermischen sich die zweizeilig gereimten Strophen im Refrain der Ballade jedoch bald mit den ungereimten vierzeiligen Strophen der spanischen Romanze und lassen neue Vers- und Strophenformen sowie Reimstellungen entstehen (vgl. Berger/Püschel 1961). Dementsprechend verwundert es nicht, dass auch in den berühmten Briefwechseln zwischen Goethe und Schiller jene Texte, die wir heute als Ballade bezeichnen, von den Briefautoren mal als Romanzen und mal als Balladen bezeichnet werden. Heute getrennt, bezeichneten sie bis zu Fontane ein und dieselbe Gattung (vgl. Hinck 1978): ein erzählendes Gedicht mit einer stark dramatischen Handlung.

Beeinflusst durch ihr starkes emotionales Moment, dem die Ballade ihren volkstümlichen Charakter verdankt, ist sie mit Blick auf die große Zahl an Menschen, die des Schreibens und Lesens nicht mächtig sind, vor allem für den lauten Vortrag geschaffen. Folglich haben sich schon früh so genannte Balladenlieder entwickelt. Besondere Berühmtheit erlangte das Balladenlied „Der König von Thule“, welches Gretchen in Goethes Faust singt (V. 2759–2782). Inzwischen mehr als sechzigmal vertont, entstehen in der Folgezeit nicht nur klassische Inszenierungen von Franz Schubert, Franz Liszt und Robert Schumann, sondern bis heute auch moderne Umsetzungen.

Eine besonders interessante musikalische Umsetzung der Ballade „Der König in Thule“ von J .W. v. Goethe veröffentlichte das deutsche A-cappella-Pop-Quartett Maybebop (https://www.youtube.com/watch?v=gxmEv-6evOk).

Entgegen traditionellen Setzungen, welche die Ballade mit dem Ende der Spätromantik, dem Beginn der eigentlichen modernen Dichtung, schon fast am Ende sehen bzw. jene Zeit als eine „Nachblüte, ein letztes Aufflackern über einer fast völlig erloschenen Glut“ (Baumgärtner 1979: 66) bezeichnen, entstehen auch im 19. und 20. Jahrhundert noch weitere Balladen. Dabei haben sich gleich zwei Literaturvereine, der Tunnel über der Spree (Mitte des 19. Jh.) und der Göttinger Kreis (um 1900), intensiv um die „programmatische Pflege oder Wiederbelebung der Ballade“ (Hinck 1978: 87) bemüht. Orientiert an der „,zeitlosen‘ Kunst eines Percy“ (Weißert 1980: 89) werden diese z. B. im Tunnel über der Spree, u. a. von Moritz Graf von Strachwitz, Theodor Fontane, Gottfried Keller, Hoffmann von Fallersleben, Theodor Storm und Gottfried Keller, vorgetragen und von den Zuhörenden bewertet. Vorzugsweise referiert werden Geschichtsballaden, welche sich bewusst von der Auseinandersetzung mit der Gegenwart abgrenzen und sich vielmehr der eigenen vaterländischen, brandenburgisch-preußischen Geschichte widmen (vgl. Weißert 1980). Dadurch wird die Ballade im Laufe des 19. Jahrhunderts „[w]ie keine andere literarische Gattung“, so Riha 1975, „zum ‚Walhall‘ der deutschen Literatur […], zum Ort, an dem Vaterländisches sich verklärt; die Nachfolger im zwanzigsten Jahrhundert drehen sie dann zum dünnen Ende einer betont nationalen und völkischen und schließlich nationalsozialistischen Literatur“ (ebd.: 72).

Wenngleich die Texte von Börries von Münchhausen, Agnes Miegel, Lulu von Strauß und Torney von Walter Hinck als „aufgeblähtes Kraftmeiertum in schlechten Versen“ (1978: 87) und von Gunter E. Grimm als „hoffnungslos anachronistisch“ (2002: 19) beschrieben werden, gehören die vielfach vertonten Balladen, u. a. über die „romantische Sehnsucht nach der aristokratischen Zeit des Mittelalters“ (Weißert 1980: 90) wie bei Strachwitz, zum Kanon der Jugendbewegung der damaligen Zeit. Von Ignaz Hub werden sie gar in seiner Sammlung Deutschlands Balladen und Romanzendichter (1849/1850) als beliebteste Dichtart der Deutschen vorgestellt.

Die starke identitätsstiftende Funktion der Balladen nutzend, sind jene Texte von einem starken vaterländischen Pathos und antisemitischen Geist sowie einer unkritischen Heldenverehrung geprägt, die sich in der Behandlung historischer Stoffe in traditionellen Formen niederschlägt (vgl. Pinkerneil 1978/2000). Deutlich wird hieran, dass die Herstellung einer kollektiven Identität durch Balladen auch missbraucht werden kann. Nur marginal sind daher die Ausführungen in literaturwissenschaftlichen Abhandlungen zu der „historisch-heroischen Kostümierung“ (Köpf 1976: 8) jener Zeit, durch welche die Ballade einen „Teil ihrer vielfältigen Möglichkeiten wie ihres Ansehens verloren“ (ebd.) hat. Die Ballade wird zum „Stiefkind der Forschung“ (Müller-Seidel 1980: XII). Nur vereinzelt sind sie folglich in aktuellen Balladenanthologien (u. a. bei Segebrecht 2012) zu finden.

Dieses Kapitel der Entwicklungsgeschichte der Ballade, das vor allem durch die nationalistische und später faschistische Vereinnahmung der Gattung geprägt ist, gestaltet sich daher als besonders schwierig. Auch Hinck schreibt 1972: „Wer sich heute mit der Gattung (Ballade) ernsthaft noch einläßt, meidet den Begriff oder hilft sich aus der Verlegenheit mit dem neutralen ‚Erzählgedicht‘. […] Wo sonst die Ballade noch beibehalten wird, ist es zumeist Signal für Parodie“ (80). Auch Müller-Seidel schreibt: „Wir müssen es vielmehr, um ehrlich zu sein, aussprechen: unser Verhältnis zur Ballade ist gestört. Die deutsche Geschichte ist nicht spurlos an der Geschichte dieser Gattung vorübergegangen“ (1964/68: XX). So steht sie in den 1950er-Jahren immer wieder im Brennpunkt literaturwissenschaftlicher und literaturdidaktischer Kritik. Diese richtet sich jedoch nicht gleichermaßen gegen alle Formen der Ballade, sondern fast ausschließlich gegen die „Heroisierung eines militanten Nationalismus und [das] der idealistischen Geisteswelt des 19. Jahrhunderts verpflichtete […] Bildungsgut […]“ (Köpf 1976: 13) jener historisierenden Ritter- und Heldenballade.