Battle - Maja Lunde - E-Book

Battle E-Book

Maja Lunde

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Beschreibung

Amelie hat alles: eine Clique, einen netten Freund, Geld, großes Talent als Tänzerin und dazu Fleiß und Ehrgeiz. Doch der Konkurs ihres Vaters lässt ihre Welt plötzlich kopfstehen: Über Nacht ziehen sie in eine Osloer Trabantenstadt und haben kaum Geld für das Nötigste. Aber Amelie vertraut sich ihrer Clique nicht an. – Wie lange wird die Lügen-Fassade halten? Wird Amelie die Kraft haben, ihr neues Leben zu akzeptieren und in den Griff zu bekommen? Inmitten der Vorstadttristesse entdeckt Amelie schließlich etwas, das sie fasziniert: Mikael, der Breakdance tanzt und als Favorit für den nächsten Battle gilt; Mikael, der so ganz anders ist als sie selbst oder alle, die sie kennt. Zum ersten Mal in ihrem Leben muss sie wagen, ihren Gefühlen zu vertrauen, Regeln zu brechen und der Welt zu zeigen, wer sie wirklich ist. Maja Lundes Geschichte erzählt gekonnt von Authentizität, Selbstfindung, Cliquendruck und der elektrisierenden Welt des Tanzes. "Battle" wurde von der schwedischen Regisseurin Katarina Launing verfilmt und läuft ab dem 1. Dezember 2018 beim Streaming-Anbieter Netflix.

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Maja Lunde

Aus dem Norwegischen von Antje Subey-Cramer

Urachhaus

Inhalt

Zitat

Die dünne Welle

Die Valkyrie

Herzschmerz, irgendwie

Ist da noch mehr?

Neues Geld

Die Autos

Grand Hotel

Da bist du endlich

Wartezeit

Fünf Jahre

Sein Lachen

Die Perle

Tritt zurück

Am Arsch der Welt

Präzision

Krieg

Zweitausend

Chanel

Don’t Sweat the Technique

Stovner by Night

Battle

Salsa

Der Verlierer

Ritter Ida

Der Fast-Freund

Komm aufs Dach

Blickpunkt

Mama

In einer Blase

Der Bruch

Die Porzellanpuppe

Ein geschlossener Kreis

Das Bild

Endlich

Die Einladung

My Fair Lady

Zurück an der Oper

Weiß sie, dass du kommst?

You’re fucked

Zu spät

Letzte Runde

Dank an

Impressum

Zwischen zwei Bewegungen

gibt es einen Augenblick,

in dem sich

deine Seele zeigt.

Kjersti Alveberg,

Choreografin und Tänzerin

Die dünne Welle

Das Telefon klingelte, aber ich nahm nicht ab. Ich war gerade mitten in der Choreografie, die wir als Hausaufgabe für morgen aufhatten, und es saß fast alles. Mein Herz hämmerte, das Trikot war an Rücken und Brust nass. Aber ich hatte es fast geschafft. Flüchtig erblickte ich mich selbst in der Spiegelwand, die Papa von Tischlern für mein Zimmer hatte anfertigen lassen, als wir vor fünf Jahren eingezogen waren. Ich trainierte in Schwarz. Das schwarze Trikot und die Leggings ließen mich im Spiegel irgendwie deutlicher hervortreten. Wenn ich die Augen halb zusammenkniff, sah ich nur einen dünnen Strich, der sich wellenförmig von dem einen Ende des großen Zimmers bis zum anderen bewegte. Der Rest, mein eigentliches Ich, wurde unscharf. Manchmal hörte ich Leute sagen, ich sei hübsch. Sie hatten einfach nicht bemerkt, wie kantig mein Gesicht war – das Kinn war zu spitz und die Nase zu groß, die Knie zeigten nach innen und die Oberschenkel legten zu, sobald ich nur ein einziges Stück Schokolade aß. Aber im Spiegel, da verschwand das alles, da war ich nur die dünne Welle, die sich von der einen Seite des Zimmers zur anderen bewegte.

Ich spürte die wohlige Mattigkeit in Armen und Beinen, die sich immer dann einstellte, wenn ich es fast geschafft hatte. Wenn es fast saß. Ich arbeitete an einem langen Adagio, das mit einem Port de bras begann. Der Kopf geneigt, der Blick Richtung Arme. Von den Zehen bis zu den äußersten Fingerspitzen spannte ich alles an, konzentrierte mich darauf, den Bewegungen eine Verlängerung zu geben, sie mit Energie zu füllen. Die Arme hoch, dann zur Seite, als wären sie Flügel. Danach eine Reihe von Pirouetten, während derer ich den Blickpunkt wechselte, gefolgt von großen Sprüngen diagonal durch den Raum. Der Abschluss war am schwierigsten. Eine Pirouette, danach ein Sprung, bei dem ich weich landete und weiter auf den Boden abrollte. Es sollte nahtlos sein, aber der Übergang vom Sprung in die weiche Landung war heikel. Trotzdem: Ich war nahe dran. Noch ein paar weitere Durchgänge, dann wäre es perfekt.

Aber das Telefon riss mich aus allem heraus.

Es lag auf dem Nachttisch, das Display leuchtete grell. Ich ging hin, um abzunehmen, doch als ich sah, wer es war, ließ ich es bleiben. Ich blieb einfach stehen und schaute es an, während es klingelte und klingelte. Ich zählte. Sieben … acht … neun. Zum Schluss schaltete sich die Mailbox ein.

Ich drehte mich um. Mein Blick fiel auf ein Plakat an der Wand. Eine magere, markante Tänzerin, mitten in einem Sprung. Sie schwebte hoch oben in einem Grand jeté, die Beine im Spagat, fast überstreckt, so biegsam war sie. Man konnte beinahe sehen, wie die Muskeln zitterten, wie jede Körperzelle an den Bewegungen teilhatte. Die Arme waren erhoben, der Blick nach oben gerichtet, wahrscheinlich zur Saaldecke. Aber auf dem Plakat sah es so aus, als sähe sie direkt auf die Überschrift, auf ihren eigenen Namen, den Namen, den sie sich selbst gegeben hatte, als sie mit dem Tanzen anfing: Vivian Prytz.

Es hing noch ein weiteres Bild von ihr an der Wand – ein Bild von uns beiden. Darauf war ich acht Jahre alt und noch weich im Gesicht. Zwischen runden Wangen und einem kleinen lieben Kindermund sah die Nase ganz passabel aus. Ich hielt ein Paar funkelnagelneue Spitzenschuhe in den Händen. Das war, bevor ich mich entschieden hatte, ganz auf Modern Dance und Jazztanz zu setzen. Ich hatte mir diese Schuhe erbettelt, weinend, erinnerte ich mich, denn ich war eigentlich viel zu klein. Aber sie freute sich so sehr darüber, dass sie sie mir trotzdem schenkte. Auf dem Bild lächelte sie, hielt einen Arm um mich und sah von schräg oben auf die Schuhe hinunter. Vielleicht war sie stolz.

Ich ging wieder zurück auf die Tanzfläche und ließ die Musik noch einmal von vorne laufen. Dann stellte ich mich in die Ausgangsposition und tanzte mich von Neuem durch alles hindurch. Aber nun schien es mir plötzlich, als läge noch ein langer Weg vor mir. Die Arme machten nicht mit, ein paarmal stolperte ich. Und der Übergang klappte überhaupt nicht. Mir fehlte die Balance – ich hatte den Kontakt zu meiner Körpermitte verloren.

Ich versuchte es noch einmal – und fiel hin.

Noch einmal – und fiel wieder hin.

Und noch einmal.

Schließlich blieb ich einfach auf dem Boden sitzen. Mir war übel. Wann hatte ich zuletzt etwas gegessen? Meine Beine zitterten. Ich zog die Stulpen aus und stellte fest, dass sich ein paar neue Blutergüsse gebildet hatten – wie Blüten sprossen sie zwischen den alten blauen und gelben Flecken.

»Gibst du auf?«

Ich drehte mich um. Papa stand in der Tür. Er hatte seinen Arm gegen den Türrahmen gelehnt und das gleiche Lächeln im Gesicht, das er oft bei Verkäuferinnen oder Kellnern aufsetzte, um einen besonders guten Service zu bekommen. Man konnte ihm einfach nicht widerstehen.

Als Antwort stöhnte ich bloß und versuchte, auf die Beine zu kommen. Ich mochte es nicht, wenn er mich so zu Gesicht bekam.

»He – du bist die Beste. Keine Proteste!«, sagte er.

»Idiot.«

Papa war mein größter Fan. Eigentlich auch mein einziger. Und nicht immer ganz im Einklang mit der Realität.

Er kam herein und wuschelte mir durchs Haar, obwohl er wusste, dass es mich eine Runde mit Bürste und Haarspray kosten würde, um es wieder in einen akzeptablen Zustand zu bringen – streng aus dem Gesicht gekämmt, so wie Birgitta, meine Tanzlehrerin, es bevorzugte.

»Und ich bin hundertprozentig objektiv«, sagte er.

»Gut, dass du dir da wenigstens selbst ganz sicher bist«, sagte ich.

Er lachte und ließ mich wieder los. Ich konnte nicht anders, als auch zu lachen. Er konnte einen Diamanten zum Schmelzen bringen.

»Mach doch weiter.«

Er liebte es, mir zuzugucken. Als er in der ersten Etage die Wand zwischen zwei Schlafzimmern einriss, damit ich zu Hause genug Platz zum Trainieren hatte, waren seine eigentlichen Gründe rein egoistischer Natur gewesen, behauptete er. Und er war so bemüht, dass ich ihm glaubte. Das Zimmer war fantastisch. Ich kannte niemanden, der ein ähnlich großes Zimmer zur Verfügung hatte. Es war 40 Quadratmeter groß und hatte an der einen Längsseite vier Fenster. Ich hatte die beste Aussicht im ganzen Haus und konnte weit über den Oslofjord schauen.

Ein weiteres Mal stellte ich die Musik an. Ein weiteres Mal tanzte ich ab der Ausgangsposition. Nun ging mein Atem regelmäßig, ich hielt den Schwerpunkt tief, führte die Bewegungen vollständig aus. Es begann tatsächlich, nach etwas auszusehen.

Aber dann klingelte erneut das Telefon. Es lag immer noch auf dem Nachttisch. Warum hatte ich es nicht auf lautlos gestellt? Ich wusste doch, dass sie es häufig ein zweites oder drittes Mal versuchte.

»Willst du nicht rangehen?«, fragte Papa.

Ich sah auf den Boden. Das Parkett war abgenutzt. Papa wollte es austauschen, aber mir schien das überflüssig, denn mit jeder Pirouette bohrte ich mich ein winziges bisschen tiefer ins Holz. Es war besser, bis zu meinem Auszug damit zu warten, wenn ich in einem Jahr mit der Schule fertig war. Wenn – oder falls – ich an der Balletthochschule anfangen würde.

Das Telefon klingelte immer noch.

Wir sahen es beide an, aber keiner bewegte sich.

»Ist das Mama?«, fragte er leise.

Ich musste nichts sagen, er kannte die Antwort.

»Wann hast du das letzte Mal mit ihr gesprochen?«

Seine Stimme war sanft und weich – als wäre ich wieder klein, hingefallen, und er müsste mich mit einem Pflaster verarzten. Ich brachte es nicht fertig, ihn anzusehen, und mochte ihm nicht antworten. Streng genommen hatte er damit nichts mehr zu tun. Aus seinem Leben war sie nämlich raus.

Endlich hörte das Klingeln auf.

Ich griff nach der Fernbedienung und drückte wieder auf Start. »Bis morgen muss es sitzen«, sagte ich hastig. Ich lächelte ihn an und hoffte, er würde Ruhe geben.

Er nickte nur. Sein Jungenlächeln war verschwunden, sein Blick schwer. Er wollte noch etwas sagen, ließ es aber bleiben. Als er gegangen war und die Tür still hinter sich geschlossen hatte, blieb ich stehen. Ich musste das hier schaffen. Ich wusste, dass Birgitta ein besonderes Auge auf mich hatte. Ich war nicht wie Ida, die sich durch jeden Part hindurchquälte, oder wie Charlotte, die immer gegen das Zuviel ihres eigenen Körpers ankämpfen musste. Ich war Amelie Prytz und hatte das Tanzen im Blut.

Die Valkyrie

Ich tanzte die ganze Nacht. Zum Glück befand sich Papas Schlafzimmer am anderen Ende der Etage, weshalb ihn die Musik nicht störte. Und der Garten war groß, sodass sich auch unsere etwas zickige Nachbarin Ellinor nicht belästigt fühlen konnte. Sie wären sonst wohl auch total durchgedreht, wenn sie Beyoncés Hello in Wiederholungsschleife hätten hören müssen. Wieder und immer wieder.

You shelter my soul

You’re my fire when I’m cold

I want you to know

You had me at hello

Hello

Hello

Hello

Hello

You had me at hello

Und so weiter.

Zuerst schien es unmöglich. Als wollte ich meinen Körper zu etwas zwingen, was er physisch nicht leisten konnte, etwas, was am frühen Abend fast in Griffweite gewesen, nun aber zwischen meinen Händen zu Sand zerronnen war. Ich nahm kaum wahr, dass es dämmerte. Als weit draußen im Oslofjord endlich die Sommersonne unterging, hatte ich mich zwar wieder etwas angenähert, war aber noch lange nicht dort, wo ich hinsollte.

Im Zimmer war es dunkel, aber das machte nichts. Die Bewegungen saßen im Körper, ich brauchte keinen Spiegel. Ich wusste, was ich zu tun hatte, und nahm mir nicht die Zeit, das Licht anzumachen. Oder richtiger: Ich vergaß es ganz einfach. Mein Blick fiel auf den elektronischen Wecker. Er zeigte 0:23 Uhr. Schlagartig spürte ich ein nagendes Gefühl im Magen. Der ganze Körper war ausgehöhlt, vom unteren Ende des Rückgrats bis zum oberen Brustbein.

Wenn man den Hunger lange genug aushielt, verwandelte er sich häufig in etwas anderes – in ein stärkeres Gefühl, das mit Essen nichts zu tun hatte, ein Gefühl, das man kontrollieren konnte. Aber ich kannte es und wusste, dass es nicht klug war, es zu weit zu treiben. Ich hatte gesehen, wie Mädchen sich kaputt machten, indem sie zu wenig aßen. Wir sollten zwar dünn sein, aber nicht so dünn. Papa lag mir damit ständig in den Ohren. Jeden Tag. Jeden einzelnen Tag. Darum schlich ich mich hinunter in die Küche, suchte im Schrank nach ein paar Reiswaffeln und trank ein Glas Wasser. Im Halbdunkel blieb ich sitzen und kaute die trockenen Waffeln. Sie schmeckten fantastisch. Sogar noch besser als Softeis – und das war das Beste überhaupt.

Nach fünf Minuten ging es wieder nach oben ins Zimmer.

Als ich mich endlich schlafen legte, war es hell geworden. Ich brachte es nicht einmal fertig, die Gardinen vorzuziehen. Draußen starteten die Singvögel in den Tag und flogen federleicht zwischen den Fliederbüschen hin und her.

Ich selbst war alles andere als leicht. Mein Körper fühlte sich an, als wäre jemand mit einem Jumbojet darübergefahren. An den Füßen hatten sich an einigen Stellen Blasen gebildet, trotzdem hatte ich mir keine Zeit genommen, Pflaster daraufzukleben. Aber mein Kopf, der war leicht. Weil ich es geschafft hatte. In den letzten Durchgängen, die ich getanzt hatte, saß alles. Sogar der schwierige Übergang von der Pirouette zum Sprung.

Mit einem Lächeln schlief ich ein.

Als ich an der neuen Schule, der Valkyrie, begann, dauerte es einige Wochen, bis ich nicht mehr bei jedem Gang durchs Schultor dumm vor mich hingrinste. Es fühlte sich an wie frisch verliebt. Oder wenigstens so, wie ich mir dieses Gefühl vorstellte. Unglaublich, dass ich angenommen worden war! Unglaublich, dass ich drei Jahre lang hierherkommen und Teil des Ganzen sein durfte!

Die Schule lag zwischen alten, schönen Stadthäusern in Frogner. Sie schien riesengroß, besonders wenn man neu war. Das rote Backsteingebäude mit den langen Fensterreihen ragte über einem empor. Das Dach wurde von drei Erkern unterbrochen, und ganz oben in jedem Erker befand sich ein kleines rundes Fenster, wie in einem Schloss.

Auch innen wirkte alles groß. Die Flure waren lang, die Decken hoch, und die ausladenden Fenster hatten so breite Simse, dass man darauf sitzen konnte. Es gab so viele Winkel und Ecken und kleine Zimmer mit Dachschräge und stickiger Wärme im Sommer, dass man sich problemlos verirren konnte.

Und der Tanzsaal war gigantisch, mit hoher, gewölbter Decke und riesigen Fenstern an der einen Seite, wo die Sonnenstrahlen auf den tanzenden Staub trafen.

Im Grunde war alles ein bisschen staubig, und man konnte nie sicher davor sein, dass einem Farbsplitter auf den Kopf fielen – die Farbe blätterte sowohl von den Wänden als auch von den Decken. Aber das war Teil des Erlebnisses.

Das Gebäude war alt, erbaut im Jahr 1905. Sich vorzustellen, was die Wände des Tanzsaals während dieser Zeit nicht alles gesehen und gehört hatten! Vielleicht hatten die Schüler in den 1920er-Jahren hier Charleston getanzt, wie in The Great Gatsby. Vielleicht hatten sie sich hinter dem Rücken der Lehrer die neuesten und raffiniertesten Schritte beigebracht? Oder während des Krieges verbotene Zeitungen verteilt? Es gab so viele Verstecke in diesem Gebäude, dass das bestimmt gut möglich gewesen war. Die Schule hatte auch ihren eigenen Ritterorden. Er wurde vergeben an »Personen, die der Gesellschaft große Verdienste erwiesen und großen Einsatz für die Schule gezeigt haben«. Schüler der Valkyrie zu sein, war eine Verpflichtung.

Auch Mama war hier Schülerin gewesen.

Wir sollten in der ersten Stunde mit der Choreografie beginnen. Ich war früh dran und hatte mich gründlich aufgewärmt. Ich war bereit, spürte die Straffheit meines Körpers, die Konzentration und Kraft.

Birgitta sagte kein Wort. Starrte nur in die Klasse, über unsere Köpfe hinweg. Dann stellte sie die Musik an. Wir wussten, was wir zu tun hatten.

Wir tanzten alle das Gleiche, dieselben Schritte. Es schien bei allen zu klappen. Aus dem Augenwinkel sah ich Charlotte. Technisch war sie gut, aber irgendwie gab es zu viel von ihr. Ihr Körper hatte in etwa die Formen der Rothaarigen in Mad Men, und beim Tanzen zeigten sie sich noch deutlicher. Ida sah ich nicht, sie war in der Reihe hinter mir, aber ich hörte sie desto besser. Sie schnaufte wie ein altes Auto.

Birgitta pflegte uns daran zu erinnern, dass der Atem die Bewegungen verbinden und für fließende Übergänge und Einheit sorgen sollte. Idas Atem entsprach dieser Vorstellung nicht ganz. Er kam stoßweise, war angestrengt und nicht im Rhythmus.

Bei mir floss alles regelmäßig, sowohl der Atem als auch das Tanzen.

»Amelie.« Birgitta wandte sich mir zu. »Dann kannst du jetzt nach vorne gehen und dein Solo tanzen.«

Ich trat einen Schritt vor die anderen und begann mit der Partie, die ich so lange geübt hatte. Es war nicht das erste Mal, dass ich das Solo bekam. Birgitta wählte oft eine von uns aus, als würden wir für eine Vorstellung üben. In letzter Zeit war immer ich es gewesen, und ich hoffte, dass es so weitergehen würde.

Port de bras – ich streckte mich, so weit ich nur konnte, führte die Bewegungen bis ins Letzte aus. Die Pirouetten – kein einziges Mal verlor ich die Balance. Dann die Sprünge – ich platzierte die Füße absolut präzise. Schließlich folgte der schwierige Abschluss. Ich suchte einen Punkt an der Wand und heftete meinen Blick darauf, führte federleicht und gleitend direkt zum Sprung über, bevor ich auf dem Boden abrollte. Die Bewegungen waren weich und präzise. Ich hatte alles gemeistert. Perfekt.

Die letzten Klaviertöne von Hello verklangen. Der Saal wurde still, das einzige Geräusch, das zu hören war, war unser Atem, der über dem fernen Rauschen der Stadt langsam ruhiger wurde. Wir wandten unsere Blicke zu Birgitta, hofften auf ein anerkennendes Nicken, vielleicht ein kleines Lächeln. Aber sie stand bloß bewegungslos da. Stoneface.

Herzschmerz, irgendwie

Nach einigen Sekunden ging Birgitta endlich ein paar Schritte. Sie bewegte sich immer wie auf einer Bühne. Jede kleinste Bewegung war choreografiert, als wäre sie sich ständig bewusst, dass sie beobachtet wurde, und das wurde sie ja auch oft – wenn auch nur von uns. Früher war das anders gewesen. Sie hatte ihre Ausbildung an der Juilliard in New York absolviert und auf den größten Bühnen Europas getanzt. Die Birgitta Jansson. Sie hatte auch mit Mama getanzt, in der Oper, ich hatte Bilder von ihr in Mamas Album gesehen. Aber das hatte Birgitta nie kommentiert, ich wusste nicht, ob sie jemals befreundet gewesen waren. Auf jeden Fall waren wir überglücklich, als sie unsere Lehrerin wurde. Waren. Ungefähr nach den ersten zwei Wochen an der Schule begann uns zu dämmern, dass die Ballerina-Medaille eine Rückseite hatte, die schwärzer war als eine Regennacht im November.

Sie blieb stehen. Ohne irgendjemanden von uns anzuschauen (der Blick war wie immer auf irgendeinen Punkt über unseren Köpfen gerichtet), begann sie zu sprechen.

»Dies ist nicht der Freizeitklub der Gesamtschule, meine Damen.«

Sie ging einen weiteren, übertrieben präzise gesetzten Schritt vor. »Ich hatte, ehrlich gesagt, angenommen, wir wären schon einen Schritt weiter.« Dann drehte sie sich zu Charlotte um. »Du versuchst schon deutlich, deine Gefühle hineinzulegen. Aber …«

Eine weitere Kunstpause. Ich konnte beinahe Charlottes Herz unter dem Trikot schlagen sehen, obwohl sie mit der Hand an der Hüfte dastand und versuchte, so auszusehen, als sei ihr alles egal.

»Zu viel Busen und Oberschenkel.« An dieser Stelle legte Birgitta einen Hüftschwung ein, der einer Stripperin würdig gewesen wäre. »Vielleicht macht sich das ja gut. Bei anderen Gelegenheiten.«

Charlotte war rot geworden. Aber nicht wegen der Anstrengung. »Beim Tanzen ist es tatsächlich notwendig, dass du das einschränkst«, schloss Birgitta.

»Verdammt noch mal, Birgitta! Das ist Schikane!«, rief Charlotte.

Birgitta würdigte sie nicht einmal eines Blickes.

»Für die Musik von Beyoncé ist wohl eher deine Art zu tanzen eine Schikane.«

Aus irgendeinem Grund war Birgitta ein großer Fan von Beyoncé. Ein großer Fan. Hello war bei Weitem nicht der erste Song von Beyoncé, zu dem wir getanzt hatten, zu Beginn des Frühjahrs hatten Halo und Irreplaceable auf dem Programm gestanden. Vielleicht hatte Birgitta tatsächlich irgendwo einen weichen, sentimentalen Kern in sich. Auch wenn sie ihn uns bisher nie gezeigt hatte.

Sie kehrte Charlotte den Rücken zu. Sie war fertig mit ihr. Und Charlotte sah auch ganz schön fertig aus. Ihr Arm war an der Seite heruntergefallen. – So gebeugt, wie sie jetzt dastand, wirkte sie fast flachbrüstig. Und dazu gehörte schon viel, denn Charlotte war überdurchschnittlich gut proportioniert.

Birgitta blieb bei Ida stehen. Idas Beine zitterten leicht, und wie um das zu verbergen, verlagerte sie das Gewicht.

»Ida. Du bist ein schlauer Kopf.«

Ida sah auf, auch jetzt noch voller Hoffnung, obwohl die ganze Klasse, sie eingeschlossen, wusste, was kommen würde.

»Hast du eventuell mal daran gedacht, lieber darauf zu setzen? Denn deine Koordination …« Birgitta fehlten offensichtlich Worte, die hässlich genug waren, um ganz genau zu beschreiben, wie elendig Idas Koordination war. Sie sah sie nur lange an. Und schüttelte langsam den Kopf.

Idas Augen wurden blank. Ihr Körper zuckte, als ob sie davonlaufen wollte. Die Füße zeigten zu weit nach außen, befanden sich in ewiger Zweiter Position, wie bei Charlie Chaplin – was sie noch hilfloser aussehen ließ. Aber sie wich zum Glück nicht von der Stelle und blieb stehen.

Dann drehte sich Birgitta zu mir. Ihr Blick war ausdruckslos.

Ich versuchte ein Lächeln.

Je zufriedener Birgitta war, desto weniger pflegte sie zu sagen. Wenn sie sich mit einem einzigen Wort begnügte, einem der kürzesten im Wörterbuch, mit nur drei Buchstaben, da wusste man, dass sie wirklich zufrieden war: gut.

Gut war das Wort, nach dem ich mich sehnte. Ein »gut« von Birgitta konnte dafür sorgen, dass ich für den Rest des Tages über dem Erdboden schwebte und mir eine Vier in der Mathearbeit oder Charlottes viele Sticheleien egal waren. Es konnte mich sogar dazu bringen, Mama zu vergessen.

Doch heute war es kein einzelnes, kleines Wort, das über Birgittas Lippen kam. Es waren viele. Sehr viele.

»Amelie … Die Technik hast du im Blut. Und trainiert hast du – wie immer«, begann sie.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. War das ein Lob?

»Aber …« Da kam es. Aber. Auch ein kurzes Wort, aber trotzdem absolut falsch. »… Technik und Training reichen jetzt nicht mehr aus.«

Ich spürte, wie mein Lächeln strammer wurde und die Mundwinkel verkrampften, bis es unmöglich wurde, sie noch länger oben zu halten.

»Wenn du Erfolg haben willst«, sie hob die Stimme, »dann musst du mehr zeigen. Mehr.«

Mehr. Noch ein kurzes Wort.

»Wir wollen dich im Tanz sehen.«

Sie fixierte mich. Ich versuchte, ihrem Blick zu begegnen. Und dabei auszusehen, als würde ich begreifen, was sie meinte. In Wahrheit verstand ich nicht die Bohne.

»Wo bist DU? Wo ist Amelie?« Das Letzte sagte sie so laut, dass das Fragezeichen fast zitternd über ihr in der Luft zu stehen schien.

Im Saal war es jetzt völlig still. Wir konnten die Straßenbahn hören, wie sie in einiger Entfernung durch die Straßen rumpelte. Alle sahen von mir zu Birgitta und wieder zurück. Ida war voller Mitleid, Charlotte stand mit offenem Mund da, in den Augen pure Sensationslust.

Birgitta war fertig mit mir und wendete ihren Blick ab. Sie ließ mich einfach stehen – wie etwas Unnützes, was sie am liebsten loswerden wollte.

Dann begann sie wieder ihre perfekt inszenierte Wanderung durch den Raum, lange Linien, aufrechte Schultern, gerader Rücken.

»Dies ist kein Freizeitklub.« Sie hob die Arme, beinahe wie bei einem Port de bras. »Die Technik MUSS sitzen.« Ein rascher Blick zu Ida. »Aber mehr als das.« Nun sah sie wieder zu mir. »Ihr müsst euch selbst in den Tanz legen. Wir müssen euch SEHEN.«

Sie war jetzt richtig in Gang, berauscht von ihren eigenen Worten.

»Tanzen ist eine Kunstform. Und echte Kunst entsteht durch die Seele … Dadurch, dass ihr eure Gefühle und …« Kunstpause. »… euren SCHMERZ in den Tanz legt.«

Die Konsonanten des Wortes wurden überdeutlich artikuliert – langgezogenes SCHM, rollendes R, scharfes Z.

Sie ließ die Arme sinken. Offensichtlich war sie fertig. Es wurde ganz still.

Dann hob sich eine einsame Hand. Türkiser Nagellack, ein Ring aus Weißgold mit glitzerndem Stein, garantiert echt, aus einem überfüllten Schmuckkästchen ausgewählt, sicherlich nach langem Hin- und Herüberlegen.

»Entschuldigung – ist das nicht ein bisschen klischeehaft?«, sagte Charlotte mit Zuckerwatte in der Stimme. »A la Herzschmerz gleich wahre Kunst?«

So war Charlotte. Niemand außer Charlotte schaffte es, dass ich mich so richtig klein fühlte. Gleichzeitig war es manchmal unglaublich gut, sie dabeizuhaben, wenn die giftige Nadel, die sich in der Zuckerwatte verbarg, andere als einen selbst stach.

Birgitta drehte sich zu Charlotte um. Sie sah sie nur an. Birgitta beherrschte alle Tricks aus dieser Kiste selbst, und noch einige darüber hinaus. Dieses Mal wählte sie mitleidige Resignation, als sei Charlottes Frage zu dumm, um einer Antwort würdig zu sein.

»Nein. Das ist wahrscheinlich zu viel verlangt.«

Sie drehte uns den Rücken zu und gab uns offensichtlich vollständig auf. Wir waren ihrer nicht würdig – weder ihrer Aufmerksamkeit noch ihrer Ausführungen. Vielleicht vergaß sie, dass wir tatsächlich sehr viel besser waren als viele andere. Dass wir uns allein durch die Aufnahme in die Tanzklasse der Valkyrie schon auf die Landesebene getanzt hatten, dass da lange Reihen von Ballettmädchen Schlange standen und sich wünschten, sie dürften unsere Trikots tragen.

»Danke. Das war’s für heute.«

Sie sagte es zu den Bäumen vor den Fenstern, machte sich noch nicht einmal die Mühe, sich umzudrehen.

Die Klasse verschwand leise murmelnd und flüsternd in die Umkleide. Aber meine Füße waren wie festgefroren. Ich schaffte es nicht, mich zu bewegen.

Ist da noch mehr?

Ihre Worte vibrierten in meinem Kopf. Erst jetzt wurde mir bewusst, was sie gesagt hatte. Wir wollen DICH im Tanz sehen … Wo bist du?

Ich war so sicher gewesen, dass es heute laufen würde. Und das war es ja auch. Fehlerfrei. Es gab nichts zu bemängeln. Die Schritte waren perfekt ausgeführt, ich hatte alle Übergänge gemeistert. Was war es dann?

Tief unten im Hals lauerte ein irritierender Kloß.

Birgitta drehte sich um.

»Überrascht?«

Ich konnte nur nicken.

Birgitta machte ein paar Schritte. Wie ein Roboter, steif.

»So tanzt du. Wie eine …« Sie suchte nach dem Wort. »Eine Aufziehpuppe.«

»Entschuldige«, sagte ich leise.

Birgitta kam näher. Sie sah mich jetzt richtig an.

»Wenn du auf die Balletthochschule möchtest, reicht es nicht, die Technik zu beherrschen«, sagte sie.

Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich geglaubt, eine Andeutung von Mitleid in ihrer Stimme zu hören.

»Nein. Ich weiß … Es tut mir leid«, sagte ich nur. Aber da verhärtete sich ihr Blick wieder.

»Ja, genau. Das tut es wohl.«

»Ja!«

Sie trat auf mich zu. Legte ihre Hand auf meine Brust, direkt auf das Herz.

»Manchmal frage ich mich, ob hier drinnen noch etwas mehr ist.« Ihre Hand bewegte sich weiter, hoch zu meinem Ohr. »Oder bist du wirklich nur Perlenohrring und frisch gewaschenes Haar?« Sie zog am Ohrläppchen, an der Perle, einem Weihnachtsgeschenk von Papa aus dem letzten Jahr. Es war gleichzeitig schmerzhaft und viel zu vertraut.

Der Kloß in meinem Hals vergrößerte sich. »Entschuldige. Entschuldige! Ich werde noch mehr trainieren!«

»Ob du es glaubst oder nicht«, sagte sie leise. »Aber darum habe ich dich nicht gebeten.«

Dann ging sie.

Ich nahm mir viel Zeit unter der Dusche, wartete, bis alle fertig waren. Ich wollte allein sein, mit niemandem sprechen. Mit gesenktem Kopf stand ich da und ließ das Wasser über meine langen Haare laufen, sodass vor meinem Gesicht ein kleiner Hohlraum entstand. Hier in diesem Raum gab es nur mich. Dann drehte ich das warme Wasser ab. Langsam änderte sich die Temperatur, das Wasser wurde eiskalt. Ich hob das Gesicht und ließ den Wasserstrahl direkt auf mein Gesicht treffen. Das half.

Als ich etwas später zu den anderen hinauskam, lagen sie über die ganze Treppe verteilt in der Sonne und hatten offensichtlich bereits alles vergessen.

Charlotte und Ida hatten sich zu Ella und Caroline gesetzt, die nicht in die Tanzklasse gingen, sondern den allgemeinbildenden Zweig besuchten. Es waren alte Freundinnen von mir, schon aus meiner vorigen Schule. Aber seit ich hier in der Tanzklasse begonnen hatte, traf ich sie seltener, Charlotte und Ida dafür umso häufiger. Ella und Caroline lebten normale Leben. Sie trainierten nicht zusätzlich zur Schule den ganzen Tag. Trotzdem klagten sie darüber, wie anstrengend alles war – die vielen Hausaufgaben und Arbeiten. Sie hatten, ehrlich gesagt, überhaupt keine Ahnung.

Aber jetzt, in diesem Moment, hatten wir eine Viertelstunde Pause. Und Charlotte gehörte zu denen, die sie voll auszuschöpfen wussten.

»Hat irgendjemand Sonnencreme?«

Sie zupfte an ihrem Ausschnitt, sodass die Spitzenborte ihres Victoria’s Secret herausguckte. Die Maisonne briet sie wie ein Stück Speck.

Ida wühlte in ihrer Tasche und warf ihr eine Tube zu.

»30?! Ich wollte eigentlich ein bisschen Farbe bekommen!«

»Falten auch?«, fragte Ida.

Ida und Charlotte kannten sich seit der ersten Klasse. Vielleicht war Ida deshalb die Einzige, die keine Angst hatte, Charlotte ihre Meinung zu sagen. Oder vielleicht auch, weil Ida schlagfertig genug war und fast immer eine passende Antwort auf Lager hatte.

»Bist du dreißig oder was?«, sagte Charlotte.

»Es ist deine Haut.«

»Mit vierzig ist das Leben von Tänzern vorbei. Da spielt es sowieso keine Rolle mehr, wie faltig man ist«, sagte Charlotte. Da musste selbst Ida lachen.

Axel sprang auf, als er mich sah. Er kam zu mir und wollte mich küssen. Behutsam schob ich ihn zurück.

»Jetzt nicht.«

Aufmunternd legte er einen Arm um mich. »War es so schlimm?«

Die anderen hatten ihn offenkundig über Birgittas Festansprache informiert.

Ich nickte nur, aber Ida schüttelte den Kopf: »Ich begreife nicht, was Birgitta meint. Ich hätte den Übergang niemals hinbekommen.«

Das war nicht zu leugnen. Was die Technik betraf, kam Ida nicht im Entferntesten an mich heran.

»Aber du hast ja gehört, was sie gesagt hat«, antwortete ich. »Wie lange ist es her, dass sie professionell getanzt hat? Zwanzig Jahre?«

»Egal. Wir sprechen hier über Birgitta Jansson.«