Beim Küssen sind mir Sterne schnuppe - Maria Kehlenbeck - E-Book

Beim Küssen sind mir Sterne schnuppe E-Book

Maria Kehlenbeck

4,9

Beschreibung

Die Freiburger Grundschullehrerin Laura Bernfeld, Anfang dreißig, lebt als Single – und zwar nicht aus Überzeugung, das steht definitiv fest. Obwohl sie eine Taille hat, die man durchaus als eine solche bezeichnen kann, und auch sonst eine ganz gute Partie ist, will sie anscheinend keiner haben! Alle Freundinnen um sie herum sind verbandelt, liegen verankert im Hafen der Ehe oder schippern gerade hinein – mit Lotse und Leuchtturm. Also lässt sich Laura für die Suche nach dem Mann fürs Leben so manches einfallen: Mit einem rotem Kleid, das eine Schulter verwegen frei lässt, und hochhackigen Schuhen kommt sie zwar kaum auf den Sattel ihres geliebten Fahrrads, doch beim Salsa-Tanzen im Alten Güterbahnhof kann sie auf keinen Fall in normalen Klamotten aufkreuzen. Erst recht nicht, wenn da laut ihrer Freundin Suse der schnuckligste Junggeselle von ganz Freiburg auf sie wartet … Es ist so ein bisschen wie "Ein Mann für jede Tonart" – nur moderner. Hera Lind

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Maria Kehlenbeck, 1978 geboren, wuchs in einem kleinen Ort im Markgräfler Land auf, studierte Deutsch und katholische Theologie in Freiburg im Breisgau und schloss nach dem Examen ein Magisterstudium an. Nach ihrem Referendariat und zwei Jahren Schuldienst am Fuße des Feldberges zog sie der Liebe wegen von Baden ins Württembergische, wo sie heute als Lehrerin mit Mann, Kindern und Hund lebt.

1. Auflage 2017

© 2017 by Silberburg-Verlag GmbH,

Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung:

Christoph Wöhler, Tübingen.

Coverfoto: © Ekaterina Pokrovsky – Shutterstock.

Druck: Gulde-Druck, Tübingen.

Printed in Germany.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1786-8

E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1787-5

Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-2058-5

Besuchen Sie uns im Internetund entdecken Siedie Vielfalt unseres Verlagsprogramms:

www.silberburg.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Danksagung

1

Ich setzte mich mal etwas vorteilhafter hin. Verführerisch schauen? Lieb lächeln? Oder sollte ich mich lebensfroh und ausgelassen geben? Ich hatte diese Madonna-Zahnlücke oben in der Mitte. Es soll ja Männer geben, die auf fehlerhafte Frauen stehen. Ha! Also lachen. Gut, dass ich vorhin noch einen zweiten Blick in den Spiegel geworfen hatte. So langsam kam ich halt doch in ein Alter, in dem Natürlichkeit nicht mit Schönheit gleichzusetzen ist. Aber verstecken musste ich mich trotzdem nicht. Schon gar nicht heute Abend.

»Hallo? Hörst du mir überhaupt zu?«

Das war mein bester Freund Flo, mit dem ich bei meinem vierten Bier im Brauhaus saß und der mal wieder diverse Lebensfragen hoch und runter diskutierte. Aber bei dem Kellner, der für unseren Tisch zuständig war, konnte es mir ziemlich egal sein, ob die Frau in der Beziehung mehr verdienen durfte als ihr Partner. Der sah aber auch schnuckelig aus! Also nicht der Partner, der Kellner vom »Martin’s Bräu«. Mischung italienischer Langzeitstudent. Italiener waren mir zu glatt. Langzeitstudenten zu schluri. Aber die Kreuzung! Hmmmm. Und wenn dieser Mix immer wieder trinkgeldfordernde Blicke zu Flo und mir warf, fragte ich mich schon, ob er versuchte, mit mir zu flirten. Wenn ich ehrlich war, würde mir so eine kleine Ego-Aufbesserung ganz gut tun. Also, nicht dass ich irgendwie frustriert war oder so. Aber was ein ordentlicher Flirt mit einem gutaussehenden Typen bei einer Frau bewirken konnte, muss ich wohl niemandem erklären.

»Wie siehst du das denn, Laura?«

Ach so, ja. Die Freundin mit dem dicken Geldbeutel schien ihm ja wirklich zu schaffen zu machen. Bei Flo war das immer so eine Sache: Er wäre nie jemand, der sich auf eine kurze Affäre einlassen würde. Er war treu, tiefgründig und gewissenhaft. Aber genau deswegen hatte er mindestens sieben Beziehungen pro Jahr, die selten über den Status »Affäre« hinausgingen. Das klang jetzt paradox, doch es traf den Kern der Sache. Er verliebte sich unsterblich, fand den berühmten Deckel zum Topf, war bereit, alles für diese Liebe zu tun, und fing dann an, ebendiese zu hinterfragen: Elf Jahre Altersunterschied bargen Probleme. Sie hatte ein Kind. Sie mochte Katzen, er war mehr der Hundetyp. Ja, und in diesem Fall verdiente sie in der freien Marktwirtschaft eben deutlich mehr als er, obwohl Flo als Physiker sich im Reagenzglas auch eine goldene Nase pantschte. Oder pantschen eher Chemiker? Ach, egal! Und das kratzte an seinem Selbstbewusstsein.

Wir Frauen waren da wirklich einfacher gestrickt: ein kleiner Flirt und schon war das Ego wieder aufgemöbelt. Meine Güte. Ich mochte Florian wirklich gerne. Aber bei diesem Thema nervte er mich ganz gewaltig. Man konnte doch nicht überall Probleme sehen. Sollte er sich doch freuen und sie beim Abendessen zahlen lassen. Oder er buchte mit ihrer Kreditkarte einen Flug auf die Malediven. Mir würde schon etwas einfallen.

Hatte der Kellner schon wieder zu mir geschaut? Vielleicht wollte er auch nur sicherstellen, dass in unseren Bierkrügen noch genug naturtrübe Brühe schwamm? »Hmmmpf«, würde Obelix sagen. Ich war großer Fan des dicken Galliers samt bestem Freund und liebte es, mich mit meinem Bruder Peter stundenlang nur mit Asterix-Zitaten zu unterhalten. Menschen, die etwas auf sich halten, können zur passenden Gelegenheit einen entsprechenden Satz von Goethe einflechten. Ich von Goscinny. So stammt bei mir das Zitat »Du sprichst ein großes Wort gelassen aus« nicht aus Goethes »Iphigenie«, sondern von Brutus in »Asterix als Gladiator«.

Flo schien auf eine Antwort zu warten. Ich merkte das Bier schon ganz ordentlich. Naturtrüb stieg bei mir etwas schneller in den Kopf, als ich das gewohnt war. Wir wollten heute Abend eine gediegene Kneipentour hinlegen und befanden uns eigentlich erst ziemlich am Anfang. Wie sollte ich später über das Kopfsteinpflaster würdevoll zu meinem Fahrrad kommen? Schon im nüchternen Zustand brach man sich gerne mal die Hand oder gleich das Genick, wenn man in Freiburgs Innenstadt zu flink von A nach B huschte. Einer Mitstudentin von früher war das tatsächlich mal passiert, als sie in der Fußgängerzone vor einem rasanten Fahrradfahrer in Deckung gehen wollte, der dort sein Rad eigentlich hätte schieben müssen. Frieda legte ein paar Schritte im Seitgalopp hin und prompt blieb sie an einem hervorstehenden Stein hängen, wodurch es sie selbst hinlegte. Der Mittelhandknochen verweigerte für einige Zeit seinen Dienst.

»Nur Fliegen ist schöner.« (Nullnullsix, der zum Dorf der Gallier geschickt wird, um das Rätsel des Zaubertrankes zu lösen.) Schöner und sicherer, da konnte ich nur beipflichten. In diesem Zusammenhang fiel mir der nette Spruch der Briten ein, der ausnahmsweise nicht aus einem Comic stammte: »Why do you drink and drive when you can smoke and fly?« War ein weiser Spruch, aber vielleicht fuhr ich nachher doch mit der Straßenbahn, holte mein Fahrrad morgen ab und umging so diverse Stolperfallen des tückischen Bodenbelags. Fliegen war heute keine wirkliche Alternative.

Aber erst gab es noch einiges in Sachen Kellner, Florian und Bier zu tun.

»Entschuldige, Flo, ich war gerade etwas abgelenkt.«

»Das bist du heute schon die ganze Zeit. Ist was mit dir?«

Also gut, er wollte es wirklich wissen. Auch auf die Gefahr hin, dass das ein sehr kurzer Samstagabend wurde, hatte Florian es verdient, dass ich ehrlich zu ihm war.

»Das. Thema. Nervt. Ganz. Gewaltig.«

So. Nun war es raus. Aber erstaunlicherweise fühlte ich mich jetzt nicht gerade besser. Selbst der südländische Aushilfskellner war mir ziemlich egal, als ich Flos enttäuschten Blick auffing. War ich zu weit gegangen?

»Ich dachte, du wärst meine Freundin und es interessiert dich, wie es um meine Beziehung steht«, sagte er schnippisch und betrachtete die leicht abgestandene braune Brühe in seinem Glas.

Unsere Freundschaft war durch solche Wortwechsel nicht wirklich gefährdet. Eigentlich wollte Florian immer meine Meinung in Beziehungsfragen, also die einer Frau, aber wenn er sie hatte, wollte er sie eigentlich lieber doch nicht mehr. Bei unbequemen Ratschlägen oder Meinungen von meiner Seite wäre ihm wohl ein höfliches, zustimmendes Nicken lieber gewesen.

»Natürlich bin ich das, aber gerade deswegen musste ich dir mal sagen, dass du dir und anderen das Leben unnötig schwer machst. Freu dich über die gute Partie und genieß das Leben in trauter Zweisamkeit. Du liebst Anja doch. Da kann doch der schnöde Mammon nicht zwischen euch stehen.«

»Eva. Sie heißt Eva.«

Hmmmpf. Na gut, das war nicht ganz ideal gelaufen, aber ansonsten fand ich meine Rede ziemlich beeindruckend. Allein der Ausdruck »Mammon« in Kombination mit »schnöde« nach vier Naturtrüben!

Aber Flo schien noch nicht besänftigt und das holte mich aus den selbstzufriedenen Gedanken.

»Weißt du«, meinte er, »ich habe das Gefühl, bei Eva kommt die Arbeit an erster Stelle. Und bevor ich auftauche, kommt lange nichts. Wie soll ich denn mit dieser Frau eine Familie gründen?«

Innerlich verdrehte ich die Augen bei so viel Sorge um ein ungelegtes Ei, das noch nicht einmal von einem Gockel besamt worden war. Es handelte sich also hier um ein noch nicht vorhandenes Frühstücksei, das gerade zum Problem erhoben wurde. Ich musste aufpassen, dass mein Ton nicht zu zickig klang bei meiner Antwort.

»Ihr seid jetzt etwa drei Monate zusammen. Kannst du das nicht einfach mal abwarten? ›Die Antwort ist irgendwo da draußen, Asterix!‹«

Na toll, meine Flirtlaune war verflogen, ich brauchte jetzt unbedingt einen Orts- und Themenwechsel. Nur dem Getränk wollte ich treu bleiben. Wir zahlten, und um auf andere Gedanken zu kommen, ließen wir die Räder stehen und gingen unserem Lieblingsspiel nach, das normalerweise erst auf dem Rückweg aktuell wurde. Durch Freiburg fließen die sogenannten »Bächle« – wer hineinfällt, heiratet jemanden aus derselben Stadt, ein waschechtes »Bobbele«, so der badische Brauch. Da wir beide von hier kamen und dringendst hier unsere Liebsten finden wollten, riskierten wir alles beim Balancieren auf der Bächlekante.

In der zweiten Kneipe, im »Schlappen«, trafen wir auf Max und Philipp, die – wie jedes Wochenende – nur zwei Themen kannten: die Erste Bundesliga und die Zweite Bundesliga.

Also, für eine Frau war ich schon ziemlich häufig in einem Stadion: Erstens ist das Schwarzwald-Stadion vom Sportclub Freiburg superschön an der Dreisam gelegen und man kann einen gemütlichen Spaziergang an diesem Fluss entlang genießen, bevor man von diversen Fans taubgeschrien wird, und zweitens gibt es dort einige Gründe, die mich leicht überzeugen, mich auch für die Mannschaftsaufstellung zu interessieren: die rote Stadionwurst mit Senf und Zwiebeln, das gezapfte RothausPils und die Männerquote, die hier so hoch ist wie nirgends. Manchmal muss man auf Quantität setzen. Nicht auf Qualität, die zugegebenermaßen dort nicht so ganz meinem Geschmack entspricht. Naja. Aber was Max und Philipp da an abendlicher Thematik aufweisen konnten, das würde selbst Reiner Calmund langweilen. Und der verträgt pro Kilo Körpergewicht zehn Minuten Fußballtalk. Mindestens. Ich merkte, wie mein Stimmungs- sowie Alkoholpegel rapide in den Keller rauschten, und versuchte, Flo aus dieser brenzligen Situation zu befreien. Aber der wollte gar nicht befreit werden.

»Der Streich hat gegen den Tabellensiebten die gleiche Startformation wie in München gehabt. Taktisch war das nicht clever«, meinte der gerade mit leuchtenden Augen.

Hallooo? Und das Netto-Einkommen von Anja/Eva? Den halben Abend jammerte er mir von dieser ach so ausweglosen Situation vor und jetzt gab er der Bedienung freudestrahlend und mit entsprechend geröteten Wangen ein Zeichen, dass er auch ein Bier wollte, und setzte sich neben Max, der bereitwillig gerutscht war. Als ich mich demonstrativ räusperte, unterbrach Flo kurz seine Diskussion über die SC-Aufstellung im Spiel gegen Stuttgart.

Wie viele Frauen räusperten sich jedes Wochenende wohl demonstrativ und schafften es nicht, die Aufmerksamkeit der anwesenden Männer auf sich zu ziehen? Wahrscheinlich müssten die Damen ganz andere Geschütze auffahren, so in Seide oder Spitze, dass sich nicht mehr alles um den Fußball drehte.

»Mensch, Laura, zieh deine Jacke aus und setz dich. Hier ist es doch warm genug.«

Hmmmpf. Ich kam mir vor wie Troubadix beim Schlussbankett. Nur nicht geknebelt, aber das machte bei diesem Thema keinen großen Unterschied.

»Ich hab so Kopfweh bekommen. Irgendwie vertrag ich das Naturtrübe nicht mehr so richtig«, improvisierte ich, wohl wissend, dass es etwas ganz anderes war, das ich gerade überhaupt nicht vertrug.

»Och, schade«, meinte der beste aller Florians halbherzig, und die anderen beiden Herren waren schon wieder im Gespräch vertieft, nachdem sie meine Aussage zur Kenntnis genommen und ihre Schlussfolgerung daraus gezogen hatten.

Ich stammelte noch ein paar Abschiedsworte in Richtung Flo und hastete nach draußen, ohne wirklich zu wissen, wie der Abend nun weitergehen sollte. Maaaann! Ich hätte schreien können! Die erste Halbzeit mit Mascara und Lidstrich abgekämpft, dreimal umgezogen, mit Vier-Zentimeter-Absätzen aufs Rad geklettert, den italienischen Langzeitstudenten-Aushilfskellner mit Missachtung gestraft, und jetzt wurde ich kurz nach der Halbzeitpause mit Gelb-Rot vom Platz geworfen. Gewissermaßen. Zumindest ins Abseits befördert.

Schnell trat ich zwei Schritte zurück, als mich das Klingeln der Linie 4 aus den Gedanken holte. Freiburg ist sogar wütend noch schön, mit seinem Kopfsteinpflaster, den vielen kleinen Gässchen und verwinkelten Innenhöfen und den alten, zum Teil sehr herrschaftlich wirkenden Häusern. Statt Autolärm hört man in der ganzen Innenstadt nur das Quietschen der alten, rostigen Fahrräder, bei denen es nicht ganz so schmerzt, wenn abends an der Kette nur noch das Vorderrad baumelt. Und Straßenbahnen, die einen noch bis spät in die Nacht in jedes Eckchen der Stadt befördern, seit Neuestem sogar ohne Pause zwischen ein und fünf Uhr.

Meine frühere Studienkollegin Maike wohnte inzwischen in Berlin und liebte die Bundeshauptstadt seit dem ersten Tag mit Leib und Seele. Das hektische Treiben und enorme Angebot an kulturellen Veranstaltungen und Einkaufsmöglichkeiten war zwar gigantisch, aber für mich eine absolute Sinnesüberreizung, die mich völlig überforderte. Das könnte mir demnach nie passieren. Schon gar nicht mit Berlin! Ich hüpfe im Notfall auch aus drei Metern Entfernung ins Bächle, damit ich endlich einen passenden Mann finde, der mit mir an diesem Ort eine Familie gründet und mich liebt, bis wir alt und klapprig sind und unsere Enkel auf der Bächlekante balancieren, um ein »Bobbele« heiraten zu können.

Tatsächlich ist das Projekt in den letzten Jahren schon einen Schritt zuvor gescheitert. Das Hierbleiben war nicht das Problem, vielmehr das Mannfinden.

Mich verfolgt das Pech. Maike hatte ihren rastagelockten Nils neben sich im Bett, und auch wenn sie Zukunftspläne spießig fanden, war ich mir sicher, dass sie ihm noch mit achtzig den ergrauten Bart kraulen wird. Wie glücklich die beiden miteinander waren, konnte ich mit eigenen Augen sehen, als ich meine Freundin an einem Wochenende im vergangenen Jahr besucht hatte. Obwohl es natürlich super war, viele Stunden mit Maike zu verbringen, in denen wir uns gegenseitig über alles Wesentliche und Unwesentliche informierten und die alten Zeiten hochleben ließen, sorgten diese zwei Tage dafür, dass ich um Jahre alterte. Beim Geschäftebummel waren mir zu viele Menschen, in der Kneipe waren mir zu viele Menschen und die Disco, zu der wir am fortgeschrittenen Abend aufbrachen, war rappelvoll, da hier definitiv zu viele Menschen hereingelassen wurden. Für meinen Geschmack.

Wir tranken irgendeinen Drink, der in »der Szene« angesagt war und der so gut schmeckte, dass ich ordentlich zugriff, bis Maike plötzlich über Schwindel klagte und im nächsten Augenblick vom Barhocker kippte. Nils wich nicht von ihrer Seite und gab einen so guten Zivi ab, dass dieser Dienst schon nur wegen ihm wieder in Deutschland eingeführt werden sollte. Als Maike nicht die Einzige blieb, die wie eine Eintagsfliege leblos auf dem Boden gelandet war, stellte sich heraus, dass K.-o.-Tropfen in ihrem Glas gewesen waren.

Während ich mich nach diesem Vorfall kaum beruhigen konnte – allein wegen der Tatsache, dass ein Streifenwagen Einsatz im selben Etablissement hatte, in dem ich mich gerade aufhielt –, zuckte das Paar, das ich deswegen befragt hatte, nur die Schultern und erklärte, das sei hier keine Seltenheit und kein Grund zur Panik.

Hallo? Man stelle sich mal vor, das hätte man den Passagieren der Titanic gesagt: »Das passiert hier öfter, dass Schiffe einen Eisberg rammen. Kein Grund zur Panik!«

Gesundheitlichen Schaden hatten die K.-o.-Tropfen immerhin nicht angerichtet, den kratzenden und beißenden Kater am nächsten Morgen hätte Maike wohl auch sonst gehabt, bei all den anderen Tropfen, die sie an diesem Tag zu sich genommen hatte. Leider würde der Vorfall wohl keine strafrechtlichen Folgen nach sich ziehen, da der Täter nicht erwischt wurde. Ich wollte gar nicht wissen, welches Ziel er verfolgt hatte, als er meiner Freundin das Zeug ins Glas schmuggelte! Hmmmpf. War mir definitiv zu viel Action an einem gewöhnlichen Samstagabend. Vielleicht bin ich ein Landei mit meiner Bächlebalanciererei und den allwöchentlichen Brauhausbesuchen, aber ich war in der Provinz ebenso glücklich wie Nils und Maike mit ihren Szene-Drinks.

Nur eben doch nicht so glücklich, da kein Nils an meiner Seite war.

Meine andere Freundin Suse lebte hier in Freiburg. Seit zehn Jahren wohnte sie mit ihrem Dauerverlobten zusammen, und die einzigen Probleme, die sie wälzten, waren Fragen wie: »Fahren wir am Sonntag an den Bodensee oder ins Elsass?« oder: »Bestellen wir Pizza oder die Nr. 23 und Nr. 54 beim Chinesen?«

Und dann gab es da noch Britta, die mit ihrem Mann und den zwei Jungs in einem furchtbar spießigen und gleichzeitig furchtbar schönen Reihenmittelhaus in der Wiehre wohnte, einem Wohnviertel, in dem es vor Kindern und glücklichen Alternativpärchen nur so wimmelte. Vor kurzem hatte eines dieser Reihenmittelhäuser zum Verkauf gestanden und Klein-Lauras Wunschtraum nach ebendiesem spießigen Leben mit Mann und Kindern wäre ihr fast zum Verhängnis geworden. Ich konnte doch so mutterseelenallein kein Haus kaufen, so verlockend das Angebot auch war!

Und es gab natürlich noch meine Eltern, die schon jetzt das große Fest planten, das sie zu Ehren ihrer Goldenen Hochzeit mit sämtlichen Freunden und Verwandten begehen wollten. Und es gab mich. Punkt.

2

Es ist nicht so, dass ich eine schlechte Partie wäre, sage ich mal ganz unbescheiden: Ich habe eine Taille, die man durchaus als eine solche bezeichnen kann. Meine braunen Locken kringeln sich fröhlich in alle Richtungen und umrahmen ein Gesicht, das mit großen, dunklen Augen, einer kleinen Stupsnase und einem vollen, geschwungenen Mund gar nicht übel ist. Sagt man ja nicht über sich selbst, aber ich kann die Tussen nicht ausstehen, die genau wissen, dass sie mit ihrem Aussehen bei weitem mehr punkten als mit ihrem IQ oder ihrem Charakter, und die dann sagen: »Ach, ich bin ja gar nicht zufrieden mit meinem Aussehen. Findest du mich wirklich hübsch?«

»Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr!« (Asterix und Latraviata) Das war wohl deren Motto, mit dem ich so gar nichts anfangen konnte. Zumal die Bescheidenheit oft eben nicht echt ist. Und dann ist so ein Satz ja noch dämlicher als ohnehin schon.

Es liegt auch nicht an meinem Wesen, glaube ich zumindest, dass ich chronischer Single bin. Natürlich zicke ich mal herum, und dass ich prinzipiell sage, was sich in meinen Gehirnwindungen abspielt, mag sicher auch nicht jedem recht sein. Aber im Großen und Ganzen bin ich unterhaltsam, kann wirklich zuhören (wenn nicht gutaussehende Kellner dazwischengrätschen) und bin eigentlich so eine Pferdestehl-Freundin. Aber das erkennt kein Mann, weil mich keiner kennenlernt. So einfach ist die Gleichung.

Ich bin inzwischen zweiunddreißig. Tick, tack, tick, tack. Das war meine biologische Uhr. Deren Lautstärke ist inzwischen auf 140 Dezibel angeschwollen und hat damit die Schmerzschwelle deutlich überschritten.

Klingt das jetzt gefrustet? Irgendwie bin ich ja genau das, denn außer absoluten Vollpfosten haben noch keine Männer, die diese Bezeichnung verdienen, mein Leben gekreuzt. Hmmmpf. Da war Ole, der völlig cholerisch war und immer Recht hatte, und Frederik, dessen Niveau ganz ansprechend war, der aber den Rat seiner Mutter sogar bei der Abendgestaltung einholen wollte. Und mit neunundzwanzig kann man die Mama ja schon mal fragen, ob man lieber genoppte oder hauchzarte Kondome überstülpen soll.

Wieder im wahrsten Sinne des Wortes ernüchtert beschloss ich, zu meinem Fahrrad zurückzugehen, das ich zwei Straßen weiter am Eingang des Brauhauses abgestellt hatte. Kurz überkam mich der verlockende Gedanke, dem Abend doch noch eine erfreuliche Wendung zu geben und ein paar feurige Blicke mit il Kellnero bellissimo zu tauschen, doch irgendwie hatte sich meine Flirtbereitschaft in Luft aufgelöst. Das war ja nicht verwunderlich bei dem Verlauf der heutigen Kneipentour!

Ich schloss mein altes Hollandrad auf und schwang mich – so gut es mit meinen ungewohnten Absätzen ging – auf den Sattel.

Ich hatte zwei Möglichkeiten: fünfzehn Minuten über den Radweg entlang der Bismarckallee zur Heinrich-von-Stephan-Straße oder aber hinter dem Sportzentrum abbiegen und ein kleines Stück durch einen unbeleuchteten Park fahren. Natürlich siegte wieder einmal die Faulheit über die Vernunft, und ich trat ordentlich in die Pedale, um von potenziellen Triebtätern nur als Luftzug wahrgenommen zu werden.

An meiner Wohnungstür angekommen stieg ich schnaufend vom Rad und versuchte, genügend Licht von der Straßenlaterne zu erwischen, um die richtige Nummer auf meinem Zahlenschloss einzustellen.

Während ich mich über mein Vorderrad beugte, um mein Einundalles vor Diebstahl zu schützen, bohrte sich etwas leidenschaftlich zwischen meine Schenkel. Nicht, dass ich da generell etwas dagegen hätte, aber so anonym und ungestüm mochte ich es ja nun nicht gerade. Wütend drehte ich mich nach hinten um und blickte in eine tropfende Schnauze und zwei große, dunkle Augen, die zu einem Monstrum von Hund gehörten. Dogge-Irgendwas-Mix, würde ich auf die Schnelle sagen.

Bei dem putzigen Hundeflüsterer im Fernsehen hatte ich gehört, dass Hunde möglichst schnell einen Platz in ihrem Rudel zugewiesen bekommen und erkennen müssen, dass man in der Rangfolge über ihnen steht. Dann sind sie lammfromm und du bist der Chef. Es wurde dem Zuschauer geraten, mit der flachen Hand auf den Kopf des Hundes zu donnern, um so die eigene Dominanz zu verdeutlichen. So nahm ich erneut meinen Mut zusammen und handelte, ehe mich diese sabbernde Furie zerfleischen konnte, indem ich mit Schwung auf den Hundeschädel eindrosch.

Der Hund schien das zu akzeptieren. Wie konnte man nur so still halten, wenn einem ein Fremder auf den Kopf haute? Treuherzig sah mich das Biest von unten an, leicht hechelnd und freudig erregt mit dem Schwanz wedelnd.

Da kein Besitzer weit und breit zu sehen war, tätschelte ich den Kopf ein letztes Mal, kontrollierte das Fahrradschloss und ging die Stufen zu meiner Wohnung hoch. Kurz haderte ich mit mir, ob es meine Aufgabe wäre, die Polizei zu rufen oder zumindest den Hund am Zaun anzubinden, entschied mich dann aber dafür, zunächst mein Leben zu retten. Es gab schließlich sogar Kapitäne, die das sinkende Schiff verließen und sich damit in Sicherheit brachten, ohne sich um die eigene Mannschaft zu kümmern. Da konnte ich ja wohl von Bord springen, wann immer ich wollte. Der Riesenköter war mir noch nicht einmal im Ansatz anvertraut wie die Crew dem Kapitän.

Wohlbehalten im ersten Stock angekommen, überlegte ich beim Blick auf den kleinen, mit Forsythien umrahmten Balkon, wie nett es jetzt wäre, eine Zigarette zu rauchen, und drückte stattdessen auf den Wasserkocher, um mir meinen geliebten Matcha Latte als Nachttrunk zu genehmigen. Trotz angeblich aufputschender Wirkung schlief ich danach immer wie ein Stein. Ich spielte seit acht Jahren mit dem Gedanken, wieder mit dem Rauchen anzufangen. Aber es gab ein paar Gründe, die irgendwie dagegen sprachen. Auch ohne Schwangerschaft.

Bis das Wasser gekocht und auf 80 Grad abgekühlt war, nahm ich mein Handy und las die WhatsApps, die im Laufe des Abends ihre Ankunft mehrfach mit fröhlichem Gepfeife begleitet hatten. In einer kündigte meine Mutter ihren Besuch für Sonntag an, die zweite war von Britta, die mich mit einem Zahnlückenbild ihres Großen beglückte, und die dritte kam wieder von Mama, die es im Grunde nie schaffte, alle Informationen in eine einzige Nachricht zu packen. »Kostet ja nichts«, pflegte sie freudestrahlend zu sagen. Vielleicht verständlich, wenn man an die Preise der Telefoneinheiten vor zwanzig Jahren dachte. »Ich bring Apfelkuchen mit. Die Äpfel sind aus Ehrhardts Garten. Hdl.«

Auf diese Abkürzung war meine Mutter mächtig stolz. Es gab kaum eine Nachricht, die nicht mit diesen drei aussagekräftigen Buchstaben endete. Ich wartete nur auf Buchstabenkombinationen wie »lol« oder »ddgf«, die mit Sicherheit nur von ihr entdeckt werden wollten. Meine Mutter ist die Beste. Aber ihr Ich-versuche-jung-zu-bleiben-Tick nervte gewaltig und wollte so gar nicht zu dieser herzensguten, aber etwas altbackenen und konventionellen Frau passen, die sie nun mal war.

Wie schön wäre es, wenn da mal eine Nachricht auf mich warten würde wie »Ich brauche dich wie die Luft zum Atmen« oder »Schon beim Gedanken an dich wird mir heiß«. Natürlich nicht von meiner Mutter.

»Ich bringe Apfelkuchen mit.« Hmmmpf.

3

Der nächste Tag war ein Samstag, und auch wenn ich einen Stapel roter Diktathefte auf meinem Schreibtisch liegen hatte, der durch bloßes Ansehen nicht kleiner wurde, fing der Morgen verheißungsvoll an. Ich hatte wie ein Murmeltier geschlafen und wurde von Lichtstrahlen geweckt, die sich einen Weg durch die Rollladenschlitze bahnten und gutes Wetter prophezeiten.

Mit einem großen Pott Kaffee (so schwarz wie meine Seele) setzte ich mich auf den Balkon und genoss die Sonne, die Mitte Mai schon ganz ordentlich wärmte. Meine Gedanken wanderten zurück zum gestrigen Abend, und gerade als in meinem Kopf bei der Erinnerung an die verkorkste Kneipentour Wolken aufziehen und mein ganz persönliches Wetter trüben wollten, klingelte das Telefon. Da die Größe meiner Wohnung sehr überschaubar war und ich einen absoluten Retrofimmel hatte, führte ich meine Telefongespräche an einem schwarzen, schnurgebundenen Analog-Apparat. Dementsprechend nervtötend klingelte das Ding auch, anstatt durch angesagte Hits der aktuellen Charts den Anruf zu verkünden. Ein Traum!

Mein Nervenkostüm schien wohl eh zu den widerstandsfähigeren zu gehören. Auch die vierte Klasse der Grundschule Freiburg-Littenweiler, die ich in unterschiedlichen Haupt- und Nebenfächern unterrichtete, konnte ein paar – pädagogisch formuliert – interessante Charaktere aufweisen, die mich aber höchst selten aus der Fassung brachten. Eigentlich lagen mir die sogenannten Chaoten viel mehr als die verwöhnten Mädchen aus diversen akademischen Haushalten. Und es gab eine Menge Lehrer und Rechtsanwälte im Einzugsgebiet dieser Grundschule.

Als ich den Vintage-Hörer abhob, sprudelte mir Suses Stimme entgegen, die nur selten an Lautstärke und Geschwindigkeit einbüßte.

»DuglaubstesnichtwasgesternAbendpassiertist.«

Ich musste lachen, da so eigentlich jedes Telefonat mit ihr begann.

»Jetzt mal Luft holen und noch einmal ganz langsam.«

»DuglaubstesnichtwasgesternAbendpassiertist.«

Moment. Das war anders als sonst. Mir zuliebe drosselte meine Freundin in der Regel beim zweiten Anlauf die Anzahl ihrer Wörter pro Minute erheblich.

»Hendrik hat mir einen Antrag gemacht!«

Und schon war es raus. Alea iacta est – die Würfel sind gefallen. (frei nach Marcus Schmalzlockus im Film »Asterix der Gallier«)

Die nächste Freundin im Hafen der Ehe, bald mit Stammhalter auf dem Arm und verkackten Windeln, und definitiv keine Frau mehr in meinem Freundeskreis, mit der ich zum Singleabend in meine Lieblingsdisco gehen konnte. Wehmütig dachte ich an die grandiose Aktion mit der Zeitungsannonce zurück: Es gab eine Zeit, in der Suse felsenfest davon überzeugt war, dass »halten und weitersuchen« durchaus legitim und moralisch vertretbar war. In diesem Sinn verfassten wir an einem feucht-fröhlichen Abend im Biergarten einen Text für die Rubrik »Sie sucht ihn« in der Badischen Zeitung. Schon das Erstellen dieser paar Zeilen war das pure Vergnügen. Wir kicherten wie die Sechstklässler im Aufklärungsunterricht.

»Suchst du, männlich, gutaussehend und vermögend, die Traumfrau deines Lebens? Tataaaa! Da bin ich!«

So in der Art lautete am Ende der Text, den wir inserierten und daraufhin eine Chiffre-Nummer zugeteilt bekamen. Nach einer Woche erhielten wir das ersehnte Päckchen Briefe von der Zeitung, das uns einen noch viel besseren Abend und viele weitere Lachsalven bescherte. War das ein Spaß, die Briefe zu lesen, über beigelegte Fotos zu lästern, die Schriften zu analysieren und schließlich die Zusendungen in zwei Kategorien einzuordnen: geht gar nicht und geht überhaupt nicht. Letzten Endes war tatsächlich kein potenzieller Partner dabei, weder für Suse noch für mich, aber das war bei diesem Text auch nicht wirklich zu erwarten gewesen. Sollte jetzt alles vorbei sein?

Mensch, Laura, sei nicht ungerecht, ermahnte ich mich im Stillen und gratulierte der künftigen Braut, die erwartungsvoll am anderen Ende der Leitung meine Reaktion abwartete.

»Ach, Suse, das ist wundervoll. Erzähl! Ich will alles hören!«

Ich freute mich wirklich für meine beste Freundin. Suse war in den letzten Monaten nicht müde geworden, sich die romantischsten Kulissen für ihren Antrag auszumalen, und in ihren Träumen war Hendrik bestimmt schon hunderte Mal auf die Knie gesunken und hatte ihr mit betörendem Augenaufschlag ewige Liebe geschworen. Ich holte mir noch einen zweiten Kaffee und machte es mir auf meinem Sofa gemütlich. Bei Suse konnte es dauern. Und in einem solchen Fall ganz besonders.

Die Kurzfassung war folgende: Als Suse am Abend von der Arbeit kam, lief ihr Lieblingslied von Silbermond und ihr Kater Abraxas kam auf sie zu. Aufgrund seines Alters und einer ausgewachsenen Arthrose bewegt er sich ziemlich schwerfällig, in weiße Gardine gewickelt musste es fast unmöglich gewesen sein. Um den Hals trug er – wie originell – eine Schleife, an der ein Verlobungsring baumelte. Zu diesem Zeitpunkt war Suse natürlich schon in Tränen aufgelöst, und als ihr Hendrik dann auf die Knie fiel und mit fester Stimme die magischen vier Worte sprach, war es völlig um sie geschehen.

Beim Erzählen brach ihre Stimme wieder in regelmäßigen Abständen, und man musste Suse nicht wie ich seit dem Kindergarten kennen, um ihr ganzes Glück zu begreifen.

»Es war so romantisch! Henny war selbst ganz nervös, Laura, so habe ich ihn noch nie erlebt.«

»Und – bist du schreiend davongerannt?«

Suse kicherte. Niemand konnte so gut mit meinen flapsigen Bemerkungen umgehen wie sie. »Ich hab geheult und genickt, und dann hat Henny gefragt, ob das ein Ja sei. Dann hab ich noch heftiger geheult und genickt. Steh mir bei in dem ganzen Wahnsinn, Laura. Du bist meine Trauzeugin, da frag ich gar nicht lange.«

Und das alles ohne Frühstück. Es war schon irgendwie immer klar, dass wir nicht ohne die andere vor den Altar treten würden, aber ohne Frühstück und mit zwei Tassen Kaffee intus musste mein Magen diese Nachricht erst einmal verdauen.

Suse machte unbeirrt Pläne: »Und weißt du was, für die Tischdekoration habe ich mir überlegt … Ach, weißt du was? Henny muss Steffen beim Gartenteichanlegen helfen und ist den ganzen Tag verplant. Lass uns doch einfach in der Stadt treffen und wir reden, ja? Mittagsschnitzel im ›Tacheles‹?«

Hmmmpf. Das alles kurz nach dem Aufwachen. Egal.

»Klar treffen wir uns. Falls du früher dort bist als ich, bestell schon mal für mich mit: Jägerschnitzel mit Champignonsoße. Den Salat ohne Kraut. Ist Jägerschnitzel nicht per se mit Champignonsoße? Egal. Du weißt, was du zu tun hast.«

Das Schöne an solchen Frauentreffen war, dass die Zahn- und Haarbürste zwar zum Einsatz kommen musste, aber alle weiteren Schminkutensilien im Badezimmerschrank bleiben konnten. Ich schaute auf meine Post-it-Zettel an der Wohnzimmertür: Diktate korrigieren, Bett frisch beziehen, Elternvertreterin anrufen. Ohne meine Klebezettel wäre ich aufgeschmissen. Zum einen hilft es mir täglich, keine Termine oder wichtige Erledigungen zu vergessen, zum anderen gibt es kaum etwas Befriedigenderes, als den entsprechenden Zettel nach getaner Arbeit abzuziehen, zu zerknüllen und in den Papierkorb zu befördern. Diese drei Punkte waren überschaubar und getrost auf den Sonntag zu schieben, trotz Mama und ihrem Apfelkuchen.

Ich schlüpfte in meine Lieblingsjeans, die ich dank enormen Stretchanteils in Größe 34 tragen konnte. Allein deswegen war sie schon jeden Cent wert. Sie hatte gleichzeitig so viel Schlag am Schienbein, dass ich die Hose beim Radfahren mit silbernen Klammern zusammenhalten musste, damit sie sich nicht in den Speichen verhedderte. Mehr Retro ging nicht. Das blau-weiß gestreifte T-Shirt im Marinelook passte zum Wetter sowie zu meiner Stimmung und sah frisch aus mit dem roten Gürtel und den gleichfarbigen Sneakers.

Auch wenn Suses Eröffnung zunächst befremdlich für mich war, ich freute mich wahnsinnig für sie und auch auf das ganze Trara, das nun kommen würde: Einladungen basteln, Brautkleid kaufen, Musikband suchen, Sektsorte auswählen … Ich konnte mir sicher sein, dass ich organisieren durfte, als wäre es meine eigene Traumhochzeit. Aber davon war ich so weit entfernt wie Kater Abraxas vom Mäusefangen.

Hmmmpf.

4

Der Gute-Laune-Hit-Mix auf meinem Handy reichte von der »Dancing Queen« bis zu Johnny Cashs »Ring of Fire« und war für mich der ideale Begleiter, wenn ich auf meinem Rad in die Stadt fuhr. Es klingt vielleicht merkwürdig, aber ich besaß tatsächlich kein Auto. Weder aus finanziellen noch aus idealistischen Gründen, noch nicht einmal, um mehr Sport in meinen Alltag einzubauen. Ich brauchte schlichtweg keines. Innerhalb der Stadt war ich auf dem Rad am schnellsten unterwegs, und wenn mich der steigende Wasserpegel der Dreisam durch Niederschlag oder der am Wochenende steigende Pegel meinerseits im Brauhaus am Radfahren hinderten, konnte ich problemlos auf Straßenbahn oder Bus umsteigen. Und für den Fall, dass der Apfelkuchen mit den Äpfeln vom Nachbarn nicht zu mir kam, war ich mit dem Zug in einer knappen Stunde bei meinen Eltern. »Da weiß man, was man hat!« (Astronomix zu interessierten Touristen – Asterix und Latraviata)

Mick Jagger sang gerade auf seine unübertreffliche Weise, dass man nicht immer bekommt, was man will, als er jäh unterbrochen wurde. Ich hatte den Park nahe meiner Wohnung fast durchquert, als mich ein mir bereits bekannter Höllenhund am Weiterfahren hinderte. Fluchend hielt ich mein Rad an und stieg ab. Da es schon einmal so wunderbar funktioniert hatte, begann ich mit dem Schädelhauen und kam mir vor wie in einem Film, den ich schon fast vergessen hatte und dessen Held täglich immer wieder dasselbe erleben muss.

»Hören Sie sofort auf damit!«

Meine Güte, wenn das das Herrchen vom Höllenhund war, weiß ich nicht, wer von beiden angsteinflößender aussah. Mit der Leine in der linken Hand kam er auf mich zugestapft. Ich schätzte ihn auf Anfang vierzig und er hätte mit seinem dichten, dunklen Haar und der klassischen Nase – wer Asterix und Kleopatra gelesen hat, weiß, wie bezaubernd Charakternasen wirken können – ganz nett aussehen können. Wäre da nicht sein wütender Blick, der mich zu durchlöchern schien.

»Was fällt Ihnen ein? Wie können Sie nur meinen Hund schlagen? Den Tierschutz sollte man rufen bei Leuten wie Ihnen!«

Hallo? War der Typ noch ganz richtig im Kopf? Sein Hund bedrohte mein Leben – schon das zweite Mal – und anstatt das Vieh an der Leine zu führen, wie es von ihm verlangt wurde, pampte der mich noch an? Da war er aber an die Falsche geraten!