Beatlebone - Kevin Barry - E-Book

Beatlebone E-Book

Kevin Barry

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Beschreibung

1978: John Lennon flieht aus New York, um auf sein Inselchen vor der irischen Westküste zu fahren, das er neun Jahre zuvor gekauft hat. Zurück lässt er Gedanken an den drohenden 40. Geburtstag, eine tiefe Schaffenskrise und die quälende Erinnerung an seine Eltern. Nur drei Tage in beruhigender Einsamkeit verbringen - mehr verlangt er gar nicht. Doch als er sich in die Hände eines mit viel irischem Charme und Schrulligkeit ausgestatteten Chauffeurs begibt, beginnt eine hindernisreiche Magical Mystery Tour. "Beatlebone" führt einen in jeder Hinsicht an die Grenzen - der westlichen Welt, der geistigen Gesundheit, des Ruhms, der Worte. Und, nicht zuletzt, an die des Romans, dorthin, wo er auf seine Doppelgängerin trifft, die Autobiographie. Denn diese faszinierende Erzählung aus dem Kopf eines der größten Popgiganten des 20. Jahrhunderts wird unversehens zu einer Meditation über den kreativen Prozess im allgemeinen, über die verblüffende Verbindung von Autor und Figur. Ihr Schöpfer, Kevin Barry, gilt vor allem wegen seiner überbordend lyrischen Sprache als der musikalische Dichterfürst Irlands und als eines seiner größten literarischen Talente.

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Seitenzahl: 269

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Kevin Barry

Beatlebone

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Bernhard Robben

 

Über dieses Buch

1978: John Lennon flieht aus New York, um auf sein Inselchen vor der irischen Westküste zu fahren, das er neun Jahre zuvor gekauft hat. Zurück lässt er Gedanken an den drohenden 40. Geburtstag, eine tiefe Schaffenskrise und die quälende Erinnerung an seine Eltern. Nur drei Tage in beruhigender Einsamkeit verbringen – mehr verlangt er gar nicht. Doch als er sich in die Hände eines mit viel irischem Charme und Schrulligkeit ausgestatteten Chauffeurs begibt, beginnt eine hindernisreiche Magical Mystery Tour.

«Beatlebone» führt einen in jeder Hinsicht an die Grenzen – der westlichen Welt, der geistigen Gesundheit, des Ruhms, der Worte. Und, nicht zuletzt, an die des Romans, dorthin, wo er auf seine Doppelgängerin trifft, die Autobiographie. Denn diese faszinierende Erzählung aus dem Kopf eines der größten Popgiganten des 20. Jahrhunderts wird unversehens zu einer Meditation über den kreativen Prozess im Allgemeinen, über die verblüffende Verbindung von Autor und Figur. Ihr Schöpfer, Kevin Barry, gilt vor allem wegen seiner überbordend lyrischen Sprache als der musikalische Dichterfürst Irlands und als eines seiner größten literarischen Talente.

Vita

Kevin Barry, geboren 1969 in Limerick, ist der Autor dreier Romane, «Die dunkle Stadt Bohane», «Night Boat to Tangier» und «Beatlebone» sowie von zwei Bänden mit Kurzgeschichten. Für sein Werk wurde er mit dem IMPAC-Preis, dem Europäischen Literaturpreis und dem Rooney Prize ausgezeichnet sowie zweimal auf die Shortlist des Irish Book Award gewählt. Barry lebt in Dublin.

 

Bernhard Robben, geb. 1955, lebt in Brunne/Brandenburg und übersetzt aus dem Englischen, u. a. Salman Rushdie, Peter Carey, Ian McEwan, Patricia Highsmith und Philip Roth. 2003 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Stiftung Kunst und Kultur des Landes NRW ausgezeichnet, 2013 mit dem Ledig-Rowohlt-Preis für sein Lebenswerk geehrt.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel «Beatlebone» bei Canongate Books Ltd, Edinburgh.

 

Dieses Buch wurde mit einer Übersetzungsförderung von Literature Ireland publiziert.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2020

Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Beatlebone» Copyright © 2015 by Kevin Barry

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Eiko Ojala

ISBN 978-3-644-00592-1

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Eugene, Joan, Majella und Mary

«… die unfassbarste aller Inseln, die erste Person Singular.»

John McGahern

Teil einsJohn verreist, getrieben vom Motor der Melancholie – 1978

Wie ein Tier bricht er zu diesem Ort auf, wie ein Zugvogel zu einem Schicksalsflug. Nichts daran ist geplant, es ist nicht mal besonders vernünftig, aber gerade das macht es so verlockend. Schon die halbe Nacht reist er nach Osten, und niemand hat ihn gesehen – hält man den Blick gesenkt, ist man unsichtbar. Über den weitgespannten Himmel und durch gespenstische Flughäfen, und jetzt sitzt er auf der Rückbank eines alten Mercedes. Sein Hirn fühlt sich an wie ein Stadtzentrum, und da ist ein seltsames Kribbeln in den Knochen seiner Affenfüße. Scheiß drauf. Er wird sich drum kümmern. Die Straße entrollt sich wie eine schwarze Zunge und schleckt an der Nacht. Sie haben doch was Äffisches, seine Füße, oder? Und sein Gaumen blutet. Aber das soll ihm jetzt egal sein – wird er noch drüber nachdenken. Spart er sich für später auf. Bäume und Felder huschen vorüber in der körnigen Nacht. In letzter Zeit hatte er wirklich Affen im verdammten Hirn. Angst? Von irgendwoher hört er einen traurigen, jenseitigen Ton, vielleicht aus seinem Innern. Und jetzt tauchen im Rückspiegel die schwermütig blickenden Augen des Fahrers auf –

 

Ist alles vorbereitet, sagt er. Sollte nicht die geringsten Probleme geben. Könnte aber noch eine Stunde bis zu diesem Hotel da draußen dauern.

 

Fahrer hat eine sehr angenehme Stimme, so tief und vertrauenswürdig wie die eines Nachrichtensprechers, dieser Bass, der braune Samt seiner Stimme, ach was, Cordsamt, und der große, klotzige alte Mercedes schneidet leise wie Geld durch die Luft.

 

John ist müde, aber nicht schlafmüde.

 

Keine verdammten Zeitungsfritzen, sagt er. Und keine verdammten Paparazzi.

 

Er vermutet eine Abfolge von Bäumen, Feldern und Hügeln im nahen Dunkel. So wie man an einem glückseligen Abend im Frühling eine Welt um sich herum entstehen spürt. Er kurbelt das Fenster zwei Zentimeter runter. Nimmt als Muntermacher einen Lungenzug kühler Sternenluft. Nachtbläue und Diesel. Wie schön. Er ist hundemüde, kriegt aber keine Ruhe in seinen Kopf. Es ist Maienzeit – die Luft voll davon, schmeckt danach – und er mal wieder völlig aufgewühlt.

 

Wo zum Teufel sind wir, Fahrer?

 

Schwer zu sagen.

 

Er mag den Fahrer. Er streckt die Affenzehen. Mitten in der Nacht, mitten im verdammten Nirgendwo. Er seufzt schwer – was gut genug anfängt, aber rasch zu einem dumpfen Stöhnen wird. Keine tolle Entwicklung. Fahrer wieder im Rückspiegel. Als wollte er sagen, reiß dich zusammen. Einen Moment lang mustern sie sich ernst; die Nacht zieht weiter. Der Fahrer ist puterrot im Gesicht – Irrsinn oder Ekzeme – und seine Nase sieht tot aus, und er schimpft nun leise:

 

Das bringt dich kein bisschen weiter.

 

Fahrer tippt ans Lenkrad, ein sachter Blick, die Straße dreht sich. Sie fahren schnell und nach Westen. Berge steigen in den Nachthimmel. Die kalten Sterne wandern. Sie klettern höher. Ständig ändert sich derweil die Luft. Bei lichtem Wald ein mittelalterlicher Geruch. Bei einem verlassenen Haus in einer plötzlichen Kurve okkulte Luft. Wie soll man diese verdammten Dinge erklären? Endlich das schwarz schimmernde Meer. Diese Gegend ist so gespenstisch

 

zumindest ist sie das für mich

 

und da ist auch eine Traurigkeit, nahebei, wie eine klamme zweite Haut. Hier draußen hat der Wind die Bäume zu neuen, merkwürdigen Gestalten verformt – er kann Hexen sehen, Ghule, Geschöpfe des Nachtwaldes, schmollende Banshees, schnatternde Trolle.

 

Eine Nacht für Scheißkäuze, sagt er.

 

Wie bitte?

 

Wollte sagen, hier hinten krieg ich noch die Scheißkrätze.

 

Tut mir leid.

 

Was anderes fällt Ihnen dazu nicht ein?

 

Er lehnt sich zurück, ein blasser, wacher, kreideweißer Komödiant; die wehen Knochen, das Alter. Kein Friede, kein Schlaf, kein Lebenssinn. Und da draußen ist das Meer und wogt. Er hört es rauschen – ein langsames, rostiges Schwärmen. Wie lyrisch für einen Mann zu dunkler Stunde, in Jeans, und einsam – es rührt ihn.

 

Fahrer dreht sich um, lächelt betrübt –

 

Sie sehen aus wie ein völlig in sich gefangener armer Wicht.

 

Ach?

 

Was geht Ihnen durch den Kopf?

 

Schwer zu sagen.

 

Liebe, Blut, Schicksal, Tod, Sex, das Nichts, Mutter, Vater, Fotze, Schwanz – daran denkt er.

 

Also –

 

Wie oft wollen die mich noch fragen, ob ich in dieser verdammten Muppet Show auftrete?

 

Ich will einfach nur auf meine Insel, sagt er.

 

Drei Tage will er allein auf seiner Insel sein. Mehr verlangt er nicht. Damit er sich die verfluchte Lunge aus dem Hals schreien kann, damit er von früh bis spät schreien und nachts die Sterne anbrüllen kann – falls es da Sterne gibt und sie zu sehen sind.

Der Mond riffelt durch die Felder, und weiter fahren sie durch die Nacht – Teufel auch, der Mond steht über den Feldern und Bäumen, er aber kriegt nicht mal ein Jaulen hin.

 

Radio?

 

Wenn’s sein muss.

 

Wie wär’s mit ein bisschen Luxemburg?

 

Klar, warum nicht, probieren wir’s mit ein bisschen Luxy.

 

Nur wird da Kate Bush gespielt, Kate Bush unterwegs auf pfiffigem, windigem Moor.

 

Eine Frage, sagt er.

 

Ja?

 

Wieso zum Teufel pfiffig?

 

Singt sie wirklich pfiffig?

 

Singt sie.

 

Na ja …

 

Stellen Sie’s aus, sagt er.

 

Verfluchtes Hexengekreisch. Die Hügel laufen aus, das Dunkel taumelt. In der Ferne liegt jetzt eine Stadt in der gewölbten Hand ihres eigenen Lichts – ein kleines Königreich – und nach einer langen, unbestimmten Weile – er atmet, lebt aber kaum noch – kommen sie zu einer alten Brücke, und er bittet ihn, am Fluss anzuhalten, um mal kurz zu lauschen.

 

Hier?

 

Ja, genau hier.

 

Es ist vier Uhr früh – der Motor brummt im Leerlauf leise vor sich hin – und die Bäume haben Stimmen, und auch der Fluss hat Stimmen, und sie alle sind sehr alt.

 

Fahrer dreht sich um –

 

Das Hotel ist auf der anderen Seite der Stadt, nur noch ein paar Meilen.

 

Doch John sieht nach draußen, und er lauscht aufmerksam, und er beschließt, wie er weiter vorgehen will.

 

Sie können mich hier absetzen, sagt er.

Er hatte eine Weile auf seiner Insel leben wollen, nur war es dazu nie gekommen. Gekauft hatte er sie mit siebenundzwanzig, mitten in einem Traum. Jetzt ist erneut die Maienzeit, und wieder fühlt er sich ein wenig seltsam und verquer – die Schotten zur Unterwelt öffnen sich – und er muss mal wieder eine Weile auf seiner Insel sitzen und allein sein und auf die Bucht schauen, auf die fette Faust des heiligen Bergs an der anderen Seite der Bucht, muss einen Schwatz mit den Karnickeln halten und mit den Seesternen abtauchen und sich das Salz von den Lippen lecken und mit dem Kopf wackeln wie ein Hund nach einer Husche, muss urschreien und darf sich von niemandem aufspüren lassen.

 

Mit laufendem Motor steht der schwarze Mercedes hell erleuchtet bei der Brücke über den plappernden Fluss.

 

Langsamen, gemessenen Schrittes entfernt sich John rückwärts vom Wagen – erst einen Fuß, dann den anderen.

 

Er ist jetzt so meilenweit fort von der Liebe, von zu Hause.

 

Dies ist die Geschichte seiner merkwürdigsten Reise.

Und die Jahreszeit ist aus den Angeln. Bald gibt der Moment seine Last an den Sommer ab. Der Fluss ist ein Stimmensturzbach über die Riefen und Tunnel ins weiche schwarze Fleisch der Nacht und Wälder, und entspannt lehnt der Fahrer an der Haube – lässig, sorglos, die Arme gekreuzt, und falls überhaupt irgendwas, dann amüsiert –, da die Tür offen steht, leuchtet der Wagen hell vor der Dunkelheit und dem Mauerwerk der alten Brücke und der kleinen Stadt, die dahinter mit ihren Schornsteinaufsätzen und gewölbten Giebeln in die Höhe ragt. John geht noch einen Schritt rückwärts und noch einen, und er lacht laut, aber nicht abfällig – der Fahrer wird kleiner, sieht ihm weiterhin amüsiert nach – und die Stadt und der Fluss und die Brücke und der Mercedes weichen im Schrittmaß zurück und werden kleiner

 

was, wenn ich weitergehe, ohne zu sehen, wohin ich gehe,

was, wenn ich unter die Bäume und in den letzten Rest der Nacht gehe

 

und er kommt von der Straße ab und tritt in einen Graben und verliert den Halt, und er stolpert und fällt auf den Hintern und ins schwarze, schockkalte Grabenwasser. Wieder lacht er und rappelt sich auf und dreht sich um, und jetzt geht er vorwärts hinaus aufs Feld, geht schneller.

 

Er reagiert nicht auf seinen Namen, als der durch Nacht und Luft schallt.

So eine klare, warme Nacht. Er läuft auf das Feld, bis er ein gutes Stück von der Straße fort ist. Er kann ihren Namen in den Himmel rufen. Kann dessen Licht wieder im Mund spüren. Verdammte Scheiße. Er ist so müde, so fertig, so Scouse – ein Liverpooler Schwärmer. Das erdige Weich unter den Füßen eine Wohltat. Er möchte sich in diesen weichen, satten Papp legen und tut es auch. Das ist alles, was er braucht. Er dreht sich auf den Bauch, liegt mit dem Gesicht auf der Krume, gräbt die Finger tief hinein ...

 

Halt dich verdammt fest, John.

 

In winzigen Etappen kreisen die Sphären der Nacht. Ein letzter Rest Dunkel schwingt sich durch ihr Grau, ihr Gewölbe. Er kann tun, was er will. Er könnte in einem spanischen Schloss wohnen, könnte im Einklang mit den Mondphasen leben. Er dreht den Kopf, um die Wange in den Dreck zu schmiegen. Ruht sich eine Zeitlang aus. Der Mars ist ein fahles Feuer am östlichen Himmel. Eine lange stille Weile liegt er da, bis die Hügel erwachen, die Vögel zu werben und zu rufen beginnen, und nun fühlt er sich hellsichtig und wie neu erschaffen.

 

John liegt aufgesattelt auf der warmen Erde, und er lauscht ihren Knochen.

Seit Frühlingsanfang ist ihm der innere Halt entglitten. Er kennt die Anzeichen. Einen Moment lang verloren in der Vergangenheit, im nächsten zurückkatapultiert ins Hier und Jetzt. Das hat so keine Zukunft. Das Jahr wandelt sich und grünt, und alles wird wieder allzu scheißlebendig.

 

Und so lange schon plagt ihn das eigene Ich, so lange schon ist er unbeirrt fasziniert von seinem eigenen schwarzen Ich – er hat Schmerzen, er ist ein Gott, er ist ein gottverdammtes Monster – jetzt aber ist er siebenunddreißig –

 

ich meine scheißverdammte siebenunddreißig?

 

– und er will endlich über sich hinaus – ist schließlich erwachsen – also hält er Ausschau, betrachtet die Welt und sieht klar und deutlich, was für ein Drecksloch sie ist, was für ein Scheißloch und was für ein herrlicher Himmel – ein Venushügel – voller Liebe und Sex und Schlaf, zumindest gelegentlich, und er ist skabrös (das ist doch mal ein Wort!) und zärtlich – er ist beides – und dann dieser Überschwang an verdammter Mutterliebe – obwohl – für ihn, den sentimentalen Scouse, den Mann aus Liverpool – für ihn ist ihr Todesglanz sein dunkler Stern – und die alte Stadt, kohlschwarz und majestätisch – war sie doch, oder nicht? – zumindest zu ihrer Zeit, nachts so aufgedreht – Bierfahnen, Kippenqualm, das Gedröhn der Kirchenglocken – und ein schneller Fick in einer Gasse – gab’s den, ja? – zu Mitternachtsgebimmel Mösenduft in der Luft –

 

o meine süße meine blasshäutige meine weichlippige Kleine

 

– und jetzt hat er einen Ständer und läuft die Bold Street entlang, und er ist in Liverpool, und er ist siebzehn, ein nordenglischer Bleichling mit irischem Kartoffelblut, das ist er, sonst nichts, drinnen aber, tief unten – hört nur – wie die trunkenen Noten sich regen.

Er setzt sich auf und schaut sich skeptisch um. Heilige Scheiße. Er sitzt im reinen grauen Licht, in klammer Kälte. Er hat es fraglos zurück ins verdammte Irland geschafft. Darüber denkt er nach und steckt sich eine Kippe an. Übers Feld peitscht ein eisiger Wind, und die hohen Gräser biegen und wiegen sich – er niest. Heißt es nicht, beim Niesen verharre kurz die Seele? Zumindest verpisst sie sich für einen Moment. Er steht auf und kriegt einen Hustenanfall. Die armen Lungen, diese müden Soldaten. Erneut latscht er drauflos. Lauscht auf einen Song unter der Haut der Erde. Eingedenk dessen, dass er sonst nirgends einen findet. Läuft in Richtung Straße. Ein bisschen panisch, klar, aber lauf einfach weiter. Und vielleicht, John, schaffst du es so, die Vergangenheit hinter dir zu lassen.

Er folgt der eigenen Spur zurück durchs hohe Gras. Im klammen Licht läuft er über die Brücke. Ein trister Freund, ein Reiher, steht grau und still und – wie heißt das verdammte Wort – am Rand von Fluss und Stadt. Er läuft weiter in Richtung Stadt. Wachsam, so heißt es. Sein Wortschatz ist total im Arsch. Wochenlang schlecht geschlafen. Wochen voller Nachtschweiß und Ausgelassenheit. Nur ist diesmal kein Song dabei rausgesprungen. Die kleine Stadt so verlassen wie ein Strand zu Kriegszeiten. Er setzt sich auf eine Bank am leeren Platz. Gönnen Sie sich ein Päuschen, Missus Alderton. Er blickt sich um. Okay. Er dürfte halbwegs so aussehen wie aus einer Pete-and-Dudley-Nummer. Warum genau ist er eigentlich hier in dieser Nichtsstadt in diesem Nirgendwoland auf der falschen Seite des Ozeans und so weit fort von denen, die er liebt, von zu Hause? Vielleicht, weil er weiß, dass er hier draußen allein sein kann.

Es ist frühester Morgen und bis auf das Laub alles still. Unter raschelnden Blättern geht er den Platz ab, am schlafenden Lebensmittelgeschäft vorbei und an der schlafenden Kirche, und es gibt sogar eine schmucke kleine Krankenstation – wie typisch für mich, denkt er. Sein Einfühlungsvermögen – alt und krank zu sein, wie das wohl wäre? Der Talkumpuder- und Marmeladentörtchengeruch fülliger Matronen. Ein letztes Zucken im Ständerdepartment? Ach, vergebens, ja. Na gut. Geh weiter, John. Bleib so scheißfrohgemut, okay? Wahllos taumeln Wörter über seine Lippen, während er die wenigen leeren Straßen der Stadt abläuft. Ein neuer Eintrag fürs Vokabular – wehevoll. Eigentlich ganz schön. Er geht wieder in Richtung Platz. Nimmt da unten eine undeutliche Bewegung wahr: der Reiher, der seinen königlichen Kopf wie ein Uhrwerk dreht, um ihn jetzt von seinem Platz am Fluss aus zu beglubschen. Gruß von Knopfauge an Knopfauge. Irgendwelche Neuigkeiten für mich? Nichts Gutes, fürchte ich. Der metallische Schimmer des grauen Gefieders im kalten Sonnenlicht. Unirdisch, der Eindruck – irgendwie jenseitig. Lauf verdammt noch mal weiter. Er sieht einen dicken alten Köter, der in einer Seitenstraße ein Nickerchen hält. Ach, wie herzig. Einen Moment lang schaut er zu und wird sogar ein bisschen rührselig wegen der ruckligen kleinen Seufzer des Hundeatems – er ist jetzt draußen in der Welt – und wegen des dicken schlafenden Bauchs, und er kann geradezu die Köterträume sehen, Träume von Knochen und Katzen, von koketten Pudeln, die Gitanes rauchen und keck ihren strammen Pudelarsch in die Luft recken.

 

Die Luft ist schwer und salzig. Könnte man fast ein Stück von abbeißen. Schnuppere den meerbissigen Hauch von Vagina, den Mamiduft. Er hatte schwierige fünf Minuten, aber er hat sie überstanden. Er entdeckt eine Infotafel für Touristen. Darauf sieht er eine Karte, und er kann all die Namen von vor neun Jahren – seinem letzten Besuch – wieder runterrattern. Newport, Mulranny, Achill Island, und dann die große zerklüftete Bucht mit all ihren winzigen Inseln. Es gibt zehn, Dutzende, Hunderte davon. Er liest, dass es zusammen dreihundertfünfundsechzig Inseln sind, eine Insel für jeden Tag des verdammten Jahres –

 

Wie will er da rausfinden, welche Insel ihm gehört?

 

Geraschel und Bewegungen. Er ist allein, aber nicht ganz – er kann hören, wie sich die Geister der Stadt regen, wie sie nach der Nachtschicht ausstempeln. Er blinzelt dreimal, damit sich die Schisser verpissen. Er hat so seine Rituale. Er genehmigt sich eine Kippe und lauscht. Ein tiefer Zug, dann hält er die Luft an, und sein Herz wummert; langsam atmet er wieder aus. Er sucht jetzt Kontakt mit dir. Siebenunddreißig Jahre hat er auf seinem Weg hinter sich – diesem langsam-schnellen, langsam-schnellen Weg – und er haust in einer großen Festung hoch über der Prärie, über die furchterregende Rothäute ziehen – die kühnen Manhattoes – und wenn er es nun flüstert, ganz ganz leise – ein bestimmtes Wort – und wenn du die Ohren spitzt – ganz ganz aufmerksam –

 

Glaubst du, du kannst ihn dann noch hören?

Der dicke alte Hund kommt mit allen Anzeichen großer männlicher Verwirrung aus der Seitenstraße getrottet. Verwirrung verrät der Gang des armen Köters, seine Haltung. Er wirft einen Blick rauf durch die Stadt und schüttelt den Kopf. Er wirft einen zweiten Blick runter – auch nicht besser. Den Fremden scheint er noch gar nicht wahrgenommen zu haben. Er schnuppert am Rinnstein – nicht gut. Er kratzt sich lang und ausgiebig an der Wand des Lebensmittelgeschäfts – die steht noch, und der Waschbeton eignet sich bestens für heikle Stellen. Seine Morgenpatrouille führt ihn näher an den Platz heran, müde und matt; bedächtig schwabbeln bei jedem Schritt die fleischigen Lenden. Mitten auf dem Platz bleibt er stehen, verharrt in frommer oder philosophischer Andacht, da die Brise Neuigkeiten bringt, die seine Schnurrhaare um die Schnauze zucken lassen; er knurrt halbherzig und dreht sich einmal um sich selbst, um die Geruchsspur aufzunehmen, da sieht er auf der Bank einen schlaksigen Mann in Jeans.

 

Guten Morgen, sagt John.

 

Argwöhnisch hebt der Hund eine Braue – er ist vorsichtig, ihm macht niemand ein X für ein U vor. Vorsichtig tapst er näher, sieht seelenvoll in Johns Augen und stöhnt.

 

Ich weiß genau, wie du dich fühlst, sagt John.

 

Und nun legt der dicke alte Hund das Kinn auf Johns Knie, John legt eine Hand an die atmende Wärme der Hundeflanke, und sie teilen diesen Moment seufzender Gnade.

 

Benenne nie den Moment des Glücks, da er sonst vergeht.

 

Der Hund legt sich hin, macht es sich neben seinen Füßen bequem und senkt das sabbrige Kinn auf die Zehen der neuen purpurroten Sneakers.

 

Sind noch nicht lange aus der verdammten Schachtel raus, sagt John.

 

Er langt nach unten, hebt mit einem Finger das Hundekinn an, und er sieht dort so wonnige Trauer und etwas ganz besonders Faszinierendes, etwas auf schnulzige Weise Faszinierendes, dass er gleich beschließt, dem Hund einen Namen zu geben –

 

Brian Wilson, sagt er.

 

Woraufhin der Hund träge mit dem Schwanz wedelt und offenbar grinst, und da lacht John, und er beginnt in hohen Tönen zu singen –

 

Oh it’s been buildin’ up inside o’ me

For oh, I don’t know, how long …

 

Der Hund stimmt ein, stöhnt leise und melodisch, der perfekte Kontrapunkt – ihr Morgenduett – und John denkt:

 

Diese Eskapade läuft gleich von Anfang an aus dem verdammten Ruder.

Ein brauner Wagen rollt langsam von oben aus der Stadt heran. John und der Hund Brian Wilson drehen Maul und Knopfaugen, um ihn zu inspizieren. Auf dem Fahrersitz hockt ein winziger, erbsenköpfiger Kerl, der kaum übers Lenkrad gucken kann. Er hält vor dem Lebensmittelgeschäft, lässt den Motor laufen und steigt aus dem rappelnden Auto. Irgendwas an diesem winzigen, drahtigen Kleinen erinnert an einen Jockey oder an die Rennbahn in Aintree. Er fischt einen Packen Zeitungen vom Rücksitz und trägt ihn zur Ladentreppe.

 

Wie geht’s?, sagt der Jockey-Typ.

 

Geht so, sagt John.

 

Er legt das Bündel auf die Treppe, zückt aus der Arschtasche ein Federmesser, schneidet die Schnur durch, zieht die oberste Zeitung heraus und überfliegt sie, während der Motor weiter vor sich hin schnauft und Brian Wilson ihn mürrisch mustert und John sich gegen die Morgenkühle zusammenkauert, die in scharfen Spitzen vom Fluss herüberzieht.

 

Ich erzähl Ihnen mal was für ganz umsonst, sagt der Jockey-Typ.

 

Und das wäre?

 

Dieses Land wird von einer Meute verdammter Affen regiert.

 

Wem sagen Sie das.

 

Er seufzt und steckt die Zeitung wieder ordentlich zurück ins Bündel. Er tritt an den Rand des Bürgersteigs und sieht zu einem Fenster über dem Laden hoch.

 

Keine Spur von Martin?, sagt er.

 

Und schüttelt in leiser Verzweiflung den Kopf …

 

So ein Pech nach so einer Nacht, also ehrlich.

 

Und damit macht er sich wieder auf den Weg.

 

John und der Hund Brian Wilson sehen ihm nach.

 

Diesen Jockey-Typen kann man nicht trauen, sagt John, allein schon wegen der seltsam schiefstehenden Augen.

Ein breitschultriger Junge spaziert mit einem orangefarbenen Fußball unterm Arm über den Platz. Beim Gehen scannt er die Gegend, erst die eine, dann die andere Seite, Osten und Westen. Das Gesicht steinhart. Als wollte er in Russland einmarschieren.

 

Morgen, sagt John.

 

Und?, sagt der Junge.

 

Er bleibt stehen, lässt den Ball fallen, hält ihn mit dem Fuß – rollt ihn in langsamen, nachdenklichen Bewegungen hin und her.

 

Bist du einer von den Connellans?, fragt er.

 

Könnte sein, sagt John.

 

Hier für den Sommer oder nur für kurz?

 

Mal sehen, wie’s sich anlässt.

 

Ah ja.

 

Der Junge tritt den Fußball an die Wand des Lebensmittelgeschäfts, stoppt ihn, rollt ihn mit dem Fuß und tritt noch einmal zu, weil er so gut abprallt.

 

Wie geht’s der Großmutter?

 

Nicht so blendend, sagt John.

 

Wird natürlich alt, sagt der Junge und zuckt zusammen.

 

Und wie alt bist du jetzt?

 

Zehn, sagt er.

 

Verdammte Scheiße, sagt John, wie die Zeit vergeht.

 

Sie verwechseln mich sicher mit meinem Bruder, sagt der Junge. Heißt Keith und ist erst sieben.

 

Gut möglich.

 

Kurz angebunden zieht der Junge weiter, winkt, tritt im Gehen diagonal den Ball, wird mal schneller, mal langsamer, um ihn immer wieder abzufangen, und steppt dabei im Rhythmus, während der Ball der abfallenden Straße folgt, ein ungelenker, krummbeiniger Junge, dessen Name nie von tobenden Stadionrängen herabgejubelt werden wird – und so strömt der silberne Fluss dahin.

 

Und der Junge überquert den Fluss und läuft weiter, und der Reiher schwingt sich mit gemächlichem, schwerem, taktfestem Flügelschlag in die Luft, und der Junge läuft zum Fußballplatz, und der Tag bricht an. Es könnte einem das Herz brechen, wäre man von entsprechendem Schlag oder Gemüt.

 

Wäre man ein Gent, der zu Tränen neigt, sagt John.

 

Und wieder stöhnt Brian Wilson leise, reckt sich und jault in der Morgensonne.

Hier kommt eine alte Dame, sie sitzt mit zusammengekniffenen Augen hinterm Steuer eines irre pinkfarbenen Mini, der auch wieder vor dem Lebensmittelladen – wohl der Mittelpunkt der Welt – aufheult und abgewürgt wird. Sie trägt einen selbstgestrickten orangeroten Hut und eine große klobige Brille, kurbelt das Fenster runter und schickt einen pessimistischen Blick durch ihre Flaschenbodenglä- ser.

 

Keine Spur von Martin?

 

Hatte wohl eine harte Nacht, sagt John.

 

Sie spricht mit deutschem Akzent – die behutsame Wahl der Worte, ehe sie ihr über die Lippen kommen.

 

Tja, mein Pech, dann fahr ich doch lieber mal nach Westport, sagt sie.

 

Und düst wieder los.

Die Räder eines entzückenden alten Traktors schleudern einen Staubschleier Sand und Scheiße auf, und auch der uralte Bauer mit eingedrücktem Gesicht und elektrisierenden, vogeleierblauen Augen hält für einen Moment und ruft ziemlich streng –

 

Cornelius O’Grady sucht nach Ihnen.

 

Dann fährt er weiter, und der alte Hund stemmt sich auf die Beine, bellt einmal hustend und traurig und stromert zurück in die Seitenstraße.

 

Im Schlaf ist das lustiger als im Wachen, sagt John.

 

Er blickt sich um. Am oberen Ende des Platzes entdeckt er ein kleines Hotel, das den Flair grimmiger Unvermeidlichkeit verströmt. Er zuckt mit den Achseln und steht auf.

 

Ich meine, was kann schlimmstenfalls schon passieren?

An der Rezeption ist niemand, aber weiter hinten klappern sie mit Töpfen und Pfannen. Eine durchgeknallte Blechmusik-Combo. Auftritte nur vormittags. Er riecht gebratenen grünen Speck. Suhlt sich im Brodem von Rauch und Fett. Iss das Schwein und mach den Affen. Er drückt auf die Klingel. Kein Mensch lässt sich blicken. Er drückt erneut und wartet. Niemand hat’s eilig. Er drückt wieder, und eine alte Vettel mit Hexenrüssel im rasiermesserscharfen Gesicht taucht auf. Mustert ihn von oben bis unten. Sauer wie die Milch vom vorletzten Montag. Schaut ihm zweimal zwischen die Füße, ob er da unten auch wirklich keinen Koffer versteckt hat.

 

Und?, sagt sie.

 

Hätte gern ein Zimmer, Holdeste.

 

Sie wirft einen Blick zur Uhr an der Wand.

 

Was für eine ausgefuchste Uhrzeit, um in einem Hotel aufzuschlagen, sagt sie.

 

Und das in Jeans, sagt er.

 

Die Luft an der Rezeption ist so alt und schwer wie in einem Krankenzimmer; die Standuhr schwingt durch ihre schwermütigen Momente.

 

Reserviert?, sagt sie.

 

Sehr, sagt er, deshalb hätte ich ja gern ein Zimmer.

 

Sie schnaubt. Schlägt das Gästebuch auf. Schiebt die Brille hoch. Lässt sich Zeit beim Lesen.

 

Steht da drin irgendwas über ein Zimmer, Holdeste?

 

Die Spitze ihrer grünen Zunge sucht die Mundwinkel ab.

 

Ein Zimmer?, sagt er.

 

Mit enormem, erhabenem Kummer dreht sie sich um und nimmt vom Haken am Holzbrett einen Schlüssel – und John fühlt sich, als hinge er selbst schon seit Jahren dort.

 

Das beste Zimmer, das Sie haben?

 

Unterscheiden sich kaum, sagt sie, tauscht aber den Schlüssel gegen einen anderen aus – ein schlechteres Zimmer, weil er gefragt hat.

 

Zahlung im Voraus, sagt sie.

 

Überrascht mich kein bisschen.

 

Name?, sagt sie, und er fischt einen aus der Luft.

 

Sie geht eine Treppe hoch, die nach Maus riecht und nach anno dunnemals, und sie steigen weiter bis zu einer Dachkammer, und die Traufe neigt sich ihm zu, als wüsste sie ein paar Geheimnisse zu erzählen – hallo? – und am Ende des Flurs gelangen sie an eine gruselige alte Holztür.

 

Hier also verstecken Sie den Buckligen, sagt er.

 

Sie wirft ihm einen mürrischen Blick zu, steckt den Schlüssel ins Schloss, dreht ihn mit öligem Klicken.

 

Er bedankt sich, als sie sich an ihm vorbeidrückt – hallo? – und einen halben Moment lang leuchtet ihr Gesicht auf. Sie legt eine papierne Hand auf seine – fühlt sich an wie Mottenflügel, die Adern ausgeprägt wie die eines Junkies – und sie flüstert –

 

Sie?, sagt sie. Sehen ihm jedenfalls verdammt ähnlich.

 

Nicht so sehr wie früher, sagt er.

Das Urschreien hat er mit Dr. Janov in Kalifornien angefangen. Er wurde in Einzelgesprächen rangenommen. Verdammt hart rangenommen. Stundenlang saß er da, über Monate, und bohrte tief. Er hielt nichts zurück. Er brüllte, und er schimpfte, und er schrie. Er verfluchte jeden, er verfluchte sie alle, er verfluchte das Blut. Dr. Janov sagte, er müsse bis aufs Blut gehen – und er ging bis aufs Blut.

 

Mutter, Vater.

 

Möse und Schwanz.

 

Was alles ihn aufgewühlt, geformt und verbogen hatte. Was ihn über die Jahre hinweg verrückt gemacht hatte. Er war teuflisch wütend. Vier Monate arbeiteten sie zusammen da draußen an der Küste. Dr. Janov trug einen Helm schöner weißer Locken – sie leuchteten in der Sonne. Dr. Janov redete vom amorphen Schicksal, von namenloser Angst, vom verletzten Hirn. Es war verdammt kein Picknick da draußen an der Küste. Er hockte auf der Terrasse, und er schaute aufs Meer, und ihn schmerzte das Herz, und er trank verdammten Orangensaft, und er weinte, bis er sich ganz schwach fühlte. Er hatte einen Schatten unter der Haut, und er war so verschissen schwach.

 

Dr. Janov sagte, Ruhm sei eine Geißel und hohl – erzählen Sie mir was Neues, antwortete er. Dr. Janov sagte, er solle ihn ignorieren – und er, das versuche er ja verdammt noch mal. Dr. Janov sagte, er solle seine Wut kanalisieren und kein Hasch rauchen – und er, ich werde sehen, was ich tun kann.

 

Dr. Janov sagte, er solle urschreien, oft, und in Gedanken sah er gleich eine Insel.

 

Windgefickt, wellengeschlagen.

 

Der Westen Irlands – Ort des alten Blutes.

 

Ein Ort zum Urschreien.

Er hockt in seiner Grabkammer oben im Newport Hotel. Darin gibt es einen knarzenden Sessel, ein durchgehangenes Bett, ein paar arrogante Spinnen, eine Matratze mit Flecken in Gestalt von Planeten und einer existenziellen Krise. Aber er will nicht etepetete sein.

 

Er sieht aus dem Fenster. Wirklich ein schöner Tag. Die Straße führt zum Fluss, und über den Fluss führt die Brücke, und die Hügel steigen an und

 

la-di-da

la-di-dum-dum da

 

das Grün, das Braun, die Baumwipfel, und all das bedeutet ihm nichts. Auf der anderen Seite des Platzes ein harscher Lichtblitz, kreisend – der Bauch einer Schwalbe, jetzt wieder dunkel, und seine Gedanken flattern und kreisen auf die gleiche Weise. Er will auf seine Insel, aber ungesehen, unerkannt – er will nicht mehr als ein Rascheln sein, nicht mehr als ein Schatten.

 

Er tätigt die Anrufe, die er tätigen muss. Es wird vereinbart, dass man ihm morgen jemanden schickt, einen Fixer, der alles organisiert. Eine Weile liegt er auf dem Bett, kann aber nicht schlafen. Zieht sich aus und steht wieder auf. Ihm ist ein bisschen schwindlig. Er kauert sich in den Sessel am Fenster. Er ist nichts als Ecken und Kanten. Er redet laut und ziemlich lang. Er redet mit seiner Liebe – die Augen geschlossen – und er redet mit seiner Mutter. Verdammte Scheiße. Die Stunden, die er im Sessel hockt, sind wie Jahre –

 

Er ist ein Junge.

Er ist ein Mann.

Er ist ein sehr sehr alter Mann.

 

– und er sitzt da den ganzen Tag, bis die Sonne ums Haus gewandert ist und das Zimmer fast wieder im Dunkeln liegt.