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Eine nahezu verweste Leiche wird auf einer unbewohnten Insel in den Westfjorden Islands entdeckt. Der Tote, ein seit Monaten vermisster Handschriftenexperte aus Kopenhagen, war unter falschem Namen nach Island gereist. Die Polizei ist ratlos, denn der Tod scheint mit einem Rätsel aus einem mittelalterlichen Codex in Verbindung zu stehen ... Ein neues Krimijuwel aus dem Land der Sagas und Wikingergeschichten. Nominiert für den "Nordic Crime Award 2004"
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Seitenzahl: 420
Viktor Arnar Ingólfsson
Das Rätsel von Flatey
Aus dem Isländischen von Coletta Bürling
luebbe digital
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Vorbemerkung: In Island duzt heutzutage jeder jeden. Man redet sich nur mit dem Vornamen an. Dies wurde bei der Übersetzung beibehalten. Da der Roman 1960 spielt, findet sich bei der Anrede von Amtspersonen jedoch noch die Sie-Form.
Vollständige eBook-Ausgabe der bei Bastei Lübbe erschienenen Taschenbuchausgabe
luebbe digital und Bastei Lübbe Taschenbuch in der Verlagsgruppe Lübbe
© 2002 by Viktor Arnar Ingólfsson
Titel der isländischen Originalausgabe: »Flateyjargáta«, erschienen bei Mál g Menning, Reykjavík
Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2005 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-8387-0080-9
Sie finden uns im Internet unterwww.luebbe.de Bitte beachten Sie auch: www.lesejury.de
Dieser Roman ist meinem Großvater und meiner Großmutter, Viktor Guðnason und Jónína Ólafsdóttir, gewidmet.
Die kleine Insel Flatey im Breiðafjörður ist schon einige Male Drehort isländischer Filme gewesen, die in vergangenen Zeiten spielen, weil es an keinem anderen Ort in Island eine vergleichbar gut erhaltene, schöne Bausubstanz gibt. Während in den Filmen Flatey nur Kulisse war, wurde der Ort in diesem Roman als Schauplatz im eigentlichen Sinne verwendet, denn die folgende Geschichte spielt sich im Jahre 1960 auf der Insel ab.
Es werden zahlreiche Anleihen bei der Natur gemacht: Vögel, Seehunde, Fische; Wind und Windstille, Düfte und Geräusche; ebenso Boote, Kühe und Kartoffeläcker. Aber nicht bei den Menschen. Die Personen, die hier auftreten, haben keine Ähnlichkeiten mit den Einwohnern von damals. Sollten sich irgendwelche Übereinstimmungen mit wirklichen Personen herausstellen, dann ist ein unglücklicher Zufall im Spiel. Die Ereignisse, die hier geschildert werden, sind reine Erfindung.
Liebe lebende und verstorbene Einwohner von Flatey, seid bedankt dafür, dass ihr mir eure Insel als Schauplatz für diesen Roman ausgeliehen habt.
Ein scharfer Ostwind blies in der Morgenfrühe über die weite Bucht des Breiðafjörður und wühlte das Meer zwischen den westlichsten Inseln zu weiß schäumenden Kämmen auf. Ein Papageitaucher flog konzentriert in schnellem Tiefflug dicht über der Wasseroberfläche dahin, und ein Kormoran breitete auf einer flachen Klippe die Flügel aus. Einige Gryllteisten tauchten in die Tiefen des Meeres ab, während hoch oben Möwen kreisten und nach möglicher Beute Ausschau hielten. Die gesamte Tierwelt des Fjords tummelte sich in der strahlenden Morgensonne.
Ein kleines, aber stabiles Motorboot hatte von der Insel Flatey abgelegt, Kurs in südliche Richtung aufgenommen und schlingerte jetzt auf den eiligen Wellen. Es war gebaut wie die alten Ruderboote, mit denen man in früheren Zeiten zum Fang ausgefahren war. Am Bug des schwarz geteerten Fahrzeugs stand der Name RABE mit einem großen weißen Anfangsbuchstaben. Drei Menschen befanden sich in dem Boot, ein kleiner Junge, ein Mann mittleren Alters und einer, der sichtlich älter war. Drei Generationen, die alle in Endenkate zu Hause waren, einem kleinen Hof am westlichen Ende von Flatey.
Der Älteste hieß Jón Ferdinand. Er saß im Heck und steuerte das Boot. Weiße Bartstoppeln standen in einem zerfurchten Antlitz, und aus den weiten Nasenlöchern rannen schwarze Schnupftabaksstriemen. Die grauen Haarbüschel, die unter der alten Schiffermütze hervorguckten, wehten ihm ins Gesicht. Seine große knochige Hand hielt die Ruderpinne mit festem Griff, und die alten Augen hielten unter buschigen Brauen Ausschau nach einer kleinen Insel im Süden. Es war nicht einfach, den richtigen Kurs zu halten, auch wenn die Sicht gut war. Die vielen Inseln und Schären hoben sich gegen das Festland ab, und jenseits von ihnen lagen die Berge von Dalir in blauem Dunst.
Jón Ferdinand nahm die Wellen zumeist in spitzem Winkel, änderte aber immer wieder einmal die Fahrtrichtung. Das Fahrzeug war so klein, dass es bei der unruhigen See unangenehm wurde, wenn Brecher das Boot von der Seite trafen. Aber der Alte steuerte mit Gefühl und schien seinen Spaß an dieser Auseinandersetzung zu haben.
Auf der Ruderbank vor dem Maschinenraum saß der Sohn des Steuermanns, der Guðvaldur hieß. Er rauchte eine Stummelpfeife und war dabei, ein Taschenmesser zu wetzen. Ohne Kopfbedeckung, aber in einem dicken Wollpullover saß er mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, denn manchmal spritzte die Gischt ins Boot hinein. Das Gesicht war wettergegerbt und die Miene bärbeißig. Das linke Auge war blind, denn auf Grund einer Verletzung war es völlig weiß geworden. Das andere Auge war pechschwarz. Guðvaldur war nach einem längst verstorbenen Verwandten benannt worden, der seiner schwangeren Mutter im Traum erschienen war und sie gebeten hatte, das Kind auf seinen Namen zu taufen. Von den Inselbewohnern wurde er aber normalerweise nur Valdi genannt, Valdi von Endenkate.
Eine ungewöhnlich hohe Welle prallte gegen den Bug, und die Spritzer trafen Valdi im Nacken. Er blickte hoch und peilte die Richtung, in die das Boot steuerte. »Papa, pass doch auf«, rief er in barschem Ton. »Hast du schon wieder vergessen, dass wir auf dem Weg nach Ketilsey sind? Du steuerst viel zu weit nach Süden.«
Der alte Mann lächelte, wobei ein paar gelbe Zahnstummel und ein zahnloser Oberkiefer zum Vorschein kamen.
»Zu weit nach Süden, zu weit nach Süden«, sagte er mit heiserer Stimme und steuerte das Boot in die Wellen hinein. Als Valdi sah, dass der Kurs wieder stimmte, rauchte er weiter und beschäftigte sich wieder mit dem Messer.
Der kleine Nonni war Valdis Sohn. Er hockte auf einem zusammengefalteten Segel im Steven und umklammerte mit beiden Händen das Dollbord. Ihm war kalt, und er war seekrank. Das war er gewohnt, und meistens waren ihm Kälte und Übelkeit ziemlich egal. Aber viel schlimmer und alles andere als seemännisch war, dass er ganz dringend aufs Klo musste. Er war heute Morgen zu spät aufgestanden und hatte in der Eile vergessen, aufs Häuschen zu gehen, bevor sie aufbrachen. Seinem Vater gegenüber erwähnte er aber seine Not mit keinem Wort, denn Valdi hätte ihm einfach gesagt, er solle sich auf die Bordkante hocken und da sein Geschäft verrichten. Aber bei diesem Seegang war dem Jungen nicht danach zumute. Ab und zu richtete er sich auf und starrte über den Bug nach vorn, um zu sehen, wie weit es noch war, aber das Boot kam nur langsam voran. Dann ließ er sich wieder auf das Segel zurückfallen, biss sich trotzig auf die Lippen und konzentrierte sich. Mit zusammengekniffenen Augen murmelte er wieder und wieder vor sich hin: »Lieber Gott, lieber Jesus, mach, dass ich mir heute nicht die Hose voll mache.«
Wieder schaute er nach vorn.
»Papa, Papa«, rief er, »Opa passt schon wieder nicht auf.«
Valdi blickte hoch und wandte sich dem Alten zu. »Jetzt steuerst du zu sehr nach Osten. Versuch doch mal im Kopf zu behalten, dass wir auf dem Weg nach Ketilsey sind, um Seehundnetze auszulegen.«
Der alte Mann schien völlig verwirrt, aber dann besann er sich. Er steuerte gegen und nahm direkten Kurs auf die Insel, die nicht mehr weit entfernt war. Dann schaute er Valdi an und brummte taktfest: »Kerle fuhren nach Ketilsey, den Seehund zu erlegen.«
Valdi antwortete nicht, steckte das Messer in die Tasche und klopfte die Pfeife an der Bordkante aus. Dann begab er sich nach hinten ins Boot.
Es war Niedrigwasser, als sie die Insel erreichten, und die Anlegestelle an der Südseite lag sehr geschützt. Valdi übernahm das Steuer, während Jón Ferdinand mit einem Ankerstein bereitstand, der an einer langen Kette befestigt war. Das Boot durchpflügte eine Welle, die von den Felsen zurückgeworfen wurde. Valdi drosselte den Motor. Der alte Mann ließ den Anker fallen, und die Kette rasselte über Bord. Das Geräusch ließ die Vögel auf der Insel hochschrecken. Ein Seehund streckte ganz in der Nähe neugierig seinen Kopf hoch, bevor er blitzschnell wieder in der Tiefe verschwand. Der kleine Nonni stand am Bug bereit, und sobald das Boot von der Ankerkette gestoppt worden war, griff er nach einem schweren, rostigen Eisenring, der in einen Felsen eingelassen war, zog ein Tau hindurch und machte es fest. Dann sauste er nach hinten ins Boot, beugte sich in den Maschinenraum und schnappte sich ein paar alte Zeitungen, die dort lagen. Valdi schaute dem Jungen nach, der aus dem Boot sprang und hinter den Felsen verschwand.
»Hab ich dir nicht strengstens verboten, auf der Insel zu scheißen«, schrie er übellaunig. »Die Seehunde riechen deinen Gestank noch wochenlang.«
Der kleine Nonni war sich seiner Schuld bewusst. Das war eines der ungeschriebenen Gesetze, die bei Fahrten zu den Seehundkolonien galten, aber diesmal ging es einfach nicht anders. Er rannte die Insel hinauf, fand einen guten Platz zwischen ein paar Felsen und ließ die Hosen herunter. Die Erleichterung war enorm, und jetzt hatte er Zeit, sich umzuschauen. Einige große Felsen umschlossen eine geschützte Mulde, und ganz in der Nähe des Jungen brüteten zwei Eiderenten. Sie rührten sich nicht, und man musste ein geübtes Auge haben, um sie zu erkennen. Ein Austernfischer stand auf einem Stein und lärmte. Wahrscheinlich befand sich sein Nest ganz in der Nähe. Etwas weiter weg lag neben einem mächtigen Stein der Kadaver eines großen Tieres.
Nonni hatte schon oft so etwas Ähnliches am Strand gesehen, Kleinwale, Robben oder aufgedunsene Schafsleiber. Das hier war allerdings ein mehr als ungewöhnlicher Anblick, denn dieser Kadaver steckte in einem grünen Anorak.
»Erzähl mir etwas über diese Handschrift von Flatey«, bat er sie. Sie überlegte. »Willst du eine lange Geschichte hören oder eine kurze?«, fragte sie schließlich.
»Eine lange Geschichte, wenn du Zeit dazu hast.«
Sie schaute aus dem Fenster, wo die Sonne hinter den Bergen im Nordwesten unterging, und sagte leise: »Jetzt habe ich genug Zeit.«
Einmal in der Woche, und zwar samstags, fuhr das Postboot von Stykkishólmur nach Flatey und danach weiter in die Fjorde an der Nordseite des Breiðafjörður. Dort legte es in Brjánslækur an. Für die wenigen Bauern, die in diesen straßen- und weglosen Fjorden lebten, war das Postboot ein wichtiges Verkehrsmittel, denn wegen des großen Gezeitenunterschieds waren in dieser Gegend sogar die Verbindungen zu Wasser schwierig.
Nachdem die Straße über den Kleifaheiði-Pass gebaut worden war, gab es für Patreksfjörður und die Dörfer in den Fjorden nördlich davon jedoch eine recht gute Anbindung an die Außenwelt. Es kamen mit dem Postboot immer mehr Menschen dorthin, und auch die Warentransporte nahmen zu.
Von Brjánslækur nahm das Schiff dieselbe Route zurück, legte kurz in Flatey an und beendete seine Fahrt in Stykkishólmur. Die Reise dauerte einen sehr langen Tag, und häufig konnte das Schiff erst spät in der Nacht wieder im Heimathafen vertäut werden.
An den anderen Tagen der Woche war an der Mole in Brjánslækur nicht viel los. An diesem Donnerstag trug es sich aber zu, dass ein unbekannter junger Mann auf dem Kai stand und beobachtete, wie sich von weit im Süden ein offenes Motorboot näherte. Der Mann trug einen Mantel, der in der Mitte von einem Gürtel zusammengehalten wurde. Er war mittelgroß und schlank, und auf der Stirn zeichnete sich eine auffällige Narbe ab. Er musste in der gleißenden Sonne blinzeln, so als wäre er die Helligkeit nicht gewohnt. Ein kühler Wind spielte in seinem dichten, dunklen Haar. Zu seinen Füßen lag ein länglicher Kasten mit Griffen an beiden Seiten.
Der Mann stand ganz allein auf dem Kai, aber nicht weit von ihm entfernt saßen zwei Männer an der Wand eines Schuppens und beobachteten neugierig diesen ungewöhnlichen Gast. Ein kleiner Lastwagen fuhr von der Anlegebrücke zur Straße hoch, und bald war nichts mehr von ihm zu sehen als die dichte Staubwolke, die er hinter sich herzog.
Die Umgebung war dem jungen Mann offenbar fremd. Beklommen ließ er seine Blicke über den weiten Fjord zu den Inseln in der Ferne schweifen. Zwei Raben kreisten hoch über ihm und krächzten ab und zu. Dicht über der Meeresoberfläche schwebten einige kreischende Küstenseeschwalben. Diese Vogellaute riefen keine guten Erinnerungen in ihm wach, und unwillkürlich hielt er sich die Ohren zu und schloss eine Zeit lang die Augen. Dann wurde ihm aber klar, dass es nicht möglich war, die Umwelt auf diese Weise auszuschließen. Er versuchte, die Erinnerungen abzuschütteln, steckte die Hände tief in die Manteltaschen und ballte sie zu Fäusten.
Das Boot näherte sich jetzt der Küste. Es verlangsamte seine Fahrt und manövrierte an die Anlegebrücke heran. Der Mann nahm das Tau in Empfang, das ihm aus dem Boot gereicht wurde, und hielt dagegen, während zwei Männer auf den Kai kletterten.
»Guten Morgen, allerseits«, sagte derjenige, der zuerst oben ankam, ein rüstiger Mann, der auf die siebzig zuging, wohl beleibt und mit einer frischen, roten Gesichtsfarbe. Der weiße Bart war ausrasiert und rahmte ein rundes, grobknochiges Gesicht mit einer kurzen, knolligen Nase ein. Er trug schenkelhohe Stiefel und eine altes gestreiftes Jackett aus Wolle. Auf dem Kopf hatte er eine Schirmmütze.
»Elliðagrímur Einarsson heiße ich, ich bin der Gemeindevorsteher von Flatey, aber Grímur genügt. Du bist doch der Bevollmächtigte des Bezirksamtmanns in Patreksfjörður, nicht wahr?«
»Ja, und mein Name ist Kjartan«, sagte der Mann, der auf dem Kai gestanden hatte, und ergriff die ihm entgegengestreckte Hand des Gemeindevorstehers. Sie war kräftig und grob, der Händedruck fest und warm.
»Und das ist Högni, Volksschullehrer in Flatey - und Organist an unserer Kirche«, erklärte der Gemeindevorsteher und deutete auf seinen Begleiter, einen großen, schlanken Mann in einem sauberen blauen Overall und hohen Gummistiefeln. »Bei der Seehundjagd im Frühjahr ist er Bootsmann bei mir, und im Sommer mäht er für mich die Heuwiese«, fügte der Gemeindevorsteher hinzu.
Högni grüßte ebenfalls mit festem Händedruck. Er trug einen großen, sorgfältig gepflegten, grauen Schnauzbart, war aber ansonsten glatt rasiert. Der Lehrer musste im gleichen Alter sein wie sein Reisegefährte, aber man sah ihm die Jahre weit weniger an. Seine helle Schirmmütze hatte er in den Nacken geschoben.
Der Gemeindevorsteher musterte den Bevollmächtigten und zog eine Schnupftabakdose hervor.
»Du arbeitest wohl noch nicht lange beim Bezirksamtmann, mein Lieber?«, fragte er und bot dem Bevollmächtigten eine Prise an.
»Nein, ich bin erst vorgestern auf dem Seeweg nach Patreksfjörður gekommen«, antwortete Kjartan und lehnte die angebotene Prise mit einer Handbewegung ab.
»Und dann wird man sofort auf eine Dienstreise beordert!« Gemeindevorsteher Grímur lächelte verschmitzt, während er seine Schnupftabakdose an Högni weiterreichte.
»Ja, mit so einem Auftrag hatte ich nicht gerechnet. Eigentlich sollte ich dem Bezirksamtmann im Büro zur Hand gehen, bei Grundbucheintragungen und dergleichen.«
»Dann hast du also nicht vor, lange hier zu bleiben?«, fragte Grímur.
»Nein, nur bis zum Herbst.«
»Hast du eine Ausbildung für die Verwaltung?«
»Ich habe in diesem Frühjahr das Jurastudium abgeschlossen, eine Karriere in der Verwaltung schwebt mir eigentlich nicht vor.«
»Und was willst du dann werden?«
»Ich werde vielleicht im Herbst als Mitarbeiter in einer Rechtsanwaltskanzlei anfangen. Einer meiner Professoren hat mir diese Arbeit für den Sommer verschafft. Ich würde mich am liebsten in Zukunft mit Finanzrecht befassen. Da ist es bestimmt ein ganz gutes Praktikum, wenn ich mich diesen Sommer mit Pfandverschreibungen und Grundbucheintragungen beschäftige.«
Der Gemeindevorsteher blickte auf den Kasten, der zu ihren Füßen stand. »Na, dann hieven wir das Ding jetzt einfach mal an Bord und holen die Leiche. Vorher machen wir aber nochmal Halt auf Flatey bei meiner Imba, um uns zu stärken. So wie ich sie kenne, steht bei ihr um ein Uhr das Mittagessen auf dem Tisch.«
»Wisst ihr schon, wer der Tote ist?«, fragte Kjartan. Er hoffte auf eine positive Antwort, weil das die Sache vereinfachen würde, aber dieser Wunsch erfüllte sich nicht, denn Grímur antwortete: »Nein, das wissen wir nicht. Valdi von Endenkate sagte bloß, dass sie einen Toten auf Ketilsey gefunden hätten, mehr nicht. Die Burschen haben sich auch nicht besonders klar ausgedrückt, obwohl sie sonst unentwegt quasseln und am liebsten alles gleich zweimal sagen. Soweit ich verstanden habe, ist der arme Kerl aber schon etwas länger tot. Möglich, dass er ein Schiffsunglück überlebt hat und dann bei Springflut so weit ins Fjordinnere getrieben worden ist. Ich gehe mal davon aus, dass wir da nicht viel mehr als ein Gerippe vorfinden werden. Aber am besten ist man auf alles gefasst. Und das muss dann genau protokolliert werden. Da bist du natürlich in deinem Metier.«
Kjartan konnte sich nicht daran erinnern, dass im Jurastudium derartige Dienstvorgänge behandelt worden wären, aber selbstverständlich würde er etwas zu Papier bringen können. Unwillkürlich fasste er mit der einen Hand in die Innentasche seines Mantels, zog ein Notizbuch und einen Stift hervor und probierte ihn auf einer leeren Seite aus. Er schien in Ordnung zu sein. Die Männer aus Flatey schauten ihm interessiert zu.
»Ja, ja, ich schreibe einen Bericht«, erklärte Kjartan etwas verlegen und steckte das Notizbuch wieder in die Tasche.
Die beiden stiegen wieder ins Boot und nahmen die Kiste in Empfang, die Kjartan von der Kaikante heruntergleiten ließ. Eine kleine Reisetasche nahm denselben Weg und zum Schluss der Bevollmächtigte selber, nachdem er die Landfesten gelöst hatte. Högni band den Kasten mit einer alten Schnur zwischen zwei Ruderbänken fest. Unterdessen ließ Grímur den Motor mit einer Kurbel an, der Rückwärtsgang wurde eingelegt, und das Boot glitt von der Anlegebrücke weg. Sobald sie offenes Wasser erreicht hatten, ging es volle Kraft voraus Richtung Süden.
Die Seiten der Munksgaard-Ausgabe von Flateyjarbók glitten durch ihre Finger. Hin und wieder hielt sie inne und las den einen oder anderen Satz laut. Auf jeder Seite des Buchs war eine Seite der Pergamenthandschrift in Originalgröße als Faksimile wiedergegeben. Es war deutlich und klar, aber die Farbenpracht des Originals fehlte. Das Papier war sehr hell und gut erhalten.
Schließlich klappte sie das Buch zu, öffnete es dann aber wieder auf den ersten Seiten und begann ihre Erzählung mit tiefer Stimme, sicher und ohne zu stocken: »Flateyjarbók beginnt mit einem Sammelsurium von alten Texten und Gedichten, beispielsweise dem Hyndla-Lied, mit kürzeren Erzählungen über den König Sigurd slefa, und dann auch Genealogien und dergleichen. Alle diese kleineren Stücke sind wahrscheinlich erst ganz am Schluss der Niederschrift entstanden, aber die Blätter wurden vorne eingeheftet, als das Buch gebunden wurde. Auf der vierten Seite beginnt die Saga von Eríkur dem Weitgereisten, und dann folgt die große Saga von König Olaf Tryggvason, der die Norweger zum Christentum bekehrte. Dieser Olaf herrschte von 995 bis 1000 in Norwegen, und seine Saga ist ein umfangreiches Werk, das sich aus vielen Geschichten und Erzählungen zusammensetzt, darunter die Saga von den Jomswikingern und die Sagas von den Bewohnern der Färöer und der Orkney-Inseln, die Grönländer-Saga und viele andere ...
Kaum hatten sie die Schären vor Brjánslækur hinter sich gelassen, als sich der Bootsmann auf einen Jutesack legte, der über einen Haufen Netze gebreitet war. Er zog die Schirmmütze über die Augen, verschränkte die Hände über der Brust und streckte die Beine aus.
Kjartan hatte sich auf einer Ruderbank niedergelassen und saß Grímur gegenüber, der steuerte. Das Motorengeräusch war laut und die Verständigung entsprechend mühsam.
»Kein sonderlich bequemer Ort, um zu schlafen«, sagte Kjartan, als Högni sich zurechtgelegt hatte.
Grímur antwortete: »Er ist müde, der Gute, und er legt sich auf so einer Seereise gern einmal zwischendurch hin. Um diese Jahreszeit, wenn wir unsere Pfründe nutzen müssen, ist der Arbeitstag lang, und Högni tut sich zuerst immer etwas schwer, wenn die Arbeit losgeht. Er ist Kostgänger bei meiner Imba und arbeitet dafür im Sommer für uns.«
»Ist er nicht verheiratet?«
»Er war verheiratet, aber seine Frau ist vor einigen Jahren gestorben. Er schläft im Schulhaus und isst zweimal am Tag bei uns.«
Das Boot lag gut im Wasser, und die Reise war vergleichsweise angenehm. Grímur konzentrierte sich auf das Ruder, denn allenthalben gab es Schären und Riffe, die es zu umschiffen galt.
Kjartan hatte das Gefühl, als müsste er das Gespräch in Gang halten, aber er wusste nicht so recht, wie. Er blickte über die weite Bucht. Überall waren Inseln zu sehen, gro- ße und kleine.
»Ich bin noch nie im Breiðafjörður gewesen«, sagte er und fügte hinzu, nur um etwas zu sagen: »Es stimmt wahrscheinlich, dass die Inseln hier im Fjord unzählbar sind.«
Grímur lächelte und schien bereit, sich mit ihm zu unterhalten. »Ja, wer weiß, ob man es je schaffen wird, die genaue Zahl zu ermitteln. Wenn wir davon ausgehen, dass eine Insel ein vom Meer umflossenes Stück Land ist, wo ein bisschen was drauf wächst, dann kann man vielleicht eine Zahl festmachen. Auf diese Weise kommt man auf ungefähr dreitausend Inseln im gesamten Fjord. Dann sind da aber auch noch die unbewachsenen Klippen und Schären, und deren Zahl hat bislang niemand vernünftig ausrechnen können. Deswegen ist durchaus richtig, dass sie als nicht zählbar gelten.«
Kjartan nickte zustimmend und versuchte, interessiert auszusehen.
Grímur deutete auf eine Insel, die steil aus dem Meer ragte, und sagte: »Die Insel dort drüben ist Hergilsey, seit kurzem nicht mehr bewohnt. Der Name geht auf Hergils Knopfarsch aus der Saga von Gísli dem Geächteten zurück. Hast du sie gelesen?«
»Ja, aber das ist schon etwas länger her«, entgegnete Kjartan.
»Der Sohn von Hergils war Ingjaldur, der auf der Insel lebte und Bauer war. Berühmt wurde er, weil er dem geächteten Gísli Unterschlupf bei sich gewährte. Als der Dicke Börkur den Ingjaldur töten wollte, weil er einen Vogelfreien versteckt gehalten hatte, sprach Ingjaldur der Alte Folgendes.«
Grímur holte tief Atem und intonierte mit veränderter Stimme: »Nicht klage ich, wenn ich die Fetzen, die ich auf dem Leib trage, nicht völlig verschleißen kann.«
Grímur grinste und fügte hinzu: »Die Leute hier im Breiðafjörður haben noch nie viel Aufhebens um Lappalien gemacht.«
Kjartan nickte und bemühte sich, ebenfalls zu lächeln.
Grímur deutete auf verschiedene Inseln, nannte ihre Namen und erzählte etwas über ihre Geschichte. Im Westen lag die Oddbjarnar-Schäre, wo früher während der Fangsaison immer sehr viel los gewesen war. Vor allem arme Schlucker zogen damals dorthin, um sich in Jahren der Not durchzuschlagen. Dann Skeley, Langey, Feigsey und Sýrey. Jeder Name hatte seine Geschichte.
Högni wachte aus seinem Schlummer auf, setzte sich zu ihnen und trug nun seinen Teil zu den Erzählungen bei. Als Flatey in Sicht kam, sagte er: »Es war um die Weihnachtszeit kurz vor der Jahrhundertwende, als vom Festland aus ein Schiff mit einer Holzladung nach Flatey losfuhr, die dort als Feuerholz verkauft werden sollte. Die Besatzung bestand aus sechs Männern. Sie gerieten in schwere See und hatten entsprechend schlechte Sicht. Sie landeten schließlich auf Feigsey, aber das Boot zerschellte.«
Högni zeigte Kjartan, wo Feigsey war, und fuhr dann fort: »Dort saßen sie tagelang fest, ohne Essen und ohne Feuer. Solange es tagsüber hell war, konnten sie sehen, wie in Flatey die Leute zwischen den Häusern hin und her gingen. Endlich wurden ihre Schreie aber gehört, und sie konnten geholt werden. Alle überlebten diese Strapazen, was eigentlich unglaublich war, denn sie hatten außer ein bisschen Butter überhaupt keine Vorräte dabei.«
Högni kam jetzt beim Geschichtenerzählen in Fahrt: »Vor einigen Jahrzehnten strandete einmal ein ausländischer Frachter hier im Fjord. Er hatte Telefonmasten und importiertes Schmierfett geladen. Die Besatzung konnte gerettet werden, aber einiges von der Fracht wurde auf den Inseln angetrieben. Die Leute fanden, dass die ausländische Butter zwar scheußlich schmecke, aber sehr ergiebig sei.«
Grímur lachte über diese Geschichte, obwohl er sie bestimmt schon oft gehört hatte. Vielleicht war er sogar einer von denen gewesen, die sich Schmierfett zu Munde geführt hatten.
Unterdessen verging die Zeit rasch. Bald hatten sie das Ziel vor Augen und näherten sich Flatey. Kjartan war überrascht, wie viele Häuser es dort gab. Zuerst tauchte die Kirche auf, die auf der höchsten Stelle der Insel thronte und in Luftspiegelungen flimmerte, weiß angestrichen, mit rotem Dach. Nach und nach kam der Ort ins Blickfeld. Vielfarbige Hausgiebel wurden von der Sonne angestrahlt, und allenthalben flatterte Wäsche auf der Leine.
Grímur verlangsamte die Fahrt, als sie an einer kleinen, hufeisenförmigen Insel mit hohen Vogelklippen an der Nordseite vorbeikamen, die über und über von Dreizehenmöwen zugeschissen waren. Die geschützte Bucht an der Südseite lag dem Dorf auf Flatey genau gegenüber. Der Sund zwischen den Inseln war höchstens hundert Meter breit.
»Dies hier war früher der Hafen, und die Insel heißt deswegen Hafnarey«, verkündete Grímur. »Sie soll sogar ein uralter Kraterrand sein, wie die Wissenschaftler sagen.« Er musste die Stimme heben, denn jetzt kam zu dem Motorengeräusch noch das Vogelgeschrei hinzu.
Sie glitten langsam in den Sund hinein und näherten sich einer kleinen und altersschwachen, betonierten Mole, die direkt bei den Häusern ins Meer hinausragte. Ein paar Kinder hatten sich dort versammelt, die alles mit unbefangener Neugier verfolgten.
»Das hier ist die alte Anlegestelle. Der neue Kai ist beim Gefrierhaus im Süden der Insel«, sagte Grímur. Er steuerte das Boot auf eine Schwimmboje zu, die er mit einem kurzen Bootshaken heranzog. Högni befestigte die Boje am Heck und begab sich dann nach vorn, um bereitzustehen, wenn das Boot an den Kai kam. Kjartan setzte sich auf die Ruderbank neben die Kiste. Er hätte sich gern nützlich gemacht, aber die beiden schienen bestens ohne ihn klarzukommen, und er würde wahrscheinlich nur im Weg sein. Högni sprang zielsicher auf die betonierten Stufen, die auf die Mole hinaufführten, und hielt das Boot fest, während Grímur und Kjartan ausstiegen. Dann ließ er die Leine los, und das Boot wurde von der Kaimauer weggezogen.
Högni schimpfte mit den Kindern, während er das Boot vertäute. »Wehe, wenn ihr in das Boot klettert.« Um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, fügte er hinzu: »Der Gemeindevorsteher steckt euch in die Kiste hier, wenn ihr unartig seid.«
Die Kinder wichen bei dieser Drohung etwas zurück und tuschelten miteinander. Ein kleiner, aber kräftiger älterer Mann in einem dunklen Sonntagsanzug, mit schwarzem Hut und einem silberbeschlagenen Stock in der Hand, schob die Kinderschar beiseite und begrüßte Kjartan.
»Kormákur Kolk, Daunenverarbeiter und Küster«, stellte er sich mit lauter Stimme vor, während er auf den Zehenspitzen auf und ab wippte.
»Ich heiße Kjartan und komme im Auftrag des Bezirksamtmanns«, sagte der Ankömmling etwas zögernd.
Kormákur Kolk verneigte sich tief: »Willkommen in der Gemeinde von Flatey, mein verehrter Stellvertreter der Obrigkeit. Der Anlass ist zwar nicht erfreulich, aber trotzdem sind uns hier auf der Insel Besuche seitens der Obrigkeit immer eine Ehre.«
»Vielen Dank«, erwiderte Kjartan. Seine Blicke blieben an der abgewetzten Medaille am Revers des Küsters hängen, die an einem fadenscheinigen blauen Band hing.
Kormákur Kolk fuhr fort mit seiner Ansprache, senkte jetzt aber die Stimme: »Die Kirche wird selbstverständlich offen sein, wenn ihr mit dem Verblichenen zurückkommt. Ich werde euch mit meinem Handwagen am Kai erwarten, wenn ihr anlegt. Unser Pfarrer wird ebenfalls da sein und ein paar angemessene Worte sagen.«
»Ja ... danke«, sagte Kjartan. An diesen Teil des Unternehmens hatte er überhaupt noch nicht gedacht. Der Bezirksamtmann hatte ihm nur aufgetragen, die Leiche von der Insel zu holen und mit dem Postboot, das in zwei Tagen erwartet wurde, nach Reykjavík zu befördern. Damit war sein Auftrag beendet.
»Ist es nicht möglich, die Kiste mit einem Auto zu transportieren?«, fragte er den Gemeindevorsteher.
»Da gibt’s nur den Lastwagen vom Gefrierhaus, aber den haben sie in diesem Frühjahr noch nicht wieder in Gang gekriegt. Die Karre von Kolk tut schon ihre Dienste«, antwortete Grímur.
Der Küster hob sich auf die Zehenspitzen und sagte: »Ja, mein Handwagen wird immer bei Beerdigungen hier in Flatey verwendet.«
»Na schön«, sagte Kjartan. »Vielen Dank, dass du daran gedacht hast.«
Grímur wurde langsam ungeduldig und sagte: »Meine Imba hat das Essen bereit. Wir wollen sie nicht warten lassen.«
Mit Kormákur Kolk an der Spitze zogen sie durch das Örtchen. Den Spazierstock hatte er wie ein Gewehr geschultert, und die andere Hand schwenkte er im Takt zu seinem militärischen Schritt. Bei einigen Häusern machten sich die Frauen an den Wäscheleinen zu schaffen und beobachteten neugierig, wie die Männer vorbeimarschierten. Der Küster machte Kjartan mit den Gegebenheiten vertraut und gestikulierte mit der freien Hand: »Dort ist das Lagerhaus, da drüben das Telegrafenamt, und das hier ist der Genossenschaftsladen«, zählte er auf, »und hier wohnt unser ehrwürdiger Herr Pfarrer, und da vorne streckt der Sohn von Guðjón ein Seehundfell.«
Sie kamen an einem Schuppen vorbei, an dessen Giebelseite drei Felle gespannt worden waren, die Haarseite zur Wand, und ein junger Bursche nagelte gerade das vierte Fell fest.
»Und diesen Damm hier nennen wir die Silbermole«, erklärte Kormákur Kolk und wies auf eine lange Steinmole, die eine flache Bucht umschloss. »Ihr Erbauer hat nämlich den Männern, die diese Steinklötze allein mit der Kraft ihrer Hände aufschichteten, ihren Lohn in Silber ausbezahlt.« Ein schwarzer Hund mit geringeltem Schwanz schloss sich ihnen an, während einige Hennen gackernd von der Straße flüchteten.
»Und da oben steht unsere Kirche mit dem Friedhof davor, und hinter der Kirche liegt die älteste Bibliothek von ganz Island. Groß ist sie nicht, aber da gibt es so einige Raritäten, wenn man näher hinschaut. Es gibt sogar eine perfekte Reproduktion von Flateyjarbók, dem berühmtesten Buch in der nordischen Geschichte, Codex Flateyensis, faksimiliert und gebunden bei Munksgaard in Kopenhagen. Sie wurde der Bibliothek von Flatey anlässlich des hundertjährigen Jubiläums der Prosperitätsstiftung der Gemeinde von Flatey überreicht.«
Das weiß gestrichene Haus des Gemeindevorstehers hatte ein grünes Dach. Es stand etwas außerhalb des Ortes über dem Steilufer. Auf einem weißen Schild über der Tür stand mit großen, schwarzen Buchstaben BAKKI geschrieben. Kormákur Kolk begleitete die drei bis zur Tür, nahm den Hut ab und verabschiedete sich mit Handschlag von jedem Einzelnen.
»Ich stehe zur Verfügung, wenn ihr zurückkommt«, erklärte er und hob sich auf die Zehenspitzen. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und schritt würdevoll zurück in den Ort.
Kjartan blickte ihm nach. »Ist der Küster immer so ausstaffiert?«, fragte er Grímur.
»Nein, nur wenn ein Gottesdienst gehalten wird oder wenn es gilt, Personen von Rang in Empfang zu nehmen«, antwortete der Gemeindevorsteher.
»Dann rechnet er mich wohl zu den hoch gestellten Persönlichkeiten, denn heute findet ja wohl kaum ein Gottesdienst statt«, meinte Kjartan verlegen.
Grímur lachte. »Tja, mein Lieber, der Kolk hat großen Respekt vor der Obrigkeit und ganz besonders vor dem Bezirksamtmann.«
»Was für einen Orden hatte er da eigentlich am Aufschlag?«
»Das ist die Verdienstmedaille des Allthing-Jubiläums von 1930. Kolk bekam sie, weil er die Eiderdaunen bereitstellte, mit denen das Oberbett des dänischen Königs gefüllt wurde«, antwortete Grímur.
Högni fügte hinzu: »Das muss man dem Kerl lassen, er versteht es, Eiderdaunen zu verarbeiten.«
Die Frau des Hauses nahm sie in Empfang und führte sie in ein Zimmer, wo der Tisch für drei Personen gedeckt war.
»Ich heiße Ingibjörg. Ich hoffe, dass du dich hier bei uns wohl fühlen wirst«, entgegnete sie, nachdem Kjartan sie begrüßt und sich ihr vorgestellt hatte. Sie war korpulent und hatte ein Feuermal an der rechten Wange. Sie trug die isländische Tracht und darüber eine gestreifte Schürze.
»Der Herr Bevollmächtigte isst doch hoffentlich frischen Seehund, oder?«, fragte Grímur und setzte sich.
Kjartan blickte äußerst skeptisch auf einige dunkle, fette Fleischbrocken in einer dampfenden Schüssel.
»Ja, vielleicht probiere ich mal«, antwortete er schließlich.
Högni setzte sich ebenfalls. Am Tisch schien kein Platz für die Hausfrau vorgesehen zu sein, die jetzt eine Kanne Wasser und Gläser brachte.
»Wir essen ziemlich viel Seehund während der Fangsaison«, erklärte Grímur und nahm sich ein ordentliches Stück. »Dazu Kartoffeln, wenn sie zu haben sind.«
Kjartan schnitt sich einen winzigen Happen von einem Stück ab und legte es auf seinen Teller. Dann nahm er sich noch eine Kartoffel.
Die Hausfrau kam mit einem Stielpfännchen, in dem es brutzelte.
»Hier kommt das Griebenschmalz, das gehört dazu«, verkündete Grímur.
Kjartan probierte nur ein winziges Stückchen von dem Fleisch, aß aber die ganze Kartoffel. Högni schaute ihm neugierig zu und sagte schließlich mit vollem Mund: »Ich hab schon mal einen Mann getroffen, der weder Seehund noch Kormoran essen wollte, aber komischerweise futterte er Hühnerfleisch und fand das lecker.«
Högni beschäftigte sich wieder mit seinem Teller und achtete darauf, sich die Bissen so zum Munde zu führen, dass nichts in seinem markanten Schnauzbart landete.
Von der Küchentür aus verfolgte die Frau des Hauses alles mit.
»Schmeckt es dir nicht, mein Lieber?«, fragte sie freundlich, als Kjartan sich nicht anschickte, noch einmal zuzulangen.
»Ich habe kaum Appetit nach der Überfahrt«, antwortete er und trank einen Schluck Wasser, das einen merkwürdigen Beigeschmack hatte.
»Du lieber Himmel, wo bin ich bloß mit meinen Gedanken? Ich schau gleich mal nach, ob ich nicht etwas finde, was besser in einen seekranken Magen passt.« Sie verschwand in der Küche.
Grímur deutete zum Fenster hinaus.
»In dem Haus dort hinten wohnt der Arzt. Unser Arzt ist zurzeit eine Frau und heißt Jóhanna. Sie lebt dort mit ihrem Vater, einem alten, bettlägerigen Mann, der aber enorm beschlagen ist. Der Ärmste hat hochgradig Krebs. Einige sagen, er sei hierher gekommen, um zu sterben. Tja, er hätte sich kaum einen besseren Platz dazu aussuchen können. Ich bin der Meinung, dass es von hier aus nicht weit zum Himmel ist. Unsere Jóhanna hält sich ein bisschen für sich, aber als Ärztin ist sie hervorragend. Hinter dem Arzthaus ist unser neues Gefrierhaus. Das sieht man nicht von hier aus. Und noch weiter draußen liegt die Endenkate, das ist der letzte Torfbauernhof auf der Insel. Da wohnen die drei Einsiedler, die die Leiche gefunden haben. Sie betreiben eigentlich keine richtige Landwirtschaft mehr, außer dass sie ein paar Kartoffeln anbauen. Sie haben aber die Nutzungsrechte für Ketilsey und die umliegenden Schären. Viel zu holen ist da nicht, das ist eine ziemliche Hökerwirtschaft bei denen. Es ist ganz schön weit bis zu der Insel, und die Eiderentenbrutplätze werfen nicht sonderlich viel ab. Aber ein paar Seehunde fangen sie immer, und außerdem gibt’s dort Papageitaucher. Und wenn das Gefrierhaus in Betrieb ist, fahren sie mit ihren Handleinen zum Fang aus und liefern den Fisch dort ab.«
Grímur und Högni konzentrierten sich eine Weile auf das Essen, bis Ingibjörg wieder hereinkam und Kjartan einen Teller Suppe vorsetzte.
»Hier ist noch ein Rest Fleischsuppe von gestern. Ich hoffe, dass dir das besser schmeckt.«
Kjartan probierte, und diese Suppe sagte ihm wesentlich mehr zu als das Seehundfleisch.
Grímur ergriff wieder das Wort: »Zurzeit wohnen etwa sechzig Menschen auf Flatey. Aber viele wandern ab. Hier leben vor allem ältere Leute. Wie viele Kinder waren in diesem Winter in der Schule, Högni?«
Kjartan hatte das Gefühl, dass der Gemeindevorsteher ganz genau wusste, wie viele Kinder in der Schule waren, wie sie alle hießen, und bestimmt wusste er auch mehr über ihre Familien als sie selber. Die Frage diente bloß dazu, den Lehrer etwas mehr in das Tischgespräch einzubeziehen.
»Fünfzehn waren es insgesamt, aber viele kommen von den umliegenden Inseln«, antwortete Högni geflissentlich.
Grímur fuhr fort: »Die Leute gehen weg, sobald sie die Möglichkeit dazu haben. So wie die Dinge im Augenblick liegen, gibt’s für junge Leute hier wenig zu tun. Es wird so wenig gefangen, dass das Gefrierhaus eigentlich nie so richtig in Gang gekommen ist. In den letzten achtzehn Jahren sind siebzehn Inseln hier im Fjord verlassen worden, bewohnt sind jetzt nur noch acht.«
»Und woher kommt das?«, fragte Kjartan.
»Der Grund ist ganz einfach der, dass die Landwirtschaft auf den Inseln so viele Arbeitskräfte braucht, wenn man alle Ressourcen einigermaßen nutzen will. Aber die jungen Leute finden sich nicht mehr damit ab, in abhängiger Stellung bei Großbauern zu sein und nur für Essen und Unterkunft zu arbeiten. Sie wollen ihren Lohn in Geld ausbezahlt bekommen und ein eigenes Heim gründen. Aber die lieben Landsleute werden es irgendwann einmal schon wieder schätzen lernen, was die Inseln zu bieten haben. Mit neuen Landmaschinen und tauglichen Booten ließe sich hier auf vielen der westlichen Inseln blühende Wirtschaft betreiben, und das werden künftige Generationen bestimmt unter Beweis stellen. Hier in Flatey wird ein mustergültiges Internat für die Kinder entstehen. Neue, stabile Wohnhäuser werden auf der Insel errichtet, und Familien, die fest zusammenhalten, nutzen die Ressourcen. Landwirtschaftsbetriebe, die bis zu siebzig Seehundfelle pro Jahr liefern, zählen seit jeher zu den reichen Höfen in Island. Es wird sich schon noch zeigen, dass Eiderenten, Seehunde und andere einheimische Tiere, die man nutzen kann, an die Nähe des Menschen zu gewöhnen sind, wenn man es darauf anlegt. Die Bauern werden Schweinezucht betreiben, Gartenbau und Pelztierzucht, und jede Familie besitzt dann ein stabiles, gutes Boot. Ein Helikopter steht in Flatey einsatzbereit, falls im Winter die Schifffahrt durch Eis behindert wird. Eine Pension für Gäste wird es geben, und die Handelsgenossenschaft floriert. Die Erzeugnisse werden ins Ausland exportiert, für Wollsachen kann man in kalten Ländern hohe Preise bekommen, und Fleisch wird in Länder verkauft, wo Hunger herrscht. Fisch ebenfalls. Hier wird in einigen Jahren die Zukunft für junge Bauern liegen. Die Nation kann es sich nicht leisten, solche ertragreichen Ländereien brachliegen zu lassen, mein Lieber.«
Grímur blickte auf seinen Teller und schnitt eine Grimasse. »Das Schlimmste an Seehundfleisch ist, dass das Griebenschmalz kalt wird, wenn man sich vergisst und zu viel redet«, sagte er und stand auf. »Dann muss man den Teller auf den Herd stellen und es wieder aufwärmen.« Er ging mit dem Teller in der Hand hinaus.
Högni war satt und wandte sich nun interessiert Kjartan zu.
»Woher stammt deine Familie?«
»Nur aus Reykjavík«, antwortete Kjartan zurückhaltend.
»Väterlicher- und mütterlicherseits?«
»Ja, die ganze Familie ist aus Reykjavík.«
»Wie alt bist du?«
»Zweiunddreißig.«
»Du hast also erst spät mit dem Jurastudium angefangen?«
»Ja.«
»Und warum hast du das so lange hinausgezögert? Hattest du kein Geld?«
»So kann man es ausdrücken.«
»Du hast dir also das Geld fürs Studium zusammengespart, bevor du damit angefangen hast?«
»So kann man es ausdrücken.«
»Und wo hast du gearbeitet?«
Kjartan zögerte mit der Antwort, aber jetzt kam Grímur mit seinem Teller zurück, auf dem das Fett wieder brutzelte.
»Köstlich«, sagte er und schmatzte genüsslich. »Die Suppe ist dir hoffentlich gut bekommen?«, fragte er Kjartan.
»Ja, danke.«
»Schön. Für die Dauer deines Aufenthalts kannst du in dem Zimmer hier oben unter dem Dach Quartier nehmen, bis alles über die Bühne ist. Meine Imba wird dafür sorgen, dass du nicht vom Fleisch fällst.«
... Diese zusammengewürfelten Erzählungen und Geschichten waren im 14. Jahrhundert sozusagen typisch für die Schreibkultur in Island. Es ging darum, in einem Buch verwandtes Material aus unterschiedlichen Quellen zusammenzutragen, das Ganze thematisch zu ordnen und verschiedene Sagas über Könige miteinander zu verknüpfen, sodass daraus eine umfangreiche und chronologisch einigermaßen korrekte Erzählung wurde, aber der Stil konnte sehr unterschiedlich sein. Es ging wohl eher darum, so viel Geschichtsmaterial wie möglich zu sammeln, als ein organisiertes Ganzes zu schaffen. Deswegen kann man sagen, dass Flateyjarbók in gewissem Sinne ein Missgebilde ist, wenn man das Buch mit der Heimskringla von Snorri Sturluson vergleicht, die sich ja auch mit ähnlichen Themen befasst. Aber wegen dieser Sammelleidenschaft ist in Flateyjarbók vieles überliefert, was nirgendwo anders auf Pergament zu finden ist, unzählige kleinere Geschichten und Anekdoten. Nach der Saga von Olaf Tryggvason kommen die Sagas von Olaf dem Heiligen, von König Sverrir Sigurdsson, Hakon dem Alten und noch weitere Sagas. Und am Ende der Handschrift steht ein historischer Abriss von der Schöpfung der Welt bis zu dem Tag, an dem das Buch zu Pergament gebracht wurde ...
Im Haus des Gemeindevorstehers von Flatey war die Mahlzeit beendet, und Frau Ingibjörg stellte eine Thermoskanne mit Kaffee auf den Tisch. Grímur und Högni schenkten sich den dampfenden Kaffee in die leeren Wassergläser und nahmen sich anschließend eine Prise Schnupftabak. Kjartan goss sich den Kaffee ebenfalls in das Glas, lehnte aber dankend ab, als Ingibjörg Milch und Würfelzucker anbot. Die Männer schlürften den heißen Kaffee, stöhnten zufrieden und rülpsten.
Högni sagte: »Ich hab mal einen Mann gekannt, der sagte, dass Gott den Menschen den Kaffee als Entschädigung für einen langen Arbeitstag im Schweiße ihres Angesichts geschenkt hat. Aber ich fand es eigentlich immer ziemlich überflüssig, jemanden dafür zu entschädigen, dass er sich von seiner Hände Arbeit ernährt. Trotzdem tut ein Schluck Kaffee immer gut, und Gott sei gedankt dafür.«
Kjartan nickte zustimmend.
»Jetzt ist man so langsam für alles gewappnet, was auf einen zukommen mag«, verkündete Grímur, strich sich über den Bauch und trank den letzten Schluck Kaffee aus dem Glas. »Mit wohl gefüllten Mägen legen sich Gespenster und Wiedergänger nicht gern an«, fügte er hinzu.
Högni lachte und meinte: »So was nennt man Gemeindevorsteherweisheit und ist natürlich völlig unbewiesen.«
Bevor sie sich auf den Weg machten, holten die Männer zwei Schaufeln aus Grímurs Kuhstall. Kjartan fragte, wozu sie die denn brauchen würden.
»Man hebt eine Leiche, die den ganzen Winter herumgelegen hat, nicht mit den bloßen Händen auf. Nicht direkt nach dem Mittagessen«, antwortete Grímur und wischte den Kuhmist am Spatenblatt mit einem Grasbüschel ab, das er an der Stallwand abgerupft hatte.
Kjartan ging hinter den beiden Männern mit den geschulterten Spaten durch das Dorf hinunter zum Kai. Högni zog das Boot heran, und sie stiegen ein. Grímur löste die Vertäuung und kurbelte den Motor an. Sie legten ab und nahmen zunächst Kurs nach Westen, um die Spitze der Insel zu umfahren.
Der Gemeindevorsteher wies Kjartan auf das Leuchtfeuer von Flatey hin, das auf einer kleinen Schäre vor der Hafeneinfahrt stand. An der westlichen Spitze kam Endenkate in Sicht, das Haus halb eingegraben in die Böschung oberhalb des Spülsaums des Meeres. Ein kleiner eingezäunter Kartoffelacker nahe dem Hof war erst vor kurzem umgegraben und die dunkelbraune Erde ordentlich zu kleinen Dämmen aufgehäufelt worden. Ein kleiner Junge saß auf einem Stein am Ufer und beobachtete sie.
»Da sitzt der kleine Nonni«, sagte Grímur. »Er ist genauso eigenbrötlerisch wie sein Vater und sein Großvater. War er nicht im Winter bei dir in der Schule, Högni?«
»Doch, doch, und das Bürschlein kann lernen, aber er befasst sich immer nur mit einer Sache auf einmal. Er konnte sich in Botanik tagelang mit einer einzigen Seite beschäftigen, und währenddessen war es nicht möglich, ihn für etwas anderes zu interessieren. In der folgenden Woche waren es dann vielleicht die Sterne. Er kann aber schon ziemlich gut lesen und auch ein bisschen rechnen.«
Högni schaute zum Land hinüber und fuhr fort: »Valdi von Endenkate, der Vater des kleinen Nonni, ist auch ein ziemlicher Sonderling. Der Mann kritzelt ständig unnützen Kram in irgendwelche Kladden. Wetterbeobachtungen, oder wer mit dem Postboot kommt und geht, wer zum Gottesdienst kommt und wer nicht. Und Jón Ferdinand, der Alte, der ist wahrscheinlich schon in die zweite Kindheit gekommen. Er hört auch kaum noch was. Valdis Frau Hulda, die hat schon längst die Nase voll von diesem Klüngel. Sie arbeitet als Küchenmädchen bei einer Straßenbaukolonne auf dem Festland und kommt praktisch nie nach Hause. Sie schickt bloß manchmal Geld, damit sie die Milch für den kleinen Nonni kaufen können, und vielleicht etwas zum Anziehen für ihn.«
Kjartan sah, dass der Junge sich irgendetwas vor die Augen hielt, das in der Sonne blinkte, und das Boot beobachtete. Nach einer Weile sprang er auf, lief zum Haus und verschwand darin.
Als Nächstes kamen der neue Kai und das Gefrierhaus in Sicht. Dort lagen drei offene Motorboote und noch ein größeres mit Deckaufbauten. Das kleinste Boot war schwarz, die anderen weiß angestrichen.
»In letzter Zeit ist nicht viel gefangen worden«, sagte Grímur. »Deswegen ist heute auch niemand zum Fischen ausgefahren.«
»Sie haben wohl auch kein Geld für Treibstoff«, sagte Högni. »Wahrscheinlich ist ihnen der Kredit bei der Genossenschaft gesperrt worden.«
»Dann müssen sie eben segeln«, sagte Grímur. »Das können die Männer von Endenkate jedenfalls noch. Sie können im Zweifelsfall einen Mast aufrichten und Segel setzen, wenn sie kein Geld für Paraffin haben. Ihnen gehört das schwarze Boot da. Es heißt ›Rabe‹.«
»Ja, die Burschen können segeln«, sagte Högni. »Der alte Jón Ferdinand war früher zu seinen besten Zeiten einer der geschicktesten Bootsführer im ganzen Breiðafjörður. Kaum jemand konnte besser mit einem Boot unter Segeln umgehen. Der Mann ließ bei günstigem Wind die Schiffe buchstäblich über die Wellen hüpfen. Einmal ist er mit einer Schute nach Króksfjarðarnes geschickt worden, um Wanderarbeiter auf die Inseln zu bringen. Auf dem Rückweg lenzte er in einem harten Wind allein unter der Fock und brauchte nur vier Stunden für die Überfahrt nach Flatey. Er hatte zwar den Gezeitenstrom mit sich, aber trotzdem bin ich davon überzeugt, dass ihm das nur wenige hätten nachmachen können.«
Bald hatten sie die äußersten Schären bei Flatey passiert und nahmen Kurs auf eine entfernte Inselgruppe im Süden.
Kjartan graute es davor, ans Ziel zu kommen. Er hatte schon einmal einen Toten gesehen, und die Erinnerung daran war alles andere als angenehm. Die Aufgabe, die ihnen jetzt bevorstand, war höchstwahrscheinlich noch unangenehmer. Trotzdem versuchte er, sich interessiert zu geben, als Grímur ihm unterwegs erklärte, was es zu sehen gab, die Inseln, Schären und Berge in der Ferne. Der Svefneyjar-Archipel lag backbord und der Berg Klofningur auf dem Festland steuerbord voraus.
Als sie sich Ketilsey näherten, flog eine Mantelmöwe auf und kreischte. Das Meer schlug gegen die Klippen, von denen die Seehunde sich ins Wasser stürzten.
»Sie haben ein Abkommen«, erklärte Grímur. »Die Mantelmöwe wacht, während die Seehunde auf den Klippen schlafen. Im Gegenzug kriegt sie manch guten Bissen ab, wenn die Seehunde auf Jagd gehen. Ihr schmeckt die Leber am besten.«
... Als diese uralten Geschichten auf Pergament aufgezeichnet wurden, geschah das nur in einer Fassung von vielen. Zuvor waren sie erst mündlich und dann in einigen älteren Handschriften überliefert worden. Jede Generation behandelte sie auf ihre Weise. Mein Vater hat mir Geschichten aus diesem Buch so wie Märchen erzählt, als ich klein war. Ich selbst habe mir dann auch einen eigenen Stil zugelegt, in dem ich meine Lieblingsgeschichten auf meine Weise erzähle ...
Obwohl Ketilsey keine große Insel ist, hatten sie einige Mühe, die Leiche zu finden. Nachdem sie das Ufer abgesucht hatten, nahmen sie sich die höher gelegenen Teile der Insel vor. Dem Gemeindevorsteher und dem Lehrer riss langsam der Geduldsfaden.
»Wir hätten Valdi mitnehmen sollen, der hätte uns direkt zu der Stelle geführt«, meinte Högni.
Grímur war skeptisch: »Dann hätte der Alte auch mitkommen müssen, und wahrscheinlich der Kleine auch. Die kann man nicht alleine zurücklassen.«
Er nahm die Schirmmütze ab und wischte sich mit einem roten Schnupftuch den Schweiß von der Stirn.
»Hat der Mann denn nicht gesagt, wo wir zu suchen haben?«, fragte Kjartan.
»Nein, verflixt nochmal. Ich bin davon ausgegangen, dass der Tote hier am Ufer nicht weit von der Anlegestelle liegen würde und dass wir einfach nur dem Geruch nachgehen müssten.«
»Vielleicht hat das Meer ihn wieder weggespült?«, überlegte Kjartan.
Grímur schüttelte den Kopf. »Nein, das ist bei Nipptide unwahrscheinlich, und überdies hat es überhaupt keinen Wellengang gegeben, seit die drei hier waren.«
Högni beobachtete mit gerunzelten Brauen einige Mantelmöwen, die über ihnen schwebten. »Ob vielleicht die verdammten Möwen in der Zwischenzeit für den Rest gesorgt haben?«, gab er zu bedenken.
Schließlich war es Kjartan, der beinahe über die Leiche gestolpert wäre, als er zwischen den Felsen suchte. Der grüne Anorak hatte eine ähnliche Farbe wie das Gras rundherum. Die Kapuze war über den Schädel gezogen, sodass nur ein kleiner Teil des nackten Schädels zu sehen war. Hosen und Schuhe verhüllten den unteren Teil des Körpers. Es roch nach Verwesung, und über der Leiche wimmelte es von Fliegen.
»Er ist hier«, rief Kjartan mit einer Stimme, die er kaum als seine eigene wiedererkannte.
Die Männer waren bald zur Stelle, der Gemeindevorsteher als Erster.
»Hier herrschen keine Wohlgerüche, sprach Grettir der Starke, als er in den Grabhügel kam«, deklamierte er und hustete.
»Hier oben liegt er also«, sagte Högni verwundert, als er sich umgeschaut hatte. »Es muss ja ganz schön hoch hergegangen sein, wenn das arme Schwein von den Wellen bis hier hinauf geschleudert wurde.«
»Ausgeschlossen«, erklärte Grímur. »Bis hier oben wird niemand vom Meer geworfen. Das nächste Stück Treibholz und dieser Tanghaufen da vorne liegen mehr als dreißig Faden tiefer.«
Högni erschrak sichtlich. »Kann es sein, dass ...« Er brach den Satz abrupt ab.
Grímur sah sich um. »Doch, er muss am Leben gewesen sein, als er hier auf der Insel landete.«
Er betrachtete die Leiche eine ganze Weile, gab sich dann einen Ruck und begann, die Umgebung genauer zu untersuchen.
»Seht mal da hinten«, rief er. Kjartan und Högni blickten in die Richtung, in die er deutete.
Unter einem etwas überhängenden Felsen war Treibholz so aufgestellt worden, dass es einen kleinen Unterschlupf bildete, gerade so groß, dass ein Mann dort hineinkriechen und der Länge nach Schutz finden konnte.
»Das hat bestimmt dieser Mann gemacht, nachdem er hier angetrieben worden war. So etwas Stümperhaftes stammt auf keinen Fall von den Endenkate-Männern.«
»Konnte er denn nicht auf sich aufmerksam machen?«, fragte Kjartan. Der Gedanke, dass der Mann da geraume Zeit, wahrscheinlich sogar im tiefsten Winter, dahinvegetiert hatte, war äußerst beklemmend.
Grímur antwortete: »Nein, es sei denn, er hätte etwas zum Feuermachen dabeigehabt. Die Route des Postboots liegt viel weiter westlich, und bis zu den nächsten bewohnten Inseln ist es sehr, sehr weit. Hier ist nämlich nie etwas aus dem Meer zu holen, deswegen kommt niemand mehr in diesen Teil des Fjords, wenn die Männer von Endenkate nach dem Ausschlüpfen der Eiderküken die restlichen Daunen aus den Nestern geholt haben. Erst mehr als ein halbes Jahr später kommen sie im Frühjahr wieder, um die Seehundnetze auszulegen. Die restliche Zeit ist hier einfach niemand unterwegs.«
»Ist er dann verhungert?«, fragte Kjartan.
»Ja, und erfroren. Wenn er kein Feuer gehabt hat, um sich warm zu halten ... Erst recht, wenn er womöglich nass angetrieben wurde.«
»Wie zum Kuckuck ist er denn so weit in den Fjord hineingekommen?«, fragte Högni. »Ich seh hier nichts, was ihn hätte bis hierher tragen können. Hier kommen keinerlei Schiffe vorbei, sodass er auch nicht über Bord gegangen sein kann.«
Grímur sagte: »Möglicherweise ist er mit einem Boot hierher gekommen, das dann abgetrieben ist. So was hat’s schon gegeben.«
»Das hätte sich doch wohl herumgesprochen, wenn hier im Fjord ein Mann und noch dazu ein Boot vermisst worden wären.«
»Vielleicht kam er ja von weiter her«, sagte Grímur.
»Egal. Er wäre trotzdem vermisst worden«, sagte Högni mit Nachdruck.
»Im vergangenen Winter hat es hier weiter westlich von Island einige Havarien gegeben. Einige Seeleute wurden für tot erklärt. Vielleicht hat es einer von denen in ein Rettungsboot geschafft, das dann mit der Strömung in den Fjord hineingetragen wurde und hier angetrieben ist.«
»Und das Boot?«
»Das ist wieder abgetrieben.«
»Nein.« Högni war anderer Meinung. Er kniete bei der Leiche nieder und schaute sich die Kleidung näher an.
»Das hier ist auf gar keinen Fall ein Seemann. Sieh doch nur die Schuhe. Das sind Bergschuhe, wie die ausländischen Reisenden sie tragen, aus Leder.«
Sie holten den Kasten und legten ihn mit der Öffnung zur Seite direkt neben der Leiche auf den Boden. Grímur und Högni schoben die Leiche mit den Schaufeln in die Kiste, und Kjartan stemmte dagegen. Dann brachten sie die Kiste in eine waagerechte Position, und die Leiche fiel hinein, mit dem Bauch nach unten. Das Gras, das unter ihr zum Vorschein kam, war gelb und tot, abgesehen von den Schmeißfliegen, von denen es dort nur so wimmelte.
»Sollen wir ihn vielleicht umdrehen?«, fragte Kjartan.