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Szilárd Borbély, der vor einigen Jahren mit seinem Roman Die Mittellosen international Aufsehen erregte, gilt als der bedeutendste ungarische Lyriker seit 1989. Erstmals liegen nun zwei Gedichtzyklen auf Deutsch vor: Zustandsbeschreibungen eines wahrnehmungssensiblen Ich, das in ruhigem Parlando über sich und seine Umgebung reflektiert (Berlin-Hamlet), und ein formstrenges Brevier von Trauergedichten, die auf ein ungesühntes Verbrechen eine Antwort suchen (Leichenpomp).
Ein mitteleuropäischer Flaneur streift durch das aufgerissene, im Umbruch begriffene Berlin der neunziger Jahre, sein Blick folgt dem Flugzeug über der Hermannstraße im Landeanflug auf Tempelhof, verirrt sich im Gewirr bunter Rohrleitungen über den Ausschachtungen, im Wald der Kräne am Potsdamer Platz. Gattungsbezeichnungen wie Allegorie, Brief, Epilog und Fragment, Zitate aus Shakespeare-Sonetten, aus Benjamins Passagenwerk und Kafkas Briefen an Felice verbannen die Stadtansichten in die Kulisse – es ist ein urbaner metaphysical poet, besessen vom Gedanken der Vergänglichkeit.
Der gewaltsame Tod der Eltern, die einem Raubmord zum Opfer fielen, und die Vernichtung der ungarischen Juden wurden zu Borbélys Lebensthema. In Leichenpomp greift er auf dichterische Formen katholischer Frömmigkeit und auf chassidische Legenden zurück, um dem Unerträglichsten einen Ausdruck abzuringen, der jegliche Erlösungsbotschaft verneint.Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 152
Szilárd Borbély
Berlin Hamlet
Gedichte
Aus dem Ungarischen und mit einem Nachwort von Heike Flemming
Suhrkamp Verlag
Berlin Hamlet
1. [ Allegorie I. ]
2. [ Brief I. ]
3. [ Epilog I. ]
4. [ Fragment I. ]
5. [ Krumme Lanke ]
6. [ Brief II. ]
7. [ Mühlendamm ]
8. [ Brief III. ]
9. [ Fragment II. ]
10. [ Allegorie II. ]
11. [ Schöneweide ]
12. [ Brief IV. ]
13. [ Naturhistorisches Museum ]
14. [ Fragment III. ]
15. [ Hermannstraße ]
16. [ Brief V. ]
17. [ Heidelberger Platz ]
18. [ Fragment IV. ]
19. [ Brief VI. ]
20. [ Allegorie III. ]
21. [ Kurfürstendamm ]
22. [ Fragment V. ]
23. [ Stephansdom ]
24. [ Brief VII. ]
25. [ Tiergarten I. ]
26. [ Fragment VI. ]
27. [ Brief VIII. ]
28. [ Invalidenstraße ]
29. [ Allegorie IV. ]
30. [ Brief IX. ]
31. [ Magdeburger Platz ]
32. [ Wannsee ]
33. [ Fragment VII. ]
34. [ Brief X. ]
35. [ Allegorie V. ]
36. [ Alexanderplatz ]
37. [ Allegorie VI. ]
38. [ Brief XI. ]
39. [ Fragment VIII. ]
40. [ Tiergarten II. ]
41. [ Fragment IX. ]
42. [ Brief XII. ]
43. [ Allegorie VII. ]
44. [ Flughafen Schönefeld ]
45. [ Allegorie VIII. ]
46. [ Fragment X. ]
47. [ Westend–Westkreuz ]
48. [ Brief XIII. ]
49. [ Epilog II. ]
Leichenprunk
Erstes Buch. Sequenzen zur Karwoche
I.
Letzte Dinge. Der Tod
IV.
Aeternitas. (1)
Letzte Dinge. Das Gericht
Rosarium. Für die Nymphen
Sequenz der Leere
Letzte Dinge. Die Hölle
Aeternitas. (2)
X.
Rosarium. Vom Letzten
XIII.
XIV.
Letzte Dinge. Die Ewigkeit
Zweites Buch. Sequenzen von Amor und Psyche
I.Psyche, kehrte sie zurück
II.Die immaterielle Leibesfrucht
V.Der Tod des Kaisers
VI.Im Körper leben
VIII.Augustaquarell
IX.Das unorganisierbare Leben
X.Der Virus Killer Amor
XIII.Das Rätsel des Todes
XXI.Das kalte Herz
XXV.Amor Christus
XXVI.Gegenlied der Idylle
XXXI.Auf den Flügeln der Freiheit
XXXII.Die Götter, die Götter
XXXIV.Die Grenzen der Bukolik. (2)
XXXV.Der Rechner am Abend
XXXIX.Nach dem Mord
Drittes Buch. Chassidische Sequenzen
Stern des Tränenmeers
II.
Sequenz des Messias
IV.
Die Heiligung des Namens
VI.
Sequenz der Geburt
IX.
Christologische Epistel. (I)
Christologische Epistel. (II)
XVII.
Sequenz der Entjudung
XVIII.
XIX.
XXI.
Epicedium
Anmerkungen des Autors
Berlin Hamlet
Leichenprunk
ANHANG
Nebenstränge eines Verbrechens
»Das eigene Ich in Klammern setzen …«
Zu den Gedichten Szilárd Borbélys Nachwort von Heike Flemming
Nichts kann
so unwiederbringlich
wie ein Morgen
dahin sein.
[ Ilona und Mihály ]
Das durchbohrte Herz, an das die Liebenden
glauben, gemahnt mich an meine
Aufgabe. Nach einem Führer sehnte ich mich
immer. Der Geist meines Vaters erzog mich
zur Grausamkeit. Was er im Leben versäumt,
wollte er im Tod nun nachholen. Meine
Erziehung fand ich nicht zufriedenstellend.
Der Geist unserer Zeit ist zu freizügig
mir. Meine Verachtung gilt den Schwachen.
Endlich habe ich Dein Bild so wie ich Dich
gesehen habe. Nicht so freilich, wie ich Dich zuerst
gesehen habe, ohne Jacke, mit freiem durch
keinen Hut eingegrenztem Kopf. Sondern so,
wie ich Dich im Tor des Hotels verloren habe,
so wie ich neben Dir gieng, keine Beziehung
zu Dir fühlte. Und nichts anderes als
die stärkste Beziehung verlangte. Jagen Dich
die Verwandten nicht zu sehr herum? Du hättest
ja gar keine Zeit für mich gehabt, wenn ich nach
Berlin gekommen wäre. Aber was sage ich? Damit will ich
den Selbstvorwürfen ein Ende machen? Und hatte ich schließlich
nicht doch Recht, nicht nach Berlin gefahren zu sein? Aber wann
werde ich Dich endlich einmal sehn? Im Sommer? Aber warum
gerade im Sommer, wenn ich Dich Weihnachten nicht gesehn habe?
Ich merze die Vergleiche aus, bevor ich
dran bin. Die Fallen der Rede wie
Schlingen in der Zugrichtung des Wildes,
die zum Wasserloch führt. Manchmal
zappelt es tagelang darin, und sein Wimmern
wird brüchig wie Weihnachtsbaumschmuck
zwischen Baumwolle in der naphthalinmuffigen
Speisekammer, durchzogen
von Rissen. Eine einzige Berührung lässt ihn
zerfallen. Anderswo die Wildbirne
im Laub, die Hagebutte, die Heidelbeere
und die seltene Kornelkirsche.
Den langgezogenen Schrei
zu erzählen erfordert Entsagung.
Was eigentlich bringt die Zusammen-
hänge durcheinander? fragst du.
Der Schrei, der den Wald durchrollt,
ist, wenn er das Tal erreicht, schon
dumpfes Rauschen. Die Nachricht
von weit her wird zum Echo ihrer eigenen
sich verzögernden Ankunft. Ein Prolog,
dem Leiden folgt.
Im frischen Eichenunterholz hier und da
Rehpilze. Nimmst du sie dennoch
mit nach Hause, werden sie, vergessen auf dem Küchentisch,
in der Stille des Nachmittags von Würmern befallen. Und
mancherorts zeigen sich auch die Rehe selbst. Vom anderen Ufer
schauen sie aufmerksam, hinter den Hügeln hervor. Im Geweih,
das sie bald abwerfen, balancieren sie
jetzt noch goldene Äpfel. Manchmal
ein Geräusch, und mit gespannten Nüstern,
unruhig äugen sie zum Garten
der Hesperiden.
Durchs Dickicht peitschend jagt
ein Wesen, halb Mensch, halb Ziege
oder Pferd. Zu hören ist nur sein Gebrüll.
Blut tropft ins Laub.
Kirschrot, ziegelfarben, purpurn
wie die Farbe der Minerale
auf leichtem Aquarellpapier. Viel
Luft zwischen den getrockneten
Rändern der Farbflecken.
Wie ein Vergleich, so eine Form
ist der Krug unter dem Vitrinenglas. Delphine
schwimmen im runden Blau,
während der Mund des Mannes
am Mastbaum und sein verkrampfter
Oberkörper andeuten, dass er aus vollem
Halse brüllt. Doch sein Schrei
ist irreführend und Quell der Lüge,
wie ein angehaltener Atem
hat er auch seither nicht
das Ohr erreicht, für das
er bestimmt war. Denn er sagt,
möge nicht ein einziger Ton sein
in diesem Vergleich. Wie das reine
Nichtsein, von dem ich nicht wissen kann.
Ja, so könnte ich es ausdrücken,
unser Gespräch hinterließ eine
unausfüllbare Leere. Seitdem
birgt jeder Tag auch diese Leere.
Den Zwang auszudrücken,
was das ist, das mich seitdem
jeden Tag begleitet. Seitdem wir
uns nicht treffen, ersetzt
meine Erinnerung unser Gespräch.
Seitdem gibt es keinen Tag,
der nicht etwas enthielte,
und umgekehrt. Neuerdings
deute ich sogar mein Schweigen.
Ich habe das Gefühl, es gibt Tage,
die sich weiten. Wachsende
Tiefe jeder Augenblick, der
sie in sich bewahrt. Alles
nimmt in etwas anderem Platz,
das jenes dann besitzt. Das eine Wort
das andere. Und ein Begriff
das Wort. Was ich Leere nannte,
ist auch Teil von etwas. Vielleicht
von unserem Gespräch, das seitdem
irgendwie weitergeht. Glaube ich.
In den letzten Tagen des Reiches war es, irgendwann im Herbst.
Die Blätter fielen und die Luft kratzte an der Windschutz-
scheibe. Nur das kleine Ausstellfenster der Fahrertür
hatten wir geöffnet, da wir beide rauchten. Wir trugen dicke,
lange Mäntel, Hosen und ausgetretene Schuhe mit dünnen Gummi-
sohlen wie vorgeschrieben. Fasten musste man nicht,
nur wegen der Blockade gab es kaum noch was zu essen. Jeder wartete,
auf jemanden oder etwas. Die Angst wurde langsam stärker,
auch der Überlebensinstinkt. Mit unserem Treffen gingen
wir grundlos ein Risiko ein. Unsere Vorgesetzten hätten
die Idee sicher zurückgewiesen. Doch es hatte keinen Sinn
mehr, Befehlen zu gehorchen. Freiheit konnte von nun an
nur noch heißen, der Tradition zu folgen. Wir sprachen darüber
nicht, aber vielleicht trafen wir uns deshalb jetzt hier, unter Berlin,
wo zwei Spaziergänger nicht auffielen, junge Männer,
die sich unterhalten. Mit hochgeschlagenem Kragen, in die Augen
gezogenem Hut, geschützt gegen die Windstöße, die immer wieder
vom See her kamen. Zwischen den zusammengepressten Lippen
halb gerauchte Zigaretten. Kamen doch am Wochenende regelmäßig
Fremde her zum Rudern, Segeln, Spazierengehen um den See. Im Süden,
unter Berlin lag dieser Ort, Wünsdorf oder Teupitz.
Ich erinnere mich nicht mehr genau. Jahre zuvor, es war vor
Pessach, gingen wir, während wir an die Zukunft dachten, an der
Krummen Lanke im Westen von Berlin spazieren. Unser
Gespräch jetzt mehr eine Erinnerung, die alles rückgängig machte,
was geschehen war. Als würde ein Film rückwärts abgespult.
Wir betrachteten die Enten, sie waren stumm. Die Schwäne bedrohlich
wie der Tod. Ein einziges Boot auf dem See, auch das
reglos. Dunst schlug bei jedem Wort aus unseren Mündern.
Zeichnete für Augenblicke kleine, launische Gebilde,
dann zerstob er. Aus diesen Zeichen hätten wir vielleicht lesen
können, wenn wir sie gekannt hätten. Sie waren schwerelos wie die Schuld.
Sehr geehrtes Fräulein, für den leicht möglichen Fall,
daß Sie sich meiner auch im geringsten nicht mehr
erinnern könnten, stelle ich mich noch einmal vor:
Ich heiße hebräisch Amschel. Ich bin der Mensch,
der Sie zum erstenmal am Abend in Prag
begrüßte. Und in dieser Hand, mit der er jetzt
die Tasten schlägt, hielt er über den Tisch hin
Ihre Hand, mit der Sie das Versprechen bekräftigten,
im nächsten Jahr eine Palästinareise mit ihm machen zu wollen.
Eines muß ich nur eingestehen: Ich bin ein unpünktlicher
Briefschreiber. Ja es wäre noch ärger, als es ist, wenn ich
nicht die Schreibmaschine hätte; denn wenn auch einmal
meine Launen nicht hinreichen sollten, so sind schließlich
die Fingerspitzen zum Schreiben immer noch da. Und ich bin
niemals enttäuscht, wenn ein Brief nicht kommt. Mit Erschrecken
merke ich beim neuen Einlegen des Papiers, daß ich mich vielleicht
viel schwieriger gemacht habe, als ich bin. Es würde mir
ganz recht geschehn, wenn ich diesen Fehler gemacht haben
sollte, denn warum schreibe ich auch auf einer Schreibmaschine,
an die ich nicht sehr gewöhnt bin. Aber wenn es auch dagegen
Bedenken geben sollte, mich als Reisebegleiter mitzunehmen,
gegen mich als Korrespondenten – und darauf käme es ja
vorläufig nur an – dürfte nichts Entscheidendes von vornherein
einzuwenden sein. Sie könnten es wohl mit mir versuchen.
Der Nachmittag kam ins Haus. Ein Lichtstreif fiel aufs Porzellan.
Und im Radio rezitierte ein Schauspieler gereimte Gedichte. –
Der Herbst ist wie alles andere in der Landschaft. Straßen,
ein Flussufer, Münzfernsprecher. Nicht zu sagen,
warum das so ist. Sich an die Beschreibung machen,
was wir erhofften, früher noch, beginnt sich zu wiederholen.
Während ich die Verschiebungen beobachte, halte ich erst einmal
die Beschreibung fest. Von links ein Spielplatz, dann kommt
eine Bierfabrik. Du wirst es schon von weitem merken. Durch
die Grippe und das dann übliche Schweben des Bewusstseins
erklärt sich die Verspätung. Von den Zweigen hängen
wie ein Schleier Wind und Dämmerung. Gerade als ich mich daran-
machte, dies zu beschreiben, las ich unter der Brücke eine Tafel. Hier
waren die Mühlen, hierher kamen die Fuhrleute. Die Müller lebten
hier, als die Stadt noch durch die Ufer der Wasserläufe vereint war.
Damals verkehrte man auf den Dämmen, die die Mühlen
miteinander verbanden. Wenn du kommst, frag nicht Fremde.
Auf den Straßen seitdem Wind. Die Dämmerung ein Schleier, gewoben in die Allee.
Als ich sie am 13. August zum erstenmal sah, saß sie
bei Tische und kam mir doch wie ein Dienstmädchen vor.
Ich war nicht neugierig auf sie. Ich setzte mich hin und
fand mich sofort mit ihr ab. Knochiges leeres Gesicht, das seine
Leere offen trug. Freier Hals. Überworfene
Bluse. Sah ganz häuslich angezogen aus,
trotzdem sie es, wie sich später zeigte, gar nicht war.
Ich entfremdete ihr ein wenig dadurch, daß ich ihr
so nahe an den Leib ging. Fast zerbrochene Nase.
Blondes, etwas steifes, reizloses Haar,
starkes Kinn. Während ich mich setzte, sah ich sie
zum erstenmal genauer an. Als ich saß, hatte ich schon
ein unerschütterliches Urteil. Wie ich ihr ins Gesicht schaute,
sah ich mein Urteil, verhüllt von einem stummen Lächeln.
Auf der Bühne der Rede mimen
wir alle wie schlechte Schauspieler
wider Willen die alten Helden.
Aus Büchern wird uns vorgelesen,
was wir sagen müssen
beim Auftritt. Wenn uns nichts anderes
einfällt, als das Kostüm anzuziehen,
von wem auch immer. Ziellos
jedes Wort, das den Faden nicht
abschneidet. Den, den die Parzen
spinnen, die schweigsamen Hebammen
des Gedankens. Denn unerschöpflich ist
die Überlegung, während sie Worte
wägt statt Taten und
Absichten. Ich sage, die all-
wissenden Parzen spinnen meine Rede,
auf deren Bühne wir uns treffen, solange
ich repetiere. Ich bin ein Herrscher
in Verkleidung, der für die Künste schwärmt,
die großen Taten. Die radikale Schönheit.
Dem der Mord die wahre Kunst ist.
Du kennst im Park ein paar Verstecke,
wo nach kalter Nacht der Morgennebel
Spinnennetze webt. Er zeichnet die dünnen
Fäden nach. Reiht Perlen auf und
verknüpft sie. So füllt sich der Park
mit Licht, in Tropfen sammelt sich
der Nebel an den Blattspitzen, von den Kuppen
der Zweige blicken Augen dich an.
Der Wind treibt den Nebel auf die Holzbrücke,
geschwungen überm Kanal. Zwischen den gestutzten
Hecken schlagen die Amseln ihr Geleit. Wohin du
auch gehst, du findest Schnittblumen auf dem Tisch
zu jeder Jahreszeit. Und wir sehen
einander an im überheizten Zimmer.
Ich weiß, das ist am schwersten. Dass es so endet,
als wäre nichts geschehen. Dass sich auf einmal
die Dinge verändern: Türen, bis dahin verschlossen,
sich öffnen. Ich wollte nicht darüber reden,
mit niemandem. Ich ging ohne Abschied,
ohne viele Worte. Besuchte nur ein paar
Bekannte wie sonst auch. Ging vorbei zum Reden,
auf ein Bier, saß und hörte zu. Erwähnte manchmal
dies oder das. Ich nahm keine Anrufe mehr an.
Bezahlte die Rechnungen, mehrere Monate zurück.
Unerwartete Ausgaben. Ich zahlte aufs Konto ein, damit
Geld drauf war. Wer weiß, was geschieht. Für alle Fälle.
Ein letztes Mal ging ich die Straßen entlang
wie seit anderthalb Jahren, seit ich hierher ins Wohngebiet
gezogen war. Zwischen die schmutzigen Betontürme, wo
ich mich seitdem immerzu schlecht gefühlt hatte.
Schaute ich zum Fenster hinaus, sah ich die Wand des Hauses
gegenüber, grauschwarz gestreift von Regen und Schmutz.
In den Küchen beobachtete ich Menschen beim Abwasch,
Reden, Rauchen oder Essen. Und sie
mich, der sie im Auge behielt. Manchmal stritten sie sich.
Durchs geschlossene Fenster drang das Geschrei. Dann
fühlte ich mich schlecht. Ich beobachtete ihre Morgen:
wie sie aufstanden, sich anzogen, für den Tag
fertig machten. Abends erhellte das bläuliche Strahlen der Fernseher
die Zimmer. Lange stand ich im Licht, das allmählich erlosch.
So sah ich eines Abends aus der S-Bahn
die erleuchteten Fenster der schäbigen Gebäude
von Schöneweide. Und manchmal stieg ich erst am Flughafen
aus. Betrachtete die Lichter am schmutzfarbenen Himmel.
Die landenden und startenden Maschinen. In der Gegend
um die Haltestellen fragten die Teenager am Abend gewöhnlich
nach Zigaretten. Eine Packung war schnell leer. Damals
rauchte ich viel. Ich kaufte bei den Vietnamesen oder
Chinesen eine Stange Magnum. Ich hatte immer Angst,
aber nie so sehr, dass ich den Preis nicht runterhandelte.
Ich war Ausländer, und von den Jugendlichen wurde man
als Fremder schief angesehen. Einer der Jungen, er musste
dort wohnen, wo auch ich wohnte, fragte jedes
Mal, wir begegneten uns häufig am Abend. Dann
sagte er nur noch: Feuer? Er fragte nicht, es war quasi
ein Befehl. Ich gab ihm bereitwillig Feuer. Er sah
unordentlich aus, verloren. Er tat mir leid. Ich dachte
an die Verwandten, denen ich nie begegnet war. Die eine
Weile über dem deutsch-polnischen Tiefland geschwebt waren
als Rauch und Asche. Vielleicht wollte ich deshalb sehen,
monatelang nur verfolgen, wie er ist, der Himmel über Berlin.
Entschuldigen Sie, daß ich nicht auf der Schreibmaschine schreibe, aber
mir scheint dieser Brief so dringend, die Schreibmaschine schreibt mir
nicht genug schnell. Schönes Wetter ist, warm, das Fenster
ist offen. Übrigens ist es immer offen, aber das gehört nicht
zu meiner Entschuldigung. Und heute kam ich nur
ins Büro, um Ihnen zu schreiben. Und nachdem
ich Ihre Adresse bekommen hatte, war ich mir unsicher, ob sie richtig wäre.
Denn nichts ist trauriger, als einen Brief an eine unsichere
Adresse zu schicken. Das ist ja dann kein Brief,
das ist mehr ein Seufzer. Nur hätte ich gern noch die Bezeichnung
der Himmelsrichtung geklärt, weil das doch bei Berliner Adressen immer
so ist. Ich für meinen Teil hätte Sie gern in den Norden verlegt, trotzdem
das eine arme Gegend ist. Mein Gedächtnis ist ja schlecht, und
was ich mir ausdenke, vergesse ich sofort. Ein Brief
macht Mühe. Schreiben Sie mir doch ein kleines
Tagebuch, das ist weniger verlangt und mehr gegeben.
Im Naturhistorischen Museum ist von zehn bis sechs
die Vergangenheit ein offenes Buch. Die Welt der
Mineralien und Gesteine scheint regungslos. In den
verbundenen Sälen ausgestopfte und konservierte
Tiere nach der abgeleiteten Ordnung
der Schöpfung. Entwässerte Körper, getrocknete Federn,
Fell, Haut. Lebensechte Glasaugen.
Tote Werke, die unendlich verlangsamte
Bewegung festhaltend. Der Fuß
in der Luft und der Kopf grazil geneigt.
Von vorn betrachtet vorteilhaftes Halbprofil.
Die Vertreter der großen Rassen blinde Objekte
in der Dunkelheit. Doch auch nach Schließung steht
das Leben nicht still. Im alten Eichenholzgestell
der Schaukästen setzen winzige Schädlinge ihre
Arbeit fort, mit einem gleichmütigen, monotonen
Hintergrundgeräusch wie der Erzähler eines
Naturfilms. Mikroskopische Pilze,
verschiedene einfach strukturierte Wesen
kämpfen ums Überleben. Da durchdringt die feine
Spannung dramatischen Bebens die unpersönliche
Maschinenstimme: Und Viren in der Luft.
Als sechzehnhundertneunundsiebzig,
nach der letzten Pestepidemie, dem großen
Sterben ein Denkmal errichtet wurde, begann man
nach neuen Erklärungen zu forschen. Neben dem
Glauben an die Vorsehung erstarkte die Mathematik,
später die Statistik. Während der Glaube zurückgedrängt
wurde, übernahm der Mythos der Freiheit den Platz
des Totenkults. All dies hatte die schwärmerische
Verehrung des Lebens zur Folge, und natürlich
Kriege und Revolutionen. Doch die Losung
des Glücks verdrängte alles andere. Die Evolution
wurde mit der Zeit die moderne Metapher
für Tod. Während die Menschheit