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Laura Bernfeld, die sympathische, temperamentvolle Lehrerin, muss ihr geliebtes Freiburg verlassen und stellt fest, dass im neuen Wohnort am Feldberg die Schwarzwalduhren völlig anders ticken. Im Haus spukt es, zwischen Ober- und Unterdorf gibt es eine uralte Fehde und zu allem Überfluss taucht die Exfrau ihres Freundes Jan wieder auf. Trotz Gefühlswirrwarr stürzt sie sich in ein Rettungsprojekt für den alten Dorfgasthof.
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Seitenzahl: 241
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Maria Kehlenbeck, 1978 geboren, wuchs in einem kleinen Ort im Markgräflerland auf, studierte Deutsch und katholische Theologie in Freiburg im Breisgau und schloss nach dem Staatsexamen ein Magisterstudium an. Nach ihrem Referendariat und zwei Jahren Schuldienst am Fuße des Feldbergs zog sie der Liebe wegen von Baden ins Württembergische, wo sie heute als Lehrerin mit Mann, Kindern und Hund lebt.
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1. Auflage 2018
© 2018 by Silberburg-Verlag GmbH,
Schweickhardtstraße 5a, D-72072 Tübingen.
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.
Coverbild © Maria Kehlenbeck, Obersulm.
Lektorat: Kerstin Jaworski, Radolfzell.
Druck: Gulde-Druck, Tübingen.
ISBN 978-3-8425-2115-5
eISBN 978-3-8425-1808-7
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Für Andreas und alle,die lieber küssen als kochen.
Bevor Sie in die Geschichte eintauchen, möchte ich noch eben etwas loswerden: Natürlich gibt es Todtnau am Fuße des Feldbergs, auch das schöne Geschwend gehört dazu und ja, dort leben wirklich interessante und äußerst liebenswerte Menschen. Aber diese hier in Lauras Umfeld sind frei erfunden. Der Dorfgasthof »dasrößle« war natürlich eine tolle Inspiration und ist sehr zu empfehlen.
Sie werden es nicht glauben, aber es gibt dort tatsächlich einige Handynetz-freie Zonen, die dafür sorgen, dass man entweder völlig entspannt oder aber erfinderisch wird.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Epilog
Danksagung
Hmmmpf. Eigentlich dachte ich, diese sprachlich doch recht erbärmliche Ausdrucksform gehöre der Vergangenheit an. Ich wäre quasi herausgewachsen aus dieser comichaften Asterix-Sprache. Ich war sogar überzeugt davon, dass ich älter, reifer, vielleicht sogar klüger geworden wäre. Hmmmpf. Mir blieben auch jetzt wieder die Worte im Hals stecken, wie meinem guten Obelix, wenn er einer wohlgeformten Frau seine Liebe gestehen wollte. Fehlanzeige. »Mit der Reife wird man immer jünger.« Ha! Da war er wieder, der gute Hermann Hesse, auf den ich sonst meine gesamte Hoffnung stützte. Aber es gehörte wohl noch mehr dazu, wenn die Reife von mir Besitz ergreifen sollte. Ein paar Betrachtungen über das Alter an sich und ein paar Jahre mehr auf dem Buckel reichten da wohl nicht aus. Andererseits – im Moment fühlte ich mich völlig überreif. Als Apfel, Birne oder Kirsche würde ich schon nicht mehr gepflückt werden. »Die fällt von alleine ab, oder die Vögel holen sie sich«, würde jeder vernünftige Bauer urteilen, der mich am Baum hängen sähe. Aber im Moment hing ich eigentlich gar nicht an einem Baum, sondern in der Luft. Ich hatte keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen sollte.
Eigentlich war alles gut: Mein Freund Jan war liebevoll, unterhaltsam und so geduldig, dass er meine vielen Macken noch nicht einmal zu bemerken schien. Sein Sohn Erik ging auf eine Schule, die wieder nach so einem Dichter benannt worden war, dessen Worte von großer Klugheit und Reife zeugten. Sogar die Farbenlehre hatte der Allrounder unter den Denkern unter seinen Fittichen gehabt. Das war mir ein völliges Rätsel. Wie konnte man sprachlich so versiert sein, Gedichte und Theaterstücke verfassen wie normale Leute einen Einkaufszettel und dann noch der Menschheit zu naturwissenschaftlichen Erkenntnissen verhelfen? Dieser Goethe war mir deshalb schon zur eigenen Schulzeit etwas suspekt gewesen.
Erik schien zwar weniger im naturwissenschaftlichen Gebiet fit zu sein, seine gesamte Klasse plus Lehrer hatte er aber ganz schön im Griff und fühlte sich – auch ohne mich als seine Klassenlehrerin – pudelwohl. Ich hatte den stillen, freundlichen Jungen in den letzten beiden Grundschulklassen unterrichtet. Obwohl wir uns hervorragend verstanden hatten, waren wir nun froh, dass sich unsere Wege nicht mehr kreuzten. Auf dem Sofa seines Vaters konnte man sich besser über das Hüttenbauen und den motorisierten Raupenbagger von Lego Technik unterhalten als zwischen Klassenzimmer und Pausenhof. Ich gab mir die größte Mühe, mich in Jungenthemen wie eben diese hineinzudenken, und es kam nicht selten vor, dass ich im Wohnzimmer über einer Bauanleitung brütete und schließlich auf dem Boden herumrobbte. Was blieb einem auch anderes übrig, als die kleinen Teilchen wieder zusammenzusuchen, wenn man sie mit einem »Maaaann! So ein Kack-Scheiß!« zuvor frustriert dahin befördert hatte. Aber dafür brauchte ich mein viel strapaziertes »Hmmmpf« nicht, ich hatte schließlich ein weitgefächertes Vokabular.
Im Grunde machte mir dieses kindliche Spielen und Basteln große Freude, und ich war glücklich, dass mich Erik an der Seite seines Vaters so gut zu akzeptieren schien. Natürlich konnte ich ihm die Mutter nicht ersetzen, das war mir schon klar. Die war mit ihrem Lover von einem Tag auf den anderen nach Guatemala abgehauen, um dort sich selbst und sämtliche Weisheiten des Lebens zu finden. Oder was auch immer. Ich hatte keine Ahnung. Ich wusste nur, dass Erik in der Zeit nach ihrem Verschwinden unter heftigen Asthmaanfällen litt, die den Jungen noch zusätzlich gebeutelt hatten. Aber sein Vater war einfach wunderbar. Mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen (von wegen, Männer wären prinzipiell nicht dazu in der Lage, nee, die waren nur manchmal einfach zu bequem) stand er an Eriks Seite und gab ihm den nötigen emotionalen Halt. Mein Jan war in jeder Hinsicht ein Traum! Nach mehreren Fehlschüssen auf die männliche Zielscheibe hatte ich doch tatsächlich mit ihm ins Schwarze getroffen. Wahrscheinlich waren meine Gewehre auf der Männerjagd wie auf dem Rummel falsch eingestellt gewesen. Mit denen war Treffen auch ein unmögliches Unterfangen. Wie auch immer, ich hatte es geschafft. Inzwischen waren wir seit gut einem Jahr unzertrennlich und genossen jede Minute, die wir zu zweit oder mit Erik als kleine Familie verbringen konnten.
Aber jetzt kam es wieder: das totgeglaubte Hmmmpf.
Vor einem halben Jahr hatte ich einen Versetzungsantrag gestellt. Mit meinem Fahrrad war ich so mobil und flexibel genug, um an einer Grundschule in jedem anderen Stadtteil anzuheuern. Zwar etwas seriöser formuliert, aber sinngemäß hatte ich den Antrag mit einer solchen Bitte um eine Versetzung innerhalb Freiburgs eingereicht.
Mein Arbeitsplatz war mit der Zeit immer mehr zu einem Kampfplatz geworden. Ein kalter Krieg zwischen dem chauvinistischsten aller Rektoren und einer Lehrerin, die nichts von schmierigen Fingern auf ihrem Oberschenkel hielt. Donald Duck. Daniel Düsentrieb. Rainer Rastler. Im Comic hätte ich ihn zu den Panzerknackern hinter Gittern gesteckt, aber im realen Leben war er wirklich eine Zumutung, der ich nur auf zwei Wegen entkommen konnte: Entweder ich versuchte mein Glück in einem anderen Stadtteil oder ich wurde besser heute als morgen schwanger. Mit dem Schwesterchen für Erik war das so eine Sache: Jan und ich waren uns schon mal über das Geschlecht einig. Ich wollte so gerne ein kleines Mädchen, dem ich süße Frisuren machen und Puppen kaufen konnte, er wollte seine Mini-Laura. Allein für diesen Wunsch hätte ich ihn knutschen können. Wann der große Wettlauf der potenziellen Anwärter auf meine Eizellen stattfinden sollte, war uns beiden nicht ganz klar. Jan wollte Kinder mit mir, aber nicht wieder heiraten. Ich kam aus einem konservativen Haus und wollte erst den Trauschein in der Tasche, bevor eine richtige Familie gegründet werden konnte. Ha! Da sieht man mal, wie hoch meine Frustrationstoleranz tatsächlich war! Diese beiden Vorstellungen waren nicht wirklich kompatibel, schmissen mich aber noch lange nicht aus der Bahn. Mit dreiunddreißig Jahren waren meine Eizellen durchaus etwas überreif, aber ich mochte Früchte auch leicht gegoren und übte mich in stoischer Gelassenheit. Ob als überreife Birne am Baum oder als Eizelle in meinem Inneren, das spielte auch schon keine Rolle mehr. Nein, das tatsächliche Unglück hatte in meinem Briefkasten gelauert. Wie Jans Hund Bootsmann vor dem Kaninchenbau. Mit zitternden Händen hatte ich den Brief vom Regierungspräsidium in die Hand genommen und die ersten Zeilen überflogen. »… wurde dem Versetzungsantrag stattgegeben.« Die Freude über diese Nachricht dauerte genau so lange, wie ich für das Lesen von zwei weiteren Sätzen brauchte. Also in etwa vier Sekunden. Man hatte mir eine Gemeinschaftsschule im Dschungel angedacht. Nee, nicht angedacht. Es war beglaubigt, besiegelt, beschlossene Sache. Hmmmpf. Sah ich aus wie ein C-, D-oder F-Promi, der es bitter nötig hatte, in der Wildnis Spinnen zu essen, um wieder ins Gespräch zu kommen? Gut, ich sollte mich weder ausziehen noch Schlangen über mich kriechen lassen. Aber unterrichten! Im Dschungel! Fernab jeglicher Zivilisation! Mein geliebtes Freiburg würde nur noch mit dem Bus erreichbar sein. Irgendetwas war da ganz gewaltig schiefgelaufen. Ich war zum Telefon gerannt und hatte nach fünf Ehrenrunden in der Warteschleife einen leicht genervten Herrn am Apparat gehabt. Sein einziger Kommentar dazu: »Sie können ja in ein paar Jahren erneut einen Versetzungsantrag stellen.« Danke auch.
Der Dschungel nannte sich Schwarzwald. Grundsätzlich ein traumhaftes Fleckchen Erde, dessen Qualitäten für Wintersportler und Wanderer nicht von der Hand zu weisen waren. »Der Südschwarzwald ist der zweitgrößte Naturpark Deutschlands und umfasst die drei höchsten Gipfel des Schwarzwaldes, den Feldberg (1493 m), das Herzogenhorn (1415 m) und den Belchen (1414 m).« Solche und ähnliche Informationen erhielt man von diversen Reiseführern, die Wanderfreunden den Mund wässrig machten. Hallo? Ich sollte da wooohnen! Was nutzten mir drei wunderschöne Berge, wenn in der einzigen Kneipe weit und breit der Ü-70-Männerstammtisch tagte und man nur auf die Tchibo-Ecke im Einkaufsmarkt hoffen konnte, um mal neue Socken zu ergattern oder den kaputten Möhrenschäler zu ersetzen. Ich bin und bleibe Städter. Da konnte der komplette Dschungel mit seinem traumhaften Panorama des Hochschwarzwaldes und der Alpen nichts daran ändern. Mein Bruder Peter seufzte in der Regel theatralisch, wenn er vor einer umwerfenden Kulisse stand, und hängte ein »welch wunderschönes Pornorama« an den Seufzer an. Für meinen bescheidenen Humor genau das Richtige, aber das hier war jetzt alles andere als witzig.
In den Filmen, die Sonntagabend im Zweiten Deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurden, lief das generell so ab: Der Städter, karrieregeiler Kinder- und Tierhasser noch dazu, ist böse. Alle Menschen auf dem Land lachen strahlend bei jedem eisverschmierten Kindergesicht, helfen herausgefallenen Vogelküken wieder ins Nest und sind so lieb, dass sie noch nicht einmal Groll hegen, wenn der gemeine Städter sie nach Strich und Faden hintergangen hat. So. Ich war Städter. Aber ich mochte Tiere, ich liebte Kinder, sogar die von anderen Leuten, und in der Natur fühlte ich mich durchaus wohl. Am Wochenende oder im Urlaub. Denn ICH. BIN. STÄDTER.
»… vergammle ich zwischen unförmigen Kuhfladen und miefigen Wanderschuhen. Suse, das ist der Oberkack des Jahrhunderts. So viel Kack können die gesamten Kühe da oben gar nicht auf die Straße flatschen, wie das hier stinkt. Bis zum Himmel! Suse, das ist ja, als würde man eine Badeente aus dem für sie angedachten Wasser rausnehmen und auf einen trockenen Baumstamm setzen!«
Ausnahmsweise lachte Suse mal gar nicht. Wir saßen in unserer Stammkneipe im Zentrum Freiburgs und hatten den Notstand ausgerufen. Das hieß im Klartext: Schnitzelessen und Biertrinken. Das taten wir natürlich auch sonst mit Leidenschaft, aber wenn eine von uns den Notstand ausgerufen hatte, dann musste man. Komme was wolle. Dann gab es kein Kalorienzählen und kein »Ich muss aber morgen früh aufstehen und einen klaren Kopf haben«.
Jan hatte dienstags seinen Skatabend, den er sofort absagen wollte, als er von der Misere erfuhr. Aber das kam für mich gar nicht in Frage. Sollte er mal schön bei der Kreuzdame bleiben und die Zeit mit seinen Freunden genießen. Das konnte so schnell vorbei sein. Wenn man sogar selbst darum bat, nach Hintertupfingen versetzt zu werden. Hmmmpf. Suse war seit Kindestagen eine verlässliche Anlaufstelle, wenn es um Liebeskummer, schwierige Eltern oder Kleiderfragen ging. Und bei beruflichem Desaster eben auch. Mit ernstem Blick, den ich durchaus angemessen fand für meine Hiobsbotschaft, saß sie mir gegenüber und malträtierte einen Bierdeckel, als wäre das Pappding höchstpersönlich schuld an allem.
»Und wenn du deine Wohnung behältst und zwischen Wohnsitz und Schule hin und her pendelst?«
Eine Schnitzel-Länge hatte sie mich jammern lassen und mit mir um die Wette auf deutsche Bürokratie im Allgemeinen und das Beamtentum im Besonderen geschimpft. Objektiv betrachtet war ich wohl die Einzige, auf die ich sauer sein musste. Aber ich stand zum Glück nicht auf meiner eigenen Abschussliste. Nun versuchte sie, das Problem konstruktiv anzugehen. Aber ich sah meine Freundin traurig an und schüttelte entschieden den Kopf.
»Das bringt doch nichts, Su. Dann ist Elternabend, Elternsprechtag, Schulfest, Schulentwicklungsaufgaben, die nur im Team besprochen werden können – da darf mein Bett doch nicht hundert enge Kurven von mir entfernt stehen. Und noch dazu müsste ich immer durch die ganze Stadt fahren. Ha! Fahren! Ich hab ja noch nicht einmal ein Auto!«
Resigniert zuckte ich mit den Schultern.
»Mein Hollandrad müsste aber einen ganz ordentlichen Motor eingebaut bekommen, damit ich da jeden Tag rauffahre. Oder ich dope mich. Das ist ja im Radsport nicht unüblich.«
Um diesen Plan sofort in die Tat umzusetzen, trank ich mein Bier in einem Zug leer und gab der Bedienung, die gerade mit vollem Tablett an uns vorbeigerauscht kam, ein Zeichen. Was hätte ich davon, wenn mir irgendetwas Muskelaufbauendes in die Venen gespritzt würde. Meine Leber hätte zwar mit Sicherheit auch in diesem Fall reichlich zu tun, aber wenigstens kam ich zuvor in den Genuss, ordentlich Hopfen getankt zu haben. Der war jetzt wahrscheinlich mit seiner beruhigenden Wirkung ohnehin besser als irgendein stimulierendes Zeugs.
»Und was ist, wenn ich da hochziehe und zum Einsiedler mutiere? Vielleicht wächst mir ein Bart? Oder ich fange an, so alemannisch zu schwätzen, dass ihr mich alle nicht mehr versteht?«
Na also. Jetzt lachte meine Freundin endlich ihr unverkennbares Suse-Lachen, das mich ein bisschen aus der Weltuntergangsstimmung herausholte. Wenn sie noch so lachen konnte, war nicht alles verloren im Leben.
»Ich stell mir gerade vor, wie du mit Vollbart aussiehst«, brachte Suse unter Glucksen hervor, schmiss ihre blonde Haarpracht nach hinten und schien großen Gefallen an dieser Vorstellung zu finden.
Eine tolle Freundin hatte ich da! Wütend funkelte ich sie an und griff nach dem Pappdeckel, der mich schier wahnsinnig machte. Mit Hopfen ruhiggestellte Personen konnten hyperaktive Bierdeckel vor ihren Augen prinzipiell nicht ertragen. Meine beste Freundin schien zu begreifen, dass zwar etwas Optimismus angebracht war, aber diese Zukunftsvision eher das Gegenteil bewirken musste.
Sie nahm über den Tisch meine Hände und sah mich eindringlich an. »Jetzt hör mal zu, meine Süße. Du bist nicht aus der Welt da oben.« Sie machte eine schöpferische Pause, um ihren Worten die nötige Bedeutung zu geben.
»Zum einen leben dort auch menschliche Wesen. Kein Yeti, keine Menschenaffen. Zum anderen bist du innerhalb einer guten Stunde, na ja, vielleicht eineinhalb, in der Stadt und hast dein gewohntes Umfeld und deine Freunde bei dir. Und ich komm dich mit meinem Auto so oft besuchen, wie es nur irgend geht. Du hast in deiner Ausbildung auch in einem absoluten Kaff gewohnt, und wir haben das hinbekommen.«
Was würde ich nur ohne beste Freundin tun. Manchmal ging sie mir zwar ganz schön auf den Wecker, besonders wenn sie mir die Wahrheit, die ich mit Sicherheit nicht immer hören wollte, schonungslos an den Kopf knallte. Die ersten grauen Haare, eine kleine Delle am Po – Suse machte mich darauf aufmerksam. Nicht schadenfroh oder gar gehässig, sie stellte es einfach nur fest. Was de facto für mich keinen Unterschied machte, die vereinzelten Silberfäden und die Delle hatte ich trotzdem. Suse war eben eine ehrliche Haut, die mich seit Kindestagen umhüllte wie das Raupennetz einen Kokon. So langsam wurde ich innerlich ruhiger. Mein Freund Florian, Suse und natürlich Jan würden mich nicht zwischen Lianen und Tannenzapfen verrotten lassen.
Als es mir einmal so richtig schlecht ging, weil mich mein damaliger Partner (bestimmt Städter, nicht kinderfreundlich, Tierfeind) nach Strich und Faden betrog, und ich es schließlich auch erfahren hatte, verpackte Flo meine Situation in ein Bild, das mich bis heute nicht losließ.
»Du bist der Schmetterling. Du bist frei, das zu tun, was dir im Sinn steht. Du kannst fliegen, dich vom Wind tragen lassen und die Welt erkunden. Irgendwann kommt die Zeit des Verpuppens. Dann wirst du wieder zur Raupe, sammelst neue Erkenntnisse, kriechst auf dem Boden des Lebens. Du spinnst dich ein, umhüllst dich mit deinem Kokon und machst eine Entwicklung durch, die dich Kraft und große Anstrengung kostet. Mit neuen Erkenntnissen wirst du dich von deiner Hülle befreien und das Fliegen neu erlernen.«
Keine Ahnung, ob diese weisen Überlegungen von ihm selbst stammten oder mal wieder irgendein Hesse, Goethe oder weiß nicht wer seine Finger mit im Spiel hatte. Ich sah nicht ganz ein, warum sich ein Schmetterling wieder verpuppen musste. Wenn er einmal flog, dann flog er doch, bis ihn ein Vogel schnappte und alles vorbei war. Aber was mein bester Freund mir damals sagen wollte, kam an und half mir auch in dieser Situation ungemein. Das Leben bestand nicht nur aus Fliegen. Ich musste auch die Phasen im Raupenstatus akzeptieren und weiterhin viel für meine Entwicklung tun, sodass ich irgendwann wieder über die Wiesen fliegen konnte. Oder über den Schwarzwald. Hmmmpf.
Jan hatte mir heimlich eine kleine Schultüte auf die letzte Treppenstufe gelegt, bevor er gefahren war. Schulanfänger scharten am ersten Tag ihrer beruflichen Laufbahn das gesamtes Gefolge um sich: Oma, Opa, Paten, Eltern, Geschwister. Ich hatte einen kleinen Zettel, auf dem aufmunternde Worte standen, und ein paar Pralinen von meinem Lieblingsbäcker in der Stadt. Erik und sein Vater mussten Montagmorgen schon früh außer Haus und waren so bereits am Abend zurück nach Freiburg gefahren. Wie gerne hätte ich mich auf einen der freien Sitze im Auto platziert, um Wald und Einsamkeit den Rücken zu kehren.
Als ich den Brief wieder sorgsam faltete und zurück in die Schultüte schob, musste ich wehmütig an die vergangenen Wochen denken. Jan hatte sich Urlaub genommen und akribisch alle Wohnungsannoncen im Internet und hunderte von Anzeigen diverser Tageszeitungen durchgeackert, bis das Richtige für mich dabei gewesen war. Eine Lehrerin bekam natürlich den Zuschlag. Und ich dachte schon, meine Eltern seien konservativ. Der neue Vermieter, Ortsvorsteher im Ruhestand, hatte sich außerordentlich über mich und mein geregeltes Einkommen gefreut und keinen Hehl daraus gemacht, dass ich die erste und einzige Interessentin für die Wohnung war. Wahrscheinlich zogen alle spätestens im heiratsfähigen Alter von hier fort. In die Stadt. Hmmmpf.
Jan hatte einen kleinen Transporter gemietet und meine Habseligkeiten vierhundert Höhenmeter nach oben befördert. Da ich nach wie vor sehr sparsam gelebt und zudem mein Geld lieber für das Mittagsgericht in Gaststätten als für Pfannen und Töpfe ausgegeben hatte, reichte ein Tag, um den Umzug über die Bühne zu bekommen. Nun lebte ich in einem Haus, das mindestens zweihundert Jahre auf dem Buckel hatte. Besser gesagt auf dem Walmdach, das an den Seiten tief hinabgezogen war und dadurch verhinderte, dass zu viel Wärme durch die kleinen Fenster abgehen konnte.
»Sell isch ä ächt Chrübbelwalmdach«, hatte der Vermieter mit stolzgeschwellter Brust betont und sich große Mühe gegeben, das Wort »Krüppelwalmdach« deutlich auszusprechen, damit ich es als nun Zugezogene bloß verstand. Ich hatte anerkennend genickt, obwohl es mir ehrlich gesagt lieber gewesen wäre, wenn das Dach ein wenig weniger krüppelig heruntergehangen hätte. Dann hätten die Sonnenstrahlen wenigstens ab und an mal ihren Weg in die Stube finden können. Ansonsten war das Haus tatsächlich traumhaft, ein echtes Relikt aus längst vergangenen Zeiten. Links war mein Eingang, auf der rechten Seite wohnte der Vermieter mit seiner Frau, die ihre Wäsche unter das krüppelige Dach zum Trocknen aufgehängt hatte. An der Außenmauer des alten Hofes waren die Holzscheite gestapelt. Ob Jan so viel Holz vor der Hütte mochte? Ich hatte jetzt reichlich davon und würde es auch gut brauchen können, wenn einmal der Winter eingezogen war, so mein Vermieter. Der Winter konnte hier oben recht frostig werden, gleichzeitig gut und gerne sechs Monate lang dauern. Eigentlich ideal für jemanden wie mich. Ha, von wegen! Ich besaß zwar einen Führerschein, aber kein Auto und hatte die letzten Jahre alle Wege mit meinem geliebten Rad zurückgelegt. Ob der ADAC auch Training für Zweiradfahrer auf vereister Fahrbahn anbot? »Erfahren Sie Fahrphysik auf eine andere Art und nutzen Sie die Chance, das Verhalten und die Grenzen Ihres Fahrrads risikolos auszutesten!« Das konnte ja was geben!
Nach dem Aufschließen der Haustür musste ich mich ordentlich ducken, wenn ich den etwas muffigen Flur und im Anschluss daran die kleine Stube betrat. Fichtenholz am Boden, Fichtenholz an den Wänden, die Zimmerdecke aus Fichtenholz. Über den Baumbestand im Schwarzwald musste ich nicht wirklich rätseln, es wuchsen neben ein paar Buchen und Eichen wahrscheinlich hauptsächlich Fichten in dieser Region. Mensch, Laura, dein detektivischer Scharfsinn war phänomenal!
Mein im barocken Stil gehaltenes Sofa samt Couchtisch und die vielen kleinen Accessoires im Retro-Design waren hier völlig fehl am Platz. Sie waren mein ganzer Stolz und hatten ganz hervorragend in meiner Freiburger Wohnung ausgesehen. Aber hier? Zwischen karierten Gardinen und Kachelofen? Was hatte ich denn erwartet? Die Miete war fast lächerlich gering. Ich hatte ein kleines Zimmerchen für Erik, wenn er zu Besuch kam, ein etwas größeres Arbeitszimmer, Vorratsraum, Küche und die recht urige Wohnstube. »Mir hänn sit drei Johr a Schüssle uffem Dach un chönne drissig Kanäl ischalde, do isch für jeden ebbis debie.« Der Herr des Hauses wusste, was Frau von Welt benötigte. »He nai, so neumodisch Glumpp hämmer id«, kam die Antwort auf meine Frage nach einem Internetzugang im Haus. Frau von Welt hatte aber auch Ansprüche! Hmmmpf.
Tja, und nun war ich auf dem Weg zur Schule und hatte so feuchte Hände wie ein Teenie beim ersten Date. Das Kollegium konnte ich schon bei der Konferenz zum Schuljahresbeginn vergangenen Freitag kennenlernen. Elf Personen an der Zahl, die einen ganz netten Eindruck machten. Der Neuzugang wurde nicht wirklich begeistert begrüßt, aber ein höfliches »Hallo« wurde gewechselt, als ich im Lehrerzimmer am u-förmigen Tisch Platz nahm. Vielleicht entstand bei dem ein oder anderen Kollegen Sorge, ich könnte zu viel neuen Wind in den Schulalltag bringen, der die gewohnten, etwas eingerosteten Rituale aufwirbeln würde. Aber ich wollte doch nicht ihre Schule reformieren, sondern mich nur vor dem Rastler in Sicherheit bringen. Mir war die siebte Klasse zugeteilt worden.
»Aber mein Schwerpunkt liegt doch eher im Grundschulbereich«, hatte ich schüchtern protestiert.
»Die sind auch nur drei Jahre älter«, war mein Einwand im Keim erstickt worden und damit das Thema vom Tisch. Siebte Klasse. Da lief die Produktion der männlichen und weiblichen Botenstoffe sicher schon auf Hochtouren. Ganz wohl war mir nicht bei der Vorstellung, mit dreiundzwanzig hormongebeutelten Kindern in einen Raum gesteckt zu werden.
Etwa zwei Kilometer war mein neuer Arbeitsplatz vom alten Schwarzwaldhof entfernt. Ein hinreißender Pfad führte an einem kleinen Fluss entlang, durch eine idyllische Wiese, vorbei an einer Kuhweide und dem Staubecken bis hin zum Schulgebäude. Diese Strecke konnte ich wirklich problemlos zu Fuß zurücklegen. Vielleicht kam ich tatsächlich um den Kauf eines Autos herum. Und ich war letztlich sogar froh darüber, nach getaner Arbeit etwas Bewegung zu haben und frische Luft zu tanken, von der es hier mehr als genug gab. Nun eben nicht wie sonst mit dem Rad, sondern per pedes. Fast wäre ich auf eine große Raupe getreten, die auf der Suche nach einem Überwinterungsquartier über den Weg kroch. Schnell machte ich einen größeren Schritt, um das haarige Tier nicht zu zerquetschen. Wenn mein Vermieter nicht übertrieben hatte, wäre es gar nicht so dumm von der Raupe gewesen, bei der Suche die vielen Beine in die Hand zu nehmen und sich etwas zu beeilen. Ich ließ meine beiden Beine auch etwas zügiger laufen und kam als eine der Ersten an der Schule an. Hausmeister Karl-Heinz Spiegelhalder stand auf der Leiter am Eingang und befestigte ein Willkommensschild für die Schulkinder. Er beugte sich nach unten und gab mir die Hand, um mich angemessen zu begrüßen. Dabei musste er sich so verrenken, dass ich mich insgeheim schon fragte, wie lange ein Krankenwagen bis in diesen abgelegenen Winkel brauchen würde, wenn Herr Spiegelhalder von der Leiter fiel.
»I bin dä Kalle, wenn Sie ebbis bruuche, bin i gärn für Sie do«, schaffte er sogar noch von der neunten Sprosse durch seine Armbeuge zu versprechen. Er war mir mit seinem Erdinger-Weißbier-Polohemd sofort sympathisch. Dankbar für die lieben Worte lächelte ich ihm zu und versprach, bei Bedarf auf ihn zurückzukommen.
Meine Klasse war mit all ihren gefürchteten Hormonen ganz brauchbar. Von Minute zu Minute lösten sich meine kleinen und größeren Horrorvorstellungen in Luft auf und wichen einer unerwarteten Vorfreude auf die Arbeit mit den Heranwachsenden.
Glücklich schloss ich am Ende des ersten Schultages meine Klassentür und kramte gerade den Schlüsselbund aus meiner Tasche, als ich Schritte hinter mir hörte. Ich drehte mich um und sah den Kollegen auf mich zukommen, der die achte Klasse unterrichtete und sich mit »Rudi« vorgestellt hatte.
»Na, wie war der erste Tag bei uns?«, fragte er und grinste, als würde er meine Kapitulation schon nach den ersten Unterrichtsstunden erwarten. Er war Ende vierzig, schlank und hätte eigentlich ganz gut aussehen können, wenn sich in seinem Gesicht nicht Unzufriedenheit und Ärger eingegraben hätten wie einst Ceauşescu in seinen Tunnel. Das verlieh dem Kollegen einen verhärmten, fast verbitterten Ausdruck. Vielleicht war seine Frau ein Besen, der ihn jeden Tag gnadenlos durch das Haus kehrte? Oder sah man einfach so vergrämt aus, wenn man sein ganzes Leben hier oben in der Wildnis verbracht hatte? Es schauderte mich. Nein, der Hausmeister kam auch von hier und hatte einen so fröhlichen und lebensbejahenden Eindruck gemacht. Schnell schüttelte ich diesen beängstigenden Gedanken ab und versuchte, zuversichtlich zu erscheinen. Ha! Ich, Laura Bernfeld, war schon mit ganz anderen Kalibern zurechtgekommen.
»Nein, die Jungs und Mädels in meiner Klasse sind auf den ersten Blick ganz okay.«
»Hast du dich denn schon eingelebt? Wo wohnst du eigentlich jetzt?«
Als ich den Nachbarort genannt hatte, legte sich Rudis Stirn in noch tiefere Falten.
»Unterdorf oder Oberdorf?«
Hä? Nicht nur die Optik schien bei manchen Leuten hier oben etwas zu leiden. Auch Rudis Geist schien leicht verwirrt, um es mal gelinde auszudrücken. Der Ortsteil von Todtnau, in den ich gezogen war, hieß Geschwend und bestand aus einer einzigen langgezogenen Straße. Wo sollte da bitte ein Ober- und wo ein Unterdorf sein?
»Du weißt nichts davon?«, insistierte Rudi und sah mich kritisch dabei an.
Vielleicht auch nicht wirklich kritisch, sondern ganz neutral. Bei diesem Gesicht war ich mir wirklich nicht sicher. Unwissend hob ich die Schultern.
»Da wäre ich nicht hingezogen. Da herrscht Krieg. Echter, unbarmherziger Krieg.« Bei diesen Worten zog er ein Gesicht, das den Schmerz des gesamten Schwarzwaldes, ach was, der ganzen Welt in sich trug.
»Wie jetzt?«, fragte ich leicht irritiert. Mir war schon klar, dass dieser Zweiwortsatz nicht von übermäßiger Klugheit zeugte. Aber ich wurde langsam etwas ungeduldig. Der Tag war anstrengend gewesen, und die Anspannung des Neustarts saß mir noch gehörig in den Knochen. Ich wollte jetzt nach Hause, wenn man das alte Schwarzwaldhaus schon so bezeichnen konnte, oder zumindest an einen Ort mit Telefon und Kühlschrank, um Jan mit einem erfrischenden Getränk in der Hand von meinen ersten Eindrücken zu berichten. Leicht genervt schloss ich das Klassenzimmer ab und machte mich daran, an Rudi vorbei das Schulgebäude zu verlassen.
»Du wirst schon noch sehen. Du wohnst gefährlich«, rief mir das Orakel noch hinterher.
Müde hob ich eine Hand zum Gruß und bog nach der Schule links ab, um den schmalen Pfad entlang des Flusses zurück zu meiner Wohnung zu gehen. Ganz ähnlich hatte meine Wegstrecke zur Arbeit in Freiburg ausgesehen, nur eben städtischer: Der Weg war breiter, bevölkerter, teilweise sogar geteert und führte an einem Fluss entlang, dessen Wassermengen nicht mit dem Bach hier verglichen werden konnten. Trotzdem tat das vertraute Geräusch des gluckernden, dahinplätschernden Wassers unbeschreiblich gut. Die mysteriösen Worte meines Kollegen flossen mit dem Bach davon, hinab in das mir noch unbekannte Wiesental.
Eine häufig angebrachte Weisheit meiner Mutter, die sie irgendeinem klugen Chinesen geklaut hatte, hieß: »Auch eine Reise von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt.« Mama konnte diesen Satz sogar mit wichtiger Miene und erhobenem Zeigefinger zitieren, wenn Papa die erste Bahn mit dem Rasenmäher gezogen hatte oder eine Kirsche geerntet im Korb lag. Profane Kleinigkeiten mit Sinnweisheiten kommentieren, darin war sie einfach die Größte. In meinem Fall war der erste Schritt nun gemacht, und eigentlich hatte meine Reise durch die Wildnis ganz vielversprechend begonnen. Trotzdem überkam mich das heulende Elend, als ich am Abend Jans Stimme am anderen Ende der Leitung hörte. Ich wünschte mich so sehr in seine starken Arme und zurück in den Kokon, der mich umhüllt hatte. Nun kroch ich am Boden herum, aber im Gegensatz zur Raupe hatte ich nur zwei Beine und kam mir dabei ziemlich benachteiligt vor.