Baskerville Hall - Das geheimnisvolle Internat der besonderen Talente - Ali Standish - E-Book
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Baskerville Hall - Das geheimnisvolle Internat der besonderen Talente E-Book

Ali Standish

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Beschreibung

Arthur Doyle ermittelt als Schüler in Baskerville Hall – eine atemberaubende Internats- und Detektivgeschichte und Start einer neuen Reihe für Kinder ab 10 Jahren

Arthur ist kurz davor, die Schule hinzuschmeißen, als er von einer Einladung in das geheimnisvolle Internat Baskerville Hall überrascht wird. Schon am nächsten Tag soll es losgehen! In einem gigantischen Luftschiff holt ihn der Direktor höchstpersönlich ab und fordert ihn auf, das Steuer zu übernehmen – das erste von vielen gefährlichen Abenteuern, die Arthur erwarten. Denn die neue Schule ist ein faszinierender Ort voller Geheimnisse, mit schiefen Türmen, umherstreifenden Wölfen und ungeklärten Explosionen. Von den ausgestorbenen – aber sehr lebendigen – Tieren, unheimlichen Maschinen und dem zwielichtigen Geheimklub gar nicht zu reden. Bei der Aufklärung einer mysteriösen Einbruchsserie kann Arthur sich jedoch felsenfest auf zwei Dinge verlassen: auf seine Freunde und seinen messerscharfen Verstand.

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Das ist das Cover des Buches »Baskerville Hall« von Ali Standish

Über das Buch

Arthur Doyle ermittelt als Schüler in Baskerville Hall — eine atemberaubende Internats- und Detektivgeschichte und Start einer neuen Reihe für Kinder ab 10 JahrenArthur ist kurz davor, die Schule hinzuschmeißen, als er von einer Einladung in das geheimnisvolle Internat Baskerville Hall überrascht wird. Schon am nächsten Tag soll es losgehen! In einem gigantischen Luftschiff holt ihn der Direktor höchstpersönlich ab und fordert ihn auf, das Steuer zu übernehmen — das erste von vielen gefährlichen Abenteuern, die Arthur erwarten. Denn die neue Schule ist ein faszinierender Ort voller Geheimnisse mit schiefen Türmen, umherstreifenden Wölfen und ungeklärten Explosionen. Von den ausgestorbenen — aber sehr lebendigen — Tieren, unheimlichen Maschinen und dem zwielichtigen Geheimclub gar nicht zu reden. Bei der Aufklärung einer mysteriösen Einbruchsserie kann Arthur sich jedoch felsenfest auf zwei Dinge verlassen: auf seine Freunde und seinen messerscharfen Verstand.

Ali Standish

Baskerville Hall

Das geheimnisvolle Internat der besonderen Talente

Aus dem Englischen von Sandra Knuffinke und Jessika Komina

Hanser

Für Luka, Emma und Eva, Paige und Will, Anna und Haley, Ava Katherine und alle Cousins und Cousinen, die da noch kommen mögen

Wenn man das Unmögliche ausschließt, muss das, was übrig bleibt, auch wenn es noch so unwahrscheinlich ist, wahr sein.

Sherlock Holmes

Eins

Eine Studie in Scharlachrot

Arthur hatte fast immer recht. In der Schule wusste er zum Ärger seiner Klassenkameraden stets als Erster die richtige Antwort, aber allen war klar, dass er nichts dafürkonnte. Er war nun mal einfach ein heller Kopf.

Wenn man Arthur Conan Doyle an diesem kühlen Septembertag gefragt hätte, ob etwas Seltsames in der Luft lag, ein Abenteuer, vielleicht sogar Gefahr, dann hätte er einen mit Sicherheit für einen Betrüger gehalten, der einem den letzten Penny aus der Tasche ziehen wollte.

Aber selbst Arthur hatte, wie sich noch herausstellen sollte, eben nur fast immer recht.

»Das ist alles?«, fragte er an diesem schicksalhaften Nachmittag mit einem beklommenen Blick auf das Stück Hammelfleisch auf Mr Frasers Waage. Wenn man das durch sieben teilte, bekam ja jeder nur einen winzigen Happen ab.

»Alles, was ich dir heute für dein Geld geben kann, fürchte ich«, erwiderte Mr Fraser bedauernd. Der Metzger lächelte, aber Arthur fielen die dunklen Ringe unter seinen Augen auf.

Er warf einen Blick in den hinteren Teil des mit Sägespänen ausgestreuten Ladens, wo normalerweise Mrs Fraser arbeitete, doch heute war sie nicht da. Ihre Sehkraft hatte in letzter Zeit immer mehr nachgelassen — das hatte Arthur an ihren zusammengekniffenen Augen erkannt, jedes Mal, wenn er hereingekommen war. Vielleicht war es ja inzwischen so schlimm geworden, dass sie nicht mehr arbeiten konnte. Das würde bedeuten, dass sie einen Arzt brauchte und Mr Fraser außerdem jemanden einstellen musste, der ihre Aufgaben übernahm.

Mit anderen Worten: Mr Fraser konnte es sich einfach nicht mehr leisten, ihm ein bisschen mehr zu geben, als er bezahlen konnte.

»Ach so«, sagte Arthur, bevor ihm seine guten Manieren wieder einfielen und er rasch hinzufügte: »Danke, Sir.«

Als er mit seinem in Papier gewickelten Einkauf zur Tür ging, musterte er die anderen Kunden in der Warteschlange. Ein Mann schien auf dem Weg hierher so sehr in Gedanken versunken gewesen zu sein, dass er in einen Pferdeapfel getreten war. Eine Frau hatte einen schludrig geflickten Riss im Rock. Und ein Junge versteckte, der Beule im Leder nach zu schließen, ein Messer in seinem Stiefel.

Besser, Arthur konzentrierte sich auf diese Dinge, als dass ihm beim Anblick von Mr Frasers Auslage das Wasser im Mund zusammenlief, nur damit all das köstliche Kalb- und Schweinefleisch am Ende auf den Tellern anderer Familien landete.

Vergiss es einfach, dachte Arthur. Jedenfalls für heute.

Er war regelrecht erleichtert, als er zurück nach draußen trat. Auf den steilen, kopfsteingepflasterten Straßen von Edinburgh tummelten sich Zeitungsjungen, Menschen mit Einkaufskörben, Pferdefuhrwerke und Mädchen, die kleine Blumensträuße anboten.

Es roch nach frischem Ingwerkuchen aus der Bäckerei Barrowclough und von Südwesten her kündigte eine kühle Brise den Herbst an. Das Laub der wenigen Bäume am Straßenrand raschelte verheißungsvoll, als wartete es nur noch auf den richtigen Moment, um herabzufallen.

Für Arthur gab es kaum etwas Schöneres als Septembernachmittage. Denn der September brachte ein neues Schuljahr. Neuen Unterricht. Neues Wissen.

Heute dagegen ließ der Wind ihn einfach nur frösteln.

Bevor er merkte, wohin seine Füße ihn trugen, hatte er die Straße zur Buchhandlung W. Scott überquert und schaute einer Dame mit eisengrauem Haar dabei zu, wie sie das Schaufenster dekorierte. Zwar konnte er von hier aus keinen der Titel entziffern, aber die Bücher sahen mindestens genauso verlockend aus wie zuvor das Fleisch beim Metzger — vielleicht sogar noch verlockender. Allein der Gedanke an all die Orte, die sich zwischen den Seiten verbargen, all die aufregenden Abenteuer, weit weg von Schottland!

Sein sehnsüchtiger Seufzer ließ die Scheibe vor ihm beschlagen.

Vergiss es einfach, ermahnte er sich wieder. Jedenfalls für heute.

Solange seine Eltern nicht mal genug Geld hatten, um alle satt zu bekommen, würde es wohl erst recht nicht dafür reichen, Arthurs Wissenshunger zu stillen.

Wie zur Bestätigung riss ein Klopfen von der anderen Seite der Scheibe Arthur aus seinen Gedanken. Die Buchhändlerin schüttelte tadelnd den Kopf und verscheuchte ihn mit strenger Geste.

Mitten im Gewühl auf dem Bürgersteig traf Arthur eine Entscheidung.

Er dachte an Mr Crabtree, den brummigen Direktor der Newington Academy, der aus dem Mund nach saurer Milch müffelte und einmal zu Arthur gesagt hatte, jemand mit einem so wachen Verstand wie seinem könne es noch weit bringen im Leben.

Doch Arthur hatte nicht vor, Mr Crabtrees Theorie auf die Probe zu stellen, denn er würde nächste Woche nicht an die Newington Academy zurückkehren.

Jemand musste schließlich die Familie über Wasser halten, und nachdem sein Vater immer weniger und weniger arbeitete, war dieser Jemand wohl Arthur. Die Vorstellung jagte ihm zwar Angst ein, aber sein Entschluss stand fest.

Vielleicht sollte er am nächsten Tag noch mal in der Metzgerei vorbeischauen und Mr Fraser um eine Anstellung als Lehrling bitten. Er konnte sich natürlich Schöneres vorstellen, als den ganzen Tag Fleisch zu zerlegen, aber das war immer noch besser, als Schornsteine zu kehren oder — ihn überlief ein Schauder — Gräber auszuheben.

Jetzt musste er aber erst mal nach Hause, damit seine Mutter mit dem Zubereiten des Abendessens anfangen konnte.

Als er sich umdrehte, stieß er beinahe mit einer Frau zusammen, die einen Kinderwagen die Straße hochschob.

»Entschuldigung, Ma’am«, murmelte er.

Doch die Frau schien kaum Notiz von ihm zu nehmen.

Merkwürdig, dachte Arthur.

Er musterte sie genauer. Sie war hübsch, obwohl ihre Miene ein wenig verkniffen wirkte, so als hätte sie Schmerzen. Ihr Gesicht hob sich mondbleich von dem satten Scharlachrot ihres Kleids und dem bunten Blumenstrauß ab, der aus ihrer Umhängetasche lugte. Ohnehin ließ das Kleid sie aus der Masse von Passanten hervorstechen, die überwiegend gedeckte, halb zu Grau verblasste Farben trugen.

Die Frau schien für eine Sekunde zu erstarren.

Und in dieser Sekunde registrierte Arthur drei Dinge.

Erstens: Das Kleid der Frau war neu.

Zweitens: Das Baby im Wagen war noch ziemlich klein — sicher nicht älter als zwei Monate.

Drittens: Der Atem der Frau ging auffallend flach.

Im nächsten Moment flatterten ihre Lider, sie neigte sich nach vorn wie eine Teekanne und kippte einfach um.

Arthur ließ sein Fleischpäckchen fallen und fing die Frau auf, bevor sie mit dem Kopf auf den Bürgersteig schlug.

Erleichtert legte er sie ab, so vorsichtig es ging. Also hatte er die Zeichen richtig gedeutet. Sobald die Frau wieder bei Bewusstsein war, konnte sie mitsamt ihrem Baby wohlbehalten den Heimweg antreten.

Das Baby!

Arthur fuhr herum, während sich der Kinderwagen hinter ihm schon in Bewegung setzte. Hastig wollte er danach greifen, doch es war zu spät. Immer schneller und schneller sauste das Baby den steilen Bürgersteig hinunter.

Arthurs Herz machte einen Satz, als der Wagen an einen hochstehenden Pflasterstein stieß und seinen Kurs gefährlich Richtung Straße änderte … auf der ausgerechnet jetzt eine von vier riesigen Pferden gezogene Kutsche herandonnerte.

Zwei

Eine seltsame Begegnung

Die Pferde drohten den Kinderwagen zu zertrampeln, aber Arthur war einfach zu weit weg. Fieberhaft sah er sich um und hob kurzerhand ein Steinchen vom Boden auf.

»Hey!«, schrie er, so laut er konnte, während er gleichzeitig mit voller Kraft das Steinchen warf und betete, dass er traf.

Und tatsächlich, ganz wie erhofft, erwischte sein Wurfgeschoss den Mann, der direkt vor dem bergab rasenden Kinderwagen den Bürgersteig hinunterlief, am Hinterkopf. Auf der Suche nach dem Übeltäter wirbelte der Getroffene herum und sah stattdessen den Kinderwagen auf die Bordsteinkante zuschießen. Er hechtete nach vorn und bekam ihn im letzten Moment zu fassen. Eine Sekunde später rumpelte die Kutsche vorbei.

Arthur atmete auf. Inzwischen hatten sich die ersten Schaulustigen um sie versammelt und verrenkten sich die Hälse nach dem Kinderwagen. Der Mann schob ihn mit einer Hand zurück den Hügel hinauf, während er sich mit der anderen auf einen Gehstock stützte. Überrascht stellte Arthur fest, wie betagt der Retter des Babys wirkte — dafür war seine Reaktion überraschend flink gewesen.

»Hast du den Stein geworfen?«, fragte er Arthur mit vornehmem, etwas sprödem Akzent. Ein Engländer.

Arthur starrte den Mann staunend an, der sich nun seinen Stock unter den Arm klemmte und den Zylinder in die Stirn schob, um sich den Hinterkopf zu reiben. Sein Alter war nämlich nicht das Einzige, was Arthur an ihm bemerkenswert fand. Das runzlige Gesicht des Mannes war tief gebräunt, so als wäre er vor Kurzem von einer Tropenexpedition zurückgekehrt, sein schneeweißer Bart sorgfältig gestutzt. Er hatte graue Augen und eine lange, schmale Nase und trug einen maßgeschneiderten Dreiteiler aus Tweed. Sein Gehstock, das sah Arthur jetzt, war aus glänzendem Mahagoni mit einem silbernen Rabenkopf als Griff. Was verschlug so einen Gentleman denn in diese Gegend?

»Tut mir furchtbar leid, Sir«, sagte Arthur. »Ich dachte mir nur, wenn ich rufe, wissen Sie ja gar nicht, dass ich Sie meine. Und drehen sich vielleicht nicht rechtzeitig um.«

Der Mann musterte Arthur ausgiebig, bevor ein winziges Zucken durch seinen Bart ging. »Tja, ich muss zugeben, es gibt wohl schlechtere Gründe, einem völlig Fremden fast den Schädel einzuschlagen.«

Unterdessen war die griesgrämige Buchhändlerin aus ihrem Laden gekommen und hatte der Mutter des Babys auf die Beine geholfen. Die junge Frau hob ihr Kind aus seinem Deckennest und drückte es an sich.

»Wie ich höre, habe ich es dir zu verdanken, dass ich mich nicht verletzt habe«, wandte sie sich zuerst an Arthur und dann an den älteren Herrn. »Und Ihnen, dass mein Kind noch am Leben ist.«

Der Engländer schüttelte den Kopf. »Das war auch der Junge. Wäre er nicht so geistesgegenwärtig gewesen, hätte das Ganze wohl einen üblen Ausgang genommen. Einen wirklich üblen.«

Die Mutter bestand unter großem Trara darauf, Arthur den Blumenstrauß zu schenken, den sie gerade auf dem Markt gekauft hatte, während mehrere Passanten ihm anerkennend auf die Schulter klopften. Arthur, der eigentlich nur nach Hause wollte, wusste gar nicht, wie ihm geschah. Nachdem die Mutter mit dem Baby schließlich gegangen war und auch die Menge sich allmählich zerstreute, blieben Arthur und der sonderbare Gentleman allein zurück.

Der Mann lehnte sich an die Mauer der Buchhandlung und tippte sich nachdenklich mit seiner kalten Tabakpfeife an die Lippen.

»Du hast die Frau also aufgefangen, ja?«, erkundigte er sich. »Dann musst du ja außerordentlich gute Reflexe haben.«

»Nein, Sir«, erwiderte Arthur, verunsichert von dem durchdringenden Blick des Fremden. »Ich wusste bloß, dass sie ohnmächtig werden würde.«

»Ach? Woran hast du das denn erkannt?«

»Na ja, sie war so blass und schien schlecht Luft zu kriegen. Außerdem war ihre Taille sehr schlank, obwohl sie doch so ein kleines Baby in ihrem Wagen hatte. Und da ihr Kleid augenscheinlich neu war, dachte ich mir, sie hätte sich dazu vielleicht auch ein« — an dieser Stelle senkte er die Stimme zu einem Flüstern — »Korsett gekauft.«

Er konnte nur hoffen, dass der Fremde sich nicht wunderte, warum er sich mit solchen Dingen auskannte, aber er teilte sich nun mal ein Zimmer mit fünf Schwestern, und seine Mutter hatte gerade vor ein paar Monaten die kleine Constance zur Welt gebracht.

Arthur räusperte sich. »Offenbar war es zu straff geschnürt und das kann bekanntlich zu Atemnot führen, weswegen die betroffenen Damen manchmal …«

»In Ohnmacht fallen«, beendete der Fremde den Satz für ihn. »Ganz richtig.«

Die Glocke der nahen Kirche schlug zur vollen Stunde und Arthur erschrak.

»Bitte entschuldigen Sie«, stieß er hervor und bückte sich nach seinem Fleischpäckchen. »Ich muss jetzt dringend nach Hause.«

Der Mann lüpfte grüßend den Hut. »Deine Beobachtungsgabe hat dir heute gute Dienste geleistet«, sagte er. »Vielleicht sogar bessere, als du dir vorstellen kannst.«

Bevor Arthur wusste, was er auf diese seltsame Bemerkung erwidern sollte, hatte der Mann sich auch schon umgedreht und marschierte davon. Doch ehe er in der Menge verschwand, fiel Arthur ein weiteres interessantes Detail an ihm auf. Als der Mann die Straße heraufgekommen war, hatte er sich mit der rechten Hand auf seinen Stock gestützt. Jetzt jedoch, auf dem Weg zurück, hielt er ihn fest in der linken.

Drei

Das Größte überhaupt

Die Sonne verschwand gerade am Horizont, als Arthur zur Haustür hereinplatzte. Seine fünf Schwestern machten es sich abends gern zusammengerollt wie Katzen in sämtlichen Winkeln der Wohnstube gemütlich, darum war Arthur kein bisschen überrascht, als sie sich nun von überall her auf ihn stürzten. Mary schlang ihm die pummeligen Ärmchen um den Hals, während Caroline angetapst kam, sein Bein umklammerte und ihm liebevoll — aber durchaus schmerzhaft — ins Knie biss.

Anne und Catherine, die beiden Ältesten, stopften Strümpfe am Kamin, zwischen sich die kleine Constance in ihrer Wiege.

»Wo warst du denn so lange?«, erkundigte sich Anne und warf ihren Strumpf beiseite. Sie hasste Stopfen. »Wir haben uns schon Sorgen gemacht!«

»Catherine hat gesagt, wahrscheinlich musstest du einfach nur beim Metzger warten«, krähte Mary dazwischen, »aber dann hab ich gesagt, dass du bestimmt von Räubern entführt wurdest. Das wäre ja wohl viel aufregender gewesen!«

»Ja, wo warst du?«, wollte nun auch Catherine wissen, ihre ernste Miene vom Feuerschein erhellt. »Und was hast du da mitgebracht?«

»Blümchen!«, quietschte Caroline, die sofort nach dem Strauß aus Heidekraut und Disteln zu grapschen versuchte. »Meine Blümchen!«

Das Baby fing an zu glucksen, als es Carolines Gehopse sah, was wiederum Mary zum Lachen brachte. Arthur grinste. Er war noch nicht mal dazu gekommen, seine Stiefel auszuziehen.

»Ich erzähl euch alles beim Abendessen«, versprach er. »Erst muss ich Mam das hier geben.«

Er hielt das Metzgerpaket hoch. Dann schlüpfte er aus den Stiefeln, gab Caroline den Blumenstrauß und ging in die Küche. Die Wangen seiner Mutter waren gerötet vom Dampf, der aus dem Kochtopf aufstieg, und aus ihrem geflochtenen Zopf hatten sich mehrere dunkle Strähnen gelöst.

»Arthur!«, begrüßte sie ihn mit einem warmherzigen Lächeln. »Du kommst gerade richtig.«

»Ist nicht viel diesmal.« Arthur überreichte ihr das kleine Fleischstück. »Tut mir leid, dass ich nicht mehr bekommen habe.«

Das Lächeln seiner Mutter geriet keine Sekunde ins Wanken, doch ihr Blick umwölkte sich leicht. »Ach, ich bin’s ja gewohnt, aus wenig viel zu zaubern«, winkte sie ab. »Und außerdem hat Mrs Gillies vorhin ein paar Kartoffeln vorbeigebracht, die sie übrig hatte. Wart’s ab, das wird ein Festschmaus!« Sie senkte die Stimme. »Geh doch mal deinen Vater fragen, ob er mit uns isst.«

Arthur gab sich möglichst unbefangen. »Mach ich.«

Während seine Mutter sich wieder dem Kochtopf zuwandte, schlich Arthur auf Zehenspitzen den Flur hinunter zu einer Tür, die einen winzigen Spaltbreit offen stand. Er spähte hindurch und sah seinen Vater am Schreibtisch sitzen, den Kopf in den Händen vergraben. Seine Haare waren ungekämmt, seine Schultern gebeugt. An der Wand vor ihm hingen Zeitungsausschnitte, die er als Inspiration dort aufgehängt hatte, zusammen mit ein paar seiner eigenen Zeichnungen von Feen und Trollen und sonstigen Märchenwesen. Der Boden um ihn lag voller zusammengeknüllter Papierknäuel und leerer Flaschen.

Auf einer Staffelei neben ihm stand die Skizze eines zähnefletschenden Ungeheuers in elegantem Frack. Mr Doyle war Kinderbuchillustrator und arbeitete an einer Neuausgabe von Die Schöne und das Biest. Oder zumindest hätte er das tun sollen.

Arthurs Vater litt nicht etwa an einem körperlichen Gebrechen wie den Pocken oder der Schwindsucht. Sondern an einer seelischen Erkrankung, die aus ihm den bloßen Schatten des Mannes machte, den Arthur einst gekannt hatte und immer noch liebte.

»Pa?«, fragte er. »Isst du mit uns zu Abend?«

»Heute nicht, mein Junge.« Mr Doyle rührte sich nicht. »Ich habe noch so viel Arbeit und keinen rechten Appetit.«

Damit hatte Arthur schon gerechnet, aber trotzdem wünschte er sich schmerzlich seinen Vater von früher zurück. Leise ging er wieder in den Flur und machte die Tür hinter sich zu.

Also saßen am Ende sechs Doyles — sieben, wenn man das Baby mitzählte — beim Abendessen, alle mit demselben wuscheligen kastanienbraunen Haar, heller Haut und einem Grübchen in der linken Wange. Mrs Doyle schöpfte die Suppe in Schalen und reichte jedem Kind ein Stück Brot dazu. Arthur fiel auf, dass sie keins für sich selbst übrig behielt.

Und obwohl die Suppe dünn war und das Brot trocken, wurde das Essen tatsächlich ein Festschmaus. Arthur genoss das Gelächter am Tisch, das Strahlen seiner Schwestern im Kerzenschein und die Verblüffung seiner Mutter, als er die Geschichte von dem ausgebüxten Kinderwagen erzählte.

»Erklär noch mal«, verlangte Catherine mit gerunzelter Stirn, »woran du erkannt hast, dass die Frau in Ohnmacht fallen würde.«

»Und wie war das mit der Kutsche?«, fragte Mary, die nichts mehr liebte als eine handfeste Katastrophe. »Gab es wirklich keine Verletzten?«

Fast hätte Arthur den leeren Platz am Tisch vergessen können, diesen stummen Geist am Kopfende der Tafel.

Nach dem Essen machten Anne und Catherine sich wieder an ihre Stopfarbeit, während Arthur Caroline und Mary die wacklige Treppe hoch in das Schlafzimmer trug, das sämtliche Doyle-Kinder sich teilten. Nachdem er die beiden ins Bett gebracht hatte, setzte er sich noch eine Weile zu ihnen und erzählte ihnen ein weiteres Kapitel von Die Schaumschläger-Saga: Das turbulente Treiben des Timothy Tay, tollkühner Tunichtgut und teils talentfreier Teufelskerl, einer Geschichte, die er sich eines Abends ausgedacht hatte, als Mary nicht einschlafen konnte. Genau wie Mam es früher bei ihm getan hatte.

Als Caroline leise vor sich hin schnarchte und auch Marys Lider sich flatternd geschlossen hatten, ging Arthur zurück in die Küche, wo seine Mutter mit dem Abwasch beschäftigt war. Er holte tief Luft.

»Morgen frage ich Mr Fraser nach Arbeit«, verkündete er. »Ich glaube, er kann ein bisschen Hilfe im Laden gut gebrauchen.«

Arthur hatte erwartet, dass seine Mutter sich über seine Idee freuen würde, doch Mrs Doyle erstarrte. Als sie sich zu ihm umdrehte, wirkte ihr rundes Gesicht müde, aber ihre Augen blitzten.

»Arthur«, sagte sie eindringlich. »Das kann ich nicht zulassen. Ich weiß, dass du dir mehr vom Leben wünschst. Ich wünsche dir mehr vom Leben. Du solltest weiter zur Schule gehen.«

»Und du solltest auch mal ein Stück Brot zur Suppe abbekommen«, konterte Arthur. »Anne und Catherine sollten neue Strümpfe haben, anstatt ständig die alten zu stopfen. Irgendjemand muss doch die Familie über Wasser halten.«

Seine Mutter schüttelte den Kopf. »Aber doch nicht du, Arthur — du bist zu Größerem bestimmt.«

Arthur stieß sie liebevoll mit der Schulter an. »Aber, Mam, das Größte überhaupt ist doch die Familie.«

Und das meinte er ernst. Trotzdem schwirrten ihm später, als er im Bett lag, all die Fragen durch den Kopf, über die nachzudenken er sich tagsüber nicht gestattete. All die Geheimnisse auf dieser Welt, die nur darauf warteten, entschlüsselt zu werden.

Vergiss es einfach, dachte er wieder. Jedenfalls für heute. Oder am besten für immer.

Endlich schlief er ein.

Doch er wälzte sich unruhig hin und her in dieser Nacht und schreckte früh am nächsten Morgen wieder hoch, als ein lautes Poltern die Wände zum Wackeln brachte.

Vier

Eine Einladung

BOMM! BOMM!

Jemand klopfte an die Tür, als wollte er sie einschlagen.

BOMMBOMMBOMMBOMMBOMM!

Arthur schleuderte seine Decke von sich und stolperte die Treppe hinunter.

»Was ist denn da los?«, ertönte die Stimme seiner Mutter.

»Ich weiß nicht«, entgegnete Arthur verunsichert.

Mrs Doyle zog den Kragen ihres Nachthemds zu. Zögernd ging sie zur Tür, öffnete sie ein Stückchen und lugte hindurch. Dann machte sie sie ganz auf.

Draußen war niemand.

»Vielleicht ein Streich?«, überlegte Arthur.

Seine Mutter bückte sich und hob etwas auf. »Sieht nicht so aus.« Sie streckte Arthur einen Brief hin.

Darauf stand sein Name.

»Aber … Ich hab doch noch nie Post gekriegt.«

Die seltenen Briefe, die hin und wieder von den Geschwistern seines Vaters aus London kamen — meistens in teuren, Unheil verkündenden Umschlägen —, waren stets an seine Mam adressiert.

»Mach ihn auf«, drängte Mrs Doyle.

Arthur brach das Wachssiegel und zog die erste von zwei Seiten aus dem Umschlag. Es war ein förmliches Anschreiben, schwarze Tinte auf noblem weißem Papier mit Goldrand, und die geschwungenen Buchstaben schienen regelrecht über das Blatt zu tanzen. Bildete Arthur sich das bloß ein oder roch es ein winziges bisschen nach Schießpulver? Mit einem Mal war er ganz außer Atem.

»Und?«, fragte Arthurs Mutter. »Was steht drin?«

Arthur las vor.

Sehr geehrter Mister Doyle,

ich freue mich, Sie darüber in Kenntnis zu setzen, dass Sie zum Schuljahr 1868 in Baskerville Hall angenommen wurden. Baskerville Hall ist die erlesenste und fortschrittlichste Bildungseinrichtung der gesamten Britischen Inseln und hat einige der größten Gelehrten unserer Zeit hervorgebracht. Aufgrund unserer bahnbrechenden und unkonventionellen Lehrmethoden halten wir unsere Erfolge allerdings strengstens vor der Öffentlichkeit geheim. Daher muss ich Sie bitten, niemandem von diesem Schreiben zu erzählen, abgesehen von Ihrem engsten Familienkreis selbstverständlich.

Also — sind Sie bereit, alles, was Sie bisher zu wissen geglaubt haben, infrage zu stellen?

Hochachtungsvoll

Professor George Edward Challenger,

Direktor von Baskerville Hall

PS: Das Schuljahr beginnt morgen.

Fünf

Die größten Gelehrten unserer Zeit

Die Tür stand noch immer sperrangelweit offen, als bekäme selbst das Haus vor Staunen über diesen unerwarteten Brief den Mund nicht mehr zu. Arthur strich mit den Fingern über das goldgeprägte Wappen oben auf der Seite, um sich davon zu überzeugen, dass er nicht träumte.

Baskerville Hall. Der Name sandte ein Kribbeln durch seinen ganzen Körper.

»Das ist ja großartig!«, rief seine Mutter. »Lass mich mal sehen!«

Mrs Doyle spähte in den Umschlag. »Da ist ja noch eine zweite Seite drin! Aha, mit Informationen über die Lehrer, wie interessant. Dr. J. H. Watson, Anatomie und Physiologie; Dinah Grey, Professorin für Naturwissenschaften; Brigadier Etienne Gerard, Dozent für Sprachen und Reitkunst …«

Arthurs Puls beschleunigte. Vor seinem inneren Auge stiegen Bilder von glänzenden Eichenholzpulten und Kreidestaubwolken im Sonnenlicht auf.

Aber wie konnte er denn an dieser Schule angenommen worden sein? Er hatte sich doch gar nicht dort beworben.

Die knarzende Arbeitszimmertür holte ihn zurück in die Wirklichkeit. Kurz darauf kam Mr Doyle den Flur hinuntergeschlurft. Er trug noch immer dieselben Kleider wie am Abend zuvor und Arthur sah Kohlespuren auf seiner linken Wange. Woraus er schloss, dass sein Vater wieder mal über einer seiner Skizzen eingeschlafen war.

»Was ist denn das hier für ein Tumult?«

»Oh, Liebling!«, rief Arthurs Mutter. »Arthur ist an einer Schule angenommen worden.«

Die Gereiztheit in Mr Doyles Gesicht verwandelte sich in Skepsis. »Einer Schule? Arthur geht doch schon zur Schule.«

»Aber das hier ist eine besondere Schule. Sie heißt Baskerville Hall. Es klingt alles ganz wunderbar, ich habe gerade etwas über seine Lehrer dort gelesen.«

Seine Lehrer. Als wäre das Ganze schon abgemachte Sache.

»Brigadier Etienne Gerard«, las Arthurs Vater über die Schulter seiner Frau. »Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor«, brummelte er. »Aber das kann doch nicht …«

Mr Doyle eilte in sein Arbeitszimmer und kehrte kurz darauf mit einem Zeitungsausschnitt in der Hand zurück, den er von der Wand über seinem Schreibtisch gerissen haben musste. Sein Argwohn war verflogen und seine Augen strahlten vor Begeisterung, wie Arthur es schon lange nicht mehr bei ihm erlebt hatte.

»Hier!« Mr Doyle tippte aufgeregt mit dem Finger auf die Zeichnung eines schnurrbärtigen Herrn mit unzähligen Orden und Medaillen auf der Brust. »Brigadier Etienne Gerard! Der Mann hat im Krimkrieg gekämpft. Ein waschechter Held. Der hat praktisch den Sturm auf Sewastopol angeführt!«

»Was der Arthur alles beibringen könnte!«, schwärmte seine Frau.

»Wird er aber nicht«, entgegnete Arthur und schloss die Haustür, um die Kälte draußen zu halten.

Seine Eltern fuhren zu ihm herum.

»Was soll das heißen, Arthur?«, fragte seine Mam.

Anatomie … Naturwissenschaften … Reitkunst. Was für wundervolle Wörter. Vergiss es einfach. »So eine Schule können wir uns doch niemals leisten«, sagte er.

Mrs Doyle legte ihrem Sohn die Hand auf den Arm. »Doch, Arthur, sieh mal.«

Sie reichte ihm die zweite Seite aus dem Umschlag.

Unter der Liste fand sich ein Zusatz in einer anderen Handschrift, kleine Buchstaben, säuberlich in Reih und Glied.

Lieber Mr Doyle,

wie mir scheint, hat Direktor Challenger vergessen, ein paar wichtige Details zu erwähnen. Bitte kommen Sie morgen früh um Punkt sechs Uhr zu den Ruinen der Kapelle im Holyrood Park. Sie müssen nur das Nötigste einpacken, alles Weitere wird Ihnen bei uns zur Verfügung gestellt.

Sämtliche anfallenden Kosten übernimmt selbstverständlich die Schule. Da unsere Absolventen in der Regel sehr erfolgreiche Karrieren einschlagen und sich die vorangegangenen Generationen äußerst großzügig gezeigt haben, ist die Ausbildung für Sie vollständig kostenlos.

Wir freuen uns, Sie bald bei uns begrüßen zu dürfen.

Mit freundlichen Grüßen

Mrs Louise Hudson

Stellvertretende Schulleiterin von Baskerville Hall

»Siehst du?«, sagte Mrs Doyle. »Das hier ist deine große Chance!«

Hoffnung keimte in Arthur auf, doch er weigerte sich noch immer, sie zuzulassen. »Ich kann nicht einfach weggehen«, murmelte er mit einem Blick zu seiner Mutter. Seinen Vater wagte er nicht anzusehen. »Selbst wenn diese Schule nichts kostet, ihr braucht mich doch hier.«

Aus dem Augenwinkel erkannte Arthur, wie Mr Doyles Wangen sich röteten. Ob er böse auf ihn war? Doch als sein Vater schließlich etwas sagte, klang seine Stimme erstickt.

»Mein lieber Junge.« Mr Doyle legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter. »Ihr hättet alle einen besseren Vater verdient, das weiß ich. Aber ich werde auf keinen Fall erlauben, dass du dir meinetwegen eine solche Gelegenheit durch die Lappen gehen lässt. Wenn du auf diese Schule gehst, kannst du irgendwann viel mehr für die Familie tun, als ich es je vermocht habe. Ich versuche, in der Zwischenzeit so gut wie möglich für deine Mutter und deine Schwestern zu sorgen. Aber du … du musst gehen.«

Arthur zögerte nur einen kurzen Moment. Dann warf er sich seinem Pa in die Arme. Mr Doyle drückte seinen Sohn an sich, zuerst ein bisschen unbeholfen, aber dann mit genau der Wärme, die Arthur in den letzten Monaten so schmerzlich vermisst hatte.

»Wohin soll Arthur gehen?«, ertönte da Marys Stimme.

Als Arthur sich umdrehte, hatten sich alle seine Schwestern auf der Treppe versammelt.

»Arthur ist an einer ganz wundervollen Schule angenommen worden«, rief seine Mutter. »Da wird vielleicht einer der größten Gelehrten unserer Zeit aus ihm!«

Erst jetzt konnte Arthur die Vorstellung vollends zulassen. Er würde tatsächlich weggehen … nach Baskerville Hall.

Sofort brach Chaos aus. Mary überlegte laut, wie Arthur eigentlich zu dieser Schule kommen würde und welche Gefahren unterwegs auf ihn lauerten. »Wenn du per Schiff reist, wirst du vielleicht von blutrünstigen Piraten überfallen«, sagte sie mit einem versonnenen Lächeln. »Aber mit dem Zug könntest du entgleisen. Du musst unbedingt schreiben und alles berichten!«

Die kleine Constance, die irgendjemand in Arthurs Armen deponiert hatte, verfolgte sabbernd und mit großen Augen das Treiben.

Arthur schrie leise auf, als Caroline vor Aufregung die Zähne in seinem Knie versenkte, woraufhin Constance in verzücktes Gekicher ausbrach, weil Arthur seine Angreiferin auf einem Bein hüpfend abzuschütteln versuchte. Sabber flog in alle Richtungen.

»Genug jetzt!« Mrs Doyle wischte sich ein Tröpfchen aus dem Augenwinkel. Ihre Wangen waren noch immer gerötet vor Freude, aber ihre Stimme klang streng. »Arthur reist morgen ab. Wir haben noch viel vorzubereiten!«

Die nächsten Stunden erschienen Arthur wie die kürzesten seines Lebens. Sosehr er sich auf seine neue Schule freute, er war fest entschlossen, den letzten Tag mit seiner Familie voll auszukosten. Am liebsten hätte er jeden einzelnen Moment in sich gespeichert, aber genauso gut hätte er versuchen können, Sonnenstrahlen einzufangen. Die Stunden rasten nur so dahin, als könnten die Zeiger der Uhr auf dem Kaminsims den nächsten Morgen gar nicht abwarten.

Kurz vor dem Abendessen winkte Mr Doyle Arthur in sein Arbeitszimmer und überreichte ihm mit zitternden Händen eine Zeichnung.

»Vielleicht möchtest du das hier gern mitnehmen, dachte ich mir«, murmelte er.

Das Bild zeigte die komplette Familie Doyle am Esstisch, so wie sie an Pas besseren Tagen immer dort zusammensaß. Aber anders als bei gewöhnlichen Familienporträts hatte Mr Doyle die Gesichter nicht ernst, sondern grinsend und lachend gezeichnet, als hätte gerade jemand einen gelungenen Witz gemacht. Jede einzelne Locke, jeder lächelnde Mund, jedes Grübchen war perfekt getroffen.

Arthur betrachtete das Blatt gerührt. »Das ist wunderschön.«

»Damit du uns nicht vergisst«, erklärte sein Vater. »Und immer daran denkst, wie stolz wir auf dich sind.«

Arthur wusste nicht, was ihm mehr bedeutete — die Zeichnung seines Vaters oder seine Worte.

Mrs Doyle wiederum überraschte alle mit einem Ingwerkuchen, den Arthur am allerliebsten mochte und den Mr Barrowclough, der Bäcker, ihr zum halben Preis verkauft hatte, weil er ein kleines bisschen angebrannt war.

Arthur hatte das Gefühl, gerade erst ins Bett gefallen zu sein, noch den Geschmack von Zucker und Ingwer auf den Lippen, als seine Mutter ihn schon wieder wach rüttelte.

»Aufstehen, mein Schatz«, flüsterte sie. »Wir müssen los.«

Sechs

Der Sitz des Sagenkönigs

DDie Gassen von Edinburgh lagen verlassen da, als sich Mutter und Sohn auf den Weg zum Holyrood Park machten. Arthur umklammerte die Reisetasche, in der sich seine wertvollsten Besitztümer befanden — alle bis auf den warmen Wollmantel, den seine Mutter noch bis tief in die Nacht ausgebessert hatte und in den er sich nun noch fester wickelte, um sich vor der frühmorgendlichen Kälte zu schützen.

Selbst im Dunkeln war der Park schwer zu verfehlen. Direkt neben der Stadt erhoben sich die steilen, ginsterbewachsenen Felshänge des Arthur’s Seat. So hieß der Berg im Zentrum des Parks, benannt nach König Artus persönlich, Arthurs Namensvetter. Dort oben hatte Arthur — nicht Artus — so manchen Sommermorgen verbracht, hatte Fantasieschwerter geschwungen und versucht, sich wie jener sagenumwobene König zu fühlen, der in so vielen der Gutenachtgeschichten seiner Mutter die Hauptrolle spielte.

»Da ist es«, sagte Arthur mit einem Blick nach oben. »Schnell, Mam, sonst kommen wir zu spät.«

Die verfallene alte Kapelle, die in dem Brief als Treffpunkt angegeben worden war, befand sich auf einer Anhöhe etwa auf halber Strecke zum Gipfel. Arthur kämpfte sich die Steigung hoch und reckte den Hals, neugierig, wer sie oben erwartete.

Als sie die Ruine erreichten, kündigten rosa Wolken im Osten schon den Sonnenaufgang an, was bedeutete, dass es kurz vor sechs Uhr sein musste. Doch selbst im fahlen Dämmerlicht erkannte Arthur sofort, dass oben keine Kutsche wartete. Niemand war dort, abgesehen von ein paar Schafen, die ihn und seine Mutter aus sicherer Entfernung beäugten.

Hatten die Doyles sich in der Uhrzeit geirrt? Oder schlimmer noch, hatte die Schule beschlossen, ihn doch nicht anzunehmen?

»Hier ist keiner«, bemerkte Arthur, während eine Windbö ihm das Haar zerzauste.

»Es wird schon jemand kommen«, entgegnete seine Mutter. »Wahrscheinlich sind sie bloß ein bisschen spät dran.«

»Aber was ist, wenn …«

Arthur verstummte, als die Bö plötzlich stärker wurde und durch die Mauerreste pfiff. Im selben Moment wurden ihm drei Dinge klar.

Erstens: Der Wind in unmittelbarer Nähe der Kapelle nahm von Sekunde zu Sekunde zu, während sich am nächsten Berghang kaum ein Blatt an den Bäumen regte. Aus irgendeinem Grund schien er sich ausschließlich auf diesen einen Hügel zu konzentrieren.

Zweitens: Das hier war nicht unbedingt ein Ort, an dem man eine Kutsche bestieg, ganz zu schweigen von einem Zug oder Schiff. Was vermuten ließ, dass er mit einem ganz anderen Transportmittel reisen würde.

Drittens: Die riesige Wolke, die auf sie zuschwebte, war gar keine Wolke.

»Ein Luftschiff!«, rief Arthur.

Und tatsächlich glitt dort ein gewaltiger länglicher Ballon heran, wie ein weißer Wal, der sich kurz entschlossen in die Lüfte erhoben hatte. An seinem Rumpf war mithilfe Dutzender Seile ein glänzendes hölzernes Schiff vertäut. Arthur erkannte das Wappen aus seinem Brief auf der Flanke. Das schildförmige Emblem zeigte auf der einen Seite einen efeuumrankten Kelch und auf der anderen ein Schwert und einen goldenen Schlüssel, die einander kreuzten.

Ein Schriftzug darunter verhieß: Scientia per Explorationem.

»Das zerquetscht uns noch!«, rief Arthurs Mam und ergriff erschrocken seinen Arm.

Tatsächlich hielt das Schiff nun direkt über ihnen und schickte sich offenbar an zu landen.

Doch dann hörte es plötzlich auf zu sinken. Einen Moment lang verharrte es vollkommen reglos in der Luft und etwas fiel zu ihnen herab. Es war eine Strickleiter, die sich entrollte und direkt auf der Höhe von Arthurs Knien endete.

»Genial«, flüsterte er.

Jetzt erschien ein Kopf über der Reling. Das Gesicht konnte Arthur im Gegenlicht der aufgehenden Sonne nicht sehen. »Morgen, Mrs Doyle«, ertönte eine tiefe Stimme. »Bitte nehmen Sie’s mir nicht übel, dass ich nicht runterkomme. Meine Knie sind leider nicht mehr das, was sie mal waren. Aber wenn der junge Mr Doyle so nett wäre, an Bord zu klettern, könnte die Reise losgehen.«

Arthurs Mutter legte den Kopf in den Nacken und starrte verblüfft zu dem Fremden hoch. »Ich hätte nicht gedacht, dass — also — ein Luftschiff? Ist so was nicht gefährlich?«

»Kein bisschen, seien Sie ganz unbesorgt«, antwortete der Mann höflich, aber bestimmt, obwohl Mrs Doyles Stimme kaum mehr als ein Flüstern gewesen war. »Arthur ist bei mir in besten Händen.«

»Tja, dann … sollten wir uns wohl verabschieden«, wandte Mrs Doyle sich an Arthur.

Und bevor dieser irgendetwas erwidern konnte, zog sie ihn so fest an sich, dass ihm beinahe die Luft wegblieb. »Pass auf dich auf, mein Schatz«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Und schreib, wenn du angekommen bist.«

»Mache ich, Mam«, ächzte Arthur. »Bis bald. Und denk ja dran, den anderen von dem Luftschiff zu erzählen. Mary wird ganz aus dem Häuschen sein.«

Dann machte er sich an den Aufstieg, Sprosse um Sprosse auf das wundersame Luftschiff zu, wohin dieses ihn auch bringen mochte.

Sieben

Luftschiff, ahoi!

Arthurs Magen verkrampfte sich beim Klettern und er fragte sich, ob das an seiner Aufregung lag oder daran, dass die Leiter wie wild hin und her schaukelte. Jedes Mal, wenn er glaubte, das Gleichgewicht wiedergefunden zu haben, prallte kurz darauf seine Reisetasche gegen ihn und brachte alles erneut ins Wanken.

Trotz der morgendlichen Kälte wurden seine Handflächen feucht, was das Festhalten noch schwieriger machte.

Noch drei Sprossen …

Noch zwei …

Arthur rutschte ab.

»Ahh!« Zehn Meter über dem Boden kippte er hintenüber ins Nichts.

Doch da packte jemand sein Handgelenk und zog ihn mit einem Ruck nach oben, sodass er unsanft an Deck des Schiffs landete.

»Alles in Ordnung, Doyle?«

Arthur blinzelte hinauf zu seinem Retter, der wiederum mit funkelnden Augen auf ihn herunterstarrte. Seine Haut schimmerte in einem tiefen Bronzeton und er war nicht sonderlich groß, hatte jedoch einen beachtlich breiten Brustkorb. Eine eindrucksvolle dunkle Lockenmähne rahmte seinen recht klobigen Kopf ein, und sein Gesicht wirkte so kantig, als wäre es aus Stein gemeißelt.

»Na?«, hakte der Mann nach.

»J-ja«, stotterte Arthur. »Ja, Sir, alles in Ordnung.«

»Worauf warten Sie dann noch? Hoch mit Ihnen und Leiter einholen. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Damit stapfte der Mann zum Steuerrad und Arthur tat wie geheißen.

Kaum, dass die Leiter oben war, ließ ihn ein plötzlicher Ruck ein paar Schritte rückwärtsstolpern. Als er sich wieder gefangen hatte, waren sie ringsum von Wolken umgeben.

Ein völlig neues Gefühl überkam ihn und verdrängte seine Angst. Das hier war keine Gutenachtgeschichte und auch kein Kapitel aus Gullivers Reisen. Er müsste bloß die Hand ausstrecken, um die Wolken zu berühren. Arthur flog — er flog!

»Doyle!«, blaffte der Mann. »Kommen Sie gefälligst rüber und helfen Sie mir, diesen Windbeutel hier auf Kurs zu bringen!«

Die Sonne brach hervor und beschien warm Arthurs Wangen. Kaum zu glauben, dass dieser bärbeißige Kerl gerade noch so höflich mit seiner Mutter gesprochen hatte. Trotzdem breitete sich ein Grinsen auf Arthurs Gesicht aus. »Jawohl, Sir!«

Vorbei an vier gigantischen Ankern — zwei auf jeder Seite — stakste er Richtung Bug und sah ehrfurchtsvoll zum Bauch des gewaltigen Ballons über ihnen hoch.

»So«, brummte der Kapitän. »Von hier an übernehmen Sie. Ich brauche erst mal ’ne Mütze Schlaf, bevor wir an der Schule ankommen. War die ganze Nacht auf den Beinen.«

Arthur starrte auf das unübersichtliche Gewirr aus Hebeln und Kurbeln, das hinter dem Mann zum Vorschein kam. Mittendrin prangte das hölzerne Steuerrad. »Übernehmen? Ich?«, stammelte er. »Aber ich weiß doch gar nicht, wie das geht.«

Ohne auf Arthurs Einwand einzugehen, klappte der Kapitän eine Luke im Deck auf. »Immer Richtung Süden«, rief er über die Schulter, während er bereits auf dem Weg nach unten war. »Wecken Sie mich, sobald wir die Grenze nach England überfliegen.«

»Aber …«

Die Luke knallte zu und Arthur blieb allein zurück. Er schluckte.

Kurz darauf ertönte von unter Deck lautes Schnarchen.

Wollte dieser Mann ihn auf die Probe stellen oder war er einfach nur verrückt? So oder so blieb Arthur nichts anderes übrig, als dieses Luftschiff zu fliegen. Er holte tief Luft und trat nach vorn. »Du schaffst das schon«, sprach er sich selbst Mut zu.

Als Erstes verschaffte er sich einen Überblick. Oberhalb des Steuerrads war ein großer Kompass eingelassen, dessen Nadel nach Südwest zeigte. Arthur drehte das Steuer leicht nach links, bis der Kompass genau nach Süden wies.

Schon mal ein guter Anfang.

Neben dem Steuerrad hing eine handgezeichnete Karte, auf der in derselben Schrift wie in Arthurs Brief ein paar wichtige Orientierungspunkte notiert worden waren. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er, sie zuzuordnen. Einer der Punkte war Edinburgh, andere markierten Liverpool, Manchester und London. Und da, ganz im nordwestlichsten Zipfel Englands, umgeben von dichtem Wald, war ein Gebäude eingezeichnet. »Baskerville Hall« stand daneben.

Arthurs Blick wanderte weiter nach Norden. Ungefähr zwischen England und Schottland verlief eine unregelmäßige Linie, betitelt mit »Hadrianswall«. Von dem hatte Arthur schon mal gelesen, eine uralte Grenzbefestigung aus der Zeit, als noch die Römer über Britannien geherrscht hatten. Erleichtert atmete er auf. Wenn vor ihm der Wall auftauchte, bedeutete das, sie hatten England erreicht und er konnte den Kapitän wecken.

Auf der anderen Seite des Steuerrads fanden sich allerhand Vorrichtungen, einige davon mit Aufschriften versehen, andere nicht. Eine besonders große Winde war mit den Tauen verbunden, die vom Schiff hoch zum Ballon führten, woraus Arthur schloss, dass sich damit der Abstand zwischen beidem regulieren ließ. Ein weiterer Hebel war mit H gekennzeichnet, aber Arthur kam nicht dahinter, was dessen Funktion war.

Eine Weile stand er einfach bloß da, wie ein Seemann, der auf den endlosen Ozean hinausblickt, und staunte über die Berge und Moore, die unter ihm dahinzogen. Hier und da tauchten Städte auf, klein wie Schilling-Münzen.

Sein Herz schlug schneller, als er tief unten etwas Langes, Dunkles entdeckte, das sich durch die Landschaft schlängelte. War das schon der Hadrianswall? Oder nur ein Fluss? Nein, das waren Gleise, auf denen ein Dampfzug dahinschnaufte. Das Luftschiff schien den Zug langsam, aber sicher abzuhängen, was Arthur seltsam vorkam. So schnell waren Luftschiffe doch nicht? Und wenn er genauer darüber nachdachte, hatte er auch noch nie von einem gehört, das mehr als ein paar Meilen am Stück zurücklegen konnte …

Plötzlich fiel sein Blick auf den Horizont. Dunkle Wolken ballten sich dort zusammen, und gerade wob sich ein Blitz hindurch wie eine goldglänzende Nadel durch graue Wolle.

Arthur sah wieder auf den Hebel mit dem H. Das musste für Wasserstoff stehen — Hydrogenium auf Latein.

Wasserstoff war das leichteste von allen chemischen Elementen — sogar leichter als Luft. Darum füllte man Luftschiffe damit. Noch dazu war es billig. Und extrem entzündlich.

Wieder blitzte es und dumpfes Donnergrollen ließ das Schiff erbeben. Sie steuerten geradewegs auf das Gewitter zu. Wenn ein Blitz in das Luftschiff einschlug, würde es in einem riesigen Feuerball explodieren.

»Oje«, stieß Arthur hervor. Er überlegte, ob er den Kapitän um Hilfe bitten sollte, aber wenn das hier wirklich eine Bewährungsprobe war, wäre er damit sicher sofort durchgefallen. Außerdem hatte er sowieso nicht genug Zeit, um unter Deck zu gehen und den Mann zu wecken. Er musste schnell handeln.

Denk nach, Arthur. Der Wolkenkoloss vor ihm hatte sich unterdessen so weit ausgedehnt, dass man ihn unmöglich umfliegen konnte. Natürlich könnte er das Luftschiff wenden und zurück Richtung Norden steuern, aber selbst dann würde das Gewitter sie im Nullkommanichts einholen.

Der einzige Ausweg führte abwärts. Wenn Arthur in den Sinkflug ging, könnten sie mit ein bisschen Glück knapp außerhalb der Reichweite der Blitze unter dem Gewitter hindurchschweben.

So weit, so unkompliziert: Je mehr Wasserstoff sich im Ballon befand, desto leichter wurde er und desto höher flogen sie. Umgekehrt hieß das, wenn man die Wasserstoffzufuhr verringerte, sank der Ballon. Aber schnell genug, um den Blitzen zu entgehen?

Arthur blieb nichts anderes übrig, als es darauf ankommen zu lassen. Wieder zerschnitt ein Blitz den Himmel, diesmal so nah, dass Arthur die knisternde Elektrizität riechen konnte. Hastig riss er den Wasserstoffhebel bis zum Anschlag nach unten.

Einen Moment lang schienen sie reglos in der Luft stehen zu bleiben.

Der Donner grollte jetzt aus allen Richtungen, wie ein Rudel hungriger Wölfe, das sie gnadenlos umzingelte.

Arthur schluckte.

In der nächsten Sekunde hüpfte ihm sein Magen bis hinauf in die Kehle, als das Schiff wie ein Stein durch die Wolken sackte.

»Ja!«, jubelte Arthur. »Es funktioniert!«

Das Schiff sank — und sank und sank und sank —, bis der Himmel schließlich heller wurde und der Regen zu einem sanften Nieseln abklang. Der nächste Blitz war nur noch als diffuser Lichtschein in den Wolken hoch über ihnen zu erkennen.

Er hatte es geschafft!

Doch dann wurde Arthur noch etwas klar.

Das Schiff sank noch immer, und zwar schneller denn je.

Arthur griff erneut nach dem Hebel, um wieder mehr Wasserstoff in den Ballon zu pumpen.

Der Hebel ließ sich nicht bewegen.

Sie befanden sich direkt über einem Bauernhof. Arthur sah die winzigen Kühe, die friedlich auf ihrer Weide grasten, ohne zu ahnen, was da von oben auf sie zuraste. Wieder rüttelte er an dem Hebel, stemmte sich mit seinem gesamten Gewicht dagegen. Nichts.

Er nahm ein paar Schritte Anlauf und rammte die Schulter gegen das störrische Ding.

Der Hebel blieb, wo er war, aber dafür tat nun Arthurs Schulter weh.

Wenigstens kriegt Mary jetzt ihre Katastrophe, dachte er. Nur dass ich wahrscheinlich nicht derjenige sein werde, der ihr davon berichtet.

Bevor er den finsteren Gedanken ganz zu Ende gedacht hatte, fiel sein Blick auf einen der vier eisernen Anker, an denen er zuvor vorbeigekommen war.