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Die herbstliche Jagd auf Graugänse beginnt in der Morgendämmerung. Doch in diesem Jahr ist unter den Schützen einer, der es nicht auf Vögel, sonder auf Jäger abgesehen hat... Insgesamt drei Morde geschehen, und die isländische Kriminalpolizei steht vor der gefährlichen Aufgabe, einen brutalen Serienkiller zu finden, damit das tödliche Katz- und Maus-Spiel von Jäger und Gejagtem ein Ende hat.
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Seitenzahl: 417
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Karte
Morgengrauen
Donnerstag, 21. September
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Freitag, 22. September
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Samstag, 23. September
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Sonntag, 24. September
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Montag, 25. September
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Dienstag, 26. September
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Mittwoch, 27. September
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Donnerstag, 28. September
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04:40
05:10
Viktor Arnar Ingólfsson
Bevor derMorgen graut
Aus dem Isländischen vonColetta Bürling
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstveröffentlichung
Die isländische Originalausgabe erschien unter dem Titel
AFTURELDING
bei Mál og menning, Reykjavík
© 2005 by Viktor Arnar Ingólfsson
© für die deutschsprachige Ausgabe: 2006 by
Bastei Lübbe AG, Köln
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-8387-0079-3
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Vorbemerkung:
In Island duzt heutzutage jeder jeden.
Man redet sich nur mit dem Vornamen an.
Dies wurde bei der Übersetzung beibehalten.
Die auf den Seiten 141 und 335 zitierten Strophen
stammen aus dem Gedicht »Einsog vonin, einsog lífið«
von Aðalstein Ásberg Sigurðsson.
Meinem Vater
Ingólfur Viktorsson aus Flatey
gewidmet,
der starb,
während dieses
Buch entstand.
Dieses Wort versteht nur, wer jemals in einer Herbstnacht erwacht ist, das Bett verlassen und sich angekleidet hat, um in die Dunkelheit hinauszugehen und bei kaltem klaren Himmel den Sonnenaufgang zu erleben. Wer ganz allein mit sich erlebt hat, wie die Nacht langsam weicht und der Morgen graut. Wer gespürt hat, wie das Zittern nach dem tiefen Schlaf der Nacht sich in das Wonnegefühl verwandelt, das einen durchrieselt, wenn die Sonne es schafft, die Schultern ein wenig zu wärmen. Dieses Gefühl kennt nur, wer Jagd auf Graugänse macht, bewegungslos seiner Beute auflauert und der tiefen Stille lauscht, bevor der neue Morgen graut.
In einer bereits seit langer Zeit zerfallenen Hausruine in einer abgeschiedenen Landgemeinde im Dalir-Bezirk saß ein einsamer Jäger und ließ seine Blicke über das Wasser des Hvammsfjörður hinüber zur Bergkette von Fellsströnd am jenseitigen Ufer des Fjordes gleiten, wo die obersten Bergspitzen von den ersten Strahlen der Morgensonne beleuchtet wurden, die sich einen Weg durch die Wolkengebilde im Osten gebahnt hatte. Die Berghänge darunter, das Tiefland zu ihren Füßen und der Fjord lagen hingegen noch in tiefem Schatten.
Der Mann in der Ruine ging auf die fünfzig zu, hatte ein scharf geschnittenes Gesicht, war schlank und sah gepflegt aus. Er trug warme, solide Jagdkleidung in grünen, gelben und braunen Camouflagefarben. Eine dicke Mütze verhüllte seinen Kopf fast vollständig und ließ nur einen Teil des Gesichts frei, das mit den gleichen Erdfarben getarnt war. Er saß auf einem dunkelgrünen Klappstuhl, einem bequemen Jagdsitz, der leicht zu tragen war. Die Mauerreste des ehemaligen Wohnhauses schützten den Jäger vor Wind und verliehen ihm volle Deckung, sodass er von niemandem wahrgenommen werden konnte. Seine Schrotflinte steckte in einem grünbraunen Futteral und lehnte an der Mauer.
Der schwarze Hund an der Seite des Mannes hatte seinen Kopf auf die Vorderpfoten gelegt und rührte sich nicht. Nur die Ohren bewegten sich ab und zu, und die Schnauze zitterte leicht, aber die Augen waren geschlossen. Hin und wieder beugte sich der Mann zu dem Hund hinab und strich ihm sanft über den Rücken. Sie warteten auf Graugänse auf dem Morgenstrich.
Unterhalb der Hausruinen lag ein eingezäunter Kartoffelacker, an den sich ein kleines Wiesenstück anschloss. Auf dem Kartoffelacker befanden sich vierzehn Gänse, acht grasten, vier ruhten und zwei reckten wachsam den Hals. Es bedurfte eines geübten Auges, um in der Dunkelheit zu erkennen, dass es sich um Kunststoffgänse handelte, die als Lockvögel dienten. Der Mann hatte sie als Gruppe zwischen dem Kartoffelgras so aufgestellt, dass noch genügend Platz für einen weiteren Gänsetrupp war, der sich dort gegen den Wind einfallend niederlassen könnte. Die Entfernung war passend, etwa dreißig Meter.
Ein winziges Rascheln war zu hören, als zwei Feldmäuse über die Mauerreste huschten und über die Hand des Jägers liefen, die oben auf dem Gras ruhte. Dann verschwanden die Mäuschen in einem Loch, und alles war wieder ruhig. Der Mann nahm den Geruch von taufeuchter Vegetation wahr, die sich auf den Herbst vorbereitete, und zerstampfter Erde im Inneren der Ruine. Dort bei den Mauerresten hatten Schafe im Sommer den Schatten gesucht, wenn die Sonne im Zenit stand und die Hitze für Mensch und Tier kaum zu ertragen war.
Jetzt aber lag die Temperatur um null, und trotz seiner guten Ausrüstung fror der Mann ein wenig. Er verschränkte die Arme vor der Brust, horchte und hielt Ausschau nach dem neuen Tag, indem er auf den Fjord hinaus blickte, dessen Ufer noch im Dunkeln lagen.
Bevor der Mann die ersten Laute von Gänsen auf dem Morgenstrich ausmachen konnte, öffnete der Hund die Augen und schnupperte. Es verging aber noch eine ganze Weile, bis er sie im Westen erblickte. Dort strichen Gänsetrupps landeinwärts an, machten aber nicht den Eindruck, als würden sie näher kommen. Er machte sich aber keine Sorgen deswegen. Seine Gänse würden sich an diesem Morgen schon noch einfinden, das taten sie immer. In jedem Herbst kamen die gleichen Gänsefamilien zu diesem Fleckchen Erde, um zu fressen und Kräfte zu sammeln für den Zug nach Süden quer über den Atlantik. Der Bestand hier war wenig bejagt worden, und die Macht der Gewohnheit war stark. Selbst wenn der Jäger jede Woche ein paar Tiere erlegte, fand sich der Trupp doch immer wieder beim Kartoffelacker ein.
Der Hund stellte jetzt die Ohren auf und hob die Schnauze. Sämtliche Muskeln des Tieres spannten sich an, aber trotzdem verharrte es völlig regungslos. Der Mann nahm vorsichtig das Gewehr aus der Hülle und lud es, eine ziemlich neue Fünfschuss-Pumpgun, Kaliber 12, Magnum-Patronen. Eine zuverlässige und handliche Waffe.
Jetzt erschien ein weiterer Gänsetrupp und hielt näher auf ihn zu als der erste. Der Mann zählte neun Vögel. Kamen sie in Schussweite, würde er mit den drei Patronen, die im Lauf und im Magazin steckten, Beute machen können. Das wäre genug für diesen Morgen, und er könnte wieder zum Auto zurückkehren, um eine Tasse heißen Kaffee und die langersehnte Zigarette zu genießen.
Die Gänse beschrieben einen großen Kreis über dem Kartoffelacker und schienen die Situation abzuschätzen. Die Lockvögel dienten dazu, ihnen zu suggerieren, dass hier keine Gefahr drohte. Der Flugkreis verengte sich, und die Gänse strichen wachsam an.
Der Mann dachte jetzt nicht mehr an den Kaffee, sondern brachte vorsichtig die Waffe in Anschlag. Die Gänse verringerten die Flughöhe und hielten gegen den Wind auf den Kartoffelacker zu. Etwa hundert Meter vor dem Ziel wurden sie aber auf einmal scheu und stiegen kreischend wieder hoch. Kurze Zeit später war die Gruppe in nördlicher Richtung verschwunden.
Der Jäger streckte vorsichtig den Kopf über die Mauer und versuchte festzustellen, was diese Störung verursacht hatte. Nirgends sah er eine Bewegung. Der Hund war jetzt ebenfalls aufgestanden und schnupperte und knurrte leise.
»Ruhig, Kolur«, befahl der Mann und sah sich immer noch forschend um. Dreißig Meter von der Hausruine entfernt zog sich am Rand einer Heuwiese ein nicht sehr tiefer Entwässerungsgraben entlang, dessen Böschung mit hohem verwelkten Gras bewachsen war. Oberhalb davon, aber etwas mehr seitlich, lagen einige große Felsblöcke, die vor langen Zeiten bei einem Erdrutsch vom Berg gekollert sein mochten. Noch lag das flache Land am Fuß der Berge im Schatten, und man sah fast gar nichts.
Urplötzlich zerriss ein Schuss dröhnend die Stille, und fast gleichzeitig hörte man das Geschoss an einem der Lockvögel im Kartoffelacker aufprallen, der umkippte.
»Hallo, wer ist da?«, rief der Mann laut. Er wartete eine Weile auf eine Antwort und rief dann noch lauter: »Wer ist dort? Das Land hier ist in Privatbesitz.«
Wieder blieb die Antwort aus. Er rief noch einmal: »Unbefugten ist es nicht gestattet, hier zu jagen.«
Um ihn herum herrschte bis auf das leise Knurren des Hundes tiefe Stille.
»Kolur!«, sagte der Mann schroff, und der Hund verstummte.
»Hallo«, rief der Mann ein weiteres Mal. Immer noch Schweigen.
Der Mann lugte wieder über die Mauer hinweg, konnte aber den anderen Schützen nicht ausmachen. Stattdessen hörte er einen weiteren Knall, Gras und Erde spritzten hoch, wo der Schuss eingeschlagen war, nur ein paar Meter vor der Ruine. Der Mann duckte sich rasch. Ungläubig überlegte er, was zu tun war. Es handelte sich ganz offensichtlich um eine große Schrotladung, die genau in seine Richtung abgefeuert worden war. Wer um alles in der Welt spielte so ein Spiel?
»Hallo«, brüllte er, so laut er konnte. »Hör auf zu schießen.«
Er riss sich die Mütze vom Kopf und stülpte sie auf den Lauf seines Gewehrs. Einen Moment zögerte er, bevor er die Flinte vorsichtig über die Steinmauer hochschob und die Mütze schwenkte. Wieder erfolgte ein Schuss, und einige Schrotkörner trafen die Mütze und den Gewehrlauf. Jetzt hielt es den Hund nicht mehr, er sprang auf und lief bellend in Richtung des Schützen.
»Kolur!«, rief der Mann und hörte im gleichen Augenblick einen weiteren Schuss, der Hund jaulte einmal auf und verstummte dann.
»Kolur?«, brüllte der Mann und spähte wieder über die Mauer. Mitten zwischen der Ruine und dem Entwässerungsgraben lag der Hund in seinem Blut. Der Mann ging sofort wieder in Deckung. Entsetzen packte ihn, und er duckte sich in den Schutz der Mauer. Was ging hier eigentlich vor? Dieser Hund war sieben Jahre lang so etwas wie sein bester Freund gewesen, aber dieser Gedanke stand im Augenblick nicht im Vordergrund, denn panische Angst um sein eigenes Leben hatte ihn gepackt. Er war in eine Situation und in eine Kette von Geschehnissen hineingeraten, die er überhaupt nicht unter Kontrolle hatte. Da draußen in der Dämmerung lag augenscheinlich jemand auf der Lauer, der es auf ihn abgesehen hatte.
Für einen Augenblick kam ihm der Gedanke, ob er mit dem Handy einen Notruf absetzen sollte, aber dann fiel ihm ein, dass er es im Auto gelassen hatte, da es hier so dicht am Berg sowieso keine Netzverbindung gab. Er erinnerte sich an die drei Signalpatronen, die er immer im Munitionsgürtel bei sich trug. Sie waren zwar einige Jahre alt, funktionierten aber hoffentlich noch. Er entlud das Gewehr, legte die Signalpatronen ein und brachte das Gewehr senkrecht in Anschlag. Das Signal explodierte hoch über ihm, und das grellrote Licht leuchtete eine Weile. Da aber der Himmel sich inzwischen zusehends aufgehellt hatte, war das Notsignal keineswegs so auffällig wie in der Nacht. Anschließend feuerte er die beiden anderen Signalpatronen ab, drei Schüsse hintereinander waren ein gängiges Notsignal. Anschließend lud er das Gewehr wieder mit den Magnum-Patronen, und er entfernte auch die Pufferpatrone, die wie gesetzlich vorgeschrieben den Raum für zwei Patronen ausfüllte. Jetzt hatte er also eine Patrone im Lauf und vier im Magazin. In dieser Situation galten keine Jagdvorschriften mehr. Ihn hatte die schreckliche Ahnung befallen, dass er womöglich um sein Leben kämpfen müsste.
Wieder fiel ein Schuss, doch diesmal aus einer anderen Richtung, und er spürte, wie die Schrotkörner gegen seinen Rücken prallten. Ohne zu überlegen, sprang er über die Mauer, um auf der anderen Seite Deckung zu suchen. Die Schussdistanz war so groß, dass die Körner vom Anorak abgeprallt waren, aber er hatte das unangenehme Gefühl, als hätte jemand mit geballter Kraft mit einer Knotenpeitsche auf ihn eingeschlagen.
Irgendetwas musste er tun, um sich aus diesem Hinterhalt zu befreien. Blitzschnell ging er alle Optionen durch. Er konnte versuchen, die Beine in die Hand zu nehmen und quer über den Kartoffelacker und die Wiese zu laufen – aber dort hatte er keinerlei Deckung, falls der Scharfschütze ihm nachsetzen würde. Vielleicht war es besser, zunächst zurückzuschießen und zu sehen, wie der andere reagierte. Er legte das Gewehr auf die Mauer und feuerte blindlings in die Richtung, aus der der letzte Schuss gekommen war. Darauf erfolgten augenblicklich zwei weitere Schüsse, von denen er aber nicht wusste, wo sie aufschlugen. Wieder legte er das Gewehr auf die Mauer und feuerte ab, und danach blieb alles ruhig.
Der Jäger lud sein Gewehr aufs Neue und wartete. Einige Zeit verging, dann kam ein Schuss von der Seite, und er spürte wieder, wie die Schrotkörner gegen seinen Anorak prallten, und irgendetwas traf ihn am Kinn. Er warf sich auf den Bauch und rührte sich nicht. Die Wunde am Kinn brannte zunächst heftig, aber das verging schnell. Er strich sich mit der behandschuhten Hand übers Gesicht und sah sich den Handschuh an. Die Wunde schien stark zu bluten, das war unangenehm, aber es hätte schlimmer sein können. Er hatte jetzt ganz anderes im Kopf. Wieder krachten zwei Schüsse los, die vor ihm in die Erde schlugen. Entweder waren es zwei Schützen oder einer, der äußerst rasch seine Position verändern konnte.
Er feuerte sämtliche drei Patronen im Magazin in die Richtung ab, aus der die letzen Schüsse gekommen zu sein schienen, und versuchte anschließend, dicht an der Mauer Deckung zu suchen, während er nachlud. Wieder hörte er drei Schüsse, und das Blei prasselte auf ihn ein wie Hagelkörner in einem Unwetter. Die Distanz war aber offensichtlich immer noch so groß, dass die Kleidung das Gröbste abhielt.
Der Adrenalinstoß, der seinen Körper durchfuhr, bewirkte, dass er jetzt eigentlich keine Angst mehr spürte, sondern Wut. Er war entschlossen, seinem Gegner dieses Spiel nicht bis zum letzten Zug zu überlassen.
Wieder wurden drei Schüsse abgefeuert, und er verspürte einen durchdringenden Schmerz, als die Schrote seine weniger geschützten Waden trafen. Wahrscheinlich pirschte sich der Schütze immer näher heran, und wenn er jetzt nichts unternähme, würde das unausweichliche Ende wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen. Plötzlich schoss ihm eine Idee durch den Kopf. Es waren immer jeweils drei Schüsse hintereinander abgefeuert worden, wahrscheinlich hatte der Gegner ein Gewehr mit drei Schuss in jeder Ladung und musste dann wieder neu laden, was ein paar Sekunden dauerte. Vielleicht lag da die Chance für ihn. Der Jäger gab zwei Schüsse ab, lud das Gewehr sofort wieder und feuerte noch einmal. Wieder prallten um ihn herum drei Geschosse auf, und jetzt würde der andere höchstwahrscheinlich nachladen müssen. Vielleicht lag darin seine Chance. Der Mann sprang auf die Beine, rannte so schnell er konnte mit angelegtem Gewehr auf den Entwässerungsgraben zu und feuerte im Laufen einmal ab. Er war nur noch ein paar Schritte vom Ziel entfernt, als ein ohrenbetäubender Knall ertönte und er einen Schlag am linken Oberschenkel knapp oberhalb des Knies verspürte. Beim nächsten Schritt fühlte es sich so an, als sei er in ein tiefes Loch getreten. Er fiel vornüber auf den Bauch und verlor das Gewehr. Unter großen Mühen konnte er sein Gesicht aus dem Gras heben und sich umblicken. Hinter ihm lag ein halbes Bein. Ungläubig tastete er mit der Hand am linken Oberschenkel entlang und spürte, dass er in einer Wunde endete; eine offene Schlagader pumpte ihm warmes Blut in die Hand. Dann nahm er noch wahr, dass jemand neben ihm stand, sich über ihn beugte und das Gewehr anlegte, das ihm aus der Hand gefallen war. Er machte noch einen schwachen Versuch, hochzublicken.
»Wer bist du?«, fragte er. »Wa… warum?«
Die Antwort hörte er nicht, und auch nicht den Schuss, der ihn direkt in den Kopf traf.
Du fragst, warum. Ich weiß nicht, ob es darauf eine Antwort oder eine Erklärung gibt. Diese Tat ist so erhaben, dass sie jegliches Verständnis übersteigt. Ein Leben zu zerstören, ein Menschenleben. Die Nähe einer Person zu spüren und sich mit ihr auf Leben und Tod auseinander zu setzen. Und dann existiert sie auf einmal nicht mehr, was bleibt, ist ein Haufen Knochen, Fleisch und Blut. Erinnerungen, Gefühle, Wissen und Erfahrung eines ganzen Lebens sind ausgetilgt. Das ist ein überwältigendes Gefühl …
… Du fragst, warum. Was willst Du hören? Eine genaue Definition der tierischen Instinkte, die sich anscheinend immer noch in einigen menschlichen Genen befinden? Diese Instinkte, die es dem Menschen ermöglichten, einen Entwicklungsprozess von Millionen Jahren zu überleben und das zu werden, was er ist oder glaubt zu sein …
… Du fragst, warum. Macht es einen Unterschied, das zu wissen? Was geschehen ist, ist geschehen und kann nicht wieder rückgängig gemacht werden. Was ist das für ein Trieb, der den Jäger hinaustreibt in eine kalte Herbstnacht, um sich ein paar Gänse zu holen, die er dann nicht einmal essen mag … Oder der Trieb, der manche dazu bringt, Fische zu angeln, um sie anschließend wieder freizulassen, in der Hoffnung, dass sie am Leben bleiben und sich vermehren – und ein zweites Mal gefangen werden können.
Mein Instinkt befiehlt mir zu töten. Ich jage Menschen, und sie entkommen mir nicht.
Ich bin gefallen.«
Sie befanden sich zu dritt in einem Untersuchungszimmer der Ambulanz des Fossvogur-Krankenhauses. Eine kleine junge Frau mit roten Haaren in Krankenschwestertracht, ein Kriminalpolizist und ein Junge, der auf der Untersuchungsliege lag und sämtliche Fragen, die ihm gestellt wurden, mit diesen drei Worten beantwortete: »Ich bin gefallen.«
Seine Augen waren kaum sichtbar zwischen blauen, roten und gelben Schwellungen, seine Lippen waren aufgeplatzt, und an Stelle der oberen Schneidezähne, die ihm ausgeschlagen worden waren, sah man nur den blutigen Gaumen. Zwei Finger der linken Hand waren ganz offensichtlich gebrochen, und auf dem rechten Handrücken befanden sich scheußliche Brandwunden.
»Wer hat dich so zugerichtet?«, fragte der Kriminalpolizist zum zehnten Mal und schaute zum Fenster hinaus. Aus seinen mandelförmigen Augen sprachen Langeweile und Verärgerung.
»Ich bin gefallen.«
Der Junge war frühmorgens auf einer Verkehrsinsel aufgefunden und im Krankenwagen zur Ambulanz gebracht worden. Die Verkehrspolizisten hatten die Kollegen von der Kriminalpolizei eingeschaltet.
»Schuldest du irgendjemandem Geld?«, fragte der Kriminalpolizist.
»Ich bin gefallen«, stöhnte der Junge.
Die junge Krankenschwester taxierte heimlich den Kriminalbeamten. Er war asiatischer Abstammung, hatte schwarze Haare und eine gelbliche Hautfarbe. Sie schätzte ihn auf ungefähr vierzig, dafür schien er aber gut in Form zu sein, denn er war schlank und wirkte gepflegt und durchtrainiert. Ansonsten sah er eigentlich ganz normal aus, und sie fand, dass er überhaupt keine Ähnlichkeit mit den Helden von Krimiserien im Fernsehen hatte.
»Mir ist schlecht«, sagte der Junge zu der Krankenschwester. »Gib mir mehr Contalgin.«
»Ich darf die Dosis nur mit Erlaubnis des Arztes erhöhen«, sagte sie resolut, ohne ihre Blicke von dem Kriminalbeamten abzuwenden, der sich mit einer Digitalkamera beschäftigte. Sein schwarzes Haar war noch feucht – er schien erst vor kurzem unter der Dusche gestanden zu haben. Er roch angenehm nach irgendeinem Gel. Er trug einen Anzug mit exakten Bügelfalten und ein schönes dunkelblaues Hemd. Der schwarze Schlips war vorschriftsmäßig gebunden. Er hatte offensichtlich an diesem Morgen gerade erst seinen Dienst angetreten.
Vielleicht war er ganz in Ordnung, nur ein bisschen alt, resümierte sie. ›Birkir Li Hinriksson‹ las sie auf dem Namensschild, das an der Jackentasche klemmte.
Der Patient fasste mit der nicht gebrochenen Hand nach ihrem Arm und sagte drohend: »Ich will mehr Contalgin.«
Der Kriminalbeamte griff nach der Hand und lockerte vorsichtig den Griff. Die junge Frau rieb sich den Arm.
»Mir ist schlecht«, sagte der Junge.
»Das wundert einen nicht«, entgegnete Birkir. »Im Übrigen werden sie es wieder tun, wenn du uns nicht sagst, wer sie sind.«
Er hob die Kamera, schaute auf das Display und machte ein paar Aufnahmen von den Verletzungen des Jungen.
Die Krankenschwester beobachtete, wie Birkir vorging. »Was für eine Nationalität hast du?«, fragte sie.
»Ich bin Isländer«, antwortete er.
»Ja, aber ich meinte doch, woher stammst du?«
Er blickte sie ungeduldig an und schien zunächst unwirsch reagieren zu wollen, aber als er ihre aufrichtige Miene sah, besann er sich anders. »Entschuldige«, sagte er, »meine Eltern waren Vietnamesen.«
Die Krankenschwester lächelte. »Warst du schon mal in Vietnam?«, fragte sie.
»Ich bin da geboren, aber nicht mehr dort gewesen, seit ich ein kleiner Junge war.«
»Möchtest du das Land nicht sehen?«, fragte sie.
Birkir schüttelte nur den Kopf.
Eine andere, wesentlich ältere Frau betrat das Zimmer. Das Namensschild an der Brust wies sie als Ärztin aus. Sie grüßte die Anwesenden knapp und warf einen raschen Blick auf den Patienten, der wieder flüsterte: »Contalgin.«
»Damit hat es Zeit, jetzt müssen wir uns erst mal mit diesen schlimmen Verletzungen befassen«, erklärte sie und hängte eine Röntgenaufnahme der gebrochenen Hand vor die Leuchtscheibe an der Wand, um sich die Knochen genau anzusehen.
Birkir beugte sich zu dem Jungen hinunter und sagte: »Es endet damit, dass die dich umbringen. Nicht vorsätzlich, o nein, denn dann müssen sie ja deine Schulden abschreiben, aber versehentlich. Einer von diesen Schlägen oder Tritten trifft dich zu derb an einer empfindlichen Körperstelle. Mehr braucht es gar nicht.«
Der Junge dachte eine Weile nach, blieb aber bei seiner Antwort: »Ich bin gefallen.«
Ein weiterer Kriminalpolizist kam ins Zimmer. Er war knapp zwei Meter groß, ziemlich massig und hatte eine rötliche Gesichtsfarbe. Seine Augen waren groß und blau, die Nase klein und knubbelig. Das rötlich blonde Haar war an den Schläfen kurz geschnitten, und die spiegelnde Glatze darüber glänzte rosa. Der fleischige Hals wurde zum größten Teil von einem dicken Doppelkinn verdeckt.
»Gibt’s was Neues?«, fragte er und biss in ein halb aufgegessenes Sandwich, das er in der Hand hielt.
Birkir blickte seinen Kollegen an und gab ihm mit einem Kopfschütteln zu verstehen, dass es nichts zu berichten gab.
»Würdest du gefälligst draußen auf dem Gang essen«, mischte sich die Ärztin ein.
Der Neuankömmling wickelte das Sandwich in die Plastikfolie und ließ es in seiner Jackentasche verschwinden. Die Krankenschwester sah mit abfälliger Miene zu, wie er sich die Finger an der Hose abwischte. Auf dem Namensschild las sie Gunnar Maríuson. Komisch, dass er sich nach seiner Mutter nennt, dachte sie. »Habt ihr Zeugen gefunden?«, fragte er Birkir.
»Nein, aber wir haben ein Auto angehalten, das da in der Nähe herumkurvte. Drei Jungs saßen drin, und einer trug Schuhe mit Stahlkappen. Sie haben behauptet, sie kämen von einer Party.«
Gunnar leckte sich einen Finger ab, bevor er fortfuhr: »Diese Bürschlein rüsten sich ordentlich aus, bevor sie unter die Leute gehen. Wir haben sie verhört, und die Schuhe sind zur Analyse beim Erkennungsdienst, denn da schien Blut dran zu sein. Vielleicht wird uns ja eine DNA-Analyse bewilligt. Dann können wir feststellen, ob es eine Übereinstimmung mit dem Jungen hier gibt.« Gunnar deutete mit dem Kopf in Richtung des Patienten, der leise stöhnte.
Die Krankenschwester hatte dem Jungen das Blut im Gesicht mit Papiertüchern abgetupft, die sie anschließend in einen Abfallkorb geworfen hatte. Birkir bückte sich und fischte eines davon heraus, um es in eine kleine Plastiktüte zu stecken.
»Das genügt uns für einen Vergleich«, sagte er.
Es klingelte, und Gunnar holte sein Handy aus der Jackentasche.
»Gunnar«, sagte er vernehmlich.
»Hier ist die Benutzung von Mobiltelefonen nicht gestattet«, erklärte die Ärztin gereizt, aber der Kriminalbeamte schien sie nicht zu hören. Er lächelte nur breit, wobei eine große Lücke zwischen den Vorderzähnen zum Vorschein kam.
»Ja, lass hören«, sagte er zu seinem Gesprächspartner.
Sein Gesicht verlor plötzlich den vergnügten Ausdruck, und er hielt sich das andere Ohr zu, um besser hören zu können.
Als das Telefongespräch beendet war, hörte die Krankenschwester, wie der dicke Kriminalbeamte zu seinem Kollegen sagte: »Wir müssen diesen Fall zurückstellen und sofort in den Dalir-Bezirk fahren. Da ist jemand mit einer Schrotflinte umgebracht worden.«
Birkir saß wie gewöhnlich am Steuer und fuhr schnell, aber sicher. »Hier links abbiegen«, sagte Gunnar und fasste mit der rechten Hand nach dem Haltegriff über der Tür, während er mit der linken das Handy ans Ohr presste. Sie näherten sich der Straßengabelung bei Dalsmynni im Borgarfjörður. Ein gelbes Straßenschild markierte die Landstraße Nr. 60, die nach links abzweigte. Während Birkir fuhr, hing Gunnar praktisch die ganze Zeit am Telefon oder mampfte getrockneten Fisch, den er beim Tankstopp in Borgarnes gekauft hatte. Zwischendurch glaubte er allerdings ständig, Birkir gute Ratschläge beim Fahren geben zu müssen.
»Ich weiß«, entgegnete Birkir, trat voll auf die Bremse und nahm die scharfe Linkskurve mit quietschenden Reifen.
»Ich bin durchaus imstande, den Weg nach Búðardalur zu finden«, fügte er hinzu, nachdem er abgebogen war. Dann gab er wieder Gas, und das Auto schoss die Steigung bei Dalsmynni hoch. Die Verkehrsbedingungen waren gut, es war hell und trocken, nur ein wenig kalt. Es war kaum Verkehr auf der Straße, und Birkir hatte die ganze Zeit ein gutes Tempo halten können. Der Wagen war nicht als Polizeifahrzeug gekennzeichnet, aber sie hatten ein Blaulicht auf dem Dach angebracht, bevor sie abfuhren. Birkir war zwar mit seinen Gedanken bei der bevorstehenden Aufgabe, aber insgeheim hatte er auch Spaß an dieser Fahrt, denn er bekam nicht oft die Gelegenheit, so zügig eine längere Strecke fahren zu können.
Gunnar steckte das Handy weg und kontrollierte zum fünften Mal seinen Sicherheitsgurt. Dann teilte er den Rest des Fischs in zwei Happen.
»Möchtest du auch?«, fragte er.
»Nein, danke«, sagte Birkir. Gunnar steckte sich daraufhin beide Bissen in den Mund. Die beiden Kollegen hatten wenig gemeinsam, was sich auch an ihren Essgewohnheiten zeigte. Gunnar hatte dauernd Appetit und kaute ständig auf etwas herum, während Birkir dreimal am Tag eine Mahlzeit zu sich nahm und mehr nicht.
Sie überquerten den Pass Brattabrekka. Jenseits des Passes in Miðdalir tauchten zur Rechten mehrere kleinere Bauernhöfe auf, während sich zur Linken nur ein klarer Fluss befand, der wenig Wasser führte. Dahinter ragte ein Berg auf. Etwas später jedoch weitete sich das Tal zu beiden Seiten.
Unterwegs hatte Gunnar am Telefon die Dienstanweisungen entgegengenommen und versucht, nähere Einzelheiten über die Tat und das, was sie am Tatort erwartete, in Erfahrung zu bringen. Viel ergab sich dadurch nicht, eigentlich nicht mehr als der Name des Toten, den hatte der Bezirksamtmann in Búðardalur durchgegeben, als er Verstärkung aus Reykjavík anforderte. Am Tatort wurde die Ankunft der beiden erwartet, um Weiteres herauszufinden. Die Leute vom Erkennungsdienst waren schon vor ihnen losgefahren und wahrscheinlich schon bei der Arbeit. Die Kollegen in Reykjavík, wo der Tote seinen Wohnsitz gehabt hatte, waren ebenfalls im Einsatz. Ihre Aufgabe bestand darin, die Angehörigen über den Tod des Mannes zu informieren und Auskünfte über seine Familienverhältnisse, den Arbeitsplatz und dergleichen einzuholen. Hauptkommissar Magnús Magnússon leitete die Ermittlung vom Kommissariat in Reykjavík aus und hielt sich an das übliche Procedere in solchen Fällen.
Kurz vor zwei erreichten sie Búðardalur, und Gunnar rief im Büro des Bezirksamtmanns an. Dort erhielt er eine Wegbeschreibung zum Tatort, und er wiederholte die einzelnen Angaben jeweils für Birkir. Der Tatort lag in der Nähe eines abgeschiedenen Bauernhofs namens Litla-Fell. Kurz darauf mussten sie von der Hauptstraße abbiegen, und die nächsten Kilometer führten über eine schlechte, unbefestigte Straße, sodass sie das Tempo drosseln mussten.
Als sie einen Hügel umfahren hatten, erblickten sie den Hof, der etwa einen halben Kilometer weiter im Inneren des Tals lag. Das Wohnhaus stand auf einer wie dafür geschaffenen Geländestufe im Hang, die mit gleichmäßiger Schräge zum Fuß des Berges abfiel und mit Birkengebüsch bewachsen war. Unterhalb des Hangs lagen die Stallungen, ziemlich heruntergekommene Gebäude mit Wellblechdächern und Wänden, die aus Steinen und Torf aufgeschichtet waren. Ein großer, dicht bewachsener Misthaufen befand sich vor dem einen der Gebäude, und vor dem anderen ein kleiner, aus morschen Planken zurechtgezimmerter Pferch. Drei Lämmer blökten darin und streckten ihre Mäuler durch die Einzäunung in Richtung eines Heuballens, der an einer Schuppenwand lag.
Das Wohnhaus auf dem Bergabsatz oberhalb der Stallungen war eingeschossig mit einem hohen, ausgebauten Spitzdach. Es war zum Schutz gegen die Witterung auch an den Seiten mit Wellblech bedeckt und hatte irgendwann einmal einen grün-wei- ßen Anstrich gehabt. Neben dem Haus stand ein mit Teerpappe verkleideter Holzschuppen. Zwei alte Trecker und verrostete Maschinen für die Heuernte standen auf dem Hofplatz herum.
Birkir brachte das Auto zum Stehen und betrachtete nachdenklich den Hof. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass die Zeit hier seit ein paar Jahrzehnten stillgestanden hatte, anstatt fortzuschreiten.
»Tal der Zeit … Haus des Schweigens«, dachte Birkir laut. Er machte sich keine Gedanken darüber, ob Gunnar das verstand. Sein Kollege war an solche seltsamen Einwürfe gewöhnt und wusste, dass Birkir keine Antwort erwartete. Manchmal handelte es sich um Zitatfetzen aus Gedichten von irgendwelchen namhaften Dichtern, die Birkir unvermittelt von sich gab, manchmal eigene abstrakte Gedanken, so wie sie ihm gerade in den Sinn kamen. Zu Papier wurden sie nie gebracht.
»Ich glaube, der Tatort ist noch ein Stück weiter taleinwärts«, sagte Gunnar und deutete auf einen Feldweg, der von der Hofauffahrt abzweigte. Birkir fuhr weiter. Vier Pferde, die am Wegesrand grasten, schauten hoch und beäugten sie eine Weile, um dann wieder träge weiterzugrasen. Offenbar waren sie an menschlichen Umgang gewöhnt. Nach ein paar hundert Metern erreichten die Kriminalbeamten ein leeres Auto, einen Nissan Patrol Jeep, der am Rand des Wegs auf der Wiese abgestellt worden war. Sie stoppten kurz und nahmen die Szenerie in Augenschein.
Ein Stück weiter parkten in der Nähe von alten, nicht kultivierbaren Feuchtwiesen noch zwei Autos, eines davon ein Streifenwagen, das andere der Transporter des Erkennungsdienstes. Birkir sah die Fahrspuren, die dorthin führten. Zwischen den Fahrrinnen wuchs hohes Gras, und sie hörten, wie es unten am Chassis entlangstrich. Schließlich erreichten sie die flache, kahle Erhebung, wo die beiden anderen Fahrzeuge standen.
Zwei Männer stiegen aus dem Streifenwagen und kamen auf sie zu. Der eine war ein bärtiger Polizist in Uniform und der andere ein schlanker Mann über sechzig, der ihm ein paar Schritte vorausging.
»Du sprichst doch hoffentlich Isländisch, oder was?«, fragte er Birkir, nachdem er den Kriminalbeamten ausgiebig taxiert hatte.
»Ja, ich spreche Isländisch«, entgegnete Birkir und fügte hinzu: »Ich habe zwar einige Probleme mit dem Genitiv in der zweiten und dritten Person Plural, aber ansonsten spreche ich Isländisch ziemlich korrekt.«
Der Mann sah Birkir etwas argwöhnisch an und schien nicht zu wissen, wie diese Antwort zu verstehen war. Nachdem er einen Blick auf die Dienstmarken von Birkir und Gunnar geworfen hatte, stellte er sich vor: »Mein Name ist Hákon Einarsson, und ich bin Amtmann dieses Bezirks.«
Der Polizist, der hinter dem Bezirksamtmann stand, legte knapp die Hand an die Mütze und sagte laut: »Guten Tag.«
»Vielen Dank, dass ihr uns in der Ermittlung unterstützt«, fuhr der Bezirksamtmann fort, »eure Kollegen haben bereits begonnen.« Er deutete auf die beiden weißgekleideten Leute vom Erkennungsdienst, die sich in etwa hundert Metern Entfernung über etwas beugten, was von weitem wie ein Buckel in der Landschaft aussah.«
»Was ist hier passiert?«, fragte Gunnar.
Der Bezirksamtmann antwortete: »Es handelt sich um einen Gänsejäger, der erschossen worden ist. Der Mann war sofort tot.«
»Ein Fehlschuss?« Gunnar führte weiterhin das Wort.
»Nein, auf gar keinen Fall. Auf diesen Mann wurden mindestens zwei Schüsse abgegeben, vielleicht sogar mehr.«
»Wie war noch sein Name?«
Der Bezirksamtmann antwortete: »Er hieß Ólafur Jónsson, Rechtsanwalt, wohnhaft in Reykjavík.«
»Wer hat ihn gefunden?«
»Guðjón, der Pächter hier in Litla-Fell, hat ihn heute Morgen so gefunden.«
»Wisst ihr außerdem noch etwas?«
»Außerdem?« Der Amtmann überlegte und senkte unruhig den Blick. »Ja, da ist etwas, glaube ich …«, begann er und zögerte dann. Es fiel ihm offensichtlich schwer, seine Gedanken in Worte zu fassen. Dann aber straffte er sich und sagte entschlossen: »Am besten sage ich euch gleich, dass der Verstorbene der rechtmäßige Besitzer dieses Hofs ist. Er hat ihn vor zwei Jahren auf einer Zwangsversteigerung erworben. Gemäß einer mündlichen Vereinbarung hat der frühere Besitzer noch auf dem Hof gewirtschaftet, aber Ólafur hat ihm den Vertrag in diesem Sommer aufgekündigt. Der alte Guðjón weigert sich jedoch hartnäckig, den Hof zu verlassen, und lebt immer noch mit seinen Tieren hier.«
Der Bezirksamtmann wies mit dem Kopf auf einige Schafe, die hinter einem Zaun lagen und wiederkäuten. »Er besitzt knapp hundert Schafe«, fügte er hinzu und ließ seine Blicke über das Tal schweifen, als würde er sie zählen wollen. Schließlich fuhr er fort: »Ólafurs Rechtsanwalt ist bei meiner Behörde vorstellig geworden und hat verlangt, dass eine Zwangsräumung vorgenommen wird. Die Angelegenheit geht ihren juristischen Gang. Es war, wie gesagt, dieser ehemalige Besitzer und derzeitige Nutznießer des Landes, der heute Morgen die Leiche hier gefunden hat.«
»Zwischen ihnen herrschte also Feindschaft, oder wie?«, fragte Gunnar.
»Ja, es lässt sich nicht anders sagen. Von Freundschaft konnte da keine Rede sein.«
»Hältst du es für möglich, dass dieser Pächter die Tat begangen hat?«, fragte Gunnar weiter.
Der Bezirksamtmann wurde wieder unruhig. »Ich hoffe nicht«, sagte er, »aber der Kerl ist schon ein Eigenbrötler und ein aufbrausender Mensch. In seinen jüngeren Jahren wurde er bei allen Festen immer wieder in Schlägereien verwickelt, wurde mir gesagt. Mir war den ganzen Herbst nicht wohl bei dem Gedanken daran, die Zwangsräumung hier zu vollstrecken.«
Birkir warf ein: »Du hast gesagt, dass Ólafurs Rechtsanwalt in seinem Namen vorstellig geworden ist. Warum hat sich Ólafur denn nicht selber mit der Angelegenheit befasst?«
Der Bezirksamtmann antwortete: »Soweit ich verstanden habe, hatte er genug zu tun und beschäftigte sich mit anderen und größeren Aufgaben. Er war spezialisiert auf internationale Geschäftsbeziehungen.«
»Hast du heute bereits mit dem Pächter gesprochen?«, fragte Gunnar.
»Ja, aber dabei ist nichts Aufschlussreiches herausgekommen«, entgegnete der Bezirksamtmann. »Er rief heute Morgen bei uns an, um zu melden, was passiert war. Außerdem hat er uns hier in Empfang genommen, als wir kamen, und mir die Stelle gezeigt. Ich zog es vor, ein Verhör zurückzustellen, da ja erfahrenere Kriminalbeamte auf dem Weg zu uns waren. Mit derartigen Fällen sind wir hier im Bezirk nicht vertraut.«
Gunnar wandte sich Birkir zu und wies mit dem Kopf zum Tatort. »Sehen wir uns das an. Mit diesem Pächter befassen wir uns später.«
Sie stapften an einem Graben entlang zu den Mitarbeitern des Erkennungsdienstes. Zuerst erblickten sie einen toten Hund, aber die Leiche des Rechtsanwalts konnten sie erst richtig sehen, als sie direkt daneben standen. Anorak und Hose mit ihren Tarnfarben hoben sich kaum von den Farben in der Landschaft ab.
Gunnar sagte: »Hast du gewusst, dass solche Tarnfarben für Farbenblinde keine Bedeutung haben? Die Farben verfließen bei ihnen nicht wie bei Menschen mit normaler Sicht.«
»Tatsächlich?«, fragte Birkir.
»Farbenblinde Soldaten sehen ihre Gegner klar und deutlich, egal ob sie solche Camouflage-Kleidung anhaben oder nicht«, fuhr Gunnar fort. »Deswegen werden sie oft in Kampftruppen eingesetzt.«
»Willst du damit sagen, dass der Mörder farbenblind ist?«, fragte Birkir.
»Nein, nicht unbedingt«, entgegnete Gunnar, »mir fiel das bloß so ein.«
»Ich verstehe«, sagte Birkir und nahm den Toten in Augenschein.
Die große Blutlache unter dem Toten hatte eine dunkelbraune Färbung angenommen und sich teilweise mit der Erde vermischt. Der Leiche fehlte das linke Bein, aber es lag nicht weit entfernt. Durch einen Schuss aus allernächster Nähe war der Kopf übel zugerichtet. Der Geruch von feuchter Erde, Blut und rohem Fleisch lag in der Luft.
Birkir war erstaunt darüber, wie wenig ihn diese Szene in diesem Augenblick berührte, obwohl so etwas für ihn keineswegs ein normaler Anblick war. Die Leiche wirkte irgendwie so unpersönlich. Er wusste aber, dass sich das in den nächsten Tagen ändern würde, denn nunmehr galt es, alles über diesen Mann in Erfahrung zu bringen, über seine Persönlichkeit und sein Leben. Vielleicht würde es sie zu dem Mörder führen, vielleicht aber auch nicht.
Einer der beiden Mitarbeiter vom Erkennungsdienst war eine Frau, die sie gut kannten. Anna Þórðardóttir galt bei einigen als Dickschädel, denn es konnte mitunter schwierig sein, sie von einer einmal gefassten Meinung abzubringen. Anna begrüßte sie kurz angebunden und zündete sich eine Zigarette an. Die relativ kleine Frau trug einen weißen Kunststoffoverall und dünne Gummihandschuhe. Sie sah so aus, als sei sie mindestens siebzig, aber Birkir wusste, dass sie erst Mitte fünfzig war. Vierzig Jahre Rauchen hatten ihr zugesetzt, ihr hageres Gesicht war faltig, und unter den müde wirkenden grauen Augen lagen dunkle Ringe. Aber bei der Arbeit drehte es sich nicht ums Aussehen. Innerhalb des Erkennungsdienstes hatte sie die meiste Erfahrung, und nach Birkirs Meinung war sie die Beste. Er war froh, sie dort zu sehen, denn normalerweise übernahm sie höchst selten die Spurensicherung am Tatort, und schon gar nicht irgendwo auf dem Lande.
»Kannst du uns schon etwas sagen?«, fragte Gunnar.
Anna nahm sich Zeit für ein paar Züge an der Zigarette, bevor sie antwortete: »Hier sind auf einem begrenzten Gebiet zahlreiche Schüsse abgefeuert worden. Der hier hat einige davon abbekommen.« Ihre Stimme war dunkel und rau. Sie deutete mit der Zigarette auf die Leiche und fuhr fort: »Einige Schüsse erfolgten aus größerer Distanz, vierzig Meter oder vielleicht sogar mehr. Die Schrotgarben wurden vom Anorak aufgefangen.« Sie bückte sich und deutete auf einige kleine Löcher im Anorak. »Dann aber hat ein Schuss aus nächster Nähe ihm das Bein abgerissen, Entfernung vermutlich drei bis sechs Meter, aber das müssen wir noch genauer feststellen. Zum Schluss wurde ihm aus allernächster Nähe in den Kopf geschossen, weniger als ein Meter Entfernung.« Sie schnippte die Zigarettenasche in eine leere Filmhülse.
»Coup de grâce«, sagte Birkir.
»Kuh – was?«, fragte Gunnar.
»Gnadenschuss«, sagte Birkir, »das ist französisch, glaube ich.«
»Und dann hat er sich noch ein Souvenir mitgenommen«, sagte Anna, »oder zumindest hat es den Anschein für mich.«
»Was meinst du damit?«, fragte Gunnar.
Anna inhalierte den letzten Zug aus der Zigarette und drückte sie in der Filmhülse aus, die sie anschließend verschloss und in die Tasche steckte.
»Seht mal hier«, sagte sie, indem sie sich über die Leiche beugte und am Anorak auf ein Loch mit unregelmäßigen Rändern deutete, und zwar direkt über der Stelle, wo sich das Herz befand. Das Außenmaterial war weg, und man sah nur das weiße Futter darunter.
»Der Mörder hat die äußere Stofflage angehoben und dieses Stück abgetrennt.«
»Wozu?«, fragte Gunnar.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, entgegnete Anna.
»Dieses Loch ist also vorher nicht da gewesen?«, fragte Birkir.
»Nein, das ganze Kleidungsstück ist über und über mit Blut bespritzt, aber das Futter hier ist ganz sauber«, sagte Anna. »Es handelt sich auch um ein ziemlich neues und wenig getragenes Teil.«
Gunnar sagte: »Vielleicht hat er das als Trophäe mitgehen lassen. So wie Jäger die Schwänze von Nerzen mitnehmen, die sie erlegt haben.«
»Vielleicht«, sagte Anna.
Gunnar fragte: »Hast du irgendeine Vorstellung, wie sich das Ganze hier abgespielt hat?«
Anna deutete auf die niedrigen Mauerreste einer alten Hausruine in der Nähe. »Der Jäger hat dort im Schutz dieser Hausruine gesessen und darauf gewartet, dass die Gänse in Schussweite kamen. Da steht noch sein Ansitzstuhl, so ein faltbarer und leicht zu transportierender, und dort liegt auch das Gewehrfutteral. Seine Lockvögel stehen noch im Kartoffelacker, und soweit ich sehen kann, ist einer von einem Schuss aus beträchtlicher Entfernung getroffen worden. Einer oder vielleicht mehrere haben dann auf den Mann geschossen, hier vom Graben aus, aber auch von etwas weiter oben am Hang.« Sie wies mit einer Kopfbewegung in die betreffende Richtung.
»Die Schüsse vom Hang haben den Mann aus seinem Unterstand hinausgetrieben. Der Schuss, der ihm das Bein abgerissen hat, kam aber mit Sicherheit hier aus dem Graben, auch der Schuss, mit dem der Hund getötet wurde. Entweder ist der Angreifer außerordentlich wendig und schnell gewesen, oder es waren zwei.«
»Weißt du schon etwas über die Munition?«
»Ja, wir haben sowohl im Graben als auch am Hang leere Patronen gefunden. Sie sind alle von der gleichen Sorte, rote Federal Premium für ein Schrotgewehr vom Kaliber 12. Wir müssten eigentlich klären können, ob alle Schüsse aus dem gleichen Gewehr abgefeuert wurden. Falls das Gewehr auftaucht, können wir sicherlich feststellen, ob die Schüsse daraus abgegeben wurden. Das Gewehrschloss hinterlässt charakteristische Rillen auf dem Projektil, wenn abgefeuert wird, und sie sind immer gleich bei einem Gewehr, aber bei jeder Waffe anders.«
»Und das Opfer? Hat der Mann auch geschossen?«
»Ja. Bei der Ruine liegen ein paar leere Patronenhülsen, die vermutlich von dem Toten stammen. Sie sind von derselben Sorte wie die Munition an seinem Gürtel, grüne Remington. Er hat auch drei rote Signalschüsse hier aus der Ruine abgegeben. Elías kannte die leeren Hülsen.« Sie deutete mit dem Kopf auf ihren Kollegen, der bei den Mauerresten kniete, und fügte dann hinzu: »Er sagt allerdings, dass niemand mehr solche Signalschüsse benutzt, weil das nicht gut für den Gewehrlauf ist. Daran hat der Mann in dieser Situation aber wohl keinen Gedanken verschwendet.«
»Wo ist sein Gewehr?«, fragte Gunnar.
Anna zuckte mit den Achseln. »Es ist verschwunden.«
»Was hat das zu bedeuten?«
»Vielleicht brauchte jemand eine Schrotflinte.«
»Du meinst, dass der Mörder sie genommen hat?«
»Wahrscheinlich.«
Gunnar warf einen Blick in den Graben. »Hat der Mörder irgendwelche Spuren hinterlassen?«, fragte er.
Anna zündete sich eine weitere Zigarette an, bevor sie antwortete: »Nicht direkt Spuren, aber das Gras hier im Graben ist platt gedrückt, und hinter einem Felsen da oben am Hang ist es ebenfalls niedergetrampelt, also genau dort, wo die leeren Patronen liegen. Wir haben bereits einen Spürhund angefordert. Vielleicht kann der ja verfolgen, wohin die Spuren von hier aus führen.«
»Sonst noch etwas?«
Anna deutete mit der Zigarette auf ihren Kollegen, der immer noch auf den Knien bei der Ruine herumkroch. »Wir sammeln die Schrotkörner ein, die auf dem Boden liegen, denn die können uns auch noch mehr über die Munition sagen, Größe und Art der Körner. Vielleicht können wir sogar die Anzahl der Schüsse genau festlegen.«
Eine Weile herrschte Schweigen, und alle drei schienen tief in Gedanken versunken zu sein. Schließlich sagte Gunnar: »Eine sehr eigenartige Mordwaffe. Es ist gar nicht so einfach, jemanden mit einer Schrotflinte umzubringen, auch wenn man Magnum-Patronen verwendet. Das ist nur aus sehr geringer Distanz möglich. Mit einer Büchse könnte man jemanden aus viel größerer Entfernung erledigen.«
Birkir antwortete: »Das deutet wahrscheinlich darauf hin, dass die Tat nicht von langer Hand geplant worden ist. Oder dass der Täter keine andere Waffe besitzt.«
»Da ist aber noch die Sache mit dem Bein«, fuhr Gunnar fort. »Es ist kaum vorstellbar, dass eine derartige Verstümmelung durch Munition für die normale Vogeljagd entsteht. Bei ganz kurzer Entfernung ist die Schrotgarbe noch zusammengeballt, und um so größer ist die Durchschlagskraft. Das hätte aber dann nur ein Loch im Oberschenkel hinterlassen. Die Entfernung war so genau berechnet, dass die Streuung der Schrotkörner wie ein Motorsägeblatt gewirkt hat.«
»Möglicherweise müssen wir Experimente mit einem solchen Gewehr machen, um genau zu ermitteln, aus welcher Distanz der Schuss abgegeben worden ist«, mutmaßte Anna.
Gunnar blickte sich um. »Auf jeden Fall können wir davon ausgehen, dass ein direkter Tatvorsatz dahinter steckt«, konstatierte er. »Wir müssen herausfinden, ob außer dem Bauern hier noch irgendein anderer Grund hatte, mit dem Opfer abzurechnen.«
Anna erwiderte: »Es deutet alles darauf hin, dass der Tote auf die Schüsse reagiert hat und bei diesem Schusswechsel unterlegen ist, ohne seinem Gegner auch nur eine Verletzung zuzufügen. Dort, wo der Täter auf der Lauer gelegen hat, ist kein Blut zu finden. Aber vielleicht hat er Schrotkörner abbekommen, die kleine Löcher in seiner Kleidung hinterlassen haben. Das solltet ihr bei der Ermittlung im Hinterkopf behalten.«
Sie reichte ihnen eine Plastiktüte, in der sich Autoschlüssel, Taschenmesser und eine Lockpfeife für Gänse befanden. »Mehr haben wir nicht in seinen Taschen gefunden«, sagte sie und machte sich anschließend wieder an die Arbeit.
Birkir und Gunnar beobachteten eine Weile, wie Anna die Leiche aus allen Perspektiven fotografierte. Das abgeschossene Bein und der Hund wurden ebenfalls mehrfach aufgenommen. Sie konnten sicher sein, dass ihr nichts an diesem Ort entgehen würde, aber es konnte womöglich den ganzen Tag in Anspruch nehmen, das Gelände akribisch abzusuchen, vielleicht sogar länger.
Sie machten kehrt und gingen zu den Autos zurück. Da die Sonne bereits niedriger am Himmel stand, wurde es kühler, und sie fröstelten leicht. Die einheimischen Beamten hatten im Streifenwagen auf sie gewartet, und Birkir und Gunnar setzten sich zu ihnen ins Auto.
»Wisst ihr sonst noch etwas über diesen Rechtsanwalt?«, fragte Gunnar.
Der Bezirksamtmann antwortete: »Er war wohl gut situiert und sehr für sportliche Aktivitäten im Freien, wurde mir gesagt. Soweit ich weiß, wollte er sich hier ein Ferienhaus bauen, sobald die alten Häuser abgerissen worden wären.«
Der Polizist fügte hinzu: »Ich habe gehört, dass er eine Planierraupe auf die Häuser hier ansetzen wollte, sobald der Pächter abgerückt wäre. Ich fand eigentlich nicht, dass es jetzt, wo der Winter ins Haus steht, besondere Eile damit hatte.«
Gunnar hakte nach: »Was kannst du uns über diese Zwangsversteigerung des Besitzes sagen?«
Der Bezirksamtmann erwiderte: »Eine wirklich traurige Angelegenheit. Der alte Guðjón ist Witwer, hat aber eine Tochter und einen Enkel, der bei ihm lebt, und der Junge geht hier mit den anderen Kindern aus der Gemeinde zur Schule. Die Tochter wohnt in Reykjavík, und sie hat schon so einiges mitgemacht. Sie war noch keine zwanzig, als sie einen Amerikaner geheiratet hat, und mit ihm bekam sie diesen Jungen. Sie haben wohl an verschiedenen Orten in den USA gelebt, dann ließen sie sich scheiden, und sie kehrte wieder nach Island zurück. Mit ihrem nächsten Freund hat sie einen Kiosk in Reykjavík gekauft, und soweit ich weiß, lief der zunächst sehr gut. Der alte Guðjón hat zu dieser Zeit wohl seinen Namen unter ein paar Hypotheken gesetzt. Das wäre ja auch nicht weiter schlimm gewesen, wenn nicht dieser Kerl, mit dem sie zusammenlebte, auf einmal angefangen hätte zu trinken, und zum Schluss machte er sich einfach aus dem Staub.«
Der Bezirksamtmann schüttelte den Kopf und senkte die Stimme: »Da hatte er aber bereits eine beträchtliche Summe auf den Kopf gehauen, die für Abzahlungen, Steuern und dergleichen bestimmt war. Danach brach die Unglückslawine vollends herein. Die Frau konnte ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkommen, und die Gläubiger waren unerbittlich. Sie verlor alles, und dann ging es natürlich um Bürgschaftsleistungen. Der alte Guðjón hatte kein Geld mehr, um die Schulden zu bezahlen, und deswegen kam es zur Pfändung.«
»Konnte man denn nicht einen Vergleich anstreben?«, wollte Gunnar wissen.
Der Bezirksamtmann entgegnete: »Ein jüngerer Mensch hätte wahrscheinlich eine Möglichkeit gefunden, einen Zwangsvergleich zu erwirken, aber Guðjón hat sich einfach überhaupt nicht darum gekümmert. Es hatte fast den Anschein, als ginge er davon aus, die Sache würde sich von selbst erledigen.«
»Und hat niemand ihm helfen wollen oder können?«
»Ich habe alles versucht, was in meiner Macht stand, ich habe ihm sogar einen Rechtsanwalt besorgt, aber der Alte ließ ihn nicht einmal zur Tür herein.«
»Und was passierte dann?«, fragte Gunnar.
»Dann wurde mit der Zwangsvollstreckung gedroht. Ich habe diese Maßnahme ein paar Mal hinauszögern können, damit Guðjón seine Angelegenheiten in Ordnung bringen konnte, aber das half auch nichts. Zum Schluss fand die Versteigerung statt. Auch sein Besitz war mit einigen Hypotheken belastet, wie das bei Landwirten so gang und gäbe ist. Die Juristen von diesen Darlehensinstituten waren ebenfalls zur Stelle und haben gegen Ólafur geboten, der wiederum die Gläubiger vertrat. Sie ließen es aber dabei bewenden, die Interessen derjenigen Auftraggeber zu wahren, die ganz oben in der Grundbucheintragung standen. Zum Schluss wurde Ólafur das Land zugeschlagen, und zwar für einen ganz geringen Preis. Für den alten Mann blieb nichts übrig.«
»Hatte denn hier in der Gemeinde niemand Interesse an dem Land?«, fragte Gunnar.
Jetzt antwortete wieder der Polizist: »Nein, das Land gibt nicht viel her. Die Heuwiesen sind klein und mühsam zu bewirtschaften, man kann kaum die modernen Maschinen einsetzen. Und andere Erträge bietet das Land nicht. Die Stallungen sind baufällig, und der Hof liegt sehr abgeschieden. Er ist höchstens attraktiv für Sportangler und Jäger aus der Stadt, aber nach Meinung vieler war die Anfahrt ein bisschen zu lang.«
»Was wird aus dem alten Mann, wenn er seinen Besitz verlassen muss?«, fragte Gunnar.
Diesmal antwortete der Bezirksamtmann: »Die Kommunalverwaltung befasst sich mit der Angelegenheit. Wahrscheinlich dürfte es möglich sein, ihm einen Platz im Altersheim zuzuweisen, falls er das denn akzeptiert. Das Problem ist jedoch der Junge, und soweit ich weiß, hat sich auch die Tochter in den letzten Monaten des Öfteren auf Litla-Fell aufgehalten. Sie hat nämlich inzwischen ihren Wohnsitz hier, deswegen muss die Kommune auch eine Lösung für Mutter und Sohn finden.«
Es war an der Zeit, sich näher mit dem ehemaligen Besitzer von Litla-Fell zu befassen.
Birkir und Gunnar beschlossen, zu Fuß zum Wohnhaus zu gehen und sich unterwegs umzuschauen. Die Auffahrt zum Hof war holprig, und Gras wuchs zwischen den Radspuren. Zu beiden Seiten verliefen Entwässerungsgräben entlang der Heuwiesen, die voller Blüten waren. Am Wegesrand grasten ein paar Schafe.
Vom Hof her kam ihnen ein Auto entgegen, ein alter Ford Econoline mit großen Reifen, der mit einem Schild als Schulbus gekennzeichnet war. Die beiden Kriminalbeamten wichen an den Rand des Wegs aus, und während das Auto an ihnen vorbeifuhr, sahen sie für einen Augenblick die neugierige Miene des Fahrers. Ein paar Kinder pressten ihre Gesichter an die Scheiben und starrten die beiden an.
Sie blickten dem Auto nach, bis es jenseits des Hügels verschwunden war.
»Also ist wahrscheinlich der Enkel aus der Schule zurück«, sagte Gunnar und setzte sich wieder in Bewegung.
Birkir blickte zur Ruine des alten Hauses zurück.
»Meines Erachtens ist das ein sehr eigenartiger Mord«, sagte er. Gunnar blieb stehen und wartete darauf, dass Birkir fortfuhr: »Falls du einen Mann mit einer Schrotflinte umbringen willst, wie würdest du das anfangen?«
»Wie ich vorhin schon gesagt habe, würde ich keine Schrotflinte verwenden, sondern eine Büchse«, antwortete Gunnar.
»Und warum keine Schrotflinte?«
»Schrotflinten sind dazu da, um kleinere Tiere aus geringer Entfernung zu erlegen. Wenn man einen Menschen zu töten beabsichtigt, verwendet man dazu eine Büchse.«
»Tatsächlich? Aber wenn du nur eine Schrotflinte zur Verfügung hättest?«
Gunnar dachte eine Weile nach und entgegnete dann: »Eine Schrotflinte ist eine effektive Waffe für geringe Distanzen, doch bei größerer Entfernung taugt sie nichts. Falls ich einen Mann mit so einer Waffe erschießen wollte, würde ich ihm zuerst aus allernächster Nähe in den Bauch schießen und dann in den Kopf.«
»Warum zuerst in den Bauch?«
»Da ist er am einfachsten zu treffen, und er würde sich auch nicht mehr wehren können, falls er ebenfalls bewaffnet wäre.«
Birkir dachte darüber nach und fragte dann: »Aber falls er auf der Hut und auf einen Angriff deinerseits gefasst wäre?«
»Dann würde ich mich an ihn heranschleichen, so nah wie möglich, und aus kurzer Distanz schießen. Falls möglich, würde ich Flintenlaufgeschosse als Schrotpatronen verwenden.«
»Was ist das denn?«, fragte Birkir. Obwohl er durchaus imstande war, mit einer Schrotflinte umzugehen, sie zu laden und einige Schüsse abzufeuern, verstand er sich wenig auf solche Jagdwaffen.