Nachtfähre nach Tanger - Kevin Barry - E-Book

Nachtfähre nach Tanger E-Book

Kevin Barry

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Beschreibung

Es ist später Abend im Hafen von Algeciras. Im dunklen Warteraum des Fährterminals sitzen zwei alternde Iren, langjährige Partner im lukrativen, aber gefährlichen Geschäft des Drogenschmuggels, und erwarten Dilly, die verschollene Tochter des einen. Sie haben gehört, dass sie in dieser Oktobernacht entweder auf einem Boot aus Tanger ankommt oder auf einem Boot in Richtung Tanger abfährt. Diese Nachtwache ist der Auftakt zu einer außergewöhnlichen Reise in die Vergangenheit, ihre gemeinsame Geschichte. Eine Geliebte ist verloren, eine Tochter verschwunden, eine Welt zerbrochen − kann sie wieder zusammengefügt werden? «Nachtfähre nach Tanger», das Meisterwerk des preisgekrönten Kevin Barry, ist ein Roman voller Sex, Tod und Drogen, jäher Gewalt und alter Magie. Jeder Satz ist Musik, jeder Absatz lüftet ein Geheimnis, vor allem aber geht es um die Mysterien der Liebe. Ein Werk voll melancholischer Schönheit, Komik und lyrischer Brillanz.

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Kevin Barry

Nachtfähre nach Tanger

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Thomas Überhoff

 

Über dieses Buch

Es ist später Abend im Hafen von Algeciras. Im dunklen Warteraum des Fährterminals sitzen zwei alternde Iren, langjährige Partner im lukrativen, aber gefährlichen Geschäft des Drogenschmuggels, und erwarten Dilly, die verschollene Tochter des einen. Sie haben gehört, dass sie in dieser Oktobernacht entweder auf einem Boot aus Tanger ankommt oder auf einem Boot in Richtung Tanger abfährt. Diese Nachtwache ist der Auftakt zu einer außergewöhnlichen Reise in die Vergangenheit, ihre gemeinsame Geschichte. Eine Geliebte ist verloren, eine Tochter verschwunden, eine Welt zerbrochen − kann sie wieder zusammengefügt werden?

«Nachtfähre nach Tanger», das Meisterwerk des preisgekrönten Kevin Barry, ist ein Roman voller Sex, Tod und Drogen, jäher Gewalt und alter Magie. Jeder Satz ist Musik, jeder Absatz lüftet ein Geheimnis, vor allem aber geht es um die Mysterien der Liebe. Ein Werk voll melancholischer Schönheit, Komik und lyrischer Brillanz.

Vita

Kevin Barry, geboren 1969 in Limerick, hat bereits die Romane «Dunkle Stadt Bohane» und «Beatlebone» vorgelegt sowie zwei Bände mit Kurzgeschichten. Für sein Werk wurde er u. a. mit dem IMPAC-Preis, dem Europäischen Literaturpreis und dem Rooney Prize ausgezeichnet, und er gelangte zweimal auf die Shortlist des Irish Book Award. «Nachtfähre nach Tanger» war für den Booker Prize nominiert.

Thomas Überhoff, geboren 1954, arbeitet als Lektor und übersetzt gelegentlich, u. a. Bücher von Denis Johnson, Nell Zink, Rivka Galchen und Jack Kerouac.

Für Olivia

«In Spanien ist ein Toter lebendiger

als sonst auf der Welt.»

Federico García Lorca

Erstes Kapitel

Die Mädchen und die Hunde

Im Hafen von Algeciras, Oktober 2018

Würdest du sagen, n Ende ist absehbar, Charlie?

Ich würd sagen, du bist schon ziemlich nah dran an ner Antwort auf diese Frage, Maurice.

Zwei Iren, melancholisch im dumpfen Scheinwerferlicht des Terminals, zeigen alle Anzeichen von anhaltendem Kummer und Leid – das ist ihnen mit der Muttermilch eingeflößt worden und in Fleisch und Blut übergegangen.

Es ist Abend in der alten spanischen Hafenstadt Algeciras.

Oh, und dies ist ein so grässlicher Ort, wie ihr ihn euch nur ausmalen könnt – man möchte hinten Augen haben.

Das Fährterminal strahlt etwas Finsteres, Unheimliches aus. Es mieft nach müden Leibern und nach Angst.

Plakate hängen in Fetzen – die Vermissten.

Der Zoll macht Ansagen bezüglich narcotraficantes.

Ein Blinder windet sich im Nachtschweiß und verkauft mit klapperndem Gebiss wie eine dicke Klapperschlange Glückslose – auch der ist keine Zierde für den Laden.

Die Iren blicken ungeniert in die Gesichter, die mit den sieben Ablenkungen verschleiert vorbeiziehen – Liebe, Trauer, Schmerz, Gefühlsduselei, Habgier, Lust und Todessucht.

Über ihnen zischt und klirrt erwartungsfroh und lebensprall eine per Rolltreppe erreichbare Cafeteria.

Nebenan ein mit einem Schild markierter Schalter – INFORMACIÓN, was wollen Sie wissen? –, und davor wölbt sich fragend ein schmaler Sims.

Maurice Hearne und Charlie Redmond sitzen auf einer Bank nur ein paar Meter westlich davon. Sie sind Anfang fünfzig. Inzwischen vergehen die Jahre wie ablaufendes Wasser. Altes Wetter hat ihnen das Gesicht, die kantigen Kiefer, den wüsten Mund gekerbt. Aber sie haben sich – gerade so eben – eine flotte Haltung bewahrt.

Willst du noch mal rasch da rüberhüpfen, Charlie, mit denen reden? Was über das nächste reinkommende Boot rausfinden?

Klar, aber da hockt noch immer derselbe Typ. Der mit der Leichenbittermiene. Kein großer Redner, Moss.

Gib ihm ne Chance, Charlie.

Charlie Redmond stemmt sich mitsamt einer Last von Seufzern von der Bank. Er klappt seine langen Knochen auseinander. Nähert sich dem Schalter. Er lahmt, zieht den rechten Haxen in einer sanft schleifenden Bewegung nach. Mit geübter Leichtigkeit knallt er die Ellbogen auf die Theke. Seine Aura ist die unverschämter Bedrohlichkeit, seine Grimasse die eines Eckenstehers. Seine spanische Aussprache klingt stark nach dem Norden der Stadt Cork.

Hola y buenas noches, sagt er.

Er wartet einen langen Takt ab, schaut über die Schulter, ruft zu Maurice zurück.

Keine Antwort, Moss. Immer noch die Leichenbittermiene.

Maurice schüttelt traurig den Kopf.

Ich hasse diese verfluchte Ignoranz, sagt er.

Charlie versucht es noch mal.

Hola? ’tschuldigung? Ich würde gern rausfinden, wann dieses nächste Boot reinkommt, das aus Tanger? Oder … rausgeht?

Melancholisches Schweigen; eine Geste.

Charlie schaut zurück zu seinem Freund und äfft das Achselzucken des informaciónista nach.

Ich krieg hier bloß hochgezogene Schultern.

Habla Inglés musst du zu ihm sagen, Charlie.

Aber Charlie wirft nur die Hände in die Luft und schlurft zurück zur Bank.

Habla am Arsch, sagt er. Alles, was der macht, ist mit den Achseln zucken und mich blöd anglotzen.

N Flunsch wie in ner schlechten Ehe, sagt Maurice.

Er fährt scharf herum, kreischt in Richtung Schalter – Zieh nicht so nen verfluchten Flunsch! – und grinst jetzt amüsiert.

Maurice Hearnes munteres, schiefes Grinsen zeigt sich ziemlich häufig. Sein linkes Auge ist matschig und tot, das andere seltsam irre, als wäre zum Ausgleich doppelt Leben darin. Er trägt einen schäbigen Anzug, ein schwarzes Hemd mit offenem Kragen, weiße Laufschuhe und, keck auf dem Hinterkopf, eine schwarze Melone. Geckenhaft, keine Frage, aber wohl eher früher mal.

Dem Bürschchen hast du’s aber gezeigt. Ihm Benimm beigebracht.

Charlie Redmond? Das Gesicht wirkt irgendwie antik, wie das eines Hofmusikanten vielleicht, mittelalterlich, das Gesicht eines Mannes, der seine Laute für dich schlagen würde. In einem mädesüßen Winkel. Heiße Ehebrecheraugen und wieder ein schäbiger Anzug, aber gepflegte Schuhe in einem rostigen Orange, ein Paar Creepers mit Raulederfinish und dicken Sohlen, die von Bordellen wispern. Gleichfalls ein hübscher grüner Cordschlips. Dazu ein Magenleiden, Tränensäcke wie Grabhügel unter den Augen und Seelenschmerz.

Auf dem Boden, zwischen den Füßen der Männer, liegt eine gammlige alte Adidas-Sporttasche.

Nach all den Jahren, die wir schon herkommen?

Aber echt.

Sollte man doch meinen, wir hätten die Sprache drauf.

Sind eben schwer von Begriff, Maurice.

Du sagst es. Der arme kleine Maurice Hearne aus Togher hockt ganz hinten in der Klasse und passt auf die Mäntel auf.

Jetzt zuckt die knochige Spitze von Charlies Rüssel und wittert einen Stimmungswandel im Terminal.

Policía, sagt er.

Wo?

Keine Augen im Kopf? Da.

Macht mich richtig gottesfürchtig. Krieg dein Gesicht unter Kontrolle, Charlie.

Soll ich dir was sagen, Moss? Auf deine Chancen im Knast von Algeciras würd ich nicht wetten. Weißt du, was ich meine? Gemischte Zelle und so?

Ich bin zu hübsch für ne gemischte Zelle, Charlie. Binnen ner halben Stunde wär ich jemands Schatz. Pedro, komm rein hier, dein Dinner wartet.

Die policía verschwindet wieder in der Menge.

Die jeden Moment dichter wird.

Keiner weiß, was heute Nacht hin oder her die Meerenge queren wird – auf der anderen Seite wird debattiert; in Tanger gibt es Ärger, und nicht zum ersten Mal.

Das kann noch Stunden dauern, Maurice.

Vor dem Dreiundzwanzigsten werden sie nicht losziehen. Noch ist nicht Mitternacht.

Klar, aber vor welchem Ende des Dreiundzwanzigsten? Fünf nach zwölf heute Nacht? Fünf vor zwölf morgen Nacht? Ist beides der verfluchte Dreiundzwanzigste. Vielleicht müssen wir den ganzen Tag ausharren.

Die hohen Fenster demonstrieren die komplexen Lichtverhältnisse im Hafen von Algeciras. Vom grellen Schein der Bogenlampen, von schwebenden Schadstoffen und von der abstrahlenden Hitze der Oktobersonne ist die Luft dick und rauchig, das macht die Abendglut lebendig und dicht. Sie ist mehr als schwer genug für die Geister, die sie hier über uns gefangen hält.

Aus den Tannoys der PA schallt eine Ansage – eine Springflut schneller spanischer Konsonanten im scharfen andalusischen Idiom –, und die Männer reagieren genervt auf die Störung. Die Ansage wird immer atemloser und chaotischer – wir befinden uns in den Vororten der Hysterie –, und die Männer, der Sprache nicht mächtig, sind verwirrt und aufgebracht.

Irgendwann verrauscht die Ansage und endet; sie wenden sich einander zu.

Das bringt uns jetzt auch nicht groß weiter, oder, Maurice?

Nein, Charlie, nicht wirklich.

Maurice Hearne steht von der Bank auf und reckt sich zu voller Länge. Besorgt lauscht er dem Knacken seiner Gelenke – verfluchter Wichs. Er betastet die echsenhaften Knubbel seiner Wirbelsäule.

Herr Jesus in Gethsemane, sagt er.

Ermattet blinzelt er zu den hohen Fenstern hin, und nun, mit einem schnellen, stummen Blick, befragt er seinen alten Freund; von Charlie Redmond kommt schlaff ein zustimmender Seufzer.

Die Männer nehmen Stapel lasergedruckter Flyer aus der Adidas-Tasche. Jeder zeigt das Bild eines etwa zwanzigjährigen Mädchens. Das Mädchen heißt Dilly Hearne. Ihr Aufenthaltsort ist ungewiss.

Geht da um so n junges Mädchen, das wir suchen, sagt Maurice.

Die Tochter dieses Mannes hier, nach der suchen wir. Der gute Mann hat sie seit drei Jahren nicht gesehen.

Foto ist n bisschen alt inzwischen, aber sie posiert wohl immer noch genauso rum, würd ich sagen.

Maurice! Die Leute haben nicht den verfluchtesten Schimmer, was Posieren heißt.

Foto ist alt inzwischen, aber sie … sieht wahrscheinlich immer noch ziemlich genauso aus, würd ich sagen.

Sie ist klein. N hübsches Mädchen. Wahrscheinlich hat sie auch noch die Dreadlocks.

Dreadlocks, wissen Sie? Bob Marley? Jah Rastafarai?

Könnte auch nen Hund dabeihaben oder zwei, würd ich sagen.

Hund an nem Strick, so was?

Ist n hübsches Mädchen. Sie ist jetzt dreiundzwanzig Jahre alt. Wird schon noch n Rasta mit Dreadlocks sein.

Weißt du, was wir brauchen werden, Charlie?

Was denn, Moss?

Das spanische Wort für abgerissen.

Abgerissene Typen?, versucht es Charlie. Haarige Affen? Die New-Age-Traveller-Sorte? Nennt ihr die so?

Und außerdem –

Mir ja egal, Maurice, aber die Wichser hier haben doch die ganze Idee vom Abgerissensein überhaupt erst erfunden.

Weil sie das Wetter dafür haben, Charlie. Lungern an ihren schwarzen Sandstränden rum. Mit all den Mädchen und den Hunden.

Das eine oder andere weiß ich wohl noch, Moss. Wenn ich drüber nachdenke. Ich meine, sprachmäßig.

Klär mich auf, Charlie.

Supermercado.

Was wär das bei uns zu Haus?

Tesco.

N paar Worte fallen mir auch noch ein. Zum Beispiel … gorrión?

Gorri-was?

Gorrión! Aus meiner Zeit in Cádiz … Hab ich dir je erzählt, dass ich mal mit ner älteren Lady zusammen war, Charlie, in Cádiz?

Fast wär’s mir selber wieder eingefallen, Maurice.

Wir haben immer die Nacht durchgevögelt, Charles.

Da warst du auch noch jünger.

Und weißt du, was sie morgens für mich gemacht hat?

Bin ganz Ohr.

Mit Spatzen hat sie mich gefüttert, Charlie.

Die fressen verdammt noch mal alles, oder? Diese Leute?

Gorrión! Spatz!

Wenn’s nicht angenagelt ist, fressen sie’s. Ab in die Pfanne und in den Wanst. Muss aber doch eins a fettig gewesen sein, Moss? So n kleiner Spatz?

Fettig wie John Travolta. Und nicht grad viel Protein auf den Knochen, muss man sagen.

Mal so unter uns, Maurice? Mein Arsch macht Sperenzchen, seit wir in Málaga diesen Tintenfisch gegessen haben.

Sagt er dir Hallo, Charlie?

Tut er, ja. Und natürlich war der Tintenfisch nicht das Schlimmste an Málaga.

Wirklich nicht, nein.

Nicht im Entferntesten, Mann.

Der Klang der Nacht im Hafen von Algeciras –

Das nachrichtliche Rauschen der Tannoys.

Das harte, insektenhafte Dröhnen der Polizeiboote auf dem Wasser.

Das sanfte Gemurmel der quirligen Menge im Terminal.

Draußen –

Ein Kampfhund kläfft die Sterne an.

Ein Jet von der Luftwaffenbasis bricht durch den Himmel.

Drinnen –

Ein schwachsinniger Junge singsangt ein arabisches Gebet.

Ein Espressobrühkopf sprudelt wie Gelächter.

Und Charlie Redmond reckt die langen Spinnenbeine, kreuzt sie an den Knöcheln, knetet seine Finger, verschränkt die Arme hinter dem Kopf und schaut nach oben, um über die Deckenwölbungen des Fährgebäudes und die Wechselfälle des Lebens zu sinnieren, die uns alle betreffen.

Weißt du, was tragisch ist, Maurice?

Was denn, Charlie?

Ich hab seit vierundneunzig in keinen Spiegel mehr geschaut.

Du sahst toll aus zu deiner Zeit, Charlie.

Umwerfend! Und scharf wie n Messer.

Maurice dreht sich nach links, dann nach rechts, um den Knick aus seinem Nacken zu kriegen. Bilder ziehen ihm durch den Kopf. Der Wald von Ummera im Norden von Cork, wo er seine ersten Jahre verbracht hat. Und Dilly als kleines Mädchen, wie er mit ihr durch Londons grauweißen Winter spaziert ist, die Stroud Green Road. Und Cynthia in dem Haus über Berehaven, auf den sonnenüberfluteten morgendlichen Laken.

Ich war wohl n eher unwahrscheinliches Sexsymbol, sagt er. Ich meine, schau dir meine Fresse an, wenn man die nur beschreiben würde, könnt sich das keiner vorstellen. Aber irgendwie?

Das hat schon was Magisches. Oder hatte, Moss. Hatte.

Sie schauen in die Ferne. Schicken ihre Seufzer aufwärts. Das Reden ist ein Schutzschild gegen Gefühle. Sie nehmen die Flyer und stehen wieder auf. Sie halten sie den Passanten hin – wenige werden genommen. Mitgefühl zeigt sich in sanft niedergeschlagenen Blicken. Die Vermissten bilden hier eine stumme Armee.

Sie heißt Dill oder Dilly, sagt Charlie.

Vielleicht war sie in Granada? Vor nicht allzu langer Zeit.

Sie könnte so ne ganze Schar bei sich haben, würd ich sagen. Die treten doch immer in Gruppen auf, oder?

Wenn’s Affen sind, in Horden.

Dilly Hearne, dreiundzwanzig, n hübsches Mädchen mit Dreads und Hunden, und sie hat blassgrüne Augen.

Hat sie von ihrer Mutter. Die Mutter war ne Protestantin aus Kinsale.

Gott gebe ihr Frieden.

Grüne Augen und ziemlich klein. Dill oder Dilly?

Maurice?

Charlie hat einen jungen Mann das Terminal betreten sehen. Jetzt bemerkt ihn auch Maurice. Er ist in den frühen Zwanzigern, trägt Dreads, Kampfhosen, Stiefel aus dem Army-Shop und einen leger über nackte Haut geworfenen Rucksack. Er führt einen Hund am Strick. Er wirft den Rucksack ab. Er ist tief gebräunt. Staub hat sich in seine Haut gerieben – der rote Staub der Berge. Er holt einen Literkarton vino tinto heraus, nimmt einen Napf aus seinem Rucksack, gießt ein bisschen Wein hinein und bietet ihn seinem Hund an. Er redet mit einem ländlichen englischen Akzent aus dem West Country.

Cheers, Lorca, sagt er. Auf dein Wohl, mein Freund.

Maurice und Charlie schauen interessiert zu. Sie wechseln einen nüchternen Blick. Der Hund schleckt an dem Wein; der junge Mann tätschelt ihn und lacht. Maurice und Charlie nähern sich ihm. Mit einem stummen Lächeln stehen sie vor ihm. Sofort blickt er mit merklicher Angst auf und ergreift den Strick, als müsste er den Hund zurückhalten. Maurice lenkt sein Lächeln auf den Hund, klemmt die Zunge zwischen die Zähne und zischt ein hartes

Kssssssssst!

Aber Charlie Redmond? Der kann mit jedem Hund. Er streckt Lorca eine lange Hand hin, greift nach seiner Pfote und schüttelt sie. Mit der freien, flachen Hand streichelt er den Hund sanft über den Augen, hypnotisiert ihn, und sofort ist der Hund verschossen.

Maurice und Charlie sitzen in einer Oktobernacht auf der Bank gleich westlich des mit INFORMACIÓN gekennzeichneten Schalters im Fährterminal von Algeciras und haben den abgerissenen jungen Mann zwischen sich eingeklemmt.

Alle drei denken über das Gelächter nach, den liebestrunkenen Hund.

N hübsches Kerlchen, oder?, sagt Charlie.

Richtiges Schätzchen, sagt Maurice.

N braves altes Schätzchen, sagt Charlie. Wie heißt er noch gleich?

Er heißt Lorca.

Und du?

Benny.

Guter Mann, Ben.

Benny und Lorca. Hübsch. Ist nach dem kleinen Flügelflitzer benannt, oder? Der mal bei Real war? Ungefähr zur selben Zeit wie Zidane?

Der alle schwindlig gespielt hat? Auf nem Bierdeckel?

Kleine Flügelflitzer hab ich schon immer gemocht, sagt Charlie. Nix auf den Knochen, aber fix.

Flinker kleiner Dribbler, sagt Maurice. Bringt deinen Kreislauf auf Trab, wenn du den blocken willst.

Warst du nicht auch mal einer von der Sorte, Moss?

Na ja, zumindest hatt ich nen schnellen Antritt, Charles.

Auf den ersten fünf Metern warst du gut.

Aber miserable Ballführung, Charlie.

Du warst schon immer zu streng mit dir.

Benny steht auf und greift nach seinem Hund – er möchte weg von diesen seltsamen Herrschaften.

Jungs, ich denke, ich muss mal weiter, sagt er.

Aber Charlie hebt eine freundliche Hand, lässt sie für einen Moment der Komik dort schweben, und dann liegt sie wie eine Zwinge auf der Schulter und drückt den jungen Engländer fest auf die Bank zurück.

Es hetzt dich doch keiner, Ben. Weißt du, was ich meine?

Aber, hört zu, sagt Benny.

Maurice fährt hoch und schiebt sein Gesicht im Stehen ganz nah an Bennys heran.

Dilly Hearne heißt das Mädchen, sagt er. Dill oder Dilly?

Sie wär jetzt dreiundzwanzig Jahre alt, so Pi mal Daumen, sagt Charlie.

Ich kenn keine Dill oder Dilly! Ich kenn keine …

Irin?

Ein paar Irinnen kenn ich schon.

Tatsache?, sagt Charlie.

Aber keine Dill oder Dilly. Also …

Wo hast du diese Irinnen kennengelernt? Wo genau, Ben? Das war doch in Granada, oder?

Keine Ahnung! Ich meine, ich hab haufenweise verdammte …

Benjamin! Wir wollen doch gar nicht behaupten, dass ihr euch alle kennt oder so. Bestimmt gibt’s hier in Spanien ne halbe Million von euch süßen Kindern. Nach Lage der Dinge.

Charlie flüstert –

Weil ihr das Wetter dafür habt.

Maurice flüstert –

Und ihr schlaft an den Stränden.

Wie die Herren der Natur, sagt Charlie.

Unter den besternten Himmeln schlaft ihr, sagt Maurice.

Charlie steht auf und deklamiert –

Der Himmelsbaum der Sterne, behangen mit feuchter nachtblauer Frucht. Von wem ist das, Maurice?

Ich glaub, vom großen Barden, Charlie. Oder vom kleinen Stevie Wonder.

Ein Genie, der kleine Stevie.

Mit einem klugen Priesterlächeln hinkt Charlie hinter die Bank. Legt einen freundschaftlichen Arm um Bennys Hals. Beugt sich vor, um ihm ins Ohr zu flüstern –

Die Mädchen und die Hunde allesamt in süßen Haufen an den Stränden, und das Firmament himmlisch über euch ausgebreitet.

Da liegst du, Ben, sagt Maurice, und schaust rauf. Weißt nicht, ob du schwebst oder fällst. Glaubst du, er kann das Meer hören, Charlie?

Ganz ohne Zweifel, Maurice. Es plätschert. Leise. An den Rändern seiner Träume.

Weißt du, was er nicht in seinen Träumen haben will, Charlie?

Was denn, Moss?

Uns Wichser.

Sie ist n kleines Mädchen, Benny. N hübsches Mädchen. Und weißt du, was das Ding ist? Man hat uns gesagt, sie sei unterwegs nach Tanger.

Oder womöglich von Tanger hierher.

Am Dreiundzwanzigsten des Monats. Egal welche verfluchte Richtung. Der Dreiundzwanzigste ist es.

Das hat uns n junger Mann in Málaga gesteckt.

Weil der junge Mann grad mal in Plauderstimmung war.

Maurice geht wieder näher an Benny heran und mustert ihn. Seine Miene hat etwas von Flussanrainer. Etwas Biber- oder Wieselhaftes. Er liest in den blassblauen Spritzern der Iris des Jungen. Der wird vielleicht nicht lange leben, denkt er. Hat was Gehetztes da drin. Hat Schiss, und das mit Recht. Jetzt vertraut ihm Maurice sanft an –

Schau mal, die Vermisste ist meine Tochter, Freundchen. Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlt?

Charlie spricht genauso sanft –

Hast du selbst so Knirpse, Ben?

Irgendwelche Nachkommen, Ben? So haarige kleine Sprösslinge, die dich ins Joch spannen?

In Bristol oder irgendwo?, sagt Charlie. Irgendwelche Benjamin-Junioren, die du verlassen hast? Aus irgendeiner armen, abgefuckten Dummfotze rausgefallen, die sich von deinem Schmachtblick hat einwickeln lassen.

Der du deine Böhnchen reingejagt hast, sagt Maurice.

Benny schüttelt den Kopf. Er schaut sich Hilfe suchend um, bleibt aber allein mit seinem Dilemma.

Du hast doch Mitgefühl, Benny. Bist n netter Kerl. Das seh ich dir an. Also versetz dich mal in mich rein, ja? Stell dir vor, nach drei Jahren, was du da alles tun würdest, um dieses Gefühl loszuwerden. Weil mein Herz! Mein Herz hat sich losgerissen und treibt sich in der verfluchten Welt rum. Und man hat uns gesagt, dass sie nach Tanger unterwegs ist, Dilly, und mit Leuten ihres Schlages reist.

Ich weiß nicht, sagt Charlie, setzt sich wieder hin und wedelt mit einer trägen Hand. Vielleicht kommt in Algeciras ja ein Konvoi zusammen? Um den Winter in Afrika zu verbringen, sich die Sonne auf die kleinen Heidenärsche brennen zu lassen. Wunderbar. Und überall um euch rum ta-ta-tanzen bunte Vögelchen. Rosa, grün und gelb seh ich die kleinen Piepmätze. Alle total lieb. Also, ist das der Plan, Benjamin? Ben? Du bist n bisschen blass geworden, Junge.

Was ich machen werde, ist, ich frag dich jetzt noch einmal, Benny. Dilly Hearne? Dill oder Dilly?

Ich kenn keine verdammte Dilly!

Jetzt faltet Charlie beide Arme um den Hals des Jungen.

Weißt du, was ich glaube, Maurice?

Was denn, Charlie?

Ich glaube, dieser Kerl hier ist ein mieser Wichser.

Das ist aber ein ziemlich drastisches Urteil, Charles.

Benny macht Anstalten, sich aufzurappeln, aber Charlie drückt ihn mit einem Lächeln und Gewalt zurück auf die Bank.

Schau, was passiert, Benny, sagt er, bei all der Selbstbefleckung, und das ist bloß meine persönliche Meinung, Junge, also einfach meine Theorie, weißt du? Meine Art von … morbider Spekulation. Aber was bei der Selbstbefleckung passiert, das ist nicht einfach bloß der verschleuderte Samen, nicht die verlorene Essenz. Was nach meiner Theorie passiert, und ich hab ziemlich viel drüber nachgedacht, ist eigentlich –

Ein Philosoph, sagt Maurice. Dieser Bursche hier. Charles Redmond aus Farranree.

Schau, was meiner Meinung nach bei der ganzen Wichserei passiert, ist, dass das Hirn drunter leidet und das Gedächtnis angegriffen wird.

Das Gedächtnis?, sagt Maurice.

Und schnippt scharf mit den Fingern.

Futsch, sagt er.

Und es hat gar keinen Zweck, jetzt zu schreien, Junge. Weil im Fährterminal von Algeciras?

Haben sie schon viel Schlimmeres gehört.

Und ich will dir mit dieser Spekulation auch nicht zu nahe treten. Aber ich muss schon sagen, dass du total wie n verdammter tierischer Selbstbeflecker rüberkommst, weißt du?

Maurice ruft –

So, dass ein Arm länger ist als der andere!

Und er steht auf und zieht Lorca am Strick, als wolle er mit ihm abhauen.

Jetzt komm schon, sagt er. Wär es nicht ne verflucht grässliche Geschichte, wenn Lorca hier im Hafen von Algeciras ohne Kopf aufwachen würde? Wie in nem Albtraum, Ben.

Es ist n grässlicher Ort.

N entsetzlicher Ort.

Einer von der Sorte, wo Sachen blitzschnell aus dem Ruder laufen können, Ben. Passt du auf?

Dilly. Hast du Dill gesehen oder nicht?

Sie ist n kleines Mädchen.

N hübsches Mädchen.

Dill?

Oder Dilly?

Als der junge Mann endlich antwortet, ist seine Stimme dünn und zittrig.

Kann schon sein, dass ich sie mal in Granada gesehen hab, sagt er.

Es ist ein ungeheures hibernisches Dilemma – eine kaputte Familie, eine verlorene Liebe und der ganze melancholische Rest –, und eine hibernische Kur dafür wird vorgeschlagen: Scheiß drauf, wir gehen einen saufen.

Sie bewegen sich in Richtung Cafeteria. Als spazierten sie durch einen lauen Abend. Der junge Benny wird sorgsam in die Mitte genommen, als sie mit der Rolltreppe hinauffahren – er könnte jetzt stiften gehen, kriegt aber irgendwie die Kurve nicht.

Die Bar wartet trostlos im grellen Licht ihrer Neonleuchten. Spinnt den Faden ihrer Stimmen. Die Männer setzen sich auf Barhocker, die beim Drehen rostig quietschen. Dies ist ein Ort, an dem die Zeit fast hörbar vergeht. Charlie und Maurice sitzen zu beiden Seiten des jungen Mannes. Alle drei trinken Bier aus kleinen Gläsern. Darunter hockt glücklich Lorca an Charlies Griff und Zügel.

Wie findest du Spanien, Ben?

Ganz okay.

Ich und dieser Mann hier kommen hier schon seit ner ziemlichen Weile her. Von wie lange reden wir da, Maurice?

Zweiundneunzig, Charlie, würd ich sagen. Dreiundneunzig?

Die Zeit! Ist wie Flaum in ner Brise, Benny.

Benny? Du ziehst so einen Trauerflunsch. Mach dich mal locker. Wir trinken doch nur n bisschen cerveza und befeuchten uns die Kehle.

Charlie beugt sich nach unten und spricht liebevoll mit dem Hund.

Wer ist mein Liebling Nummer eins?, sagt er.

Der Hund verdreht die Augen. Charlie weiß auf der Stelle, nach welcher Pfeife ein Hund tanzt, und bläst hinein. Jetzt fängt er an, im Flüsterton Fußball zu kommentieren –

Zidane am Ball … schlägt Haken auf nem Bierdeckel … schaut hoch … spielt in den Sechzehner … Raúl! … Raúl verpasst, der Keeper hat ihn … nein! Er lässt ihn fallen! … und da kommt Lorca und verwertet den Abpraller … das Bernabéu feiert ihn.

Maurice beugt sich nah zu Benny, um ihm vertraulich mitzuteilen –

Charlie Redmond? Meiner Meinung nach? Ist ein Mann, der instinktiv mit Hunden kommuniziert. Weißt du, was ich meine?

Ich hab keinen verdammten Schimmer, Mann.

Sie stehen praktisch auf und reden mit ihm.

Ach ja?

Jetzt konsultiert Charlie den Hund und lauscht ihm aufmerksam.

Hört ihr’s? Er meint, Raúl war der egoistischste kleine Giftzwerg, der je Fußballschuhe getragen hat. Hat nie im Leben nen einzigen Ball abgespielt.

Bei einem Mittelstürmer wünscht man sich das aber eher, sagt Maurice. Ich war genauso drauf, und ich kam über halblinks.

Du hattest nie Raúls Ballbeherrschung, Maurice, wenn du mal fair bist.

Ich hab nie behauptet, ich hätte auf Bernabéu-Niveau gespielt.

Charlie beugt sich wieder nach unten, als würde er weiter dem Hund lauschen.

Was meint er, Charlie?

Er meint, der Junge da erzählt uns nicht mal die halbe Wahrheit, Moss.

Also, sagt Benny. Danke für das Bier, aber ich muss jetzt los. Wirklich.

Maurice wirbelt auf seinem quietschenden Hocker herum und stößt Benny den Daumen ins Auge. Der junge Mann schreit auf, aber Maurice beugt sich vor und erstickt den Schrei mit seiner flachen Hand.

Mal ehrlich, Ben?, sagt Charlie. Die haben im Terminal von Algeciras wirklich schon viel Schlimmeres gesehen.

Ich für meinen Teil glaub ja, das hier ist einer der fiesesten Orte der Welt, Ben.

Charlie hebt prüfend die Nase, schaut besorgt drein –

Also, schnupper doch bloß mal, wie der verfluchte Laden mieft. Riechst du die alten Geister? Stinkt nach Knochen und Asche.

Sind sie unterwegs, Benny, was meinst du?

Keine Ahnung, von wem du redest.

Dill? Oder Dilly?

Wann war sie noch gleich in Granada, Ben?

Bitte, sagt Benny. Bitte hört auf.

Okay. Wissen wir ja. Alles, was du willst, ist dein übliches Ding machen. Verstehen wir.

Benjamin?, sagt Charlie. Der will an nen schwarzsandigen Strand. Er will Scheiße reden. Er will nen Kreis von wippenden Dreadlocks um sich rum. Er will, dass ihm die Mädchen und die Hunde an den Lippen hängen. Er will seelenvoll ins Mondlicht starren. Will den ganzen Blödsinn über die Sterne, Kraftlinien, Jah Rastafarai und die magische Bedeutung der Zahl 23 absondern.

Der Wichser würde nicht etwa losgehen und sich nen Job besorgen, oder?

Keine Angst.

Also!, sagt Benny. Bin dann weg.

Maurice beugt sich vor, stößt ihn auf den Hocker zurück, beißt ihn in die Schulter. Charlie erstickt den Schrei, indem er die Fingerspitzen fest auf seinem Mund platziert.

Ben? Ist ja nichts Schlimmes passiert.

Sind sie unterwegs, Benny, was meinst du?

Ich weiß von nichts. Ich kann euch da nicht helfen. Mag sein, dass ich mal in Granada ne Dilly gesehen hab. Ist aber lange her.