Die Jungfrau von 18 Karat - Pitigrilli - E-Book

Die Jungfrau von 18 Karat E-Book

Pitigrilli

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Beschreibung

Pitigrilli lesen! In den zwanziger Jahren von Moralisten ebenso wütend geschmäht wie von weltoffeneren Geistern enthusiastisch gefeiert, beweist dieser Autor eine seltene literarische Qualität: ohne einschlägiges Vokabular und abgenutzte Bilder zu strapazieren, verströmen seine Bücher von der ersten bis zur letzten Seite kluge Sinnlichkeit und subtile Erotik. Ebenso geistvoll wie herzerfrischend trivial, gleichermaßen menschlich einfühlsam wie beißend ironisch, zieht uns ein geborener Erzähler in den Bann seiner schillernden Figuren.

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Pitigrilli

Die Jungfrau von 18 Karat

Ihr Verlagsname

Bearbeitete Ausgabe der Übersetzung aus dem Italienischen von Maria Gagliardi

Über dieses Buch

Pitigrilli lesen!

In den zwanziger Jahren von Moralisten ebenso wütend geschmäht wie von weltoffeneren Geistern enthusiastisch gefeiert, beweist dieser Autor eine seltene literarische Qualität: ohne einschlägiges Vokabular und abgenutzte Bilder zu strapazieren, verströmen seine Bücher von der ersten bis zur letzten Seite kluge Sinnlichkeit und subtile Erotik. Ebenso geistvoll wie herzerfrischend trivial, gleichermaßen menschlich einfühlsam wie beißend ironisch, zieht uns ein geborener Erzähler in den Bann seiner schillernden Figuren.

Über Pitigrilli

PITIGRILLI, eigentlich Dino Segre, wurde 1893 in Turin geboren, wo er auch 1975 starb. Der promovierte Rechtswissenschaftler arbeitete als Redakteur für verschiedene Zeitungen. Bevor er 1940 Lina Furlan heiratete, Italiens erste Rechtsanwältin an einem Schwurgericht, galt Pitigrilli als Salonlöwe. Die zwanziger Jahre verbrachte er als Zeitungskorrespondent in Paris, wo auch seine ersten, heftig diskutierten Bücher entstanden. Als 1939 auch in Italien die Rassengesetze in Kraft traten, musste er auswandern, zunächst in die Schweiz, dann nach Argentinien.

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel

1

«Ein Jahr wird unsere Liebe dauern.»

«Noch ein Jahr?»

«Ein Jahr, die Leidenszeit mit eingerechnet.»

Aus dem Schweigen der Mittagsstille gingen die Liebenden in den geräuschvollen Speisesaal, wo der ölige und dünkelhafte Hausmeister mit seinem süßesten Lächeln ihnen entgegenkam, ihnen die Stühle zurechtrückte und die Weinkarte vorlegte.

Der Eintritt der Schauspielerin erregte lebhafte Bewegung, geschwätziges, neugieriges Flüstern.

In der vorhergehenden Nacht, nach der letzten Aufführung der Saison und nach mehrstündiger Automobilfahrt, hatte sie sich mit dem Geliebten getroffen, um einen Monat der Ruhe in diesem Hochgebirgsort zu verbringen, wo die Herbstzeitlose im Juli blüht, in dem ein wenig ländlichen Gutshof, der prächtig geschmückt war von drei unvergleichlichen Künstlern; Salpeter, Moos und Flechte.

Sie setzte sich, ohne um sich zu blicken, wie jemand, der Widerwillen hat gegen Speisen und gegen Menschen. Der Freund machte eine allgemeine halbkreisförmige Verbeugung, auf die man hier und dort antwortete, von den kleinen mit roten Lilien und wilden Orchideen verzierten Tischen.

«Hast du schon Intrigen angezettelt?» fragte sie ihn mit einer gewissen Insinuation, indem sie unlustig einige Essigfrüchte auf den Teller nahm. «Wer ist die Dame dort allein, die liest?»

«Eine Ägypterin.»

«Eine authentische?»

«Wie ein Krokodil.»

«Mit den mostrichfarbenen Haaren?»

«Eben deswegen. Wenn sie eine Imitation wäre, hätte sie sich die Mühe genommen, sie sich schwarz zu färben, der Echtheit wegen.»

«Was treibt sie?»

«Ich weiß nicht, ob sie lernt oder lehrt. Ob sie sich amüsiert oder die anderen.»

«Wer ist ihr Liebhaber?»

«Der am schwersten Verdächtigte ist der Herr dort mit dem runden, roten Kopf wie ein Holländer Käse; er ist mit vierzig Atmosphären aufgeblasen, weil er reiche Wolframgruben in Schweden besitzt und ein Teerpräparat herstellt – Nitrobenzol –, das seine Kleider mit einem unerträglichen Geruch von bitteren Mandeln durchtränkt; um diesem Geruch zu entgehen, kommt seine Frau zur Sommerfrische auch in dieses Gebirge, aber auf den entgegengesetzten Abhang.»

«Und die drei gleichgekleideten jungen Damen mit den sieben Reihen Perlmutterknöpfen, die dasitzen wie die Orgelpfeifen?»

«Drei undeflorierbare Schwestern: ich habe sie im vergangenen Winter kennengelernt im Komitee für die Ehrenrettung der jugendlichen Anthropophagen oder ich weiß nicht in welchem anderen Freudenhaus der Wohltätigkeit: sie sind näher dem Altjungfertum als der Pubertät und haben eine lächerliche Sorte von Vater, der beständig den steifen Hut auf dem Kopf behält, um sich vor den ultravioletten Strahlen zu schützen; er beteiligt sich mit verhältnismäßiger Bußfreudigkeit an ihren Gesellschaftsspielen, die darin besteht, daß er sich mit drei Drehungen auf einem Fuß um einen Tisch bewegt oder einen Herrn, der friedlich in seine Zeitung vertieft ist, in unartiger Weise belästigt. Oh, sie sind überaus geistreich. Unter all den kläglichen Bildern, die ich auf meinen kurzen Streifereien durch die Welt beobachte, hat nur eine einzige Seite mich gefreut: die Jungfrauen altern, sich aufreiben, verzehren zu sehen, in der vergeblichen Erwartung eines vermeintlichen Freiers, wie es dem Geizhals ergeht, der sich aufhängt, weil eines schönen Tages sein Geld nichts mehr wert ist.»

Die Dame vom Theater ließ sich zu einem Lächeln herbei.

«Mich hingegen stimmen sie traurig», gestand sie melancholisch, «obgleich ich mich frage, wer mehr zu beklagen ist, ob jene alten Mädchen, die, um einen Mann einzufangen, sich niemals hingegeben haben, oder diejenigen, denen, weil sie sich jedesmal, wenn sie die Lust verspürten, hingaben, es nie gelungen ist, sich einen Ehemann zu sichern.»

Sketch antwortete nicht. Sketch war Besitzer eines Vornamens und eines Nachnamens, aber wie alle Geliebten nannte man ihn mit einem Kosenamen.

Die große Schauspielerin, die ganz jung zur Berühmtheit gelangt war, die Frau, die die Düfte aller Treibhausblumen der Welt kannte – denn auf allen Meridianen und Parallelkreisen hatte sie vor begeisterten Massen die Geheimnisse ihrer Kunst offenbart, die schöne Tragödin, Heldin von Geschichten und Legenden, die im Ruf lesbischer Liebschaften stand, verdächtig war, die Leidenschaften von Königen erregt und Spionage während der Kriegszeit getrieben zu haben, das Weib, das alle Seelenerregungen durchkostet hatte, nährte einen einzigen Wunsch, ein einziges Verlangen: nach einem Haus, einem alten Landhaus mit einem großen Kamin, an dem ein Großvater, ein anbetenswerter Plauderer seine außerordentlichen Abenteuer zu Lande und zu Wasser erzählte.

«Alle sind wir verfehlte Existenzen», äußerte sie in trübsinnigen Stunden, «weil wir etwas anderes sein möchten, als wir geworden sind. Vielleicht sind die untergeordneten Menschen mit armseligen Idealen und von niedrigem Flug, die am Sonntag spazierengehen, den Spazierstock in der Hand, die Füllfeder in der Westentasche und am Arm die fruchtbare Gattin, glücklich. Ich, die vielbeneidete Frau, finde mich weniger beneidenswert als alle Frauen der Welt.»

«Hier gibt es keine interessanten Personen», fuhr Sketch fort, geschickt die schwermütige Parenthese schließend, indem er die anderen Tischgenossen Revue passieren ließ, «Neureiche, die schief am Tisch sitzen, sich den Schnurrbart mit dem Handrücken abwischen, fortgehen mit dem Zahnstocher im Mundwinkel und verkünden, daß der Wein das beste Mineralwasser ist.»

«Und der junge Mann dort?»

«Ein sehr moderner Herr: das Schickste, was es gibt: aber er hat eine etwas schwere Zunge, man müßte sein Inneres einmal schmieren: ein Mangel, der ihn zwingt, weniger Dummheiten zu sagen, als er möchte.»

«Er verschlingt mit den Augen seine Nachbarin, das junge Mädchen dort ganz allein.»

«Es wird ihm nicht schwer werden, sie auch ganz zu verschlingen: sie ist ein kleines Dirnchen jüngsten Datums, aber es fehlt ihr die Patina der Zeit.»

«Von wem wird sie unterhalten?»

«Jeden Abend werden die Karten gelegt, um zu erfahren, ob der anbrechende Tag ihr die Geldanweisung bringen wird. Ihr Geschäft ist noch nicht konsolidiert; jedoch hat sie Sinn für die Öffentlichkeit: sie verteilt mit großer Bereitwilligkeit GratisKußreklamen.»

«Auch dir?»

«Mir warf sie lächelnde Mahnungsblicke zu. Die andere dort, die mit dem Kaffeelöffel trockene kalligraphische Übungen auf dem Tischtuch ausführt, ist eine Jungfrau, eine echte Jungfrau, die Standard-Jungfrau: die Jungfrau von achtzehn Karat.»

«Kennst du sie?»

«Nein.»

Die große Künstlerin faßte dieses bündige Nein als eine schamlose Bejahung auf.

Der Kellner füllte eine Brühe auf, wäßrig wie ein psychologischer Roman, als eine keifende Stimme protestierte: «Das ist keine Suppe, das ist Spülwasser.»

Die Schauspielerin warf einen Seitenblick nach der Sprecherin und wandte sich dann wieder Sketch zu:

«Sie ist recht töricht, deine Jungfrau!»

«Meine? Eine Jungfrau? Es liegt nicht in meinem Temperament … Bahnbrecher zu sein.»

Sketch hatte die Existenz des unbedeutenden jungen Mädchens kaum bemerkt, und schon hatte seine Freundin, mittels der wunderbaren Intuition der Frauen, die dunklen Strömungen herausgefühlt, die die beiden zueinander hinzogen.

«Ist sie allein hier?»

«Ja, eines Tages kam ihr Vater her, um sie zu besuchen. Ein schöner, stattlicher Mann, blond wie sie, von ungefähr fünfundfünfzig Jahren; Typus des freiwilligen Polygamen, energisch, zielbewußt: einer jener Männer, die du jeden Augenblick erwartest, im Senat zu sehen oder im Schwurgericht, auf deren Koffern man die Reklamezettel der ersten Hotels der Welt geklebt findet und die Stempelmarken von vierzig Zollämtern. Ein anderes Mal erhielt sie den Besuch einer guten Dame, süß und dickbäuchig wie eine Zuckerschale, die aber schleunigst mit dem nächsten Zug wieder abreiste.»

«Und wieso läßt man sie allein?»

«Englische Erziehung. Sieht man sie zum erstenmal, so erscheint sie einem wie ein kleines Mädchen im ungünstigen Alter, eine törichte Vierzehnjährige.»

«Was die Deutschen einen Backfisch nennen?»

«Ganz recht.»

«Und die Amerikaner ein weiches Küken, spring chicken.»

«Sie ist aber zwanzig Jahre alt und ist nicht albern. Sie tanzt nicht und verursacht daher keinen Staub: sie hat den großen Vorzug, nicht auf der Geige zu kratzen noch Klavier oder ein anderes Musikinstrument zu klimpern.»

«Kurz: sie gefällt dir.»

«Sie hat einen schönen Mund. Wie ein rotes Siegel.»

«Auf einer Bazillenphiole. Du hast eine Schwäche für die Leichen auf Urlaub, für jene Sanatoriumsaspiranten. Damit eine Frau dir gefällt, muß sie magere Schulterblätter haben.»

«Die klassische Schönheit befriedigt mich nicht. Ein großer Fehler der klassischen Kunst ist die Gesundheit. Hätten die zahllosen Junos an gastrischen Zuständen und die Madonna an Nierensteinen gelitten, es würden gewisse Statuen und gewisse Bilder heute noch erträglich sein.»

«Aber deine Jungfrau ist keine Museumsschönheit.»

«Sie ist schön wie alle jungen Damen ihres Alters.»

«Damit willst du zu verstehen geben, daß ich alt bin.»

«Schreibe mir nicht Worte zu, die ich nicht sage, und Dinge, die ich nicht denke.»

«Du denkst sie und sagst sie.»

«Das sind deine Einbildungen.»

«Beschimpfe mich jetzt noch!»

«Sprich nicht so laut. Man beobachtet dich.»

«Darauf pfeife ich.»

«Du hast recht darin; aber lebt man in einer engen Gemeinschaft …»

«Geh mir mit deiner Gemeinschaft, gegen die schütze ich mich durch Gurgelwasser.»

«Versuche deine Nerven zu beherrschen!»

«Wer seine Nerven beherrschen kann, hat keine. Und was dein Fräulein anbetrifft, so laß dir nie den Einfall kommen, sie mir vorzustellen. Sie muß zu jenen Provinzlerinnen gehören, die immer den Zug versäumen und in den Straßenbahnen sich von Taschendieben bestehlen lassen.»

Das Huhn setzte dem Messer von Sketch energischen Widerstand entgegen, so daß er seine ganze Kraft aufbieten mußte, um die Knochen aus den Gelenken zu lösen und um sein zorngerötetes Gesicht zu verbergen. Und da die Frau ihn weiter mit ihren bösartigen Ausfällen überschüttete, bat er sie:

«Mach mir keine öffentlichen Szenen. Wenn du die Absicht hast, eine Untersuchung einzuleiten, so laß uns den Gerichtssaal wechseln.»

«Gerade das wollte ich vorschlagen.»

Und sie gingen hinaus.

Die ägyptische Dame würdigte sie eines schläfrigen Blicks, während sie mit dem Messerrücken eine Buchseite aufschnitt und dadurch jene achtlosen Unebenheiten des Papiers veranlaßte, die solche Bücher kennzeichnen, die mit allzu großer Begierde oder zu großer Langeweile gelesen werden.

«Baccarà, wo läufst du hin?» klang es hell von dem dunkelblonden, von der Zeit noch nicht durchgearbeiteten Dirnchen, um den hinter Sketch herlaufenden Hund zurückzuhalten. Und der heuchlerische und lange Dackel kehrte reumütig zu seiner jungen Herrin zurück in seiner aalartigen, gespreizten und wiegenden Gangart.

«Gut konserviert», meinte der junge Weltmann, als die Schauspielerin auf der Schwelle war, «sie muß schön gewesen sein.»

«Ja, unter Carl Albert», entgegnete das Dirnchen, indem es sich bückte, um den eigenwilligen Baccarà anzubinden.

Ein reichgewordener Drogenhändler:

«Es ist kein neues Gesicht.»

«Das will ich meinen! Sie gebraucht es seit fünfzig Jahren.»

«So sieht sie nicht aus.»

«Elle a du chien», entschied die Ägypterin, «elle a du cran!»

Der Nitrobenzolfabrikant warf dem jungen Weltmann einen scheelen Blick zu, und als ihre Augen sich begegneten, kommentierte er hämisch:

«Sie hatten während der Mahlzeiten Musik gewünscht, wir werden etwas Besseres haben: Theater.»

«Der grand-guignol. Welch abscheuliches Temperament diese beiden.»

«Glauben Sie das nicht!» verbesserte der chemische Patrizier, der hinter den Kulissen zu Hause war. «Ich kenne sie. Jeder für sich allein genommen ist ein sanfter Charakter; aber sobald sie in Kontakt miteinander geraten, explodieren sie: sie sind wie die Terpentinessenz, eine ganz unschädliche Substanz, und Jodtinktur, harmlose Substanz: mischen Sie aber die beiden Substanzen miteinander, so richten sie großen Schaden an.»

«Gewisse Liebespaare», seufzte mit schmerzlichem Lächeln die transzendentale Ägypterin, indem sie die schweren Lider über ihre mandelförmigen Augen senkte, «fühlen das köstliche Bedürfnis, einander weh zu tun. Es ist eine Notwendigkeit des Martyriums.»

Sie stützte den Ellbogen auf die Tischkante, und den Unterarm gerade haltend, so daß ihre Hand in einem rechten Winkel dazu sozusagen erstarrte, fuhr sie langsam mit der Schläfe über den Handrücken, um sich das Haarband an den Edelsteinen der Ringe zu glätten.

Die Jungfrau von achtzehn Karat ging hinaus, um draußen zu lachen.

Die Marchesa («mein Onkel der Erzbischof, mein Schwager der Admiral, der Marquis mein Gatte») befahl in einem zweifelhaften Französisch der steifen Gouvernante (natürlich Savoyardin), den kleinen Baron hinauszutragen, der, obwohl für das Waffenhandwerk bestimmt, diese Reden noch nicht mitanhören sollte.

«C’est abominable, madame la marquise!» entsetzte sich die Gouvernante und trug den kleinen vierzehn Monate alten Marchesino, der rot und ungebärdig war wie ein Ferkelchen der Grafschaft York, auf ihren Armen hinaus.

Die drei undeflorierbaren Fräulein, jene jungen Damen, die am Abend die Sterne befragten, ließen sich nicht ablenken, fuhren fort in ihren keuschen Unterhaltungen über die Jugendfrische, die man sich aus den Quellen holte und über die übervollen Himbeersträucher; Himbeeren, die der Onkel Battistine so leidenschaftlich gern aß. Wie würde Onkel Battistine sich amüsieren, wenn er hier wäre!

***

Vor einigen Monaten war er, während eines unlustigen und ziellosen Bummels durch die Straßen einer großen Stadt, aufs Geratewohl in ein Parfümeriegeschäft eingetreten.

«Ich möchte ein Flakon Parfüm.»

«Für Herren oder Damen?»

«Für beide Geschlechter.»

Und er fing einige Worte des Zwiegesprächs zwischen dem unterwürfigen Verkäufer und einer mißtrauischen und phlegmatischen Dame auf:

«Wie ist der Preis?»

«Gnädige Frau, dreihundert Lire, weil Sie es sind.»

«Und wenn ich es nicht wäre?»

«Das Doppelte.»

«Ich würde vorziehen, das Doppelte zu zahlen und nicht ich zu sein.»

Er näherte sich nun der schönen Kundin:

«Entschuldigen Sie, gnädige Frau: ein Mann, der nicht tanzt, nicht die gute Gesellschaft frequentiert, den Frauen nicht nachläuft, sie nicht auf der Straße anspricht, die Portierfrauen nicht ausfragt, nicht das Hotelpersonal besticht, wie muß er sich benehmen, um die Bekanntschaft einer Dame zu machen, die ihn interessiert?»

«Sehr einfach», hatte die Dame geantwortet, ihn mit ihren großen grauen, mit gelben Fleckchen betupften Augen musternd, «er kann es machen, wie Sie es gemacht haben.»

«Nun gut, ich heiße Mauro Mauri, bin achtundzwanzig Jahre alt, wohlhabend, ohne festen Wohnsitz; einmal vorbestraft, mit Bewährungsfrist, wegen Beleidigung eines Eisenbahners, Wassermann negativ. Wenn die Schneiderinnen, Dichter, Bewunderer, Aufführungen und Proben Ihnen eine halbe Stunde Zeit lassen, so gewähren Sie sie mir. Ich werde Ihnen den allerrespektvollsten Besuch machen. Ich habe keine schlechten Absichten.»

«Wenn Sie keine schlechten Absichten haben, ist es nicht interessant. Indessen kommen Sie nur heute abend.»

Am nächsten Morgen, als sie mit der ganzen schmiegsamen Wärme ihres hüllenlosen Körpers an seinem Hals hing, warnte sie ihn:

«Mein Kleiner, du darfst für mich kein Trauerspiel werden und nicht einmal eine allzu leichte Komödie. Auch keine zu lange. Du sollst ein kurzer Akt sein, halb sentimental, halb lustig, das, was man einen Sketch nennt.»

Und der Kosename war ihm geblieben:

«Sketch!»

***

So war die stille und leere Existenz von Mauro Mauri in eine unvorhergesehene Phase eingetreten. Nun reiste auch er mit der dramatischen Gesellschaft seiner Geliebten von Stadt zu Stadt. Er lebte das trügerische und wunderbar intensive Leben des Theaters: er lernte den Jargon kennen, eignete sich die verschiedenen Formen des Aberglaubens an, hörte den Klatsch hinter den Kulissen, nahm teil an den Streitigkeiten der Garderoben; lernte, wie man das Geräusch des Gewitters nachahmte, die Nasen verkürzte und die Jahre verwischte. Er empfand die Aufführung eines Stückes, das am nächsten Abend achthundert Kilometer weiter wiederholt werden mußte; er genoß und durchlitt die etwas lächerlichen Freuden, der Geliebte der Schauspielerin zu sein, der in der Garderobe bleibt, wenn die Diva sich umkleidet, der ihren Hund spazierenführt, der die Stücke für die Novizen beurteilt und bestimmt, der den Zeitungen Notizen einschickt und den lästigen Bittstellern Freibilletts gewährt. Der Geliebte einer berühmten Frau gleicht dem Museumshüter, der auf der Fotografie neben dem enormen prähistorischen Ungeheuer abgebildet ist, um den Kontrast der gigantischen Masse deutlich vor Augen zu führen. Der Freund der Primadonna ist gleichsam der Prinzgemahl, den die engagierten Schauspieler mit stiller Malice und lächelndem Vorwurf befragen, wenn die Leiterin, etwas nervöser als gewöhnlich, eine ungestillte Befriedigung ihrer kondensierten Weiblichkeit irgendwie durchblicken läßt.

Er erfuhr, wie die katastrophalen Frauen, die vermeintlichen Millionenverschwenderinnen, weich sein, kindhaft Weib sein können, wenn sie die veränderliche, allzuschwer gewordene Maske abwerfen. Er nahm das ironische und unausgesprochene Urteil der öffentlichen Meinung hin, die es ihm verübelte, daß er der Auserwählte der großen Schauspielerin, des Abgotts der Massen war.

«Kümmere dich nicht um die öffentliche Meinung», riet sie ihm, «sehen sie dich mit einer eleganten Frau, so bist du ein Ausbeuter der Weiber; mit deiner Frau bist du ein Hahnrei; mit einem Freund ein Päderast; und gehst du allein, ein Onanist. Es gibt nur ein Mittel, sich vor der öffentlichen Meinung zu schützen: sie ertragen.»

Die Schauspielerin hatte sich ihm hingegeben mit ihrer vielfältigen Seele, ihn mit einer vampirartigen Leidenschaft umgarnend, mit ihrem lockenden Begehren fesselnd, mit der klugen Erfahrung ihres mannigfaltigen Lebens, das sich zusammensetzte aus den zahllosen Existenzen der falschen und furchtbaren Wesen, die sie jeden Abend auf der Bühne mit Leben füllte, tötete, wiedererweckte. Sketch lernte, wie jene vielgestaltigen Frauen, schön und stachlig wie der Kaktus, die zusammengesetzt scheinen aus Niedertracht und Glanz, großer Leidenschaften fähig sind, aber zuweilen auch verstehen, einen Menschen zur Verzweiflung zu treiben durch ihre Kälte, wie ein wahnsinniger Brandstifter, der Feuer an die Scheune legt und pfeifend davongeht.

Bisher hatten sich seine Liebschaften auf unbedeutende Frauchen beschränkt, die dein Haus ohne Schwindel und ohne Reue verlassen, versprechen, daß sie vielleicht wiederkommen werden, und die dir nichts von sich zurücklassen als ein paar zerzauste Haare im Kamm und einen leichten Puderschimmer auf dem Aufschlag des Rocks.

Er hatte seine Jugend erstickt zwischen Wirtshäusern und garstigen, öden, quälenden möblierten Zimmern, in denen es nach Knoblauch roch, nach ordinären Seifen, nach verdächtigen Arzneien, wo man sich grabeseinsam fühlt, auch wenn aus dem Nebenzimmer das Klirren von Sporen hereintönt, die eine Ordonnanz putzt, oder das Ritornell, das eine Liedersängerin trällert, auch wenn von jedem früheren Gast etwas innerhalb dieser zweideutigen Wände weiterlebt, Wände, ringsherum mit armseligen Nägeln besät, an denen abwechselnd Irrigatoren und Kruzifixe hingen.

Die Liebe zu der berühmten Schauspielerin war die verwirrende Offenbarung eines phantastischen Horizonts gewesen, der Übergang von einer farblosen Jugend zu einer malerisch bewegten Mannesreife, auf der Unterströmung moderner Komödien, unter genialischen Histrionen und intellektuellen Kurtisanen, die die unfruchtbar machenden Wasser ihrer Bidets am Heiligen Feuer der Kunst zum Kochen bringen. In der Sublimierung des Absurden, der Erregung der Unwirklichkeit lebend, hätte er sein schon unstetes Leben eines Umherirrenden noch umherstreifender gestalten mögen, um den Raum zu vervielfältigen und die Nächte abzukürzen, indem er die Abende bis zum Morgen hinzog, bei dem bläulichen elektrischen Licht, das die Wangen blutlos und die Gesichter hohl macht. Der Duft von Weiblichkeit, Untreue, Ehebruch, der in den Theatergarderoben schwebt, reizte seine sinnliche Gehirntätigkeit; und die künstliche Beschäftigung im Bühnenraum verlieh ihm die Wollust des Falschen, den Giftrausch, der die Weltvorstellung entstellt wie in den Visionen der Fieberkranken.

Die große Schauspielerin hatte seinen Geschmack, seine Emotionen, seine Empfindungen aus dem Gleis geschleudert, mit bewußter Perfidie ihm das Martyrium ihrer Verweigerung auferlegt, ihm mit unüberlegter Unbedachtsamkeit tropfenweise die Qual beigebracht, daß sie ihn betrüge.

Wievielmal, wenn sie ihn nach der Vorstellung mit einem unwiderruflichen «Auf Wiedersehen morgen bei der Probe» entlassen hatte, ging er, an seinen Nerven zerrend, wieder und wieder unter den Fenstern der Geliebten vorbei, die durchleuchtet waren von einem sanften, rosigen Licht, das auf den Vorhängen unbekannte Schatten abzeichnete, die sich bis zu vorgerückter Nachtstunde dort bewegten. Und wie oft, wenn er bei Tagesanbruch das Schlafzimmer der großen Schauspielerin betrat, nahm er den Duft von Zigaretten wahr, der nicht von denen kam, die sie rauchte!

«Heute abend speise ich nicht mit dir!» kündigte sie ihm mit unerschütterlicher Ruhe an.

Und eines Tages, als er einen leisen Widerspruch wagte, warf sie ihm eine Schneiderrechnung entgegen mit den barschen Worten:

«Sechsundachtzigtausend Lire. Bezahlst du sie?»

Nach einem dieser Zwischenfälle verschwand er in irgendeinem Zug, dem ersten Zug, der abfuhr. Aber am nächsten Abend erschien er wieder im Hintergrund des Parketts, um mit kindlicher Begeisterung zu applaudieren und sein Joch, diese Kette von Krisen und Trennungen, von Rückkehr und Drohungen, von rückfälligen Tollheiten, von unerbittlichen Begierden, von wilder Eifersucht wieder auf sich zu nehmen.

Die schöne Geliebte vergiftete ihn mit der Unlogik ihrer Liebe, mit der intermittierenden Veränderlichkeit ihrer Zärtlichkeit, mit der kalten Bosheit ihrer unter Starkstromspannung stehenden Nerven. Heute stieß sie ihn mitleidlos zurück, nachdem sie ihn mit den herzlichen Worten der einfachen Geliebten zu sich gerufen hatte; morgen peinigte sie ihn mit der ins einzelne gehenden Schilderung eines an ihm begangenen Verrats, und wenn sie sah, wie die Anzeichen einer ausbrechenden Raserei seinen Blick trübten, heilte sie ihn mit perfider Weichheit:

«Kind! Ich habe dich nicht betrogen. Warum bist du nicht gekommen? Ich habe dich erwartet.»

***

Brünett, sympathisch, achtundzwanzig Jahre alt, wie es auf der vierten Seite der Zeitungen in den kleinen Inseraten beschrieben wird von denen, die eine «Liebesheirat» suchen, entstammte Sketch einem jener gutbürgerlichen Häuser, wo die Ankunft eines Telegramms ein sensationelles Ereignis ist, das die Blutzirkulation aller Familienmitglieder stocken macht, und wo der Besucher, bevor man ihn einläßt, sich einer genauen Prüfung und einem strengen Verhör durch das Guckloch unterziehen muß. Immerhin gehörte er dem großen Geschlecht der Ruhelosen an, der Unregelmäßigen, der Aufsässigen, der Herumvagabundierenden, jener Sorte Menschen, die ohne Schirm in den Regen gehen, russische Windhunde und Angorakatzen verachten, denn sie ertragen keinerlei Aristokratie, nicht einmal die der Tiere.

Er hatte das elterliche Haus verlassen, um nicht an eine Ordnung gebunden zu sein, nicht einmal an die Stunde der Mahlzeiten, und auch weil die gewohnten Tischunterhaltungen ihm lästig geworden waren: «Nachdem man sich zwanzig Jahre kennt, hat man sich nichts Neues mehr zu sagen», erklärte er jedem, der ihn fragte, warum er mit so unabänderlicher Entschlossenheit den Vater, die Mutter, die Wohnung mit Bad, Weinkeller und Obstgarten im Stich ließ.

Nur selten hatte er den Frauen gehuldigt. Es waren die Frauen, die ihn suchten wegen seiner verträumten Gleichgültigkeit, die ihn von den üblichen Lohnarbeitern der Liebe so wesentlich unterschied. Das erste Mal, als er mit der Schauspielerin gesprochen hatte und sie um die gewisse halbe Stunde der Unterhaltung bat, die zu einer Nacht der Sinnlichkeit und dem Beginn einer langen Liebe wurde, hatte ihn eine vom Verstand ausgehende Neugier getrieben und nicht ein Begehren der Sinne; und der Schauspielerin hatte er gefallen wegen seiner Ungekünsteltheit, die sie aus seinen Worten und der Haltung eines alltäglichen Menschen erkannte.

Aber der Durchschnittsmensch hatte sich gewandelt unter den Händen dieser erfahrenen Frau, die schlummernde Anlagen in ihm zur Entfaltung brachte, schlafende Intelligenzen weckte und latenten Möglichkeiten seines bis dahin unter kleinen, nutzlosen Leuten verbrachten farblosen Lebens Geltung verschaffte. Sie hatte ihn sich selbst kennen gelehrt, seinen Geschmack verfeinert, seine Gehirntätigkeit geschärft, seine Ansprüche vervielfältigt, seine Augen einem weiteren Horizont geöffnet und sein ganzes physiologisches Register in Schwingung versetzt durch eine unerwartete Mannigfaltigkeit der Leiden und Freuden.

Zehrende Liebesleidenschaften wie diese sind eine in die Jugend eines Mannes eingeschaltete Altersparenthese.

«Geh!» zischte sie ihm entgegen. «Ich dulde weder Vorschriften noch Vorwürfe, von niemand als von mir selbst: der Diamant kann nur von seinem eigenen Staub angefressen werden. Entweder du nimmst mich wie ich bin, mit all meinen Extravaganzen und Treubrüchen, oder du gehst. Daß ich dich in mein Lager aufnahm, gibt dir keine Rechte, sondern Pflichten. Treu kann ich nicht sein, das Leben heischt gewisse Notwendigkeiten, vor denen sich auch die ganz Großen beugen müssen. Und wenn diese Gründe dir nicht genügen, so sage ich dir, daß eine Frau wie ich nicht nach den üblichen Kriterien beurteilt werden darf. Eine Künstlerin steht über der Moral: sie müßte auch über dem Gesetz stehen. Im übrigen, was immer von mir ich anderen gewähre, gilt nichts im Vergleich zu dem, was ich dir biete: denn dir gebe ich Liebe.»

Ihrer Überlegenheit über alle anderen Frauen, über die Männer und über ihren Geliebten bewußt, hatte sie die evangelische Auffassung von der Gegenseitigkeit ausgeschaltet. Sie durfte ihn betrügen, aber sie duldete nicht, daß er anderen Frauen ein Wort, einen Blick gönnte.

Als sie ihn während einer Probe zu einem höchst langweiligen symbolischen Drama im Gespräch mit einer Schauspielerin überrascht hatte, riß sie jener die Rolle aus der Hand, befahl ihr, zum Kassenverwalter zu gehen, sie sei entlassen, und dem Ehemann der betreffenden Dame, der einen Verteidigungsversuch wagte, schrie sie mit ihrer kreischendsten Stimme entgegen:

«Schweigen Sie, Sie Dummkopf! Und ich bitte alle Dummköpfe um Entschuldigung, wenn ich sie beleidige, indem ich sie mit Ihnen vergleiche.»

Und dennoch vermochte Sketch nicht die belastenden Ketten dieser schrecklichen Liebe zu sprengen! Die erstaunliche Liebesbegabung dieser unberechenbaren Frau, die ihn mit einer stets veränderlichen Liebe liebte, heute zurückhaltend bis zur Gleichgültigkeit, morgen bis zur Raserei sich steigernder Leidenschaft, war ihm nunmehr unentbehrlich. Sie war in sein Blut getreten, wie die Psychologen schreiben, ohne den Anspruch zu erheben, ganz exakt zu sein; sie war in sein Blut getreten wie ein unheilbares Gift.

«Es gibt nur ein Mittel gegen dein Übel!» hatte ihm eines Tages der Bonvivant der Truppe gesagt, der Stücke schrieb, Norwegisch lernte, Holzschnitte machte und medizinische Zeitschriften las. «Es ist ein therapeutisches Mittel: du mußt verdünnte Liebesbazillen unter die Haut spritzen; das heißt, du mußt dich in eine Frau verlieben, die weniger berühmt, aber mehr Frau ist, denn du hast das Unglück gehabt, einem denkenden Uterus zu begegnen, der dich vergiftet hat, suche dich in ein entgiftendes Weibwesen zu verlieben, in eine Choristin, in eine Stöpseldrechslerin, in eine Maschinenschreiberin, eine junge Lehrerin, die dich zur Wirklichkeit zurücklenkt.»

Wie einfach erschienen die Dramen … anderer! Die Rechnungen stimmen immer … in den Taschen der anderen und werden mit den elementarsten Rechenexempeln gelöst. «Versuche sie zu verlassen! Denke nicht mehr an sie!» Aber Sketch war nicht fähig, sie zu verlassen. Mit achtzehn Jahren vergißt man leicht eine Frau. Steht man aber auf der Schwelle des Mannesalters, das verlogen als zweite Jugend bezeichnet wird, so bedeutet das Sichloslösen von einer Geliebten einen grausamen Riß. Zuviel hat sie uns von sich gegeben und zuviel haben wir ihr von uns selbst gegeben, als daß wir unsere ganze Individualität wieder zurückerlangen könnten. Unsere Stimme hat die Modulationen der ihrigen angenommen, ihre Nerven sind dem Einfluß der unseren unterlegen; sie hat sich unsere Ausdrucksweise angeeignet, in ihrem und in unserem Körper hat eine gegenseitige Polarisation stattgefunden, unsere Leiber sind zu einer Zelle verschmolzen, die für Außerhalbstehende als ein Paar gilt, für uns selbst aber ist es ein untrennbarer Keim. Wir haben keine eigene Individualität mehr; jede unserer Gesten ist abhängig von ihr: wir sind wie ein in Ruhe befindlicher Elektromagnet, der nur tätig wird, wenn das Fluidum dieser Frau uns durchströmt und einhüllt.

Alle anderen Frauen scheinen uns ungeschlechtliche Wesen, und wenn wir sie eines Tages besitzen, durch eine abseitige Laune der Sinnlichkeit, so bleiben sie uns gleichsam Fremde und überzeugen uns von neuem, wie schicksalvoll wir an die einzige Geliebte gekettet sind, an die Unentbehrliche, die Unersetzliche.

Sketch konnte sich nicht von der Schauspielerin trennen: die heftigen Zwistigkeiten, die häufigen, durch ihre übergroße Reizbarkeit verschuldeten Zusammenstöße ermahnten ihn, sich für immer von ihr zu entfernen: aber er wußte von wie kurzer Dauer die Flucht sein würde, wie furchtbar die Reue und wie gefährlich die neuentfachte Flamme. Er konnte nicht mit ihr leben und nicht ohne sie, wie die stereotypen Liebenden schon seit Ovid zu sagen pflegen. Es war umsonst, von ihr fortzugehen: am nächsten Abend würde er wieder dasein, hinten im Parkett sitzen, den Geruch von Menschen und Orangenschalen einatmen und mit der kindlichen Begeisterung einer aus dem Sacré-Cœur-Kloster entwichenen Schülerin applaudieren.

Die Oberflächlichen, die Einfältigen, die summarisch die Liebe als eine plumpe gesellschaftliche Beziehung, nicht anders als alle anderen, einschätzen, glauben, daß der geeignetste Moment für den Bruch zwischen Liebenden nach einem Zank sei, nach einer Krise, einer Eifersuchtsentladung oder einem Verrat. Die Ahnungslosen! Das ist die ungeeignetste Gelegenheit für ein Auseinandergehen. Das Leiden, der Zorn stoßen nicht ab, sondern ziehen an: sie haben bindende Kraft, nicht lösende; die endgültige Trennung, ohne die Wahrscheinlichkeit der Rückkehr, vollzieht sich nur in einer Periode der Unbewölktheit, wenn kein Schatten des Betrugs sich am Horizont zeigt, wenn man sich gegenseitig in die Seele blicken kann wie in ein geklärtes Wasser, wo keinerlei Erschütterung alte Schlacken trüber Erinnerungen oder unreiner Gefühle aus dem Grund aufrühren kann.

***

In diesem Zustand der Seelenheiterkeit lebten die beiden Liebenden einige Tage in dem Hochgebirgsort, wo der Sommer zwanzig Tage dauert, in einem von schwarzen Zylinderhüten und von Senatoren bevölkerten Hochtal.

Zylinderhüte und Senatoren. Einige aus Irrtum hierher verschlagene Fremde und viel Piemontesischer Kleinadel, der mit großem Stolz und umsichtiger Sparsamkeit die eingedrückten Spitzen der vergoldeten Krone auf neu poliert.

Eine große Dame mit prächtigem Namen stieg an jedem Sonntag herunter aus ihrer modernen, mit Türmen verzierten, verblaßten Burg; diese ehrwürdige Gestalt erschien, um vor dem Altar des Kirchspiels niederzuknien; und dies war die Sensation der Saison: die ganze Straße vom Schloß bis zur Ortschaft belebt sich mit scharlachroten Röcken – das Kostüm des Tals – und mit Sommerfrischlern à la Tartarin, mit Kniestrümpfen und Gletscherausrüstung, die am Riemen ihres doppelt geschliffenen Fernglases das runde Abzeichen der letzten Rennsaison ostentativ zur Schau tragen. Die alte vornehme Dame erscheint pünktlich, von der Hupe ihrer in der Sonne glitzernden Maschine angekündigt; der Propst, ein junger Bergprediger, mehr Fechtmeister als Geistlicher, steht auf der Kirchenschwelle, schon im liturgischen Gewand, um gleichsam anzudeuten, daß der liebe Gott zur Stelle sei und nur auf SIE warte.

Wenn die Messe zu Ende ist, erhebt sie sich von ihrem Platz, der sich nur durch ein einfaches rotes Samtkissen von den anderen unterscheidet, und tritt hinaus auf den Kirchplatz, der von Sonne überströmt ist, von Alpendüften und roten Röcken; die piemontesischen Pseudoaristokraten schwänzeln um sie herum, ihre Adelswappen präsentierend und sich in ihrer ganzen erbärmlichen Arroganz vordrängend, um von der erhabenen Dame das Almosen eines Wortes oder eines Lächelns zu empfangen.

Der oder jener Vollblutaristokrat verbeugt sich mit einer Reverenz vieux temps beim Knipsen anachronistischer Fotografenapparate.

Und sie lächelt freundlich mit ihrem Gesicht von der Farbe verblichener Gardenien, aus dem die authentische Vornehmheit schimmert, die Überlegenheit der Rasse und des Geistes: allen reicht sie die Hand und alle erkennt sie, und an alle stellt sie Fragen: keiner entgeht diesen großen, schweifenden Augen, die in ihrer melancholischen Tiefe Jahrhunderte der Herrschaft aufgehäuft haben. Und während die Mittagsglocken läuten, fährt die weiße Dame, von lauten Zurufen begleitet, in ihrem Automobil davon, das lautlos wie eine Sänfte dahingleitet; an den Wegbiegungen weckt die Hupe ein metallisches Echo, als ob ein Vorreiter aus alter Zeit mit Trompetenstößen vorausgaloppierte.

«Sie sind nicht in der Messe gewesen, mein Fräulein?» fragte Sketch eines Morgens die blonde Standard-Jungfrau, die Jungfrau von achtzehn Karat.

«Es sind da zu viele Gräfinnen, Herzoginnen, Baroninnen», trällerte sie, einen Grashalm im Mund, «ich habe vorgezogen, meinen Fröschen hier in dem nahen Teich einen Besuch abzustatten; mehr als tausend Frösche und Kaulquappen müssen dort sein: wer weiß, wie sie sich langweilen würden, wenn ich nicht ab und zu käme, um sie zu zerstreuen. Sie kennen mich schon. Sie kommen heraus aus ihren Verstecken, bevor ich noch mit den Steinchen meine Ankunft signalisiert habe.»

Die achtzehnkarätige Jungfrau sprang mit langen Sätzen einen Pfad hinunter, ein Buch zwischen Unterarm und Flanke geklemmt, den Mittelfinger zwischen den Seiten.

«Gnädiges Fräulein haben einen guten Geschmack!» bemerkte Sketch wohlgefällig, indem er einen Blick auf den Titel warf.

«Was glauben denn Sie, was ich lese?» begehrte das junge Mädchen in drolliger Weise auf, «Der vergiftete Zahnstocher, oder Das Gespenst des Gorilla, oder auch Die Menschenfresserin?»

«Da die literarischen Kenntnisse unserer jungen Mädchen nicht über die toskanischen Ritornelle hinausgehen, in die die Schokoladentäfelchen eingewickelt sind, empfindet man neugieriges Erstaunen, in so makellosen und so rechtschaffenen Händen den Dichter Mallarmé, den wahnsinnigen Lyriker zu sehen.»

Das blonde Kind lachte wie ein frischer Quell.

«Und Ihre Freundin?»

«Sie kleidet sich an für das Mittagessen.»

«Ihre Freundin geht nicht in die Kirche?»

«Sie sagt, wenn sie im Diesseits keine Freuden mehr hat, wird sie sie im Jenseits suchen; solange das Publikum ins Theater kommt, um sie zu hören, geht sie nicht ins Theater, um die anderen zu hören. Sie wird die Geschichten, die andere erzählen, an dem Tag anhören, wo die anderen nicht mehr den Geschichten lauschen, die sie erzählt.»

«Und ist dieser Tag noch sehr fern?»

«Ich glaube. Heute ist sie auf ihrer Höhe.»

«Seit dreißig Jahren ist sie auf dieser Höhe.»

Und ohne Sketch Zeit zu lassen, ihr zu widersprechen, zog sie mildere Saiten auf:

«Verzeihen Sie. Ich bin schlecht. Aber Ihre Dame muß schlimmer sein als ich.»

Das sehr magere junge Mädchen war ein wunderbares Gemisch von Knochen und Licht, sie glich den auf den Kirchenfenstern dargestellten, von Licht umflossenen Jungfrauen. Zuweilen schien die ganze Gestalt durchflutet wie von einem frommen Sehnen: ein anderes Mal wurde der überschlanke Körper von einer kindlichen Unruhe bewegt: und wieder ein andermal, scheu und zitternd wie eine Eidechse, keuchte sie, als verzehre sie ein inneres Feuer. Sie lächelte traurig, mit geschlossenen Lippen, ohne den pentagonalen Mund, der rot war wie die kleinen Bergnelken, zu entstellen. Stolz auf ihre magere russische Ballett-Gestalt, wußte sie sie zur Geltung zu bringen, indem sie sich in enganliegende schwarze Kleider hüllte, die das Blond ihrer Haare betonten und ihre Figur ins Ungemessene verlängerten. Zart, geschmeidig, leuchtend, duftend wie eine Vanillestange, ging sie gleichgültig vorbei an dem Hotelgeklatsch, das rings um einen Flügel losgebrochen war, verließ das Zimmer allein am späten Abend, um der Vieltönigkeit des Tals zu lauschen oder mit einem schönen weißen Kätzchen Zwiegespräche zu halten, dessen leuchtende Augen im Dunkel mit der Glut ihrer Zigarette wetteiferten. Im Hotel wurde viel über die Abende des jungen Mädchens geflüstert und die schändlichsten Vermutungen über geheimnisvolle Zusammenkünfte geäußert; und sie ergötzte sich an diesen in gedämpftem Ton vorgebrachten Verleumdungen, die ihr folgten, während sie hinausging ins Freie, auf der Suche nach dem weißen, gefühlvollen Kätzchen, das jeden Abend auf einer ländlichen Holzbalustrade lange Stunden zubrachte, um sich sein weißes Fell zu glätten aus Freude über den Mond.

«Wollen Sie, daß wir Freunde werden?» schlug Sketch vor.

«Ich glaube nicht, daß das möglich ist. Die französische Schriftstellerin Rachilde hat gesagt, Freundschaft zwischen einem Mann und einer Frau c’est del’ Vamour blanc. Präliminarien des Begehrens, mit anderen Worten.»

«Auf Wiedersehen!» und sie reichte Sketch die Hand. «Wenn Ihre Dame uns überrascht, dann mordet sie mich. Und heute ist nicht der geeignetste Tag für solche Operation, denn heute habe ich von Übersee einen Korb mit so großen Pfirsichen bekommen. Mögen Sie Früchte? Ich sehr. Ich würde mich nur von Obst und Zucker nähren. Ich bin naschhaft wie die Bienen.»

«Naschhaft und blond. Sie müßten Melitta heißen.»

«Was bedeutet das?»

«Biene.»

«Das ist schön. Und es paßt gut zu mir. Ich werde mich Melitta nennen. Und Sie, mit welchem Namen soll ich Sie rufen?»

«Rufen Sie mich … Rufen Sie mich, so oft Sie wollen.»

***

Sketch und die Schauspielerin fanden in diesem Gebirgsort eine bis dahin ungekannte Ruhe. Seit dem Streit am ersten Tag, an dem vielleicht ein in ihren Kleidern noch haftender Rest von der Elektrizität des Stadtlebens schuld war, hatten sie lange Tage in wohltuender Gemütsstimmung verbracht, ausgestreckt auf den Liegestühlen gegenüber der Terrasse, den vielfarbenen, funkelnden Gletschern; oder auf den Wiesen Vierklee suchend, oder englische Cakes knabbernd, oder Poker spielend mit dem Hotelbesitzer und der ägyptischen Dame, die der Schauspielerin einen uralten, aus dem Tal der Könige stammenden Skarabäus (made in Germany) verehren wollte.

Das Gebaren der vier Schauspieler, die angesichts der mystischen Reinheit der Berge die Nachmittage in lasterhafter Weise über den heidnischen Pokerkarten hinbrachten, erbitterte all die anderen Hotelgäste; der Vater der drei unentjungferten Töchter, der den steifen Hut auf dem Kopf behielt, um seinen Schädel gegen die ultravioletten Strahlen zu schützen, der mit der rauchgeschwärzten Brille schlief, um in der Morgendämmerung nicht von einem durch die Jalousien dringenden Sonnenstrahl geweckt zu werden, ließ die drei wohlbehüteten Töchter in großer Entfernung sich aufhalten, damit sie nicht die teuflischen Ausdrücke der über ihre Karten gebeugten Spieler hörten.

– Ich passe.

– Paß.

– Ich eröffne.

– Ich halte.

– Ich sehe.

– Nein.

– Karten?

– Eine.

– Drei.

– Zwei.

– Serviert.

– Ich schiebe.

– Zehn Lire. –

– Zwanzig. – Vierzig – Gesehen – Damenfull – Farbe.

Einem sehr würdigen Senator, sentenziös und dogmatisch, geschwellt von Gelehrsamkeit und Feierlichkeit, dessen Barthaar perpendikulär und parallel geordnet war wie seine politischen Überzeugungen und die Elemente seines wohldisziplinierten Wissens, diesem Senator näherte sich eine fromme, blaublütige Dame, Präsidentin verschiedener Vereine, wo die Dummheit sich mit dem guten Herzen paart, um zu erkunden, welchen Anteil das Pokerspiel an dem Niedergang der heutigen Zeit habe. Diese tadellose Dame hatte der Gouvernante anempfohlen, das Kind nur mit solchen Altersgenossen spielen zu lassen, die wenigstens zu drei Vierteln adliges Blut in ihren Adern hätten. Zu den Mahlzeiten erschien sie immer als erste, um nicht die Demütigung zu erleben, daß niemand sich die Mühe nahm, sich bei ihrem Eintritt zu erheben. Indem er sich mit den langen durchgeistigten Fingern den gelehrten Bart strich, sprach der also befragte Senator von der sozialen Besorgnis, von dem in den mehrzelligen Individuen überlebenden keimfähigen Plasma, das durch religiöse Beseelung, durch den Polydämonismus der primitiven Völker sich erneuere, und er schloß, daß das Pokern kein Hazardspiel sei, sondern eine Gymnastik des Geistes, weil es das Leben geometrisiere, indem es den Menschen in das Reich der Wahrnehmungen führe, die Intuition behende, die assoziativen und apperzeptiven Bindungen geschmeidig mache und die, wenn auch nicht schwersten Fälle von Adynamie, so wenigstens die gutartigen asthenischen Formen heile. Er selbst müsse bekennen, mit einem gedämpft klerikalen Lächeln, daß er, als man ihm an der Universität Buffalo den Doktor honoris causa verlieh, mit vier Professoren der philosophischen Fakultät spielte, und mit zwei einfachen Damen in der Hand den Rector Magnificus, der eine Sequenz und den König in der Hand hatte, in die Flucht trieb.

Dieser von zwei Damen in der Hand eines Senators in die Flucht geschlagene König entsetzte die keusche, dem monarchischen Prinzip ergebene Dame und raubte ihr die letzten Illusionen über die Würde des Senats.

Und am gleichen Abend noch wurde der Hotelbesitzer aufgefordert, seine Pokerpartien mit der Ägypterin, der Schauspielerin und ihrem Geliebten zu unterlassen, wenn er nicht wollte, daß alle Eupatriden des Hotels, einschließlich des Südländers mit dem roten runden Kopf wie ein Holländer Käse, und der Marchesa («mein Onkel der Gesandte, mein Vetter der päpstliche Nuntius») am nächsten Morgen in aller Frühe mit dem ersten Zug abreisten.

Am Tisch der Pokerspieler fehlte also der vierte Mann.

«Spielen Sie, mein Fräulein?»

«Ja.»

Und so geschah es, daß die Schauspielerin der achtzehnkarätigen Jungfrau, dem blonden jungen Mädchen mit den großen blauen Augen, ein metallisches Blau, beschattet von aufgebogenen schwarzen Wimpern, die Hand drückte.

Als sie sich dem jungen Mädchen vorstellte, nannte die Schauspielerin ihren Familiennamen.

Die Ägypterin hauchte einige Silben, die mit Lady begannen.

Das junge Mädchen nannte mit einer unbestimmten Erregung den ihr vor einigen Tagen, als sie Sketch gestanden hatte, daß sie gerne wie die Bienen an den Früchten naschte, vorgeschlagenen Namen: «Melitta.»

***

Das altersschwache Puritanertum des ganzen Hotels zitterte für das Schicksal des blonden Mädchens mit den großen blauen Augensternen, das in den schwindelnden Abgrund, in den geistigen Strudel der Schauspielerin, die in dem Rufe lesbischer Liebe stand, geriet. Aber als man wahrzunehmen begann, daß nichts an der rosigen Frische ihrer Wangen, an der jugendlichen Sorglosigkeit, an dem kindlichen Appetit sich verändert hatte, näherte das Publikum der Sommerfrischler sich schüchtern und vorsichtig der düsteren Frau vom Theater.

«Meine Anbeter wähle ich mir selbst», proklamierte sie.

Der junge Mann up to date, der einherging, daß selbst die Gemsen lachten, mit einer prächtigen Hammerleß-Flinte, einem Biskery-Regenmantel und tadellosen Handschuhen aus Känguruhfell, und der unerschrocken unter dem Kreuzfeuer der weiblichen Blicke mit einer Maske tiefsten Nachdenkens vorüberschritt, gebeugt unter der Last seiner unermeßlichen Intelligenz, hatte von der Schauspielerin den Beinamen «der denkende Dummkopf» erhalten. Wie in jedem Haus sich ein Pianist findet, so existiert in jeder Gesellschaft der denkende Dummkopf, das heißt einer, der sich eine politische Meinung über die soziale Frage bildet, der die unübertreffliche Wirkung des Kefirs in den Himmel hebt, der bedeutungsvoll behauptet, daß alles relativ sei und daß die Ausnahme die Regel bestätigte; und äußert jemand eine ein wenig originelle Anschauung, so lächelt er sarkastisch und behält sich innerlich vor, sie bei nächster Gelegenheit feierlich als die seine auszugeben.

«Mir gefallen die einfachen Menschen», erklärte ihm die Schauspielerin, ihm den Rücken zuwendend. «Heute, wo alle sich interessant machen wollen, sind die einzigen wirklich Interessanten solche, die es nicht sind.»

Gereizt berief sich der junge Lebemann auf seine vornehme Herkunft, seine edlen Organe, die ihm nicht erlaubten, wie irgendein Bürgerlicher zu empfinden. Und die Schauspielerin entgegnete:

«Ach was, Aristokratie! Die einzige Aristokratie, die ich anerkenne, ist die Aristokratie des Geistes!»

Der junge Lebemann, in dem der Stolz seines Geschlechts noch leidenschaftlicher aufglühte, stürzte durch die Säle des Hotels, um den Liebhaber der Frau aufzusuchen, die ihn beleidigt hatte.

«Mein Herr!» rief er aus. «Ihre Dame hat mich schwer beleidigt. Übernehmen Sie die Verantwortung für ihre Worte? Ich verlange sofortige Genugtuung. Sie werden bald von mir hören!»

In der Tat erhielt Sketch eine Stunde später den Besuch von zwei Herren in Schwarz, von angeräuchertem Aussehen, kaltblütig, in tadelloser Weise zugeknöpft über dem chevalresken Bauch wie zwei in die Tuchhülle eingepreßte Mandolinen. Es waren zwei Edelleute: der Chevalier und der Baron.

Der Chevalier, ein stumpfsinniges, teilnahmsloses Gesicht, war einer jener Hauptleute, die wegen vorzeitiger Verblödung nach Hause geschickt worden waren, die jedoch, wie unreifes Obst, das zum Reifen in die Kredenz gelegt wird, Majore, Oberstleutnants, Oberste und Generale werden und immer eine Anstellung finden können als fleißige Schreiber, angesehene Gerichtsdiener, umsichtige und rechtschaffene Packer.