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Ein Schneesturm fegt über die französischen Alpen, als zwei Zollbeamte auf ihrer Patrouille eine hochschwangere Frau finden, völlig entkräftet. Sie bringt das Kind zur Welt und stirbt. Der alte César nimmt den Waisenjungen bei sich auf, nennt ihn Sébastien und zieht ihn gemeinsam mit seinen Enkelkindern Angelina und Jean groß. Als Sébastien sechs Jahre alt ist, begegnet er auf einem seiner Streifzüge durch die Berge einem großen weißen Hund. Die menschenscheue, wunderschöne Pyrenäenberghündin wurde vernachlässigt, von einem Besitzer an den nächsten weitergereicht und ist schließlich aus ihrem Zwinger ausgebrochen. Sébastien gibt ihr den Namen Belle und ist fest entschlossen, die Hündin vor den Dorfbewohnern zu beschützen, denn die sind der Überzeugung, dass Belle gefährlich ist. Das Ringen eines kleinen Jungen mit einer ganzen Dorfgemeinschaft beginnt - und das Abenteuer zweier unzertrennlicher Freunde.
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Seitenzahl: 192
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Cécile Aubry
Belle und Sébastien
Roman
Aus dem Französischen von Heidemarie Blasy
atlantis
Meinem Sohn gewidmet
Niemand hatte die Frau beachtet, die durch Saint-Martin hastete. Wer hätte denn auch ahnen können, dass sie hinauf zum Pass wollte? Sie war gekleidet wie eine Gitana. Ihre Halbschuhe waren durchlöchert. Der lange Schal, der ihr vom Kopf bis zur Hüfte reichte, war ihr einziger Schutz vor der eisigen Kälte. Seit dem frühen Morgen regnete es ununterbrochen. Wer draußen noch etwas zu tun hatte, lief mit gesenktem Kopf durch die Straßen des Dorfes, um schnell wieder ins Trockene zu gelangen. Bei einem so furchtbaren Januarwetter gab es hier nichts zu sehen, niemand hob den Blick.
Gegen Mittag drehte sich der Wind und brachte Schnee mit sich. Am Ortsausgang nahm die Frau die Abkürzung, die zur Schutzhütte des Berges Baou und zur Grenze führt. Auf dem üblichen Weg wäre sie am Steinhaus des alten César vorbeigekommen, und dort hätte Angelina sie bestimmt bemerkt. Der Anblick der so notdürftig gekleideten Frau, die ganz allein zum Baou hinaufstieg, hätte Angelina sicher tief bewegt. Sie hätte die Frau aufgefordert, sich bei ihr in der Stube am Feuer aufzuwärmen und auf besseres Wetter zu warten. Ja, Angelina hätte sie gerne aufgenommen, sie und das Kind, das sie sehr bald zur Welt bringen würde. Doch die Frau eilte die Abkürzung hinauf. Schon bald erfasste sie der Schnee. Der weiße, lautlose Feind umschloss sie ganz in seiner unerbittlichen Sanftheit.
Mühsam schleppte sie sich weiter. Der Sturm brachte sie ins Taumeln. Bei jedem Schritt sank sie bis zu den Knien ein. Langsam ließen ihre Kräfte nach. Wieder und wieder raffte sie sich auf und wollte weiter. Wohin? Das sollte niemand je erfahren. In der Nähe der steinernen Schutzhütte am Fuße des Baou sank sie ein letztes Mal ein. Sie war nur noch ein kleiner schwarzer Fleck in dieser unendlichen weißen Landschaft.
Johannot und Berg, die beiden Zöllner, kehrten gerade von ihrem Kontrollgang zurück. Schon seit Jahren hatten sie gemeinsam Dienst, und so waren aus ihnen gute, aber immer noch sehr verschiedene Freunde geworden. Berg war klein und dünn und hatte ein schmales Gesicht, aus dem zwei wasserblaue Augen schauten. Seine Bissigkeit ärgerte den großen und ruhigen Johannot schon lange nicht mehr. Johannot war der Ältere von den beiden.
»Eine Frechheit, dass sie uns bei diesem Wetter auf Patrouille schicken! Man sieht ja keine zehn Meter weit!«, murrte Berg.
Johannot zuckte schicksalsergeben mit den Schultern. »Dienst ist Dienst«, meinte er nur.
Er sprach wenig, und wenn, dann nur in kurzen, eindeutigen Sätzen. Mit dem Kopf deutete er auf einen grauen Schatten, der durch das dichte Schneegestöber auf sie zuschritt. »Sieht aus wie César, da drüben!«
Jetzt wurde der Schatten deutlicher.
»He, César!«, rief Johannot. Obwohl es auf der Hand lag, fügte er hinzu: »Was für ein Sauwetter!«
César blieb neben den beiden stehen. Er mochte Johannot gern. Nur selten konnte er jemanden gut leiden. »Das beste Wetter für die Fuchsjagd«, erklärte er.
Seine grauen Barthaare verrieten, dass er ein alter Mann war, aber er war so zäh, dass er jünger wirkte. Auch sein nachdenklicher und kühner Blick gab sein richtiges Alter nicht preis. Man hätte ihn auf Ende vierzig geschätzt, in Wirklichkeit war er aber schon über sechzig.
»Immer noch auf der Jagd?«, fragte Berg und deutete auf das Gewehr des alten Mannes.
»Nein, nein! Heute gehe ich nur spazieren!«, antwortete César.
Voller Abscheu blickte Berg über die endlos scheinende Schneedecke und durch die weißen Flocken, die sich vor dem dunkelgrauen Himmel deutlich abzeichneten. »Jeder, wie er will«, sagte er. Es klang aber eher wie: »Verrückter Alter, scher dich zum Teufel mit deiner unbeirrbaren Liebe zu den Bergen!« Bevor er sich zum Gehen wandte, fügte er noch hinzu: »Los, wir wollen zum Grenzposten zurück!«
César tippte mit einem Finger an seine Pelzmütze. »Macht’s gut.«
Johannot erwiderte seinen Gruß. »Danke. Grüß Angelina und Jean.«
Dann stapfte er mühselig hinter Berg zur Schutzhütte des Baou hinauf. Der Weg zum Grenzposten führte sie an der Hütte vorbei. César hingegen stieg hinab Richtung Tal.
Sie näherten sich der Hütte. Johannot entdeckte den schwarzen Fleck als Erster. »Berg, schau mal, was ist denn das da drüben?«
Berg hielt den Kopf gesenkt. Er versuchte, das Gesicht so gut es ging vor der schneidenden Kälte zu schützen. In Gedanken saß er schon am glühenden Ofen im Grenzhäuschen. »Was?«, fragte er.
Johannot hatte die ausgetretene Spur bereits verlassen und hastete auf den schwarzen Fleck zu. Unter dem Schnee war er kaum noch zu erkennen.
»Sieht fast aus wie ein Mensch«, brummte er. Er bemühte sich, schneller durch den weichen Schnee zu laufen.
Berg stapfte ihm langsam hinterher. Johannot kniete sich hin und brachte unter dem Schnee ein Gesicht zum Vorschein. Dann drehte sich Johannot um und rief den Hügel hinab: »César, he! César!«
Jetzt versuchte auch Berg zu rennen.
Als César Johannot hörte, kehrte er um. Er konnte zwar die Stimmen der beiden Männer nicht mehr genau unterscheiden, doch ihre Rufe klangen so ängstlich, dass er sofort zurücklief. Bald schon konnte er zwei graue Umrisse erkennen. Vor dem endlosen weißen Hintergrund beugten sie sich über eine dunkle Form. Er beschleunigte seinen Schritt. Dann sah er, dass es eine Frau war, deren Kopf Johannot stützte. Er versuchte, ihr einige Tropfen aus seiner Feldflasche einzuflößen. Die Unglückliche öffnete die Augen. César kniete sich neben sie.
»Wir müssen sie ins Dorf bringen«, sagte Johannot. »Du hilfst uns doch, nicht wahr, César?«
»Wie konnte sie nur bei diesem Wetter und in so einem Zustand hier heraufsteigen?«, murmelte Berg.
Johannot zuckte mit den Schultern. Im Augenblick wusste er nur eins: Die Frau musste so schnell wie möglich ins Dorf zu Doktor Guillaume gebracht werden. Doch bei diesem Sturm und in ihrer Verfassung war das leichter gesagt als getan.
»Beeilen wir uns! Schnell!«
»Sieht aus wie eine Gitana«, meinte Berg. »Wenn ich mich richtig erinnere, haben letzten Monat Gitanos ihr Lager im Tal aufgeschlagen.«
Die Frau stöhnte leise. Johannot legte ihr eine Hand auf die Stirn und redete verzweifelt auf sie ein: »Nur ruhig, meine Liebe. Keine Angst, wir sind ja bei dir.«
Er richtete sich auf und befahl: »Berg, du nimmst ihre Beine, und César und ich fassen sie unter den Armen. Wir müssen sie so schnell wie möglich ins Tal bringen. Und zwar vorsichtig!«
Doch César schüttelte den Kopf. »Dazu ist es zu spät. Wenn ein Mutterschaf erst einmal so dreinschaut wie diese Frau, dann weicht der Schäfer nicht mehr von seiner Seite.«
Mit dem Kopf deutete er auf die Schutzhütte: »Bringen wir sie besser dorthin. Bis ins Dorf ist es zu weit.«
Sie taten, was César gesagt hatte. Berg nahm die Beine, César und Johannot fassten sie unter den Armen. Sie kamen nur schwer voran, und die bewusstlose Frau wimmerte bei jedem Schritt. Ihr Schal war heruntergerutscht. Ihre langen braunen Haare hinterließen eine feine Spur im Schnee. In der Schutzhütte legten die Männer sie behutsam auf den fest gestampften Boden. Hier war sie wenigstens vor den Windstößen geschützt. Jetzt erst sahen sie, wie jung die Frau war. Mitleid versetzte den drei Männern einen Stich ins Herz.
César zog seine Jacke aus Schafsfell aus und schob sie vorsichtig unter den Körper der Frau.
»Bleib bei ihr, César!«, bat Johannot. »Berg und ich laufen ins Dorf und holen den Doktor.«
Als das Schneegestöber ihre Umrisse schon verwischt hatte, rief César ihnen noch nach: »Bringt meine Enkelin Angelina mit! Sie ist zwar noch jung, aber wahrscheinlich kann sie dem Doktor besser helfen als wir. Und denkt an alles für die Mutter … und für das Kind!«
Die letzten Worte hatte er etwas leiser und bedeutungsschwerer hinzugefügt. Es war, als hätte er schon jetzt voll und ganz die Verantwortung für Sébastien übernommen, auch wenn der noch nicht einmal auf der Welt war. Und das tat César nicht aus einer Laune heraus, sondern weil er ein menschliches Gewissen hatte. Nachdenklich schaute er Berg und Johannot hinterher, bis er sie nicht mehr sah. Dann ging er zurück in die Hütte. Es schneite nur noch wenig, aber der Sturm blies umso erbarmungsloser. Rund um die Hütte tobte der Kampf zwischen den Bergen und den Elementen. Seit den Anfängen der Welt war es der ewig gleiche Kampf: Mit schrecklichem Gebrüll schlug der Wind gegen die Felsmassen.
In der Hütte spielte sich ein anderer Kampf ab. César musste tatenlos zusehen. Während der Tod bereits die Hand nach der Frau ausstreckte, gebar sie ein neues Leben. Wieder einmal geschah das größte aller Wunder auf unserer Welt: Ein kleines Kind schickte seinen ersten, verzweifelten Schrei zum Himmel.
Der alte Mann machte nun dieselben Bewegungen, mit denen er auch schon so vielen Mutterschafen bei der Geburt ihrer Lämmer geholfen hatte. Dann nahm er die Jacke und wickelte das Neugeborene in das mollige Schafsfell. Die Mutter brauchte es nicht mehr …
Als die anderen aus dem Tal zurückkehrten, sahen sie César mit einem Bündel im Arm auf der Schwelle der Hütte stehen. Der Wind hatte sich gelegt. Die tiefe Stille, die jeder Schneefall mit sich bringt, erstreckte sich über die Berge. Stimmen und Geräusche drangen durch die Luft. Deutlich vernahmen sie alle den zornigen Schrei des Neugeborenen. Angelina war mit ihren vierzehn Jahren sehr leicht und erreichte die Hütte deshalb als Erste. Der junge Arzt folgte ihr auf dem Fuße.
»Du kommst zu spät, Guillaume«, sagte César. »Es ist nichts mehr zu machen.«
»Wir sind gekommen, so schnell wir konnten, César.«
Als Nächstes kam Johannot bei der Hütte an, gefolgt von Berg und dem kleinen Jean. Jean war erst zehn Jahre alt und sah in der ganzen Sache vor allem die Gelegenheit für einen Ausflug in die Berge. Sie alle blickten den Doktor gespannt an, als er wieder aus der Hütte trat. Ernst und Mitleid zeichneten sich auf seinem jungen Gesicht ab.
»Es ist vorbei«, sagte er leise, »das Kind ist ganz allein auf der Welt.«
Angelina sah ihren Großvater an. In ihren jungen Mädchenaugen lag die Bitte einer erwachsenen Frau. Der Großvater gab ihr das Bündel mit den Worten: »Er ist der Sohn der Berge. Ich bin mir sicher, dass du und dein Bruder Jean ihn lieben werdet.«
Das Neugeborene war in dem warmen Schafsfell eingeschlafen. Angelina wickelte es noch in ihren Schal. Rasch wandte sie sich zum Abstieg …
Die eisigen weißen Berggipfel schickten ihre drohenden Schatten bis zu ihr und dem Kind. Kaltes Entsetzen stieg in ihr auf. Angelina hatte nur noch einen Gedanken: fort von hier! Sie wollte nach Hause zu ihrem warmen Ofen. Vor ihrem Aufbruch hatte sie ihn rasch noch einmal geschürt. Sie wollte dem kleinen, zarten Leben, das auf so wunderbare Weise gerettet worden war, sein Zuhause zeigen!
»Geh mit ihnen, Guillaume«, sagte César kurz. »Hier gibt es für dich nichts mehr zu tun.«
»Wir werden für die Mutter alles Notwendige tun, Doktor«, beteuerte Johannot. »Und ein so kleines Wesen, das ist ja so empfindlich. Ein Glück, dass das Kind noch lebt!«
Jean war schon vorangelaufen, blieb aber plötzlich stehen: »Und wie heißt er? Er hat ja noch gar keinen Namen!«
César, der gerade wieder in die Hütte gehen wollte, blieb stehen und sagte: »Heute haben wir den Tag des Heiligen Sébastien.«
Angelina schaute hinauf zum Doktor. »Sébastien?«, fragte sie.
Lächelnd blickte er sie an. Angelina drückte das kleine, unförmige Bündel sanft an sich.
»Komm mit in unser Haus, Sébastien, wir werden dich alle sehr lieb haben. Und wie lieb wir dich alle haben werden!«
Unten im Dorf bereiteten die Einwohner das Abendessen vor. Aus allen Kaminen stiegen dünne Rauchsäulen in die eisige Luft. Angelina, Guillaume und Jean liefen rasch auf diesen bläulichen Dunst zu. Und auf einmal schien es, als wäre die ganze Welt wieder jung und schön.
An jenem 20. Januar, dem Tag des Heiligen Sébastien, während in den winterlichen Gebirgsstürmen ein Kind das Licht der Welt erblickte, wurde am anderen Ende der Gebirgskette, viel weiter unten im Tal, Belle geboren.
Es war auf dem Hof des Bauern Pasco. Bernadette, die ältere der beiden kleinen Töchter, kritzelte gerade mit Inbrunst das Datum in ihr Schulheft, als ihre Schwester Christine wie ein Wirbelwind ins Zimmer gerannt kam.
»Komm schnell mit! Die Hundewelpen sind da! Lass deine Hausaufgaben liegen und komm mit!«
Mehr musste Christine nicht sagen. Bernadette war bereits aufgesprungen, riss noch rasch ihren Schal vom Kleiderhaken und lief dann, so schnell ihre Füße sie trugen, hinter ihrer Schwester her in den Stall, wo die große Hündin ihre Jungen zur Welt gebracht hatte.
Die Hundemutter war ein riesiges, majestätisch schönes Tier, mit dichtem, seidigem Fell, von dem sich nur drei schwarze Punkte abhoben: ihre Nase und ihre beiden Augen. Und diese Augen glänzten wie goldene Edelsteine, die die Natur noch mit je einem langen dunklen Strich verziert hatte.
Bernadette und Christine stießen die Stalltür auf. Die große Hündin hob den Kopf. Als sie ihre Besucherinnen erkannte, beugte sie sich wieder über die winzigen, krabbelnden Wesen, die sie voll Hingabe ableckte.
»Oh«, entfuhr es Bernadette enttäuscht, »die werden nie so schön wie ihre Mutter! Die sind ja richtig hässlich!«
»Das stimmt doch nicht«, erklärte Christine, »du weißt ja nicht, was du da redest, sie sind wunderschön!«
In diesem Augenblick betrat auch ihr Vater den Stall.
»Papa«, klagte Christine, »Bernadette findet die Hündchen hässlich!«
»Da hat sie nicht ganz unrecht«, bestätigte der Vater. »Noch sind sie hässlich, aber ihr werdet schon sehen, in ein paar Tagen haben sie das gleiche strahlend weiße Fell wie ihre Mutter.«
Da waren die beiden Schwestern beruhigt, und alle drei verließen den Stall, damit die Hündin und ihre Kleinen Ruhe hatten. Bernadette setzte sich wieder an ihre Hausaufgaben, und Christine ging spielen.
Am nächsten Tag kam Gédéon vorbei, der Hausierer. Er besuchte den Hof zweimal im Jahr. Pasco sah ihn schon von Weitem, wie er mühsam seinen altmodischen, stotternden Wagen den steinigen Weg hinaufquälte.
»Hallo Gédéon!«, rief ihm Pasco entgegen. »Du wolltest doch immer einen Hund haben, der dich überallhin begleitet. Meine Hündin hat gestern geworfen!«
Als Gédéon seine quietschende Rumpelkiste im Hof zum Stillstand gebracht hatte, fragte er: »Darf ich die Hunde mal sehen?«
Im Stall betrachtete er die drei Welpen, hob einen hoch, wog ihn in der Hand, musterte die schwarz-rosa Schnauze, die Öhrchen und die dicken, tollpatschigen Pfoten. Die besorgte Hundemutter ließ die Kleinen keine Sekunde lang aus den Augen.
»Nur ruhig, mein Mädchen, keine Angst«, murmelte Gédéon, während er ihr den Welpen wieder zwischen die Pfoten legte. Er richtete sich wieder auf und wandte sich an Pasco.
»Wirklich bildschöne Tiere!« Und er wies auf das Hündchen, das er soeben gemustert hatte, und sagte: »Aber die da ist die Allerschönste. Darf ich sie haben, Pasco?«
Als er das Zögern des Bauern bemerkte, fügte er rasch hinzu: »Natürlich kannst du dir dafür ein paar Uhren für dich und deine Töchter aussuchen … Und einen Seidenschal für deine Frau lege ich natürlich noch obendrauf!«
Noch bevor er den Satz beendet hatte, ging er schon zu seinem Wagen. Er kam mit einer großen Kiste zurück. Nach kurzem Suchen fischte er einen ganzen Haufen Taschenuhren und eine Handvoll knallbunter Tücher heraus.
»Pack das wieder ein«, sagte Pasco, »und in drei Monaten, wenn du wiederkommst und deine Hündin abholst, dann zahlst du uns deinen Preis.«
Und so wurde Belle für drei Uhren und einen Seidenschal verkauft! Es war das erste Mal in ihrem Leben, und auch nicht das letzte Mal. Denn nicht nur die Schicksale der Menschen sind verschieden, sondern auch die der Hunde.
Belle war wirklich glücklich beim Hausierer. Darauf war er stolz. Und auch wenn sie noch sehr jung war, konnte man doch schon ahnen, dass sie eines Tages so groß und stark werden würde wie ihre Mutter. Wer es gut mit ihr meinte, zu dem war sie lieb und sanft, doch wehe dem, der ihr etwas Böses wollte. Alle Menschen liebten und bewunderten sie oder hatten Angst vor ihr. Die majestätische Haltung ihres Kopfes, wenn sie sich mit langsamen, sicheren Bewegungen umwandte, war atemberaubend. Aus ihr sprach schon jetzt die selbstsichere, starke und stolze Schönheit eines wilden Raubtiers, die sie auch später auszeichnen sollte.
Ein Kenner, der sie Gédéon abkaufen wollte, hatte ihn wohlmeinend vor ihrer Kraft gewarnt. Doch Gédéon war unbesorgt. »Ach, du hast ja keine Ahnung, sie ist sanft wie ein Lamm!«
»Na, warte nur, bis sie größer wird, dann wirst du schon sehen!«
»Unsinn!«, hatte Gédéon erwidert. »Ich weiß doch, dass man sich mit ihr nicht anlegen sollte. Es kommt mir ganz gelegen, wenn andere Leute ein bisschen Angst vor ihr haben.«
Als Belle dann fünf Monate alt war, fuhr Gédéon mit seiner schnaufenden, holpernden Klapperkiste in die Stadt. Er stellte seinen Wagen so ab, dass er eine Einfahrt versperrte. Gédéon stieg aus, und Belle sprang ihm hinterher.
Schon rief ein Lastwagenfahrer dem Hausierer zu: »Kannst du mir mal verraten, wie ich hier jetzt wieder rauskomme?«
Hitzig entgegnete Gédéon: »Das ist doch hier der einzige freie Platz weit und breit. Ich bin in einer Minute wieder weg!«
»Ha, so ein Märchen lass ich mir nicht auftischen! Ich hab keine Zeit, ich muss arbeiten!«
Wütend ging Gédéon auf den Mann zu. »Na und? Was glaubst du, was ich hier mache? Ich muss nur schnell ein Paket ausliefern und bin gleich wieder da.«
»Mir doch egal! Mach, dass deine Kiste hier verschwindet, sonst sorge ich höchstpersönlich dafür!«
»Na, das wollen wir doch erst mal sehen!«
Belle, die währenddessen ein wenig herumgeschnüffelt hatte, trottete von dannen, um die Welt zu entdecken. Sie hörte noch, wie Gédéon zeterte und sein Unglück zum Himmel brüllte.
»Herrgott noch mal! Ich soll woanders parken! So hält man ehrliche Leute von der Arbeit ab!«
Mit einem Knall flog die Wagentür zu, und außer sich vor Wut fuhr Gédéon los. Belle hörte das vertraute Geräusch und lief dem Wagen hinterher. Aber sie konnte ihn nicht einholen und verlor ihn bald aus den Augen. Sie rannte und rannte, immer geradeaus, sie wusste nicht, wohin, und sie verstand nicht.
Als Gédéon auffiel, dass er Belle vergessen hatte, war es zu spät. Er suchte sie lang, aber vergeblich. Er sah sie niemals wieder.
Belle rannte so lange, bis ihre Kräfte sie verließen. Verzweifelt legte sie sich hin und jaulte herzzerreißend. Da sie sich ausgerechnet mitten auf eine Landstraße gelegt hatte, traf sie bald auf Roger Pouillou.
Roger war Lastwagenfahrer und befand sich gerade auf dem Rückweg nach Lyon. Das Wetter war trüb und neblig. Da Roger ein vorsichtiger Fahrer war, hatte er das Abblendlicht eingeschaltet. Als Belle dieses riesenhafte Augenpaar immer näher rücken sah, richtete sie sich auf und machte sich auf den Angriff eines Ungeheuers gefasst.
Roger Pouillou war ein großer, starker Kerl, aber er liebte auch die Tiere und war sehr sanft und schreckhaft. Er hupte verzweifelt und ließ seine Scheinwerfer flackern. Aber es nützte nichts! Selbstsicher blieb Belle sitzen, ganz entschlossen, ihre Stellung zu verteidigen. So blieb Roger nichts anderes übrig, als vor der reglosen Hündin anzuhalten. Sie trug ein Halsband, und auf ein kleines Blechschild hatte Gédéon mit seinem Messer ihren Namen eingraviert: BELLE. Mehr stand nicht darauf. Nachdenklich nahm Roger seine Mütze ab, kratzte sich ausgiebig am Hinterkopf, setzte die Mütze wieder auf und sprach mit der Hündin.
»Du heißt also Belle, die Schöne! Und dem Namen machst du alle Ehre! Du hast dich wohl verirrt, was? Der Name deines Herrchens steht nicht auf deinem Halsband. Also, wohin mit dir? Spaziergänge auf der Landstraße sind ganz schön gefährlich, das weißt du wohl nicht, hm?«
Die Hündin blickte ihn vertrauensvoll aus großen, goldglänzenden Augen an, wedelte mit dem Schwanz und jaulte leise. Diese Freundschaftsbekundungen brachten Rogers Herz sofort zum Schmelzen. Er nahm Belle in die Arme und setzte sie neben sich auf den Sitz.
»Puh! Du bist ganz schön schwer!«
Belle rollte sich behaglich zu einer Kugel zusammen und schenkte Roger einen Blick von unfassbarer Zärtlichkeit. Dann startete Roger den Lastwagen und fuhr los.
Bei der ersten Gendarmeriestelle hielt Roger Pouillou an. Er wechselte ein paar Worte mit den Gendarmen, die zum Wagen traten und sich die Hündin ansahen: Nein, in der Gegend gebe es keinen Hund dieser Rasse, und für diese Art von Fundsache seien sie auch nicht zuständig. »Und außerdem«, scherzte einer der Gendarmen, »reicht Ihnen das Tier in spätestens drei Monaten bis zur Hüfte.«
Roger Pouillou war einen Meter fünfundachtzig groß. Er pfiff bewundernd und blickte Belle an. »Aber man kann sie doch nicht einfach so ganz allein herumlaufen lassen!«
Dem Gendarm zufolge musste sich der Tierschutzverein um so etwas kümmern.
»Oder«, schlug einer seiner Kollegen vor, »Sie geben uns Ihren Namen und Ihre Adresse und nehmen das Tier mit. Wenn sich der Besitzer in einem Jahr nicht gemeldet hat, dann gehört es Ihnen!«
Roger Pouillou schätzte den Abstand von seinem Ellbogen bis zum Boden. So groß würde sie also werden? Einer der Gendarmen zuckte ratlos mit den Schultern, als wollte er sagen: »Ich kann da wirklich nichts machen!«
Roger unterschrieb ein Dokument und nahm Belle mit. »Wie wird Juliette uns wohl empfangen?«, fragte er sie.
Und Juliette empfing sie sehr herzlich. Sie liebte ihren Mann, und sie liebte Überraschungen. Auch wenn ihre Wohnung nur aus einem kleinen Zimmer und einer winzigen Küche bestand, so freute sie sich über Belle doch wie über ein Geschenk des Himmels.
Belle lebte glücklich und zufrieden bei ihrem dritten Herrchen. Acht Monate verbrachte sie bei Juliette und Roger und wuchs in dieser Zeit zu ihrer vollen Größe heran. Doch irgendwann sah sich die Hausmeisterin zum Einschreiten gezwungen.
Als Roger eines Tages von einer Fahrt zurückkehrte, war Juliette in Tränen aufgelöst. Die wunderbare Belle war so groß, dass sie fast das ganze Zimmer einnahm. Die Hausmeisterin stand ebenso tröstend wie verständnislos neben Juliette und tupfte ihr die blauen Augen, als wäre sie ein vierjähriges Kind.
»Aber, Madame Pouillou«, versuchte die Hausmeisterin sie zu beruhigen, »das ist doch kein Grund zum Weinen! Sie dürfen sich nicht so aufregen! Sie wissen doch, dass ich seit Monaten versuche, die anderen Mieter zu besänftigen. Immer wieder habe ich ihnen gesagt: ›Haben Sie doch wenigstens Geduld, bis der echte Besitzer auftaucht und das Tier abholt. Irgendwann kommt sicher jemand!‹«
Roger blickte Belle traurig und Juliette noch trauriger an. »Tja, aber es ist niemand gekommen.«
»Gott sei Dank!«, schluchzte Juliette.
Ihre Reaktion ließ die Hausmeisterin etwas strenger werden. »Ich verstehe Sie ja, meine Liebe. Aber der Hausverwalter sagt mir fast jeden Tag das Gleiche: ›Madame Martin, Sie wissen doch, dass Haustiere verboten sind!‹ Wenn es denn wenigstens ein kleiner Hund wäre, dann wäre das ja etwas anderes. Aber so ein Riesenvieh! Das kann ich doch nicht einfach ignorieren, verstehen Sie?«
Roger schaute seine Frau liebevoll an. Er schnitt sogar eine Grimasse, was Juliette sonst immer zum Lachen brachte.
Doch vergebens. Sie zuckte nur mit den Schultern und schluchzte noch heftiger. »Ihr seid doch alle herzlose Ungeheuer!«
Diese Behauptung empörte Roger zutiefst. »Das ist nun wirklich übertrieben, Juliette! Seit Monaten gebe ich mein Bestes, damit du deine Hündin behalten kannst, aber sie ist nun mal nicht die Kleinste!«
Für die Hausmeisterin, eine vernünftige Frau, gab es nur eine Lösung, und das sagte sie ihnen auch sehr deutlich. Dann ließ sie Juliette und Roger allein. Juliette schnäuzte sich wütend und schaute Belle dann gerührt an. Doch der Anblick des geliebten Tiers stimmte sie nur noch trauriger.