Betrüge mich gut - Pitigrilli - E-Book

Betrüge mich gut E-Book

Pitigrilli

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Beschreibung

Bei seinem Erscheinen in den zwanziger Jahren ließ dieses Buch die Wellen der Empörung über dem Autor zusammenschlagen. Mit seinen doppelbödigen, zutiefst sinnlichen Erzählungen versucht Pitigrilli, von Moralisten begeifert, einen neuen Umgang mit dem Begriff der sexuellen Treue: «Diese Liebe ist nur dann verwerflich und unmoralisch, wenn sie durch Schwierigkeiten, unlautere Auskunftmittel, durch Heucheleien, die die heuchlerische Moral auferlegt, entstellt wird … Die Liebe, mit Raserei, mit Fieber, mit tollem Leiden gefeiert, ist immer schön, selbst wenn sie eine Tragödie verursachen sollte.»

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Seitenzahl: 202

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Pitigrilli

Betrüge mich gut

Ihr Verlagsname

Bearbeitete Ausgabe der Übersetzung aus dem Italienischen von Maria Gagliardi

Über dieses Buch

Bei seinem Erscheinen in den zwanziger Jahren ließ dieses Buch die Wellen der Empörung über dem Autor zusammenschlagen. Mit seinen doppelbödigen, zutiefst sinnlichen Erzählungen versucht er, von Moralisten begeifert, einen neuen Umgang mit dem Begriff der sexuellen Treue: «Diese Liebe ist nur dann verwerflich und unmoralisch, wenn sie durch Schwierigkeiten, unlautere Auskunftmittel, durch Heucheleien, die die heuchlerische Moral auferlegt, entstellt wird … Die Liebe, mit Raserei, mit Fieber, mit tollem Leiden gefeiert, ist immer schön, selbst wenn sie eine Tragödie verursachen sollte.»

Über Pitigrilli

PITIGRILLI, eigentlich Dino Segre, wurde 1893 in Turin geboren, wo er auch 1975 starb. Der promovierte Rechtswissenschaftler arbeitete als Redakteur für verschiedene Zeitungen. Bevor er 1940 Lina Furlan heiratete, Italiens erste Rechtsanwältin an einem Schwurgericht, galt Pitigrilli als Salonlöwe. Die zwanziger Jahre verbrachte er als Zeitungskorrespondent in Paris, wo auch seine ersten, heftig diskutierten Bücher entstanden. Als 1939 auch in Italien die Rassengesetze in Kraft traten, musste er auswandern, zunächst in die Schweiz, dann nach Argentinien.

Inhaltsübersicht

Betrüge mich gut1. Kapitel2. Kapitel3. KapitelIhre Sprache und die meineDer Keuschheitsgürtel

Betrüge mich gut

1

Einleitung, die von einer vorbildlichen Mutter handelt, die, bevor sie ihrer Tochter einen Verlobten gab, denselben erst während fünf Jahren an sich selbst ausprobierte.

Nach dem Austausch von wohlerzogenen, säuberlichen Briefchen verlobten sie sich. Und nicht damit zufrieden, verlobt zu sein, heirateten sie auch.

Nach beendeter Zeremonie fuhren sie fort nach Paris.

Es ist ein unglückseliger Einfall für jemanden, der in Turin geheiratet hat, seine Hochzeitsreise nach Paris zu machen. Die Lust 800 km wach zu erhalten, ohne eine Zwischenstation zu finden, wo man anhalten und sie stillen könnte. Es ist wahr, man hat den Schlafwagen. Aber, um in einem Schlafwagen zu lieben, muß man gewitzt sein. Das ist gut für Liebespaare, nicht für Eheleute. Um sich in dieser so schmalen Wiege zu lieben, muß man bereits eine gewisse Geschicklichkeit erworben haben.

Zwei Eheleute, die im Schlafwagen beginnen wollten, wären wie einer, der das erste Mal auf dem Fahrrad sitzt und gleich freihändig fahren wollte.

Die erste Nacht in einem Schlafwagen ist für jene jungen Frauen empfehlenswert – und das sind neunzig Prozent aller jungen Damen –, die sich über die Unberührtheit der eigenen Siegel nicht ganz im klaren sind. Für einen Mann hingegen hat es keinerlei Vorteil. Oder höchstens den einen: daß, während er sie erstmalig nimmt (etwa wie man einen Reisenden ermordet), das Getöse des Zuges alles übertönt.

Das Fräulein Susanna (die junge Ehefrau) hatte keinen versuchten Einbruchsdiebstahl zu verbergen. Sie konnte die eigenen Dokumente sehr wohl im Sonnenlicht zeigen oder beim funkelnden Lampenlicht eines Zimmers im Hotel des Grands Boulevards.

Herr Luciano Sangallo (der Ehemann) maß der Sache nicht mehr Bedeutung bei als etwa dem Abknabbern eines gebratenen Huhns.

Aber sowohl im Fall des Brathuhns (etwas, was jeder kann) als auch im Falle des Fräuleins muß man mit einer gewissen Delikatesse vorgehen, um nicht vulgär zu erscheinen.

An Feinheit wie an Praxis fehlte es ihm nicht. Er zählte etwa vierzig Jahre, von denen er fünfundzwanzig ganz den Frauen gewidmet hatte. Er hatte Tänzerinnen gehabt, von jener Sorte, die unseren Großvätern gefiel, und die auf der Spitze der Zehen herumwirbelten; solche, die Spagat machten, das heißt, die sich mit gespreizten Beinen niedergleiten ließen wie ein offener Kompaß, bis sie den Erdboden mit dem Geschlechtsteil berührten (unsere Väter waren verrückt danach); solche, die die modernen Tänze mit den verschiedensten exotischen Namen tanzten, die man aber unter einen generellen Begriff bringen kann: Versuche eines musikalischen Koitus.

Aber die Tänzerinnen, die Chanteusen, die weiblichen Exzentriks hatten ihn niemals zufriedengestellt, weil sie ihm in der Nähe nicht die Illusionen beließen, die sie vor dem Vorhang in ihm erweckten. Er hatte in ihren Zimmern zu oft einen Strumpf gesehen, in dem das hölzerne Stopfei steckte, und eine Nadel, die einen Riß zusammenhielt. Zu oft hatte die Frau sich vom Bett erheben müssen, um ins Nebenzimmer zu gehen und ein Kindchen zu klapsen, das mit ungelegenem Geschrei die Mutter störte.

Er hatte unzählige Frauen besessen. Magere, äußerst reizbare, die ihn mit ihren hageren Gliedern umklammerten, als wenn sie ihn peitschten; dicke, leidenschaftlich animalische, die ihm ein Gefühl verursachten, als würde er gegen die geschwellten Segel eines Schiffes gepreßt. Er hatte Hysterikerinnen gehabt, bei denen es angeraten schien, den Revolver unter das Kopfkissen zu legen; kalte Naturen, die, während er sie nahm, im Geiste Hüte und Kleider entwarfen; Sentimentale, die im schwierigsten Augenblick zärtlich vom Sterben sprachen. Er hatte Bologneserinnen gehabt, die den unberechtigten Ruf genießen, raffiniert und pervers zu sein; Römerinnen, die mit stereoskopischer Genauigkeit Eifersucht simulierten; Araberfrauen, die die Syphilis nicht haben, sondern nur jemandem anhängen. Er hatte Damen kennengelernt, die zu einem Mann, der sie vergewaltigt, das heißt, der ihnen ermöglicht zu funktionieren, sagen: «Danke, du hast mir einen Dienst erwiesen; ich bin dir verbunden.» Er hatte höchst ehrenwerte Frauen gehabt, die sich nur aus Liebe hingaben, die ihn aber finanziell schwerer geschädigt hatten als die teuersten Kokotten; denn die Liebe dieser Frauen ist wie die Gastfreundschaft mancher großer Herren, die ihre Gäste durch Unkosten für Revanche und Trinkgelder für die Dienstboten ruinieren.

Keine seiner unzähligen Geliebten hatte ihm das Glück geschenkt. Die Naturalisten sagen, daß im Gegensatz zu andern Tieren, die zu gewissen Zeiten in Brunst geraten, der Mann zu jeder Zeit bereit ist, einer Frau die Vereinigung anzubieten. Theoretisch mag das zutreffen. Aber auch im Brunstverhalten des Mannes gibt es Nuancen: Der Mann begehrt nicht im Mai, wie die Esel; oder im Februar, wie die Katzen; aber er begehrt zu gewissen Augenblicken des Tages und des Nachts. Gewissen Augenblicken, die weder um 7.20 Uhr noch um 11.51 Uhr liegen, noch fünf Minuten vor zwölf Uhr mittags. Es sind Wallungen, die nicht zu festgesetzten Stunden kommen, wie der Appetit, der Schlaf oder der Briefträger, sondern die in nicht vorher zu berechnenden Stunden plötzlich fühlbar werden. Glück bei Frauen haben heißt, sie leicht zu Fall zu bringen, aber das Zufallbringen ist keine so leichte Angelegenheit, wie sich eine Zigarette anzuzünden, wenn man Zigaretten und Streichhölzer hat und kein Wind geht.

Nach einer langen Erfahrung mit wechselnden Frauen und gelegentlichen Liebschaften gelangt der Mann fast stets dahin, sich eine ständige Frau zu nehmen. Eine Geliebte oder eine Ehefrau, das ändert fast nichts an der Sache. Vielleicht, wenn man durchaus einen Unterschied zwischen der festen Geliebten und der Ehefrau finden will, wäre es der: daß das ausgehaltene Mädchen immer ausgehalten bleibt, während die Ehefrau manchmal zur Aushälterin wird.

Sie besorgen sich also eine Frau. Sogar ein Weib. Ein Weib, das man immer behalten kann.

Wir haben uns daran gewöhnt, die Frau zu idealisieren, sie immer als Spenderin idealen Wohlseins in unserem Leben zu betrachten. Illusion, nur Illusion!

Den Morphiumsüchtigen erregt das Morphium, das ihm ein scheinbares Wohlsein verleiht. Das Morphium im Körper erzeugt das Apomorphium, ein Gift, das niederschlägt. Das einzige Mittel zur Bekämpfung des Apomorphiums ist das Morphium, das wieder seinerseits Apomorphium bildet und neues Morphium erforderlich macht …

Die Liebe ist ein noch schlimmeres Gift, aber sie verursacht ungefähr dieselbe Kurve. Die Begierde belebt dich. Aber nur wenn du sie stillst, beginnt dein Gehirn zu arbeiten: damit es nicht zum Stillstand kommt, muß die Begierde nach dem Weib neu erstehen.

Das ist der ewige Kreislauf.

Das schönste Sonett, die beste Theorie, die genialste Lösung, der erleuchtetste Beschluß entspringen dem Gehirn eines Mannes nur, wenn seine Männlichkeit gesättigt ist.

Die Sättigerin seiner Männlichkeit ist dem Mann in jedem Augenblick seines Lebens notwendig. Ich, der ich die fixe Idee der reinen Liebe hatte, ich, der ich Jahre und Jahre lang von der seelischen Liebe träumte, bin aus der Sucht, die menschliche Liebe von nahem zu betrachten, dazu gekommen, in der Frau weiter nichts zu sehen als ihren Körper.

Es ist eine vulgäre Angelegenheit, gleich allen unumgänglich notwendigen Angelegenheiten. In Wirklichkeit handelt es sich ausschließlich um ein paar Organe, die bei der Autopsie nicht größer als eine Faust sind, nicht mehr als anderthalb Pfund wiegen und die den Juwelieren, den Schneidern, den Pelzhändlern Brot geben, die Banken in Tätigkeit setzen, die die Milliarden lenken und die Welt mit Energie laden.

Und noch heute begreift eine Mehrheit dieses elementarste Geheimnis der Welt, der Moral und der Gesellschaft nicht und besitzt noch die Kraft zu träumen.

Oh, es ist schmerzlich, sehr schmerzlich, nicht mehr träumen zu können!

 

Herr Luciano Sangallo begriff, daß mit vierzig Jahren zur eigenen Beruhigung drei Bequemlichkeiten vonnöten sind: ein Sicherheits-Rasierapparat, um sich rasieren zu können, ohne darauf warten zu müssen, wann der Barbier zu einem kommt; eine stets parate elektrische Kaffeemaschine auf dem Schreibtisch, um sich jederzeit, wenn man Lust hat, Kaffee machen zu können; und eine Frau, auf die man die eigene Zärtlichkeit verströmen kann, wenn der tägliche Lebensüberschuß beunruhigende Störungen verursacht.

Und so kaufte er sich das Rasiermesser (30 Lire), die elektrische Kaffeemaschine (165 Lire) und die Frau. Das war der vorteilhafteste Kauf, weil er keine Amortisation des Anschaffungspreises verlangte; man gab sogar noch anderthalb Millionen dazu.

Der Vater der jungen Frau war ein sehr reicher Industrieller, da er neun Konkurse hinter sich hatte und nur auf den zehnten wartete, um sich mit ein paar beiseite gebrachten Millionen von den Geschäften zurückzuziehen.

Luciano hatte stets die ungetreuen Frauen gerühmt, die unbezähmbaren, unbeugsamen: sie seien die einzigen, die einem die Besinnung rauben könnten und die Liebe erregen, so wie man nur das liebt, was sich leicht verliert. Aber er endete damit, ein unschuldiges Mädchen zu heiraten.

In jedem jener Männer, die übereingekommen sind, die landläufige Sexualmoral zu verspotten, die von der Ehefrau Treue und von dem Mädchen Unschuld verlangt; in einem jeden von denen, die keinerlei Hochachtung für die Keuschheit empfinden und schwören, kein Gewicht darauf zu legen, daß ihre Bräute Jungfrauen seien und ihnen treu bleiben; in jedem jener Zerstörer der Moral lebt als atavistisches Laster eine blonde, sentimentale Möglichkeit, Eifersucht zu empfinden und sich eine Ehefrau zum persönlichen, ausschließlichen Gebrauch zu erträumen.

Diejenigen also, die über die sogenannten «anständigen Frauen» gelacht haben, die das Lob der Verführung gesungen haben, befriedigen eines Tages die in ihnen schlummernde Sentimentalität und heiraten das weiße Gänschen, die Jungfräulichkeit in gehärtetem Zement, noch unverdorben von schlechter Lektüre. Und dann genießen sie die Treue, über die sie hergezogen sind, nachdem sie die Flasche der Jungfräulichkeit, die so fade ist wie eine Flasche Sprudel von San Pellegrino, selbst entkorkt haben.

Nachdem sie Jahre und Jahre lang die Moral und ihre Früchte (Jungfräulichkeit, Keuschheit, Treue) mit Abscheu abgelehnt haben, werden sie diese Früchte pflücken zum eigenen Nutzen und Gebrauch.

Und werden auf diese Weise die Moral zum zweitenmal hinters Licht geführt haben.

Sie, die Ekel empfunden haben vor dem Gesetzbuch, das die Verführung bestraft: wenn sie eines Tages erfahren werden, daß ihre Frau im Hause eines Liebhabers weilt, so werden sie den Sicherheitspolizisten rufen und zu ihrem Vorteil jenes bigotte Gesetz anrufen, das die Verführung bestraft.

Nachdem sie darüber gelacht haben, werden sie sich des Gesetzes bedienen und alles mögliche aus ihm herauspressen.

Und so werden sie auch das Gesetz zum zweitenmal hintergangen haben.

 

Die Lippen der jungen Frau (zwanzig Jahre alt) waren von jener großen Künstlerin gemalt, die im Juni die Kirschen färbt. Sie war von biberonarischer Unschuld. Sie glaubte noch, die Liebe bestehe in einem Austausch von Ansichtskarten, sie spielte das Klavier im fräuleinhaften Sinn dieses Wortes.

Sie war dumm und gut wie eine verzuckerte Rübe. Um nichts und wieder nichts fing sie zu weinen an, wie der Hirsch in den Büchern der Dichter.

In den Ferien ging sie nach Robecco sul Naviglio und beneidete ihre Freundinnen nicht, die an den Lido, nach San Sebastian oder Ostende gingen.

Sie war eine jener Frauen, die, wenn ein Herr sie auf der Straße grüßt, ihm nicht ins Gesicht sehen, sondern ihm durch ein Kopfneigen antworten, wobei sie vor sich hinsehen, mit der Bewegung gewisser Porzellanpüppchen, die immer «ja» sagen und die die Chinesen auf die Tische ihrer Ehefrauen stellen, damit sie die Tugend des Zustimmens lernen.

Sie trug Schuhe mit niedrigen Absätzen und wußte nicht, daß die Frau «auf einen Mann von Zivilisation keinen rein erotischen Eindruck macht, wenn ihre Absätze nicht einen Winkel von zehn Grad zum Fußboden bilden». Sie hatte die Romane gelesen, die von vergewaltigten Mädchen in Kornfeldern handeln, die gleich beim ersten Anhieb schwanger werden. Dinge, die die Romane von vor fünfzig Jahren und die heutigen Mütter verbreiten, um unerfahrene Mädchen zu erschrecken. Und sie hatte sich von der Geschichte jener Könige rühren lassen, die, um die Liebe eines Mädchens zu erringen, sich in Pilgerkleidern zu ihr begaben. Das waren traurige Zeiten! Heute schicken die Könige einfach ihre Feldadjutanten in das Haus des Mädchens, mit einem Scheck im verschlossenen Kuvert mit der Krone.

Sie war eine jener Jungfrauen, die nicht begreifen, wie unnütz ihnen Jugend und Anmut sind, wenn sie keinen Gebrauch davon machen. In ihnen schlummert die Lust, verborgen wie die Flamme im Streichhölzchen, wie die Musik in den Noten, die nicht existiert, bevor man das Buch nicht geöffnet hat und sie auf ein Instrument überträgt. Sie glich einem geschlossenen Liederbuch.

Jeden Tag zur Dämmerzeit ging sie spazieren und ließ sich von einer Tante durch die Via Roma und die Piazza Castello lotsen, wo sie die Bewunderung jener törichten jungen Elegants und Tagediebe einheimste, die auf der Straße herumstehen.

Aber sie ging würdigen Schrittes einher, stolz auf ihre eigene Unberührtheit, stolz darauf, zwischen soviel Verderbtheit ihre Unschuld spazierenzuführen.

Das erste Mal, als sich Luciano Sangallo ihr näherte, erzählte sie ihm von den Sternen. Sangallo kannte keine anderen Sterne als die am Varietéhimmel.

 

«Du solltest meine Tochter heiraten», hatte ihm die Dame vorgeschlagen. «Sie ist die geborene Frau für dich.»

Luciano bat um einige Stunden Bedenkzeit, aber er überdachte nichts, denn sein Entschluß war bereits gefaßt, als er das Angebot vernahm.

Die Tochter seiner letzten Geliebten heiraten heißt: die Zeit umkehren, ein Wunder vollbringen. Die Zeit umkehren! Ein Weib (die zwanzigjährige Susanne) in die Arme schließen, die ihm das bot, was die vierzigjährige Mutter vor Jahren gewesen sein mußte.

Man muß eine alternde Geliebte gehabt haben, um diese Dinge zu verstehen. Die Entartung des Körpers, den wir noch lieben, obwohl er zerstört ist, und den andere zehn, fünfzehn, achtzehn Jahre vor uns geliebt haben, als er noch Frische, Anmut, Jugend, Leben hatte, als er noch keiner abendlichen Massagen bedurfte, um die Falten zu glätten, kein Henna brauchte, um die weißen Fäden zu verbergen, kein Karmin, um die erloschenen Lippen glühen zu lassen. Man muß eine alternde Geliebte gehabt haben, um zu verstehen, wie wir ihre Tochter begehren, um mit ihr den Weg zurückzulegen, den die Mutter mit einem anderen ging, mit anderen. Ihre Tochter zu besitzen, um die Wiedergabe jenes Antlitzes zu betrachten, das wir zu spät kennenlernten, als die Küsse der Männer und die Narben der Zeit es schon verwüstet hatten. Man muß eine alternde Geliebte gehabt haben, um zu verstehen, was man leidet, wenn man ihr Bild aus der Zeit vor zwanzig Jahren sieht, sei es in der Phantasie oder sei es in einem Bilderalbum, das die Chronik und den Grundriß aller ihrer vielen Liebschaften enthält.

Luciano Sangallo blätterte in dem Liebesalbum der vierzigjährigen Klothilde.

Viareggio 1927. Sie war die Geliebte eines Marineleutnants, der sie an Bord begleitete. Wie schön sie damals war!

Sorrent 1928. Sie war die Geliebte eines alten Richters, der ihr Geld gab, und eines frommen Abgeordneten, der ihr behilflich war, es auszugeben. Was für funkelnde Augen!

Mailand 1929. Sie prostituierte sich einem einflußreichen Mann gegenüber aus Gründen der Karriere. Welche Eleganz in ihrer schlanken Erscheinung!

Stresa 1930. Wie bezaubernd sie war und wie jung und wie verführerisch. Sie kehrte zu dem Marineoffizier zurück und wurde Mutter. Sie betrog ihn mit einem Arzt aus Genf.

London 1931. Da sie sich auf die Liebe mit unerfahrenen Jünglingen festgelegt hatte, verlieh man ihr einen Ehrentitel: «Das Schulschiff».

Berlin, Palermo, Rom, Florenz, Pisa, Budapest 1932, 1933, 1934. Sie war die Geliebte eines gehirnerweichten Aristokraten; kehrte zu dem alten Richter zurück, da sie wieder Geld brauchte; betrog ihn mit einem jungen Diplomaten, da sie Bedürfnis nach einem wirklichen Mann hatte; sie machte Ruggero Ruggeri den Hof, hatte kein Glück und begnügte sich dann mit seinem Diener, einem wunderschönen Jüngling. Sie machte dem Besitzer des Hotels Nettuna in Pisa den Hof, um eine Preisermäßigung zu erhalten. Der Hotelbesitzer, der eine bewundernswürdige Geliebte hatte, dankte für das Angebot, worauf sie sich mit dem Oberkellner begnügte.

Mailand 1936. Sie wurde meine Geliebte – dachte Luciano –, der Verfall begann.

Mailand 1937. Man beginnt die Schädelformen unter ihrem Gesicht zu bemerken.

Mailand 1938. Sie ist alt.

Mailand 1939. Sie hat sich blond gefärbt.

Mailand 1940. Sie ist ein Leichnam, der auf zwei Füßen geht.

Ja, sie ist ein Leichnam, aber ich liebe sie noch immer. Und ich liebe sie, weil sie, ohne zu wissen, daß sie ein Leichnam ist, immer noch auf Männerfang ausgeht!

Ach, ihre schönste Zeit zurückrufen zu können – seufzte Luciano Sangallo –, die Zeiten des unvorsichtigen Marineoffiziers, des weisen Richters, des einflußreichen Protektors! Einmal das Weib in meine Arme fassen, das jene anderen umarmt haben, als sie sich großmütig an alle hingab, aus Menschenfreundlichkeit, aus gutem Herzen, weil sie nicht nein sagen konnte!

So dachte Luciano Sangallo, seine Geliebte betrachtend, die Mutter von Susanne.

Diese Dame, Frau Klothilde, hatte ihn in den letzten Jahren mit wahnsinnigen Eifersuchtsszenen vergiftet, weil er, nach Jugend verdurstet, häufig auf die geschickten Manöver einer erfahrenen Liebesprofessionistin zurückgriff, der es jedoch mit all ihren Prophezeiungen niemals gelungen war, ihn von Klothilde zu lösen. Dies mußte ihr schwerfallen. Er liebte jene zu sehr; liebte und haßte sie zugleich. Liebe und Haß sind die entgegengesetzten Erscheinungsformen der gleichen Leidenschaft. Er haßte Klothilde wegen ihrer Vergangenheit. Sie hatte sich angeboten, aufgedrängt, verkauft, als der Ehemann, der Industrielle noch nicht die Masse aller dieser Millionen beisammen hatte.

«Heirate meine Tochter! Es wird sein, als würdest du mein erster Geliebter. In ihrem Alter glich ich ihr.»

Aber ob das Fräulein Susanna das Geschick besitzen wird, eine so bewundernswerte, durch sich selbst potenzierte Frau zu werden wie ihre Mutter? Versuchen wir’s!

Und Luciano Sangallo versuchte es.

Wenige Tage darauf wurden über ganz Italien fünfhundert Doppelkärtchen folgenden idiotischen Inhalts verbreitet:

Bevor er zum Standesamt ging, nahm Luciano Sangallo jene Operation vor, die man vor dem Selbstmord und vor der Ehe auszuführen hat: er verbrannte sämtliche Liebesbriefe, die er vom Augenblick der erreichten Reife bis zu jenem Tag erhalten hatte. Es waren ganze Kisten voll. Vor den Kamin hingekauert, dessen Flammen sein Gesicht beschienen, glich er dem Kalifen Omar, als er die Alexandrinische Bibliothek anzündete. Das Feuer erweckte den Duft der alten Papiere. Über ein Bündel Briefe rannen Tropfen von Siegellack. Ein Band wehte auf. Vertrocknete Blumen knisterten. Die Lügen verbrannten lautlos.

Als der Scheiterhaufen gelöscht war, rührte Luciano mit der Feuerzange die Asche all dieser gleichlautenden Liebesbotschaften durcheinander, die von, dem Anschein nach, so unterschiedlichen Frauen geschrieben worden waren.

Das Fragment eines verkohlten Briefes war auf der Innenseite nicht ganz verbrannt. Luciano nahm es zwischen die Fingerspitzen und las: «Ich, die ich nur Dein gewesen bin …»

Er lachte. Er drehte ein Papierkügelchen daraus, warf es in den Kamin und zog den Frack an.

Orangenblüten, Bürgermeister, festliches Diner, Reden, tränenreiche Umarmungen, Schneiderkleid, Abreise nach Paris, wie bereits auf der ersten Seite gesagt, wo es ein jeder ohne Preisaufschlag nachlesen kann.

 

Als der Zug einige Meter gefahren war, setzten sich die jungen Leute einander gegenüber. Luciano, der sich aus dem Fenster gebeugt hatte, um sich von näheren und entfernteren Verwandten zu verabschieden, und sich hierbei auf die Messingstange gestützt hatte, hatte einen taubenfarbenen Streifen quer über das Innere der Handschuhe davongetragen.

«Wie schlecht diese italienischen Eisenbahnen instand gehalten sind!» bemerkte die junge Frau. Luciano schwieg. Es ist deprimierend, selbst für einen Mann ohne Illusionen, die Poesie des «Endlichalleins» mit einer solchen Phrase zu beginnen.

Sie ist ein Dummchen, dachte er, aber sie ist schön. Sie ist so schön, wie es die Mutter in ihrem Alter war.

Sie hatte dieselben grauen Augen mit den grünlichen und gelblichen Goldpunkten wie Danziger Goldwasser. Auch ihre Schienbeine wirkten zerbrechlich wie Handgelenke, und ihre Handgelenke waren weiß und flach, sogar innen ein wenig konkav und außen vollendet gerundet wie ein Bambusschaft.

Auf dem Kopf ein luftiger Strohhelm.

Das Schneiderkostüm gemahnte an die Mutter, Frau Klothilde, als sie mit einem Lassowerfer nach Amerika geflohen war, einem bewundernswerten männlichen ranchman, der sie im Sattel über die unendlichen Ebenen des fernen Westens geführt hatte.

«Bist du diese Strecke schon mal gefahren?» fragte Luciano.

«Einige Male», antwortete die Jungfrau so schüchtern, als täte ihr der Gemahl eine große Ehre an, indem er das Wort an sie wendete. «Ich bin hier vorbeigekommen, wenn ich aufs Land nach Sant’ Antonio di Susa fuhr. Und du?»

«Auch einige Male.»

Er hatte die Reise einmal mit einem Fräulein aus der römischen Aristokratie gemacht, die nach Paris fuhr, um dort die zahnärztliche Schule zu besuchen, wo sie die Zähne der Männer so schnell kennenlernte, daß sie dann zu anderen interessanteren Teilen überging, nachdem sie an Luciano Sangallo die nützlichsten Erfahrungen gemacht hatte. Jetzt war sie in Pernambuco in Brasilien, wo sie ein musterhaftes Haus für ernsthafte Männer unterhielt …

Ein andermal war er mit einer sehr bekannten Mailänder Kokotte gefahren, die sich nach Paris zum Doktor, einem berühmten Chirurgen begab.

Ein andermal wieder hatte er die Reise zusammen mit einer Frau mit den wunderbaren Augen einer Giftmischerin gemacht, die nach Le Havre ging. Sie waren allein im Wagen. Irgend jemand hatte ihr ein neckisches Körbchen mit frischen Erdbeeren an die Bahn gebracht. Als es zu dämmern begann, eine halbe Stunde vor der Grenze, bat sie ihn, ihr beim Öffnen einer luxuriösen Reisetasche aus Krokodilleder behilflich zu sein, die ein raffiniertes Laboratorium der Koketterie enthielt. Zwischen den verschiedenen Parfümfläschchen befand sich auch ein größeres Gefäß aus Silber und Kristall und ein ziselierter silberner Mörser.

Die Dame leerte ihr Erdbeerkörbchen in den Mörser, schnitt die Früchte mit Hilfe eines Scherchens und eines haarscharfen Messerchens (eines von der Sorte, wie man sie zu den Morden aus Leidenschaft ohne Vorüberlegung braucht) in kleine Stücke; und mit großer Anmut hatte sie sich an Luciano wie an einen alten Bekannten gewandt und ihm die Flasche gereicht.

Und während Luciano die farblose Flüssigkeit über die blutigen Früchte goß, fragte ihn die Dame, den Trank mischend, mit faszinierender Anmut: «Sie lieben Früchte in Äther?»

Man kann ohne zu erröten antworten: Ich rauche nicht; ich trinke nicht; ich spiele nicht Billard; ich kümmere mich nicht um Politik; aber man kann einer schönen Frau, die man auf der Reise nach Paris kennenlernt, unmöglich antworten: «Nein, Früchte in Äther schmecken mir nicht!» Und wenn ihm niemals auch nur im Vorhof seines Gehirns die Idee gekommen wäre, zivilisierte Leute könnten solches Zeug herunterwürgen, so antwortete er doch: «Ja, Madame, ich bin verrückt danach!»

Das erste Mal, wenn man Kokain schnupft, schläft man ein, und man fühlt etwas wie eine Vereisung der Nase und ein friedliches Hinneigen zu der Idee des Sterbens. Aber wenn man das erste Mal Äther riecht oder trinkt, wird man von einem sanften erotischen Wahnsinn ergriffen, dem die Begierde nach Besitz fremd ist. Man vergeht danach zu umarmen, zu küssen, zu liebkosen, die Rundungen zu erraten, in den weichen lauen Bögen der Brüste einzuschlafen.

Luciano war nicht gleich eingeschlafen, denn bevor der Äther zu wirken begann, hieß man ihn an der Grenzstation aussteigen. Luciano Sangallo erinnerte sich noch dunkel an das wie in einem Delirium gesehene Zollamt; alle diese offenen Reisetaschen gleich der Autopsie unterworfenen Körpern; auf einem ordinären Brett nebeneinandergereiht; die Zollbeamten, der Inspektor, der Paß, das Geldwechseln; und die schöne Polin, umnebelt wie er, an seiner Seite. Er erledigte automatisch all diese bürgerlichen und bürokratischen Obliegenheiten, während in seinem Gehirn ein Strudel gestörter Visionen und unvollendeter Träume kreiste.

Als sie den Zug wieder bestiegen hatten, schliefen sie beide ein; ihr Kopf auf seiner Schulter, die vier Beine auf der gegenüberliegenden Bank (sie trug Strümpfe von violettem Schimmer) und die Hände …

Ach, die Hände, die Hände …

Und sie wußten noch nicht einmal ihren Namen und ihr Reiseziel.