Between Your Memories - Basma Hallak - E-Book

Between Your Memories E-Book

Basma Hallak

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Beschreibung

Finale der New-Adult-Dilogie von Own-Voice-Autorin Basma Hallak mit viel Humor und noch mehr Gefühl – perfekt für alle Fans von Mehwish Sohail, Mounia Jayawanth und Lilly Lucas Nach ihrer Flucht aus Island ist Kalima wieder in Berlin und will nur eins – vergessen. Völlig egal ob Vallarheiði, das sich langsam zu ihrem Zuhause entwickelte, ihr Fotolabor, in dem sie zum ersten Mal neue Inspiration geschöpft hat oder Nói, ihre große Liebe, mit dem sie dabei war, sich ein Leben aufzubauen. Und am allermeisten: die Geschehnisse im Einkaufszentrum. Doch obwohl Island Tausende Kilometer entfernt ist – die traumatischen Erinnerungen verfolgen sie und machen aus dem einstigen Sonnenschein einen Menschen, der sich von Angstattacke zu Angstattacke durch den Tag bringt. Bis plötzlich Nói auf ihrer Schwelle steht und sie bittet, bleiben zu dürfen.  Doch wie kann sie zulassen, dass die beiden sich wieder näher kommen, wenn sie nicht einmal mehr sie selbst ist?  Between Your Memories erzählt die zarte Liebesgeschichte aus Between My Worlds weiter und bringt sie zu einem wunderschönen Abschluss. Gefühlvolle Young-Romance-Dilogie mit schlagfertigen Dialogen, deren Themen und Humor genau den Zeitgeist treffen Eine Auswahl der in diesem Buch vorkommenden Tropes: - Soft Grumpy x broken Sunshine - Smalltown boy meets big city girl - Dual POV - Broken charakters - Mutual healing - Mental health rep - Arabic repWir wünschen ein schönes Leseerlebnis! »Ich liebe Basmas Humor und ihre Art, wichtige Themen unfassbar gut und gefühlvoll zu verpacken! Wir brauchen solche Geschichten – so romantisch, so witzig und vor allem: so unfassbar schön!«  Kim Nina Ocker, Spiegel-Bestsellerautorin 

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Basma Hallak

Between Your Memories

Roman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Finale der New-Adult-Dilogie von Own-Voice-Autorin Basma Hallak mit viel Humor und noch mehr Gefühl – perfekt für alle Fans von Mehwish Sohail, Mounia Jayawanth und Lilly Lucas

Nach ihrer Flucht aus Island ist Kalima wieder in Berlin und will nur eins – vergessen. Völlig egal ob Vallarheiði, das sich langsam zu ihrem Zuhause entwickelte, ihr Fotolabor, in dem sie zum ersten Mal neue Inspiration geschöpft hat oder Nói, ihre große Liebe, mit dem sie dabei war, sich ein Leben aufzubauen. Und am allermeisten: die Geschehnisse im Einkaufszentrum. Doch obwohl Island Tausende Kilometer entfernt ist – die traumatischen Erinnerungen verfolgen sie und machen aus dem einstigen Sonnenschein einen Menschen, der sich von Angstattacke zu Angstattacke durch den Tag bringt. Bis plötzlich Nói auf ihrer Schwelle steht und sie bittet, bleiben zu dürfen.  Doch wie kann sie zulassen, dass die beiden sich wieder näher kommen, wenn sie nicht einmal mehr sie selbst ist? 

Between Your Memories erzählt die zarte Liebesgeschichte aus Between My Worlds weiter und bringt sie zu einem wunderschönen Abschluss.

Gefühlvolle Young-Romance-Dilogie mit schlagfertigen Dialogen, deren Themen und Humor genau den Zeitgeist treffen

Eine Auswahl der in diesem Buch vorkommenden Tropes:

Soft Grumpy x broken Sunshine

Smalltown boy meets big city girl

Dual POV

Broken charakters

Mutual healing

Mental health rep

Arabic rep

Wir wünschen ein schönes Leseerlebnis!

»Ich liebe Basmas Humor und ihre Art, wichtige Themen unfassbar gut und gefühlvoll zu verpacken! Wir brauchen solche Geschichten – so romantisch, so witzig und vor allem: so unfassbar schön!« 

Kim Nina Ocker, Spiegel-Bestsellerautorin

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Zitat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Epilog

Brief

Danksagung

Content Notes

Für den Menschen, der ich mein ganzes

Leben lang versuche zu werden.

Der mich lehrte,

immer den Kopf oben zu halten.

Der so viel mehr verdient hat als alles,

was das Leben ihr gegeben hat.

Mama, das ist für dich.

My soul is light.

My body is heavily burdened

with memories and with places.

 

Mahmoud Darwish

Kapitel 1

Da ist kein Boden zum Aufkommen, weil ich in Luftlöchern stecken geblieben bin

Berlin, 1. Juni
Friedhof Himmelsallee
Kalima

»Du würdest doch zu meiner Beerdigung kommen, oder?«, frage ich mit Blick auf die mit Abstand traurigste Beisetzung, die ich jemals gesehen habe. Also nicht, dass man das ganze Leichen-unter-die-Erde-bringen-Ding fröhlich gestalten könnte. Ausnahmen sind wahrscheinlich solche, wo ein Diktator den Löffel abgibt. Aber die hier ist derart schlecht besucht, dass sie stark an Filmszenen erinnert, in denen ein betrübtes Kind allein auf seiner aufwendig organisierten Geburtstagsparty sitzt. Natürlich gibt es keine Coolness-Skala, nach der man solche Veranstaltungen bewerten könnte, aber wenn ich sterbe und meine Beerdigung so schlecht besucht wäre, wäre das definitiv ein Grund, um Komplexe zu bekommen. Dann könnte ich das ewige Paradies bestimmt nicht genießen, weil ich vorher von dieser Demütigung heilen müsste. Und irgendwie gefällt mir die Vorstellung nicht, die Ewigkeit mit Schokoeis und Selbstliebe-Workshops zu beginnen. Andererseits könnte es ab dem Punkt nur besser werden.

»Wird’s bald? Ich bezahl dich nicht fürs Rumstehen und Fragenstellen!«

Ich schrecke hoch, die Schaufel rutscht mir aus der Hand und landet im frisch bepflanzten Blumenbeet auf dem Grab, an dem wir seit über drei Stunden arbeiten. »Ups, sorry.« Ich bücke mich schnell, hebe sie wieder auf und ermahne mich, nicht die zerdrückten weißen Blüten zurechtzuzupfen, weil man das Ganze im besten Fall verschlimmbessert. Dann sehe ich mit gerunzelter Stirn zu Johan, meinem dauerhaft übel gelaunten Ausbilder. »Bezahlt mich nicht die Friedhofsverwaltung oder der Senat? Oder halt jemand, der mehr Geld hat als du?«

Doch er übergeht meine Frage gekonnt, wie so oft, weil ihm seine Machtposition manchmal ein bisschen zu Kopf steigt. Gott bewahre, dass er jemals einen Job als Fahrscheinkontrolleur annimmt. Abgelaufene Monatsmarken von Jugendlichen zu kontrollieren, übt ja auf einige Menschen einen schon fast perversen Kick aus.

»Hast du mir gerade ausnahmsweise mal zugehört?«

Ich nicke, dabei ist das die halbe Wahrheit. Er hat begonnen, mir irgendwas über die Pflege von Efeu zu erzählen, bevor ich abgelenkt wurde. Zu meiner Verteidigung – hier ist so wenig los, dass mich sogar ein herumturnendes Eichhörnchen ablenkt. Ganz davon abgesehen, dass ich die Aufmerksamkeitsspanne einer Fruchtfliege habe, arbeite ich als Gärtnerin auf einem ausgestorbenen, winzigen Gemeindefriedhof. Meine Sinne lechzen schon fast nach so was wie Stimulation. Also, in einer jugendfreien und Über-der-Gürtellinie-Weise.

Johan starrt mich eine Weile an, bevor er sich kopfschüttelnd abwendet. Traurig zuzugeben, aber er ist wahrscheinlich Schlimmeres gewohnt. Also, nicht nur, weil er seit Jahrzehnten auf einem Friedhof arbeitet. Vermutlich, weil diese arme Seele seit über dreißig Tagen mit mir arbeiten muss.

»Findest du das nicht traurig?«, frage ich und zeige auf die Beerdigung neun Gräber weiter. »Stell dir vor, du stirbst, und keiner kommt.«

»Wenn du so viel Wert auf Gesellschaft legst, solltest du dir einen anderen Job suchen«, entgegnet er stumpf, bevor er sich abwendet und die letzte Pflanze aus dem Karren nimmt.

Ich verdrehe die Augen. Ihm wären wahrscheinlich sogar die Maden, die sich irgendwann über seinen aufgedunsenen Körper hermachen, zu viel. Ist das so, wenn man völlig mit sich im Reinen ist? Man hat nicht mehr das Bedürfnis, absolut von jedem gemocht zu werden?

»Ach Quatsch, deine Gesellschaft reicht mir völlig«, necke ich ihn trotzdem.

Doch er sieht nicht einmal auf und gibt mir mit seiner Handbewegung bloß zu verstehen, dass ich endlich arbeiten soll, also vergrabe ich die Pflanze in der Blumenerde. Obwohl ich seine einzige Auszubildende bin, habe ich die dumpfe Befürchtung, nicht sein Liebling zu sein. Ich weiß, schockierend. Ich habe schließlich zwei Wochen gebraucht, um ihn dazu zu bringen, mit mir eine Unterhaltung zu führen, die nicht bloß daraus besteht, enttäuscht den Kopf zu schütteln, wenn ich etwas sage. Aber ich arbeite daran, dass wir irgendwann ein unzertrennliches Team werden. Als ich ihm gestern gebeichtet habe, dass ich mir oft vorstelle, wie wir beide in einer Sitcom als ungleiches Team Verbrechen aufklären, hat er gedroht, mich zu feuern. Das klingt jetzt wahrscheinlich nicht wirklich gut, aber dafür, dass er derart oft davon spricht, mich zu feuern, hat er seine Drohung kein einziges Mal wahr gemacht. Ich wachse ihm wahrscheinlich ans Herz, wie dieses Haustier, gegen das sich Väter immer sträuben und das sie dann aber mehr lieben als ihre eigenen Kinder. Ich bin noch dabei, fleißig Informationen über ihn zu sammeln, aber das Einzige, was ich wirklich mitbekommen habe, ist seine seltsame Obsession mit Vögeln. Ab und zu landen Tauben auf dem Rasen, und Johan tut so, als hätten wir plötzlich hohen Besuch. Nur noch eine Frage der Zeit, bis er verlangt, dass ich mich verbeuge.

»Sind wir für heute fertig mit den Gräbern? Ich hab Hunger.« Ich lasse meinen Blick durch die Reihen wandern und spüre gleichzeitig die Blumenerde nur allzu real unter meinen Fingernägeln und den Schweiß, der mir den Rücken herunterfließt. Es ist Juni, und die Klimaerwärmung ist gnadenlos. Es ist ein heißer und schwüler Tag. Zu schwül und heiß für die Großstadt, die primär aus Asphalt, Warteschlangen vor Bubble-Tea-Läden und Baustellen besteht. Komischerweise ist tolles Wetter nicht halb so geil, wenn man in der prallen Sonne arbeiten muss – oder überhaupt arbeiten. Wahrscheinlich ist es warm genug für Hitzefrei, und alle sitzen bereits schwitzend im Freibad, um sich im Urin von Kleinkindern eine Abkühlung zu verschaffen.

Der Rasen zwischen den sauber gepflegten Gräbern strahlt dennoch in einem knalligen Grün. Die Bäume entlang der langen Allee – die zu der gruseligen Kapelle, die ich niemals bei Dunkelheit betrete – sind groß gewachsen, mit dunkelgrünen Blättern.

»Grabpflege ist für heute durch, aber der Mario, der die Gräber aushebt, kennst du den?«

»Du meinst den Mann, den wir hier jeden Tag sehen? Stell dir vor, Johan, ich kenne ihn.«

»Kann ich doch nicht wissen, ob du hier irgendwas mitbekommst, wenn du auf deiner TakTak-App hängst.«

»TikTok«, berichtige ich ihn und ziehe mir mein Mittagessen, einen kleinen, plastikverpackten schwarzen Lutscher, aus der Hosentasche meines grünen Overalls.

»Was gedenkst du, damit zu tun?«, fragt er und starrt fassungslos auf meine Hände.

Ich sehe mit gerunzelter Stirn zurück. »Ich bin heute besonders wild drauf und hatte vor, ihn zu essen.«

»Das kannst du vergessen.«

»Aber das ist meine Nervennahrung.«

»Dann bekomm halt ’nen Nervenzusammenbruch, ist mir schnuppe.«

Gut, vielleicht wachse ich ihm doch nicht ans Herz.

»Aber …«, krampfhaft suche ich nach den richtigen Worten, »bitte?«

Schwach begonnen und stark nachgelassen.

Er schüttelt den Kopf, ich verziehe das Gesicht. Ein weiterer Mann, um dessen Anerkennung ich lechze. Dieses Daddy-Issues-Ding scheint ein zeitloses Unterfangen zu sein. Wenn ich ihn jetzt weiter nerve, droht mir wahrscheinlich ein Monolog zu meiner verweichlichten Generation. Womit er jetzt nicht unrecht hätte. Ich habe mir gestern die Nägel geschnitten und fast meinen Finger verloren.

»Der Mario ist krank, und für morgen früh ist eine Beerdigung angesetzt, deshalb muss das Grab ausgehoben werden.«

Ich zucke desinteressiert mit den Schultern, bevor mich eine dunkle Ahnung beschleicht. »Wieso erzählst du mir das?«

»Als Friedhofsgärtnerin musst du doch wenigstens einmal ein Grab ausgehoben haben.« Ich reiße die Augen auf, worauf Johan die Brauen provozierend in die Höhe zieht. »Es sei denn, du bemerkst, dass der Job doch nichts für dich ist.«

Ich presse die Lippen zusammen, denn ich weiß, was er versucht. Seit er am ersten Tag einen Blick auf meine rosa Leggins, meine Sneaker mit den aufgemalten Herzen und meinen glitzernden Lipgloss geworfen hat, will er, dass ich von allein erkenne, dass diese Beschäftigung nichts für mich ist. Ich glaube nicht, dass er mich aus Böswilligkeit loswerden will, egal wie grummelig er sich jeden Tag aufführt. Wahrscheinlich hält er mich für ein gelangweiltes Mädchen, das mit seiner Anstellung hier auf Krampf tiefgründig und edgy wirken will. Ich bezweifle, dass er mir ansehen kann, wie es in mir drin aussieht.

Was auch immer es ist, er spielt auf verlorenem Posten. Also recke ich das Kinn. »Ich hebe dir auch gerne zehn Gräber aus, dafür gibt es doch diesen Traktor.«

***

Der Traktor ist kaputt, aber das halte ich für eine dreiste Lüge. Er will mich ganz eindeutig quälen, auch wenn ich nicht genau checke, wieso. Aber sein Verhalten erinnert mich stark an das von Mitarbeitenden von Fast-Food-Ketten, die immer behaupten, dass die Eismaschine kaputt sei, weil sie keine Lust haben, sie zu reinigen.

»Na, alles gut?« Er steht mit ineinander verschränkten Armen vor mir. Dann lässt er sich sogar dazu herab, mich anzugrinsen.

Ich bin so unendlich geschafft. Die Kurzatmigkeit konkurriert mit dem Stechen in meiner Seite. Meine körperliche Fitness ist mittlerweile zwar ein bisschen besser als lausig, aber um das zu überleben und zu Luft zu kommen, braucht man die Ausdauer eines Leistungssportlers. Ich werfe die Schaufel auf den Rasen, lasse mich in das Gras fallen und versuche, den Gedanken zu verdrängen, dass in wenigen Sekunden einige Käfer ihren Weg in meine Unterwäsche finden werden. Neben mir zündet sich Johan eine Zigarette an, während ich darüber nachdenke, wie viele Leute beim Ausheben eines Grabes wohl daran denken, dass sie gleich sterben werden.

»Willst du auch eine?« Er beugt sich zu mir und hält mir die geöffnete Schachtel hin.

Er bietet mir jedes Mal eine an, auch wenn ich bisher immer verneint habe. Ich habe noch nie geraucht. Als Sanju und ich es mit dreizehn auf der Schultoilette versuchen wollten, wurden wir sofort erwischt und für eine Woche suspendiert. Ich habe daraufhin so viel Ärger von meiner Mutter bekommen, dass mir ihre Schreie fast zehn Jahre später noch immer in den Ohren klingeln. Aber ich bin jetzt schließlich so was wie erwachsen, meine Mum ist nicht in der Nähe, und ich habe immerhin ein Grab ausgehoben. Was gibt es Besseres, als den Berührungspunkt mit dem Tod zu feiern, indem man ihm ein bisschen näherzukommen versucht? »Ja.«

Doch sobald ich die Hand auch nur ausstrecke, zieht er die Packung zurück und lässt sie mit strengem Blick in die Hosentasche seines Overalls verschwinden. »Geht’s noch? Willst du als Nächstes dein eigenes Grab ausheben?« Er zeigt mit seinem Zigarettenstummel auf das Loch zu unseren Füßen.

»Willst du?«, frage ich zurück, doch er zuckt bloß mit den Schultern und pustet Qualm in die Luft.

»Mich kriegt nichts kaputt«, antwortet er, als wäre er das blühende Leben und nicht uralt mit zu hohen Cholesterinwerten, einem kaputten Rücken, Schuppenflechte, chronischem Haarausfall und zwei Ex-Frauen, die ihm regelmäßig Todesdrohungen auf den AB sprechen. Er deutet mit seinem Kinn auf den hohen Haufen brauner Erde. »Du musst ein paar grundlegende Dinge beim Geschäft mit dem Tod verstehen«, beginnt er, als wäre er eine gealterte und schlecht gekleidete Version vom Serien-Lucifer.

»Ach ja?«

»Ja. Das gehört zum Leben.« Er pustet Zigarettenqualm aus. Irgendwie habe ich die dumpfe Befürchtung, dass er gleich so was wie Wir sind die Assistenten des Sensenmannes sagen wird, und für die peinliche Aussage bin ich noch nicht gewappnet.

»Wenn du zum Beispiel auf die Erde starrst, woran denkst du?«

Ew. Nachdenken.

»An die … Farbe Braun?«, frage ich unsicher, obwohl er ganz definitiv was Tiefsinnigeres oder weniger Einfältiges meint. Er schüttelt bloß den Kopf und wirft mir einen verwirrten Blick zu, der zeigt, dass er erneut an meiner Intelligenz zweifelt. Ich verdrehe die Augen und ermahne mich, nicht wie ein müdes, hungriges Kleinkind mit dem Fuß auf den Boden zu stampfen.

Als die Sonne gerade dabei ist, hinter den hohen Häusern zu verschwinden, und den Himmel in eine Überlagerung aus Rot- und Rosatönen taucht, habe ich Feierabend. Johan wartet in der Tür der Kapelle, in der außerdem die Büros und die Mitarbeiterräume liegen. Er weiß, dass ich mich vor der Kapelle in der Dunkelheit fürchte, deshalb lässt er mich nie allein. Vielleicht interessiert er sich doch für mein Wohlbefinden. Oder er weiß, dass er mein erstes Opfer wäre, wenn ich in diesen Steinmauern vor Angst sterbe und zum Poltergeist aufsteige.

Gähnend ziehe ich das Handy aus der Tasche und muss bei dem Anblick des vollen Displays schlucken. Mein Shitstorm ist über sechs Monate her. Das ist Millionen Internetjahre und ungefähr zehntausend neue Skandale her, und trotzdem stellt sich noch immer ein mulmiges Gefühl ein. Zuerst klicke ich auf die Nachricht der einzigen Person, die ich nicht ignorieren kann.

?

Nur ein Fragezeichen. Mehr nicht. Ich atme tief durch, aber weiß schon im selben Moment, dass ich nicht mutig genug bin, unseren Dialog auf mehr als ein Satzzeichen auszuweiten. Ich weiß nicht mal, ob mir das zusteht. Ich habe keinen Plan, ob ich das möchte. Also mache ich das, was ich immer mache: Ich antworte und schicke ein Ausrufezeichen.

Dann sehe ich nur noch, wie die beiden Häkchen blau werden, und atme erleichtert aus, bevor ich den Chat wechsle.

Heyyyyyy Bestieeeeeeeeeee

Es ist was Lustiges passiert.

Oh nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Nein. Wenn Sanju schon so anfängt, weiß ich aus Erfahrung, dass es alles andere als lustig ist. Meistens folgt nach ihrer enthusiastischen Begrüßung etwas, was ich eher extrem unlustig finde.

Ich bin sicher, ich werde sterben vor Lachen

Oder ich werde mir wünschen, sterben zu dürfen.

Also erinnerst du dich noch an Marc Robin?

Ich lege jammernd meinen Kopf in den Nacken. Marc Robin, alias Robin der Panzer, war … unvergesslich. Und das meine ich ausschließlich und ausnahmslos negativ. Er war wie die peinliche Erinnerung der ersten Schulparty, die einen in einem unvorsichtigen Moment zusammenzucken lässt. Ein Typ, der unter einem Date versteht, labbrige Pommes auf einem dunklen Parkplatz zu verschlingen und daraufhin auf die Rückbank zu verschwinden. Ein Disneyprinz in Adiletten. Nicht.

Ich habe absolut keine Ahnung, was Sanju, der schönste, liebste und erfolgreichste Mensch, den ich kenne, in dieser Null sieht. Aber, und obwohl es traurig ist, das zuzugeben, Sanju steht ausschließlich auf Typen, in deren Gegenwart Frauen einen Salzkreis um sich ziehen sollten.

Wie viel Zeit brauchst du?

Er ist in einer Stunde weg. Es war wirklich voll spontan.

Ich stoße die angehaltene Luft genervt aus und verabschiede mich im selben Moment von der Idee, mir ein anständiges Bad zu gönnen und ihre ganzen teuren Duftöle aufbrauchen zu können. Aber wie soll ich mich denn beschweren? Ich lebe schließlich seit Monaten fast mietfrei in ihrer Wohnung. Und ich kann nicht dreist und undankbar sein. Also … nicht die ganze Zeit.

Johan sperrt das Friedhofstor hinter uns ab, bevor er mir einmal zunickt und auf die andere Straßenseite verschwindet. Glücklicherweise sind wir uns einig, dass wir außerhalb der Arbeitszeiten jeglichen Kontakt meiden und uns in der U-Bahn oder beim Rewe ignorieren.

Ich stehe unschlüssig herum, mein Blick bleibt an einer der strahlenden Blüten des Baumes hängen, die in regelmäßigen Abständen wie verschwommene Farbtupfer die Gegend färben. Der Friedhof liegt an einer kleinen verlassenen Fahrradstraße, die sich Himmelsallee nennt. Mit pastellfarbenen Kreidezeichnungen auf dem Asphalt, langen Holzbänken auf dem Bürgersteig und bunten Ketten voller Lampions, die sich von Baum zu Baum ziehen. Sonst sind hier nur noch ein schuhkartongroßer Schlüsseldienst, ein kleiner Laden, der sich auf Diversity-Spielzeug spezialisiert hat, und ein Spielplatz. Diese Straße ist ein viel zu schöner, ruhiger und friedlicher Ort für den Neuköllner Brennpunkt.

Einige Sekunden beobachte ich, wie der rote Himmel die Straße vor mir in schimmernde Lava verwandelt. Ich schließe die Augen, atme den Geruch von gemahlenem Kaffee ein, der nur von dem einen Laden kommen kann, den ich bis gerade ausgeblendet habe. Kurz werfe ich einen Blick zurück auf das Handy, doch Sanju hat nicht mehr geschrieben. Dafür hat aber jemand anderes geschrieben. Zwischen all den Quizduell-Anfragen von Jalal und Nachrichten meines Handyanbieters, der mich erneut daran erinnert, meine Rechnung zu bezahlen, steht sein Name.

Mein Herz strauchelt.

Die Allee ist noch immer rot, aber ich fühle plötzlich so viel Blau. Der Himmel, der Boden, mein Herz. Blau. Blau. Blau. Auch wenn die Farbe durch meine Augen anders ist. Irgendwie blass, irgendwie verschmiert, irgendwie blutleer. Aber noch genug, um mich danach zu sehnen. Meine Finger verharren über dem Display, bevor ich das Handy doch zurück in den Jutebeutel schmeiße und kraftlos auf die andere Straßenseite schlurfe.

Kapitel 2

Hab den Schlüssel zum Garten meiner Erinnerungen verloren, aber egal, Schloss ist eh kaputt

Berlin, 1. Juni
Grünes Kuschelcafé
Kalima

Es ist nicht nur der Name, der die Himmelsallee irgendwie himmlisch macht. Es ist der Laden genau gegenüber dem Friedhof. Strahlende, mintfarbene Fassade, an der sich Rosenranken schlängeln. Auf dem rostigen Schild, das über der Tür hängt, steht Grünes Kuschelcafé.

Die zwei kleinen, pinkfarbenen Metalltische vor dem Laden sind bereits besetzt, aber es ist viel zu schwül, um sich dieses Wetter zu geben. Als ich eintrete, steigt mir der Duft von Kaffee, staubigem Papier und Lilien in die Nase. Die Wände sind blütenweiß, die Decke ist niedrig. Der Laden besteht aus drei kleinen autonomen Bereichen, die nahtlos ineinander übergehen, sich ergänzen, ohne miteinander um ihre Schönheit zu konkurrieren. Ganz rechts stehen drei Regale aus hellem Holz, vollgestopft mit bunten, ungleichen Büchern. Auf einem breiten Podest der Mittelfläche stehen die verschiedensten Pflanzen in bunten Töpfen, zusammen mit langstieligen Blumen und aufwendigen Sträußen. Und dann noch die Holztische, an denen die Leute den Kaffee schlürfen, den sie sich am olivgrünen Tresen geholt haben. Der Anblick sticht in meiner Brust, als wäre ich auf eine der kleineren Kakteen gefallen.

Kaffee. Blumen. Bücher.

Ich schüttle den Kopf, um die Trübsinnigkeit zu vertreiben.

»Fremde«, Kenzi, die Barista, die gerade geschickt ein kleines Milchschaumherz in eine Tasse zaubert, grinst mich an. »Ich habe dich gestern vermisst.« Ihre dunklen Locken reichen ihr gerade mal bis zu den Schultern, aber sie hat die Art dickes Haar, die ein normales Haargummi sprengen.

Ich grinse automatisch zurück. »Du wusstest, dass ich wieder komme. Wir kommen doch immer wieder.«

»Wie der treulose Ex-Freund.«

»Oder Herpes.«

Sie lacht, schiebt die zubereitete Bestellung über die Theke und wischt sich die Hände an ihrer dunkelgrünen Schürze ab. »Das Übliche?«, fragt sie mit hochgezogenen Brauen.

Ich nicke und lasse meinen Blick über die Glastheke wandern, in der bloß ein einsames veganes Stück Bananenbrot liegt, an dem ich mir wahrscheinlich einen Zahn ausbeißen würde.

»Mauve macht gerade noch Joghurt, willst du einen?«

Kaum eine Sekunde später steht Mauve auch schon neben ihr. Mit den schneeweißen Haaren, die sie in einem Pixie Cut trägt, und der schwarzen, teils zerrissenen Kleidung erinnert sie mich immer an eine Grunge-Version von Tinkerbell. Oder an jemanden, der nicht lange anstehen muss, um ins Berghain zu kommen.

»Unser Sensenmann«, begrüßt sie mich grinsend. »Bist du endlich bereit, den Job auf der anderen Straßenseite aufzugeben und hier zu arbeiten?« Sie deutet mit ihrem Kinn auf den »Aushilfe gesucht«-Zettel, der mit Tesafilm seit Monaten im Schaufenster des Ladens hängt, bevor sie die aufwendig bemalte Schale, in der ein seltsamer blauer Brei klebt, in die Glastheke vor uns stellt.

»Was ist das?«

»Heidelbeerjoghurt, möchtest du?«

Schon im nächsten Moment spüre ich das künstliche Aroma des blauen Herzlollis auf der Zunge. Hinter meinen Augen entsteht ein winziger Brand, den ich sofort lösche.

Reiß dich mal zusammen.

»Nein, danke.«

Mauve und Kenzi tauschen einen Blick aus, bevor sie mit den Schultern zucken. Ich drehe mich um, scanne die anderen im Café, bevor ich mich an einen der Tische nahe dem Blumenpodest setze. Der Geruch der Pflanzen hüllt mich ein und verursacht ein Ziehen in meiner Brust.

»Hier, für dich.« Kenzi, die mir gefolgt ist, stellt mir ein grünes Getränk vor die Nase.

Ich lächle ihr dankend zu, nehme einen kräftigen Schluck durch den Strohhalm und versuche unter allen Umständen, nicht das Gesicht zu verziehen. Wie jedes Mal hoffe ich, dass mir Matcha Latte aus heiterem Himmel schmecken könnte. Ich trinke es fast täglich, und noch ist nichts passiert, ich finde es nach wie vor einfach nur eklig. Ich will Shirin David jetzt nichts vorwerfen, aber sie kann das doch unmöglich ernst gemeint haben. Aber ich versuche, es für mich zu behalten. Jedes Mal, wenn es Kritik an Matcha Latte gibt, wird immer behauptet, man habe ihn nur noch nicht gut zubereitet probiert. Oder ich habe es nicht oft genug getrunken. Gibt es nicht manche Lebensmittel, die man mehrmals probieren muss, bevor sie einem schmecken? Sushi? Kaviar oder Club Mate?

Kenzi kneift die grünbraunen Augen leicht zusammen und steht noch immer genau vor mir, als ich den Schluck herunterwürge und versuche, dabei nicht so auszusehen, als würde ich Rasen mit Milch trinken.

»Was?«

»Nichts, du bist ein Mysterium.«

Ich schnaube. Ich bin vieles, aber kein Mysterium. Dazu bin ich weder tiefsinnig, noch denke ich genug nach – wobei, doch, das tue ich, aber konstant über das Falsche und nicht stark genug.

»Das kommt dir nur so vor, weil ich immer in bar und nie mit Karte bezahle. Und weil ich täglich über zehn Euro dalasse, könnte man denken, ich wäre reich und nicht bloß verantwortungslos.«

»Ja, nein, das macht nicht mal Sinn«, entgegnet Kenzi.

Ich zucke mit den Schultern. Wenn man mich fragen würde, sind meine Aktionen schon fast schmerzhaft vorhersehbar. Aber leider nur für mich, obwohl ich wünschte, jemand würde mich durchschauen, mir sämtliche Entscheidungen abnehmen und mich einfach Toy-Story-artig durch das Leben lotsen.

»Du arbeitest auf der gegenüberliegenden Straßenseite, obwohl du den Job offensichtlich nicht magst, kommst jeden Tag her, willst den Job hier aber nicht annehmen, obwohl wir dich mit Sicherheit besser bezahlen. Du hängst ausschließlich am Handy, bist aber auf keinen Online-Plattformen. Und das Komischste ist, wie du dir jedes Mal einen Matcha Latte bestellst, obwohl er dir nicht zu schmecken scheint.«

»Wie kommst du darauf, dass ich meinen Job nicht mag?«

Ich hasse meinen Job, aber ich habe ein zu großes Ego, um ihr den Sieg zuzugestehen. Ich grinse sie an, als gleichzeitig eine heftige Erleichterung von mir Besitz ergreift. Ich weiß nicht mehr genau, was Dezember-Lima damals durch den Kopf gegangen ist, aber meine depressive Episode war mit Sicherheit nicht der einzige Grund, wieso ich mich in den vier Wänden meines Zimmers versteckt habe, bevor ich nach Island abgehauen bin. Irgendein seltsamer Teil in meinem Kopf hat mir andauernd einzureden versucht, dass jeder Mensch auf diesem Planeten mich auf der Straße erkennen und belagern könnte. Möglicherweise habe ich auch mal geträumt, wie ich mich mit einer Sonnenbrille durch ein Blitzlichtgewitter kämpfe, als wäre ich eine berühmte Schauspielerin, die eine Affäre mit dem verheirateten Regisseur hat. Vielleicht war es ein wenig dralimahaft von mir, direkt anzunehmen, die verhassteste Person der Welt zu sein. Aber – Überraschung – niemand interessierte sich genug für mich, um mich zum Thema einer Netflix-Doku zu machen.

Selbst im Gehasstwerden bin ich durchschnittlich.

»Du kannst wirklich hier anfangen. Mauve und ich brauchen echt Verstärkung.«

Ich schiebe ihr den Geldschein über den Tisch zu. Meine Fingernägel sind dunkel gerändert. Dann nehme ich einen zweiten Schluck vom Matcha. Kenzi verschwindet wieder zu Mauve an den Tresen, und die beiden fangen direkt an, über das nächste Lied zu diskutieren. Mauve bevorzugt absolut alles, was gebrüllt wird, während Kenzi ziemlich stolz behauptet, dass ihr Musikgeschmack den derzeitigen TikTok-Trends entspricht.

Ich krame das Handy erneut aus meiner Tasche und lege es vor mich auf den Tisch. Seine Nachricht ist die erste, ganz oben, während mir außerdem ein verpasster Anruf von Jalal und eine Nachricht von ihm entgegenblicken.

Hey Hässlichkeit

Wie läufts in Island?

Hast du genug Geld, oder soll ich dir was schicken?

Das fragile Lächeln verrutscht. Mein Bruder meldet sich seit einigen Wochen fast jeden Tag, und mit jeder Nachricht, in der ich ihn weiter belüge, wird mein schlechtes Gewissen schlimmer. Und jetzt sitze ich auf einem wackligen Turm voller Schwindeleien und weiß weder, wie ich da rauf geraten bin, noch, wie ich da wieder runterkommen soll.

Island ist wie immer, ich ruf dich später zurück, bin noch auf Arbeit.

Du hast so gottlos geschummelt bei der letzten Runde Quizduell, als wüsstest du einfach aus dem Kopf, wie viele Tasten ein Klavier hat.

Mit einem Mal ist meine Laune nicht nur im Keller, sie ist im Kanalisationssystem unter dieser Straße. Ich will einfach nach Hause … oder wenigstens dorthin, wo ich gerade schlafe … und mich vor der Welt verstecken kann. Ich öffne den Chat mit Sanju erneut, obwohl meine letzte Nachricht noch unbeantwortet ist.

Was würde Klein Sanju hinter deiner Kinderzimmertür jetzt sagen, wenn sie wüsste, was du für toxische Typen anziehst.

Die zehn Euro, die ich gerade wegen dir ausgeben muss, zahlst du mir zurück.

Sanju probiert zurzeit einen Online-Achtsamkeits-Workshop aus, um als Frau in diesem Patriarchat so was wie Stolz empfinden zu können. Deshalb stellt sie sich jeden Tag vor dem Schlafengehen die Tür ihres Kinderzimmers vor und wie sie hineingeht und mit der kleinen Sanju spricht. Wie sie ihr von ihren Erfolgen erzählt und sich anhört, was Mini-Sanju damals umgetrieben hat. Es ist der Versuch, netter zu sich sein zu können. Sein inneres Kind heilen und dieses ganze tiefsinnige Zeug. Aber als ich meine Augen geschlossen und an meine Kinderzimmertür gedacht habe, ist das Bild dunkel geblieben. Vielleicht besser so, ich glaube nicht, dass Klein Lima stolz auf mich ist.

Klein Sanju muss nicht alles wissen. Sie dachte schließlich auch, wir heiraten mal diesen Hummer von Sponge Bob.

Ich zahle dir sogar zwanzig. Und werde für immer die Klappe halten, solltest du die Wohnung mal brauchen.

Ich lache spöttisch auf. Wir wissen beide, dass das ein Versprechen ist, was sie niemals einlösen muss. Es gibt nämlich nur einen Menschen, der mir annähernd genug bedeutet, um mit ihm allein sein zu wollen. Sein Gesicht, das andauernd wie ein Geist am Rande meines Sichtfeldes tanzt, lächelt mich an, als wäre es froh, dass ich ihm endlich Beachtung schenke.

Ich weiß, wieso es mich immer wieder in dieses Café zieht. Es ist schließlich mehr als nur offensichtlich. Es ist fast so, als würde ich ihn durch diesen Laden spazieren sehen. Er, der die Manifestation dieser Dinge ist. Kaffee. Blumen. Bücher.

Er ist überall, ohne irgendwo zu sein. Auf meinem Display, in meinem Herzen und unter dem Trümmerhaufen, der mal unsere Beziehung war.

Mein Handy leuchtet erneut auf, doch es ist bloß die Benachrichtigung, dass sich mein Datenvolumen dem Ende zuneigt. Ich entsperre das Display, finde seinen Namen. Ich könnte ihn anrufen. Ich weiß, dass ich das könnte. Dass ich es tun sollte. Oder ich nehme seine Anrufe an. Oder ich beantworte seine Nachrichten, schließlich schickt er mir jeden Tag eine, ohne dass ich sie beantworte. Aber sobald seine Worte mein Handy und sein Name meine Gedanken streifen, bin ich wie festgefroren.

Keine Ahnung, wie ich damals denken konnte, Island und ihn hinter mir zu lassen wäre die richtige Entscheidung – okay, gelogen. Ich habe gar nicht gedacht. Ich weiß das meiste nicht einmal mehr, weil alles zu einer festen, dunklen, rauchigen Masse zusammengewachsen ist, die es mir nicht erlaubt, auch nur einen zusammenhängenden Gedanken in diese Richtung zu machen. Ich kann mich kaum daran erinnern, was ich zu ihm gesagt habe und er zu mir. Ich bin noch immer viel zu verwirrt von wirklich allem, und am liebsten hätte ich Videoaufnahmen von diesen Stunden, die ich in der kompletten Dunkelheit verbracht habe.

Aber ich habe keine Antworten, ich habe keine Optionen. Ich habe bloß diese viel zu verworrene Wortwolke, doch ich weiß nicht länger, wie man liest.

Ich habe wirklich gedacht, dass ich in den Monaten vergessen würde, wie grün seine Augen, wie rau seine Fingerkuppen, wie echt sein Lächeln, wie schnell sein Herzklopfen und wie unfassbar tief seine Liebe ist. Aber ich habe es nicht vergessen – nichts davon. Nói ist ein verdammtes Virus, das jede einzelne meiner Zellen befallen hat, also habe ich beschlossen, ihn wenigstens – und in einem gesunden Maße – an mich heranzulassen. Und ehe ich was dagegen tun konnte, hat mich meine Obsession verschluckt.

Und jetzt sitze ich in einem Café und starre auf Blumen, deren Pflanzenfamilie ich benennen könnte. Mohnblumen gehören zu den Mohngewächsen. Mohnblumen gehören zu unserem ersten Tag im Gewächshaus, meinem warmen Teppich im Rücken, seinen warmen Augen und seinem warmen Lächeln. Zypressen gehören zu den Zypressengewächsen, gehören zu gepressten Blumensträußen zwischen Buchseiten, seinen Ängsten auf dem Schiff und seinen geraunten Geständnissen. Und Vergissmeinnicht … Vergissmeinnicht … gehören zu Raublattgewächsen … und … und … und … und dieser Nachricht auf meinem Handy, in der er mir beweist, dass er mein nicht vergisst.

heute

 

Hey Baba,

 

dieser Fleck zwischen den Welten ist ein einsamer Ort.

Klar habe ich behauptet, dass ich mich dir hier nahe fühle … und es tut mir leid, das jetzt zuzugeben, aber ich hasse es, hier mit dir festzusitzen aber ich vermisse es, festen Grund unter meinen Füßen zu haben.

Ich weiß, ich bin die undankbare Tochter, die ihr Leben lang davon geträumt hat, dich endlich zu verstehen, und jetzt einen Rückzieher macht. Aber du bist nicht da, Baba.

Dich zu verstehen macht dich nicht realer. Oder aktiver. Oder lebendiger. Dich zu verstehen, treibt mich in die Einsamkeit.

Seit ich vor drei Monaten diesen Raum im Einkaufszentrum betreten und Island verlassen habe, fühle ich mich, als hätte mich jemand zu heftig und zu lange in eine Waschmaschine gesperrt. Jeder meiner Knochen, Muskeln und Gefühle ist verknotet, verstaucht und kaputt. Meine Seele ist faulig. Und dort, wo ich seit drei Monaten wandle, gibt es nichts, das mich auseinanderziehen, richten oder reparieren könnte. Es gibt niemanden, der mir die Fäulnis rausschneidet, damit sie nicht tumorhaft alles um mich herum infiziert. Also habe ich nichts getan, um das Kernproblem zu lösen, und schleiche auf Eierschalen durch die Gegend, bis meine Stunden daraus bestehen, in einem Café auf der Himmelsallee zu sitzen und an meinen Himmelsjungen zu denken.

Ich weiß nicht mal, ob ich dir vorwerfen kann, es leichter zu haben, weil du dieses Leben mit dieser unfassbaren inneren Leere nicht ertragen musst. Du musst nicht in Angst leben oder gegen diese unfassbare Müdigkeit ankämpfen. Und ich kann nicht mal fassen, dass mich mein Leben an den Punkt gebracht hat, an dem ich dich beneide. Aber so läuft es jetzt, an diesem einsamen Ort zwischen unseren Welten. Er ist nicht besonders groß oder weit. Das sind Gefängnisse schließlich nie.

Und weißt du, was das alles noch so viel schlimmer macht, Baba? Dass ich dort mit mir selbst eingesperrt bin, obwohl sich die Hälfte meines Seins fremd anfühlt. Dieser Körper, mein Körper, ist irgendwie anders. Ich bilde mir ein, dass er anders riecht. Dass er anders reagiert. Sogar, dass er anders funktioniert. Ich fühle mich, als würden die Hände dieses Mannes wie ein Schmutzfilm an meiner Haut kleben. Und das, obwohl meine Haut mein Leben lang mein Schutzwall war, zwischen mir und der Welt stand, Schäden davontrug und gleichzeitig Schlimmeres verhinderte.

Aber jetzt … ist meine Haut durchlässig. Jetzt schützt sie mich vor gar nichts mehr. Also versuche ich seit Monaten, auf diesem einsamen Streifen gestrandet, einen eigenen Schutzwall zu errichten. Und zu lernen, mich erneut zu schützen. Aber das ist alles so unglaublich sinnlos. Aber selbst, wenn ich meine Klamotten, mein Parfüm, die Farbe meines Lippenstifts oder die Marke meiner Sneaker ändere, ändert sich nichts. Denn das Problem ist … nicht die veränderbaren Sachen haben mich in diesen Raum gesperrt. Deshalb hat keins dieser Dinge genug Substanz, um mich zu schützen. Es waren zwar genau die Dinge, die es mir ermöglicht haben, mich die meiste Zeit meines Lebens hinter ihnen zu verstecken, aber ihre Macht ist verflogen. Denn egal, was ich tue, Baba, ich laufe auf verlorenem Posten. Weder mein Aussehen noch meine Hautfarbe, meine Augen, meine Herkunft oder meine Wurzeln sind veränderbar. Doch gerade das sind die Dinge, die mir die Stimme geraubt haben. Die Dinge, die mich in diesen Raum gesperrt haben. Die Dinge, die mich in diesen schmalen Streifen zwischen meinen Welten festhalten.

Ich wünschte, ich wäre jemand anderes. Ich wünschte, man könnte die Karten einfach neu mischen.

Aber wir wissen beide, dass das nicht möglich ist, Baba. Wir sitzen fest, beide zum Schweigen gezwungen. Beide gefangen in ihrem persönlichen Kopflabyrinth voller zu hoher Hecken. Und jedes Mal, wenn uns jemand eine Heckenschere gibt, um den Busch zurechtzuschneiden, der uns über das Labyrinth spähen lässt, flüchten wir zurück in die Ahnungslosigkeit. Und verlernen dabei direkt die Worte, mit denen wir uns Gehör verschaffen könnten. Denn gehört werden bedeutet immer nur weiterkämpfen. Aber ich habe keine Waffen mehr, meine Worte sind stumpf.

Immer noch besser, als langsam zu begreifen, was diese Stunden in diesem Raum aus mir gemacht haben.

So viel besser, als sich einzugestehen, dass sich seitdem jeder Tag meines Lebens wie ein Domino Day der Tragödien anfühlt.

Ich will es nicht wissen.

Ich habe kein Interesse daran, es zu erfahren.

Es soll für immer in meinem Kopf-Orbit verschwunden bleiben.

Für immer ein Cold Case sein, dessen Akte schon vor langer Zeit geschlossen wurde.

Ich wünschte, ich hätte irgendwas davon nicht mehr so real vor Augen. Ich will es vergessen, damit ich dir endlich vergeben kann, dass du mich an den Ort zwischen deinen Welten gelockt hast und ich jetzt mit dir festsitze um endlich wieder normal weiterleben zu können.

Doch solange das nicht der Fall ist, muss ich alles tun, um diesen leeren Ort zwischen meinen Welten, in den ich vor drei Monaten gefallen bin, kennenzulernen. Ihn mit Farbe, Persönlichkeit und passenden Möbeln zu füllen. Eine Tür anzubringen, ein Schloss zu befestigen.

Ich weiß nicht mehr, wie ich ohne meine Angst existieren soll. Wie ich noch vor die Tür gehen soll, wenn meine Haut und meine Augen genauso dunkel, mein Name anders und meine Herkunft so undefiniert in diesem Land sind. Manchmal stelle ich mir vor, dass ich schon immer an diesen kargen Ort gehört habe. Vielleicht hat dieser Mann bloß dabei geholfen, die Realität zurechtzurücken. Ich bin wieder an meinem richtigen Platz. Ich, eines der stimmlosen Kinder, die mit ihren Wunden und ihrem Weinen die Welt besudeln. Die nie aufhören können, zu klagen. Die daran erinnert werden müssen, wieso sie nie vergessen dürfen. Die sich damit abfinden müssen.

Ein anderes Zuhause bleibt mir nicht. Und ich habe sowieso vergessen, was Heimat bedeutet, weil alles Erdenkliche in einen winzigen Zwischenraum inmitten meiner Rippenbögen einbetoniert ist, der mal mein Herz war.

Kannst du mich hören? Ich glaube, ich höre mich nicht länger.

Ich liebe dich

Ich bin so wütend auf dich

Ich verstehe dich, aber ich will das nicht

 

Kalima

Kapitel 3

Ich dachte immer, dass Ruhe die Abwesenheit von Menschen ist, aber wieso sitze ich hier allein und halte mir die Ohren zu?

Vallarheiði, 1. Juni
Heiði-skógur
Nói

Ich würde meine fucking Seele dafür verkaufen, dass Big Foot mich in diesem verfluchten Wald findet und frisst.

Niemand kann davon sprechen, die Definition von Hölle zu kennen, wenn er nicht mit einem Haufen besoffener Schwachmaten auf einer Party im Wald hockt und dazu gezwungen wird, alberne Partyhüte zu tragen. Ich boykottiere Mottopartys, ich boykottiere Partyschmuck, ich boykottiere sogar Menschen, die an so was Spaß haben.

Die Flamme des Feuers ist hoch, die Luft riecht nach verbrannten Marshmallows und meinen zerreißenden Nerven. Ich starre auf den leeren Grund meines Plastikbechers, um Konversationen zu vermeiden. Ganz Vallarheiði ist hier. Sitzt auf den Holzbänken oder steht gemeinsam am Feuer.

»Nói, da bist du.« Freya kommt durch die Menge auf mich zu, ein Klemmbrett in den Händen. Hinter ihr entdecke ich unsere Eltern, die mit ineinander verschränkten Händen gegenüber von Helgi und Aron stehen und ihnen weismachen, wie gesund und überhaupt nicht kaputt ihre Ehe ist. »Die Eiswürfel gehen uns langsam aus. Roman hat angeboten, welche zu holen, aber ist seit zwanzig Minuten verschwunden.«

Der Glückliche. Wahrscheinlich hat er sich selbst in die Kühlkammer eingeschlossen, um dem ganzen Theater hier zu entgehen.

Freya sieht mich an und verzieht den Mund. Sie will mich um etwas bitten, aber sie ist nervös und traut sich nicht. »Kannst du … vielleicht nach ihm und dem Eis sehen?« In ihrem Gesicht erkenne ich das schlechte Gewissen, mich in die Scheiße hier doch noch reingezogen zu haben. »Also, wenn du nicht willst, dann frage ich Magnús. Oder Aron. Oder jemand anderen. Ich dachte nur, du willst vielleicht helfen.«

Ich will nicht helfen. Ich will an dem ganzen peinlichen Zirkus hier eigentlich nicht beteiligt sein. Meine Eltern sind seit drei Wochen zurück und machen aus ihrer Rückkehr ein riesiges, Fremdscham erregendes Spektakel in Form einer Party. Es ist genauso seltsam und unangebracht, wie es sich anhört. Rote Ballons säumen den Waldboden, eine Girlande mit riesigen Herzen zieht sich von einer Straßenlaterne zur nächsten. Das Buffet, das sich über drei lange Tische zieht, ist aufwendig und drüber. Die riesige, dreistöckige, herzförmige Torte ist fast so groß wie die Streitereien meiner Eltern an fast jedem Tag ihres Lebens. Und mein absolutes Highlight: die Glasskulptur in Form von Amor, die bei den milden Temperaturen um uns herum langsam, aber sicher zu schmelzen begonnen hat.

Freya räuspert sich, und ich sehe auf. »Vergiss es, ich kümmere mich selbst. Soll ich dir noch was zu trinken holen?« Sie zeigt auf den leeren Becher, an dem ich seit Stunden alibimäßig nippe. Ihr entschuldigendes Lächeln zeigt, wie unsicher sie ist.

So geht sie schon seit Monaten mit mir um. Seit dem Tag im Einkaufszentrum. Übervorsichtig. Extrem entgegenkommend.

»Nein«, sage ich und drehe mich weg. Mein Kopf tut weh, ich habe keine Lust auf dieses seltsame Verhalten meiner Eltern. Zwanghaft versuche ich, den Blickkontakt mit meiner Mutter zu vermeiden, damit sie mich nicht um irgendwas bitten kann.

»Hast du heute genug gegessen? Ich habe heute Morgen Waffeln für dich gemacht, hast du das gesehen?«

Sie hängt wie eine überfürsorgliche Erzieherin an meinem Rockzipfel. Als ich mich vor drei Monaten mit Limas Schal in mein Bett verkrochen habe, ohne darüber nachzudenken, dass ich Verpflichtungen habe, und erst zwei Wochen später die Kraft hatte, am Leben teilzunehmen, war die Welt nicht in Flammen aufgegangen. Also, eigentlich schon. Bloß haben sich die Flammen auf mein Leben beschränkt. Alles niedergebrannt. Aber alles andere … steht noch. Ruß- und aschefrei, obwohl ich alles vernachlässigt habe. Das Heima, mein Gewächshaus und meine andauernde Pflicht als jedermanns Plan B.

Nichts ist passiert, weil Freya nahtlos übernommen hat. Einfach so. Sie ist jetzt der gestresste, dauerüberforderte People Pleaser, weil ich vergessen habe, wie ich funktioniere.

»Ich habe genug gegessen«, sage ich und reibe mir wegen des Rauches die Augen. Ich verstehe nicht einmal, was dieses überdimensionale Feuer soll. Als wollten sie im nächsten Moment jemanden an einen keltischen Gott opfern.

Ich wünschte, sie würden mich opfern, damit ich endlich wegdarf. Ich wünschte, jemand würde sich opfern, damit mir der keltische Gott einen Wunsch erfüllt.

Das Lachen meines Vaters dringt an meine Ohren, und ich sehe, wie er meine Mutter an sich zieht. In ihre Ehe, die drei Jahrzehnte lang aus Brüllen bestanden hat, ist plötzlich Ruhe und Harmonie eingekehrt, und ich weiß ehrlich nicht, ob ich darüber lachen oder weinen soll. Sie tanzen, sie spielen sich in Gesprächen immer wieder den Ball zu, und alles, was ich will, ist, sie zu bitten, endlich aufzuhören, etwas vorzuspielen.

Ich wünschte, sie hätten nach dem langen Klinikaufenthalt noch eine fette Paartherapie angehängt, anstatt sich als neugeborenes verliebtes Paar zu feiern, das gerade einer Tragödie entkommen ist. Vermutlich haben sie sich nach dem Schwangerschaftstest vor fünfundzwanzig Jahren auch so aufgedreht verhalten, um nach außen hin so glücklich zu wirken. Fake it till you make it – nur haben sie damals beim Abtrennen unserer Nabelschnur erkannt, dass alles gefakt ist.

Ich habe schon immer an die wahre Liebe geglaubt. Ich lese schließlich Bücher, und irgendwo in mir drin … wollte ich schon immer genau daran glauben. Und als ich ihr schließlich begegnet bin … Ich hätte nicht ahnen können, wie tief das geht. Nicht nur meine Brust war betroffen, und nicht bloß mein Herz … Sie war in jeder einzelnen Zelle meines Seins.

Und das komische Theater meiner Eltern … keine Ahnung, was sie da genau tun. Und trotzdem … dürfen sie einander ansehen. Beieinander sein. Während ich wie ein verlorener und wütender Volltrottel die Gegend verstopfe.

Keine Ahnung, ob Limas Weggang mich zynisch gemacht hat, aber plötzlich kann ich nichts mehr von dem hier ertragen. »Ich hole dir das Eis.«

Ohne Freyas Antwort abzuwarten will ich mir einen Weg durch die Menge suchen. Es ist extrem voll, auf jeder freien Fläche stehen Menschen. Ich hätte nicht kommen sollen. Aber nachdem ich meine Mutter, außer aus Videoanrufen, ein Jahr lang nicht gesehen habe, konnte ich ihr das nicht abschlagen.

»Hast du Vinur gesehen?«, frage ich, als mir auffällt, dass er vor einer Weile verschwunden ist.

Freya lächelt mich mitleidig an, und ich ermahne mich, nicht die Augen zu verdrehen. Ich dachte, ihr sprunghaftes Verhalten wäre das Nervigste an ihr, aber ihr übervorsorgliches ist unerträglich. Ich will … das nicht. »Dort, wo er jeden Abend ist.«

Fuck.

»Hast du ihn schon wieder dorthin gelassen? Freya, ich habe dir gesagt, dass du das nicht mehr tun sollst.« Vinurs Lieblingsplatz ist seit diesem Tag der Teppich des Beifahrersitzes. Dort, wo Lima das letzte Mal gesessen hat.

Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Er hat stundenlang gewimmert. Lass ihn doch. Jeder …« Sie bricht ab und starrt auf ihre Fingernägel.

»Jeder was?«, frage ich gereizt.

»Jeder vermisst sie auf seine Weise.«

Ich höre zwar das Mitleid heraus, doch auch den unausgesprochenen Vorwurf. Sie will, dass wir über Lima sprechen. Dass sie nicht mehr wie ein überdimensionaler blauer Fleck über meiner Existenz schwebt. Aber ich finde es ziemlich unangebracht, Tipps von jemandem anzunehmen, der sich nach dem Schlaganfall unserer Mutter in der Verantwortungslosigkeit, Partys und Alkohol verloren hat. Ich bin unfair und ein Arsch, und ich wünschte, da wäre die Stimme der Vernunft, die mich davon abhält, so zu sein. Aber alles, was ich höre … da ist bloß ihre Stimme.

Freya ist augenscheinlich dabei, wieder ihr Leben in den Griff zu bekommen. Sie komponiert wieder, sie feiert nicht mehr jede Nacht. Doch sie traut dem Frieden auch nicht. Deshalb lebt sie noch immer bei mir. Und als wäre ich nicht schon gestraft genug, hat sich Magnús ihr angeschlossen. Gerade als ich den Mund öffnen will, höre ich den Benachrichtigungston meines Handys. Schnell ziehe ich es aus der Hosentasche. Doch meine Aufregung verpufft noch im selben Moment.

Kommst du vorbei?

Ich starre einige Sekunden auf die Nachricht, deren Nummer ich nicht eingespeichert habe. Ich habe mir geschworen, nach dem einmaligen Ausrutscher nicht wieder zu ihr zu gehen. Doch jetzt erwische ich mich dabei, wie ich fast jede Nacht den gleichen Weg auf mich nehme.

Gib mir zwanzig Minuten.

»Ich hole Vinur später«, sage ich in Freyas Richtung, bevor ich ihr den Becher in die Hand drücke. »Aber ich habe keine Zeit, Eis zu holen.«

Sie blickt misstrauisch von meinem Handy zu meinem Gesicht, denkt wahrscheinlich, dass ich im Gewächshaus verschwinde. Mir die Sorgen von der Seele buddle. Meine Hände so tief in der Erde vergrabe, bis ich wieder klarer bin … Aber sie könnte nicht falscher liegen. Um gegen dieses Loch in meiner Brust anzukommen, bringt mir nicht mal das Gewächshaus etwas.

»Nói …«, setzt Freya an.

Doch ich schüttle den Kopf. Ich will nicht reden oder erklären müssen. Ich will meine Ruhe. Doch genau, als ich mich abwenden will, sehe ich, wie jemand auf mich zugerannt kommt. »Hi Oli«, sage ich, ohne dass er Anstalten macht, mich zu beachten. Ich habe in den letzten Monaten sogar ihn vernachlässigt. In seiner Hand hält er einen Zeichenblock, in der anderen ein weißes Papier.

»Ist Lima endlich wieder da?«

Schmerz.

»Oli«, sage ich und kneife mir in den Nasenrücken. Seit wir aus Akureyri ohne Lima zurückgekommen sind, fragt er nach ihr. Und jetzt, nachdem meine Eltern da sind, denkt er wahrscheinlich, dass jede verschollene Person zurückkehrt.

Er sieht auf, die Augen hinter den Brillengläsern scheinen riesig. »Heute beginnt die neue Staffel Winterheroes. Als Lima die Windpocken hatte, hab ich ihr versprochen, dass wir die zusammen schauen. Ist sie immer noch nicht da? Sie hat es versprochen.«

Sie hat eine Menge versprochen. Genau wie ich. Nur kann sie ihre Versprechen nicht halten, weil ich meins gebrochen habe.

Ich öffne den Mund, dabei weiß ich nicht, was ich ihm sagen soll. Es ist zu viel Unaussprechliches passiert, obwohl ich keine Ahnung habe, was genau vorgefallen ist. Nur, dass ihr jemand wehgetan hat. Und diese Wunden haben nicht nur nach außen, sondern auch in ihr Innerstes geblutet.

Oli hält mir eine Zeichnung hin, und mein Mund wird trocken. Sie lächelt darauf. Ihr Tuch über die Schulter gelegt, die Stirn leicht gekräuselt. Wir sitzen zu dritt auf meinem Sofa. Oli, Lima und ich. Und schauen fern. Olis Stirn auf der Zeichnung ist gerunzelt, als konzentriere er sich vollkommen auf das Geschehen vor sich, während ich sie ansehe. Allein diese Zeichnung raubt mir die Luft.

»Lima hat es versprochen«, wiederholt Oli und sieht mich wütend an.

Klaud, die sich mittlerweile zu uns gesellt hat, hebt die Brauen. Selbst sie ist so einen starken Gefühlsausbruch ihres Sohnes nicht gewohnt.

»Ich weiß.« Ich nehme das Blatt mit meinen Fingerspitzen entgegen, falte seine Zeichnung zusammen und schiebe sie in meine hintere Hosentasche. Mein Handy gibt erneut einen Ton von sich, aber diesmal ist es keine WhatsApp-Nachricht, sondern eine Aufforderung von der Sprach-App, die ich täglich nutze.

»Wenn sie könnte, wäre sie bestimmt hier, Oli.«

Ich weiß nicht, was ich von mir gebe. Ich weiß nicht, ob ich die Wahrheit sage. Nur habe ich das Gefühl, dass ich diesen Jungen nicht mit der Realität konfrontieren muss, weil er sowieso nicht die Macht hat, diese zu ändern. Aber es ist vollkommen egal, denn sein enttäuschter Ausdruck zeigt deutlich, dass er mir nicht glaubt. Sein Blick fliegt über meinen ganzen Aufzug, bis sie an seiner Wolkenuhr, die um mein Handgelenk liegt, hängen bleibt.

»Ich wünschte, ich hätte Lima die Uhr geschenkt, damit sie endlich merkt, dass sie wieder hier sein muss.«

Ich schließe die Augen, damit er meine Gefühlsregung nicht sieht.

Dann verabschiede ich mich von ihnen, nehme extra den Weg, an dem mich niemand sehen kann. Ich will einfach keinem begegnen, obwohl gerade jeder seine Probleme hat. Magnús ist schließlich nicht bei mir eingezogen, weil seine Eltern ihn plötzlich besser behandeln. Die Nacht ist nicht besonders frisch, und es riecht nach Moos. Eigentlich sind das die Momente, in denen ich auf meinem Feld oder im Gewächshaus arbeiten könnte. Würde ich die Welt mit Blumen füllen, würde mein Verstand keine Schleifen mehr drehen.

Doch als ich jetzt am Feld stehe, mit dem Gewächshaus im Rücken und den Puffins vor mir, kann ich … einfach nicht. Sie fliegen um das rote Häuschen, das irgendjemand vor Millionen Jahren aufgestellt hat. Es erinnert mich an die Nacht, als ich mich in sie verliebt habe, während die Tiere auf ihrer Schulter gestanden haben. Als die Umgebung um mich herum endlich aus Licht bestanden hat, weshalb ich nicht mal darüber nachgedacht habe, was für ein seltener Anblick Puffins zu der Jahreszeit sind. Normalerweise verbringen sie die kalten Winter auf dem Meer. Doch seit ich denken kann, sind sie manchmal trotzdem da, unabhängig vom Wetter. Vielleicht, weil das Feld an eine Klippe grenzt, von der aus man das Meer riechen kann … vielleicht … keine Ahnung. Vielleicht war es einfach genauso ein Mysterium wie dieser ganze Abend. Wie dieser Mensch, der in mein Leben gekommen ist, es ausgefüllt hat und jetzt … weg ist. Ich sehe woandershin, so unerträglich ist der bloße Anblick.

Das Haus kommt in mein Sichtfeld. Mitten im Nirgendwo, wie die gruselige Kulisse aus einem Zombiefilm. Maggie sitzt auf der Terrasse und wartet auf mich, genau an der gleichen Stelle wie Lima, als ich ihr vor vier Monaten versprochen habe, alles für sie zu tun. Ich schließe die Augen, verbanne das Bild.

»Hey«, sage ich leise und setze mich zu ihr.

Ihre Haare sind mittlerweile blau, genau wie ihre Augen. Sie zieht beide Knie an ihren Körper, bevor sie mit einem »Hey« antwortet.

Schweigen breitet sich zwischen uns aus. Wir haben einander nicht viel zu sagen. Ich weiß sowieso, dass ich nur aus einem Grund hier bin. Und es ist der gleiche, aus dem sie mich immer wieder kommen lässt.

»Sie kommt zurecht«, sagt sie tonlos. »Sie hat geantwortet.«

Ich stoße den angehaltenen Atem aus. Erleichterung flutet mich. »Mir nicht«, sage ich. Ich bin nicht einmal sicher, ob sie die Sprachnachrichten, die ich ihr jeden Tag schicke, abhört. Dafür antwortet sie Maggie, täglich. Das ist der einzige Grund, der mich ruhig schlafen lässt. Sie kommt zurecht. Sie ist hoffentlich nicht allein. »Mehr weißt du nicht?«

Maggie ist verschwiegen, verrät mir nie mehr, als dass Lima geantwortet hat. Und auch jetzt schüttelt sie den Kopf. »Nein, mehr weiß ich nicht.«

Ich weiß nicht, ob ich ihr glaube, aber eigentlich ist es auch egal.

»Ich glaube nicht, dass ich das noch länger hier aushalte, Maggie.«

Ich starre in die karge Landschaft. Drei Monate sind vergangen. Drei Monate, in denen ich aufgestanden bin, gearbeitet und vor mich hin existiert habe. Drei Monate, in denen mich meine Schuldgefühle auf meine Grundfeste niedergemetzelt haben. Ich hätte da sein müssen im Einkaufszentrum. Ich hätte sie nicht einfach gehen lassen dürfen.

»Dann weißt du, was zu tun ist«, sagt Maggie.

Ich schlucke. Wir sprechen schon seit mehreren Wochen darüber, aber ich habe es bisher nicht geschafft, etwas davon in die Realität umzusetzen. Es ist nämlich nicht länger Limas Drohung vom Flughafenparkplatz, die mich von ihr fernhält.

Ich werde nie wieder mit dir reden, wenn du es nicht akzeptierst und mich gehen lässt.

Ihre Worte schmerzen noch immer. Aber der wahre Grund, der mich noch hier hält, ist die Angst vor dem, was ich vorfinden könnte. Die Angst … dass Lima … vielleicht nicht mehr Lima ist.

Maggie steht auf, verschwindet im Haus und kommt wenige Minuten später mit zwei Tassen schwarzem Kaffee zurück. Der Schlaf meidet uns beide, seitdem sie weg ist. Und das Einzige, was wir tun, ist, uns die Nächte um die Ohren schlagen, um über sie zu sprechen. Als ich meinen Arm nach der Tasse ausstrecke, schweift Maggies Blick zu meinem Unterarm. Er ist blau verfärbt. Ich habe mit aller Kraft versucht, nicht mehr in alte Muster zurückzufallen, aber bereits als Lima in dieses Taxi gestiegen ist, bin ich in ein Schmetterlingsnetz geraten.

Und seitdem stecke ich darin fest.

»Du könntest mitkommen«, sage ich.

Doch sie presst die Lippen zusammen. »Ich kann hier nicht weg, Nói«, sagt sie, als wäre sie ein Geist, der an das Haus gekettet ist. Ist sie wahrscheinlich auch.

»Aber ich will jemanden, der mich nervt, und das hat niemand so gut hinbekommen wie sie.«

Meine Mundwinkel heben sich. Ich weiß nicht, was es ist, dass ich hier weniger Einsamkeit spüre als im Rest von Vallarheiði. Aber so ist es. Deshalb zieht es mich jede Nacht her. Wir schweigen die meiste Zeit. Mein Magen knurrt, aber ich bleibe sitzen, weil ich absolut keinen Appetit habe. Mein Handy vibriert mehrmals, aber ich habe kein Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen. Ich muss nach Vinur sehen, aber ich schaffe es sowieso nicht, ihn aufzumuntern, weil ich mich selbst nicht aufgemuntert bekomme.

Manchmal, wenn ich der Erste im Heima bin und jemand durch die Küche kommt, stelle ich mir vor, es ist Lima. Sie hat keinen Schlüssel mehr, sie ist in Deutschland, sie ist weit weg. Doch für diese kurzen Momente, wenn ich das Scheppern von Geschirr höre, stelle ich mir vor, sie ist es. Nur einen Raum weiter. In Sicherheit. Bei mir. Dann warte ich auf ihr Kichern oder auf ihr lang gezogenes »Nóiiiiiiiiiiiiii, wenn jemand hypothetisch gesehen vier Gläser zerbrochen hätte, wo wäre der Besen?«

Wenn ich die Augen schließe, ist es so, als ob sie tatsächlich vor mir steht, mit dem schönsten und breitesten Lächeln auf den Lippen, und die lustigsten und schlagfertigsten Dinge zu mir sagt. Mit Augen, die mich lesen, als wäre ich eine beschissene Kinderfibel. An sie zu denken macht einerseits süchtig, und andererseits zerreißt es mich mehr als alles andere. Nichts fühlt sich richtig an. Vor einem halben Jahr wusste ich noch nicht mal etwas von ihrer Existenz, jetzt hängt ihr Geist überall. Selbst an meinem Kühlschrank. Früher hingen an ihm noch Post-its mit meinen Erledigungen, doch jetzt ist er nur noch ein riesiger roter Fleck, auf dem immer das gleiche steht:

Wortmädchen.

Die Nacht zieht vorüber, ohne dass sich jemand von uns bewegt. Ich fürchte, dass Roman in der Nähe ist und uns sehen könnte. In einem Paralleluniversum würden Maggie und ich uns betrinken, um auf unser Leben klarzukommen. Aber nach der Sache damals würde sie niemals auch nur einen Schluck Alkohol anrühren, und ich werde nach fünfundzwanzig Jahren nicht damit anfangen. Die Sonne kriecht den Horizont herauf, aber ich spüre die Helligkeit gar nicht richtig. Ich muss … hier irgendwie weg. Muss eine Pause vom Leben machen, brauche ein Moving Castle … das mich hier wegbringt.

Maggie steht auf, greift nach den leeren Tassen und geht zum Haus. »Tschüss, Nói«, sagt sie, bevor sie die Tür hinter sich schließt.

Wir wissen beide, dass dieser Abschied nicht nur bis zur nächsten Nacht anhält. Ich fahre mir über die Augen, und trotz dieser ekelhaften Tragik muss ich lachen, lege sogar den Kopf in den Nacken, so sehr bricht es aus mir heraus. Es hinterlässt ein Echo im Wald vor mir. Die frische Luft des Morgens legt sich auf meine Haut.

Natürlich fällt mir nur ein einziger Ort ein, an den ein Moving Castle mich bringen könnte.

Es wird nie einen anderen geben.

Kapitel 4

Tränen und Trash

Berlin, 6. Juni
Sanjus Wohnung
Kalima

Eigentlich hasse ich Trash-TV. Sanju hat mal gefragt, ob es daran liegt, dass man beim Schauen meistens richtig spüren kann, wie einem die Gehirnzellen einzeln absterben. Aber das ist nicht der Grund – also nicht der einzige. Die Wahrheit ist, dass ich mich, außer mit dem übersteigerten Selbstbewusstsein und der sexualisierten Darstellung von allem, irgendwie zu sehr mit diesen verlorenen Seelen identifizieren konnte. Ich war auch nur eine weitere komische Lebensentscheidung davon entfernt, mich mit Fremden in einer Villa einschließen zu lassen, um anschließend Werbung für Zahnbleaching zu machen.

Aber an diesem Nachmittag, als ich verdreckt und verheult von der Arbeit komme, schließen wir einen Kompromiss. Wir schauen uns zusammen irgendeine Show an, bei der Leute die große Liebe suchen und anschließend mehr Instagram-Follower bekommen, während ich auf ihrem Schoß liege und mein dramatisches Selbst bin. Das Wohnzimmer riecht nach Fuckboy und schlechten Entscheidungen. Also, nicht meinen, sondern der Schönheit mit dem beigen Crop-Top und dem langen dunkelroten Rock, auf deren Schoß ich liege. Sanjus lange Haare sind zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengefasst, ihr Make-up ist perfekt. Neben ihr komme ich mir sogar noch schäbiger vor. Und es macht die Situation auch nur bedingt besser, dass sie mir erst erlaubt hat, mich auf ihrem teuren Designersofa auszubreiten, wenn ich ein Handtuch drunterlege. Denn ich bin noch immer verschwitzt und stinke, aber zusätzlich viel zu geschafft, um mich ins Bad zu schleppen.

Entweder hat Johan die Samthandschuhe ausgezogen – wenn er jemals welche getragen hat –, oder er hat sich fest in den Kopf gesetzt, mich dazu zu bringen, zu kündigen.

»Das glaube ich nicht«, antwortet Sanju, und mir wird bewusst, dass ich meine Gedanken laut ausgesprochen habe. »Er könnte dich einfach feuern, wenn er wollte.«

»Nein«, jammere ich weiter. »Er ist ein seltsamer Typ, der will, dass ich was daraus lerne und eigene Entscheidungen für mein Leben treffe. Dabei sollten wir doch auf einer Seite sein und so.«

»Aber was ist denn heute passiert?«

Ich schluchze auf, während sich die Rotze sehr unvorteilhaft über mein Gesicht verteilt. »Er hat mir aufgetragen, noch ein Grab auszuheben, und dann bin ich gestolpert und in das Loch gefallen und dann …«

Sie lässt mich den Satz nicht mal beenden, da legt sie bereits den Kopf in den Nacken und lacht schallend. Mit einem Todesblick starre ich sie an, räche mich schließlich an ihr, indem ich versuche, meine verlaufene Schminke auf ihr zu verteilen.

»Eyyyyy«, sagt sie, noch immer amüsiert, und rückt von mir weg. »Was genau erwartest du denn? Soll ich dir jetzt gut zureden? Ich verstehe doch auch nicht, wieso du da arbeitest. Kündige doch einfach.« Sie streckt den Arm aus, um mir aufmunternd über meinen zu streichen, besinnt sich aber im letzten Moment eines Besseren. »Diese Latzhose steht dir sowieso nicht. Du siehst aus wie ein obdachloses Kindergartenkind.«

Ich lachweine bei dem Gedanken, dass ich mich durch die Tage quäle und dabei wie ein Abschreckungsbeispiel für Schulabbrecher aussehe. Es wird mich trotzdem nicht dazu bringen, zu kündigen. Ich habe die Ausbildung schließlich nicht angefangen, weil sie in mir das Bedürfnis weckt, so was wie Endlich in meiner Girlboss-Era angekommen zu twittern. Also, wenn Twitter nicht elendig an Altersschwäche verreckt wäre.

»Lima, ich weiß, dass du in Isla…«, beginnt Sanju langsam.

»Das hat alles nichts mit Island zu tun«, unterbreche ich sie sofort, setze mich aufrecht hin und wische mir mit meinen Handballen über die Wangen.

Sie ist der einzige Mensch, der weiß, was passiert ist. Oder vielmehr die Version, die ich an meinem ersten Tag zurück in undeutlichen und verweinten Fetzen herausbekommen habe. Natürlich versucht sie seitdem, mit mir darüber zu sprechen, aber ich lehne ab. Ich will nicht darüber nachdenken, ich will einfach, dass es weggeht. Und solange Sanju mir nicht genau das geben kann, habe ich sie beschworen, so zu tun, als wäre nichts. Kann ich ja schließlich auch.

Die meiste Zeit.

Manchmal.

Oft genug.

In Zukunft hoffentlich öfter.

Wie auch immer.