Nachtwasser - Camilla Läckberg - E-Book
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Nachtwasser E-Book

Camilla Läckberg

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Beschreibung

Jetzt das eBook zum Einführungspreis sichern! Das fulminante Finale der soghaft-düsteren skandinavischen Krimi-Trilogie der Bestseller-Autoren Camilla Läckberg und Henrik Fexeus! Der schwedische Justizminister wird bedroht. Zur selben Zeit wird in den Stockholmer U-Bahn-Tunneln ein Haufen menschlicher Knochen gefunden. Das Skelett gehört einem hochrangigen Finanzier. Mina Dabiri und ihr Team beginnen nach Zusammenhängen zu suchen und ziehen den Mentalisten Vincent Walder zur Hilfe. Die Uhr tickt. Doch für Vincent, der mit Bedrohungen gegen seine Familie zu kämpfen hat, macht es den Anschein, als würde die ganze Welt auf ihn zurasen. Durch einen weiteren Knochenfund in den U-Bahn-Tunneln wird das Team endgültig auf die Probe gestellt - was geht in den Tiefen Stockholms vor sich? Und wer ist hinter dem Minister her? Für Mina und Vincent beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit …  Der dritte Band der erfolgreichen schwedischen Krimi-Trilogie - komplex, düster und nervenaufreibend! Ein unaufhaltbarer Countdown, Knochenfunde in den Tunneln der Stockholmer U-Bahn und unfassbare psychologische Abgründe - Camilla Läckberg und Henrik Fexeus garantieren fesselnde skandinavische Spannung aufhöchstem Niveau! Mit einer Gesamtauflage über 30 Millionen Exemplare ist Camilla Läckberg die Königin des schwedischen Kriminalromans. Henrik Fexeus ist Psychologie-Experte und selbst schon als "Mentalist" aufgetreten. Die Dabiri-Walder-Trilogie ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Schwarzlicht - Finsternebel - Nachtwasser

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Seitenzahl: 770

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Camilla Läckberg / Henrik Fexeus

Nachtwasser

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Katrin Frey

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Ein perfides Rätsel, ein unaufhaltbarer Countdown und unfassbare psychologische Abgründe.

 

In den Stockholmer U-Bahn-Tunneln wird eine Ansammlung menschlicher Knochen gefunden – das Skelett eines hochrangigen Finanziers. Gleichzeitig wird der Justizminister bedroht. Das Ermittlerteam um Mina Dabiri beginnt nach Zusammenhängen zu suchen und zieht erneut den Profiler und Mentalisten Vincent Walder zu Rate. Doch ein weiterer Knochenfund gibt dem Team nur neue Rätsel auf. Was geht da in den Tiefen Stockholms vor sich? Und wer ist hinter dem Minister her?

Sicher ist nur eins: Die Uhr tickt …

 

Das explosive Finale der erfolgreichen schwedischen Krimi-Trilogie – düster, rasant und nervenaufreibend!

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

NOCH VIERZEHN TAGE

Vincent lag in seiner [...]

Akai ging mit energischen [...]

NOCH DREIZEHN TAGE

Es schneite seit über [...]

Steht denn fest, dass [...]

Ruben erwachte fröstelnd und [...]

Vincent saß in seinem [...]

Wie war es denn [...]

Sara Temeric sah von [...]

Wie immer in letzter [...]

Sie rannten durch die [...]

Dir ist hoffentlich klar, [...]

Du musst die Sipo [...]

Vincent hatte eingekauft. Schon [...]

Christer streckte die Beine [...]

Einige Stunden und unzählige [...]

In Gedanken versunken schloss [...]

Peter Kronlund saß nun [...]

Als Nathalie im Justizministerium [...]

Rebecka stand in der [...]

Mina hatte sich gerade [...]

NOCH ZWÖLF TAGE

Mina saß im Präsidium [...]

Er hielt Papas Hand [...]

Wie bist du auf [...]

Ruben stand im Einkaufszentrum [...]

Geduldig wartete Julia, bis [...]

Milda hatte die Knochen [...]

Seit wann mischst du [...]

Mina staunte über die [...]

Niklas hörte sich die [...]

Aus purem Pflichtbewusstsein hatten [...]

Vincent stand im Schlafzimmer [...]

Sie teilten alles. So [...]

Vincents Herz machte vor [...]

Ruben war vor einer [...]

NOCH ELF TAGE

Niklas warf einen Blick [...]

Christer gelang es ausnahmsweise, [...]

Vincent war spät dran. [...]

Christer trommelte nervös auf [...]

Er schwitzte. Astrids Weihnachtsgeschenk [...]

Vincent spazierte mit Mina [...]

NOCH ZEHN TAGE

Mina grinste, als Ruben [...]

Vincent wurde wach, weil [...]

Dürfen wir reinkommen?«, fragte [...]

In diesem Augenblick zwischen [...]

Sollen wir nicht noch [...]

Auf dem Grabstein stand [...]

Vincent lehnte sich zurück. [...]

Ich habe über das [...]

Christer scrollte durch das [...]

Ich nehme eine positive [...]

Mina stoppte Vincent auf [...]

Nach dem Gespräch mit [...]

Dann bist du also [...]

Julia wusste, dass Geschenke [...]

Als Vincent nach Hause [...]

NOCH NEUN TAGE

Soll ich euch nicht [...]

Mina war in ihrer [...]

Wie so oft in [...]

Mina erwartete Vincent auf [...]

Als er ins Zimmer [...]

Mina!«, rief Christer, der [...]

Das Haus in Stureby [...]

Diesmal waren sie nicht [...]

An der Tür hing [...]

Milda sah Loke voller [...]

Mina nahm die Kaffeedose [...]

Rebecka hatte ihren Koffer [...]

Mach dir keine Sorgen«, [...]

Es klang dringend.«

NOCH ACHT TAGE

Tor hielt das Telefon [...]

Vincent konnte sich das [...]

Die Stockholmer Verkehrsbetriebe SL [...]

Vincent hatte das Protokoll, [...]

Die Prozedur an der [...]

Wie oft triffst du [...]

NOCH SIEBEN TAGE

Opa!«, schrie Harry, als [...]

Am Vorabend hatte Mina, [...]

Sie waren kaum vom [...]

Sara trocknete sich die [...]

Niklas saß, mit dem [...]

Diesmal war Papa noch [...]

Als Vincent zurückkam, war [...]

NOCH SECHS TAGE

Als Mina ins Präsidium [...]

Julia war geradezu übertrieben [...]

Mina ließ die anderen [...]

Ruben fuhr zu Sara [...]

Minas Beunruhigung war ansteckend. [...]

Alles okay?«

Adam trat einen Schritt [...]

Genussvoll atmeten Mina und [...]

Der Bürokaffee stand nicht [...]

Vincent hatte die Ellbogen [...]

Ruben fuhr im Schritttempo [...]

Als Mina aus der [...]

Milda wusste, dass es [...]

Ruben beschloss, zurück in [...]

Danke, dass du mitgekommen [...]

In Peter Kronlunds Sommerhaus [...]

Sie betrachtete den ballistischen [...]

Immer wieder wanderten seine [...]

Er hatte Hunger. Und [...]

Hier, nimm die Rettungsdecke.«

NOCH FÜNF TAGE

Ich habe gehört, Sara [...]

Nathalie klopfte an Tors [...]

Je näher sie dem [...]

Drei Monate. Drei Monate [...]

Julia betrachtete Adam von [...]

Adam war am Telefon [...]

Sowohl TV4 als auch [...]

Er hatte sich nie [...]

Julia war von dem [...]

Vincent hatte nichts von [...]

NOCH VIER TAGE

Mina betrachtete sich im [...]

Christer stand am Kaffeeautomaten [...]

Ich kann mir vorstellen, [...]

Er saß mit Mina [...]

Sie fand die Notaufnahme [...]

Christer legte auf. Er [...]

Ruben trat frustriert gegen [...]

Sie gaben Tor die [...]

Seit zwei Jahren besuchte [...]

Klopf, klopf.«

Entschuldige bitte meine Verspätung!«

Julia!« Mit hochrotem Gesicht [...]

NOCH DREI TAGE

Natürlich bin ich gerne [...]

Adam sah auf den [...]

Vincent warf einen Blick [...]

Mina suchte nach dem [...]

Mithilfe der kleinen Kamera, [...]

Julia, warte!«

Julia blieb stehen, obwohl [...]

Das Gondolen war voll. [...]

NOCH ZWEI TAGE

NOCH ZWEI TAGE

DER LETZTE TAG

Da der nächste U-Bahnhof [...]

Julia ließ ihren Blick [...]

Lebt er noch?«

Mina bremst vor dem [...]

Gib mir die Pistole, [...]

Er hätte sie nie [...]

Mina saß neben Vincent [...]

Harry war noch bei [...]

Vincent wurde wach, weil [...]

DER ERSTE TAG

Dieser Gedankenleser?«, fragte der [...]

Als Mina ankam, stand [...]

EIN JAHR SPÄTER

Mit sechs Magnums in [...]

Dank

Zahlengrafik

NOCH VIERZEHN TAGE

Während des Essens betrachtete Niklas seine Familie. Es war erst der siebzehnte Dezember, und eigentlich fand er, es sei noch zu früh, um die Wohnung weihnachtlich zu schmücken, aber seine Tochter und er hatten trotzdem schon damit angefangen. Auf dem Esstisch standen zwei kleine Weihnachtsmänner. Da ein Weihnachtsbaum vermutlich nicht bis zum Heiligen Abend überlebt hätte, wenn er jetzt schon hereingeholt worden wäre, hatten sie die Lichterkette um die Esstischlampe gewickelt.

Seine Tochter trug einen Pullover mit blinkenden LEDs in Rot und Grün, und er selbst hatte sich dem feierlichen Anlass zu Ehren eine Krawatte in weihnachtlichem Rot umgebunden. Sein Anzug war natürlich grau. Wie immer. Man musste es ja nicht übertreiben.

Wieder führte er die Gabel zum Mund. Diesmal hatte er ein Stück gegrillte Ananas aufgespießt, mit Ingwer, Chili und Honig mariniert. Eigentlich hatte Obst seiner Ansicht nach in einer ordentlichen Mahlzeit nichts zu suchen, aber seine Tochter liebte Ananas. Vermutlich zog sie die Frucht sogar dem saftigen Kobesteak vor. Ihm sollte es recht sein, dann blieb eben mehr für ihn übrig.

Die anderen am Tisch waren genauso ins Essen vertieft wie er selbst und schienen daher gar nicht zu bemerken, dass er sie beobachtete. Und das war auch gut so, denn er sah vermutlich ein wenig dümmlich aus. Er konnte jedoch nichts dagegen machen. Er war erfüllt von – anders ließ es sich nicht ausdrücken – Zufriedenheit. Das Gefühl war ein völlig neues für ihn, und letztendlich hatte gar nicht so viel gefehlt.

Beruflicher Erfolg war nicht ausschlaggebend gewesen, wobei er, nebenbei gesagt, extrem erfolgreich war.

Auch die Wohnung in der Linnégatan in Östermalm hätte er nicht unbedingt gebraucht, auch wenn er durchaus zu schätzen wusste, wie gut er und seine Tochter es hier hatten.

Sie drei an einem Tisch. Das hatte ausgereicht.

Der Anschlag, der vor einem halben Jahr auf ihn verübt worden war und es sogar bis in die Klatschspalten geschafft hatte, war Schnee von gestern. Natürlich stand er immer noch unter erhöhtem Schutz. Es würde auch noch ein halbes Jahr dauern, bis sein Arbeitgeber dies nicht mehr für nötig hielt. Aber Personenschützer gehörten jetzt schon so lange zu seinem Leben, dass er sie als Teil der Familie betrachtete.

Familie.

Im Grunde ging es nur darum. Seine Tochter war sechzehn, bald würde sie eine Frau sein, und er fand, dass er sie ganz gut auf das wahre Leben vorbereitet hatte. Natürlich behauptete sie hin und wieder, ihn zu hassen, aber das gehörte bei Teenagern vermutlich dazu. Ihm genau gegenüber saß seine Ex-Frau. Hätte ihm vor einem halben Jahr jemand gesagt, dass sie demnächst an einem Tisch sitzen würden, hätte er ihn für verrückt erklärt. Doch das Klischee traf zu. Die Zeit heilte alle Wunden. Und jetzt waren sie zusammengekommen wie eine dieser modernen Patchworkfamilien und feierten Weihnachten. Ohne sich zu hassen. Sie hatten sich sogar etwas geschenkt.

Mit einem Kloß im Hals sah er aus dem Fenster, damit die anderen seine feuchten Augen nicht bemerkten. Draußen fielen dicke Flocken vom dunklen Himmel. Die Welt sah aus wie eine Postkarte. Das reinste Idyll. In diesem Moment galt das Gleiche für sein Leben. Zum ersten Mal seit Jahren waren seine Schultern nicht verspannt. Und es drohte nicht mal ein Hauch von Kopfschmerz.

Ein Surren in der Diele verriet, dass jemand geklingelt hatte. Erstaunt blickte seine Tochter vom Teller auf.

»Wer ist das?«, fragte sie. »Es ist doch Samstag. Du hast versprochen, heute Abend nicht zu arbeiten.«

»Keine Ahnung«, antwortete er wahrheitsgemäß und stand auf. »Ihr erwartet niemanden?«

Tochter und Ex-Frau schüttelten die Köpfe.

Niklas ging zur Wohnungstür.

»Wenn du einen Weihnachtsmann engagiert hast, kannst du was erleben«, rief ihm seine Tochter hinterher.

Wer auch immer da vor der Tür stand, war von den Wachleuten unten am Eingang einem gründlichen Sicherheitscheck unterzogen worden. Da die Männer ihn nicht angerufen hatten, musste es sich um eine Person handeln, der er auch unvorbereitet gegenübertreten konnte. Auf einem hochauflösenden Bildschirm war ein Mann mit Fahrradhelm und einem roten Stern auf der Brust zu sehen. Auf seinen Schultern lag Schnee. Er war vom Kurierdienst Mehr als Post. Das erklärte alles.

»Ja?« Niklas öffnete die Tür.

»Niklas Stockenberg?«, fragte der Mann etwas außer Atem und überreichte ihm einen kleinen schwarzen Umschlag.

Stirnrunzelnd nahm Niklas den unbeschrifteten Umschlag entgegen und drehte ihn um. Auf der Rückseite stand auch nichts.

»Von wem ist das?«

Doch der Kurier war schon weg. Kaum hatte er das Kuvert übergeben, war er die sechs Stockwerke hinunter und zu seinem Fahrrad geeilt. Vermutlich war er spät dran.

Niklas machte die Wohnungstür zu und öffnete den Umschlag. Ein Stück Papier steckte darin. Er zog es heraus und stellte fest, dass es sich um eine Visitenkarte der nobleren Art handelte. Auf der Karte stand kein Name. Nur eine Art Ziffer war darauf abgedruckt. Eine große Acht, deren untere Hälfte schwarz ausgefüllt war. Darunter stand eine Telefonnummer. Ansonsten war die Karte leer.

Niklas runzelte die Stirn. Mit dem Symbol konnte er nichts anfangen, und auch die Telefonnummer kannte er nicht. Irgendetwas sagte ihm trotzdem sofort, dass er wusste, worum es sich handelte. Dass er mit dieser Nachricht seit Jahren rechnete, obwohl er immer gehofft hatte, sie nie zu Gesicht zu bekommen. Er hatte sie vollständig aus seinem Leben verdrängt. Und war auch jetzt nicht bereit dafür.

Natürlich konnte es auch Werbung sein, versuchte er sich einzureden.

Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszubekommen. Er zog das Handy aus der Innentasche und gab mit zitternden Händen die Nummer ein.

Nach dreimaligem Tuten ertönte eine weibliche Anrufbeantworterstimme.

»Hallo, Niklas Stockenberg. Wir hoffen, Sie waren im nun abgeschlossenen Zeitraum zufrieden mit unseren Diensten. Sie haben noch … vierzehn Tage … eine Stunde … und … zwölf Minuten … Zeit zu leben.«

Er umklammerte das Telefon, als wollte er die Mitteilung zerquetschen. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Es drang kein Sauerstoff mehr bis in seine Lungenbläschen vor. Der Raum drehte sich, und er musste sich an der Wand abstützen, um nicht umzufallen.

Aus der Küche scholl Gelächter, seine Tochter und ihre Mutter amüsierten sich.

Niklas sank auf die Knie. Zum Glück hatte er für den Eingangsbereich einen teuren dicken Teppich gekauft, denn sonst hätte er sich wehgetan, dachte er. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, sich zu konzentrieren. Er hatte gewusst, dass der Tag kommen würde. Er wusste es schon lange. Doch er hatte sich geweigert, sich damit auseinanderzusetzen. Weil er hoffte, verschont zu bleiben.

Es war ja alles so lange her.

»Was machst du, Papa?«, rief seine Tochter. »Ich warne dich. Falls du dich als Weihnachtsmann verkleidest, rufe ich die Presse an.«

Wieder stützte er sich an der Wand ab und stand langsam auf, räusperte sich einige Male und versuchte, tief einzuatmen, damit das Zittern nachließ. Dann ging er in die Küche.

Als die beiden Frauen am Tisch ihn erblickten, hörten sie schlagartig auf zu lachen.

»Wer war das?«, fragte seine Tochter erschrocken. »Du bist kreidebleich.«

Seine Ex-Frau sprang auf.

»Setz dich, bevor du umkippst.« Sie schob ihm einen Stuhl unter.

Sie legte ihm eine Hand auf die Stirn.

»Niemand«, sagte er. »Sie hatten sich in der Tür geirrt.«

»Du bist nass geschwitzt. Hattest du eine Art Anfall? Nimmst du Medikamente? Sollen wir einen Krankenwagen rufen? Niklas, sprich mit mir.«

Er drehte sich zu seiner Tochter und zwang sich zu einem Lächeln.

»Mach dir keine Sorgen, Nathalie«, sagte er. »Mir ist nur ein bisschen schwindelig.«

Nathalie sah ihre Mutter fragend an. Niklas nahm die Hand seiner Ex-Frau von der Schulter und hielt sie einen Moment fest.

»Danke, Mina, aber ich brauche keinen Krankenwagen«, sagte er. »Es ist bald vorbei.«

Die Schneeflocken vor dem Fenster wirkten nicht mehr idyllisch, sondern schienen sich zu einem eisigen Gefängnis aufzutürmen. Er war eingesperrt und vollkommen machtlos.

Es gab kein Entkommen.

In zwei Wochen würde er tot sein. Und dabei hatte er noch so viel vor. Er sah Mina an und wollte etwas sagen, machte den Mund aber wieder zu. Hatte er gut genug für die beiden gesorgt? War er Nathalie ein guter Vater gewesen? Würden sie ihn vermissen? Was würden die Kollegen sagen?

Nathalies Pullover blinkte ihn aufmunternd an.

Er wollte wirklich nicht sterben.

Die Visitenkarte fiel ihm aus der Hand. Er ließ sie liegen.

Seufzend rieb Niklas sich das Gesicht.

Die letzten zwanzig Jahre waren gut gewesen. Sehr gut sogar. Aber es war genau so, wie er eben zu Mina gesagt hatte: Im Handumdrehen würde es vorbei sein.

In vierzehn Tagen, einer Stunde und zwölf Minuten. Wobei es mittlerweile wahrscheinlich nur noch zehn Minuten waren.

Vincent lag in seiner Garderobe im Karlstader Scalateatern auf dem Fußboden. Er hatte die Deckenlampen ausgemacht und nur das warme Licht am Schminktisch angelassen. Die Glühbirnen rund um den Spiegel gehörten zu den wenigen Dingen, die tatsächlich Ähnlichkeit mit den Klischees hatten, die die Leute hinter den Kulissen eines Theaters vermuteten. Natürlich war die allgegenwärtige Gehirnwäsche aus Hollywood auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen, aber er glaubte zumindest, dass er die Lampen mit dem goldenen Schimmer wirklich schön fand.

Die Show hatte vor einer Stunde geendet. Seine Crew war noch vollauf mit dem Abbau unten auf der Bühne beschäftigt. Das gesamte Bühnenbild, alle Requisiten und eine beachtliche Anzahl von Lichtstativen mussten zerlegt und auf zwei große Lkws verladen werden. Obwohl sie dafür vor Ort immer zusätzliche Helfer anheuerten und Tourneechef Ola Fuchs in der schwedischen Unterhaltungsbranche ein alter Hase war, dauerte das fast drei Stunden. Dass zwei glanzvolle Stunden auf der Bühne mindestens sieben Stunden extrem glanzloser Vor- und Nacharbeit einer Menge Leute erforderten, und zwar jeden Abend, wusste niemand.

Vorsichtig korrigierte Vincent seine Liegeposition. Das Linoleum war unglaublich hart. Er warf einen Blick auf das Sofa und sah ein, dass er sich besser darauf gelegt hätte. Aber jetzt war es dafür zu spät. Nun lag er hier.

Das Scalateatern war voller ungerader und daher unangenehmer Zahlen. Auf der Bühne betrug die Deckenhöhe fünf Meter. Sechs wären besser gewesen. Unter der Decke hingen siebzehn Traversen, an denen Scheinwerfer und Bühnenbild befestigt wurden. Auch das war keine gute Zahl. Aber zusammen ergaben fünf und siebzehn zweiundzwanzig, also zwei Zweien. Schon besser. Zwei plus zwei machte außerdem vier, und genauso viele Vorstellungen würde er auf dieser Tournee im Scalateatern geben.

Am Kleiderständer hing sein Bühnenkostüm. Er hatte sich für einen Dreiteiler entschieden, schließlich war es die letzte Vorstellung vor Weihnachten. Drei Teile. Verdammt. Daran hatte er gar nicht gedacht. Der Anzug hatte zudem den Nachteil, dass er nach der Show klitschnass geschwitzt war. Deshalb hatte er sich in der Garderobe sofort bis auf Unterhose und T-Shirt ausgezogen. So sah er auch nicht so tot wie im Anzug aus, falls zufällig jemand hereinkam. Er grinste in sich hinein. Aus Fehlern wurde man klug.

Ein lauter Knall unten auf der Bühne ließ ihn zusammenzucken. Anscheinend war etwas kaputtgegangen. Er hörte Ola fluchen. Allerdings hatte Vincent schon vor langer Zeit begriffen, dass man manche Dinge besser gar nicht wusste. Zu Beginn seiner Karriere hatte er versucht, beim Auf- und Abbau der Bühne zu helfen, weil er mitbekommen hatte, wie über hochnäsige Künstler geredet wurde, die nur ihren eigenen Auftritt im Kopf hatten und ansonsten keinen Finger krumm machten. So einer wollte er nicht sein. Er merkte jedoch schnell, dass er nur im Weg stand. Daher zog er sich mittlerweile zurück, bis die anderen mit der Arbeit fertig waren. Das war für alle Beteiligten das Beste.

Er konnte also noch mindestens eine Stunde auf dem harten Boden liegen bleiben, und das war ein Segen, denn nun waren die Kopfschmerzen mit Wucht zurückgekehrt. Im leeren Wasserglas auf dem Tisch waren noch die Reste eines weißen Pulvers zu erkennen. Aspirin. Seit einiger Zeit ernährte er sich von Kopfschmerztabletten, vorzugsweise mit Koffeinzusatz. Er überlegte, ob er noch eine nehmen sollte, aber sie würde wahrscheinlich nichts bringen. Stattdessen kniff er stöhnend die Augen zusammen und wartete ab, bis die Kopfschmerzen von selbst vergingen. Oder wenigstens nachließen. Während seiner bisherigen Tourneen war er nach den Auftritten nur müde gewesen. Etwas unkonzentriert vielleicht. Die Kopfschmerzen waren neu. Vor ungefähr einem halben Jahr hatten sie angefangen. Zunächst nur nach den Auftritten, aber nach kurzer Zeit schon waren sie zu ständigen Begleitern geworden. Manchmal stärker, manchmal schwächer, aber immer da. Störend. Er konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wie es gewesen war, keine Kopfschmerzen zu haben.

Er weigerte sich, sie für einen Vorboten des Alters zu halten, schließlich wurde er erst in ein paar Monaten fünfzig. Und die Shows waren nicht anstrengender als früher. Blieben also zwei Möglichkeiten. Entweder hatte er einen Hirntumor. Oder es war psychosomatisch. Ersteres konnte er sich kaum vorstellen, da er keine anderen Symptome hatte. Doch warum in aller Welt sollte er die Kopfschmerzen selbst verursachen? Wollte er sich selbst irgendetwas sagen?

Er wünschte, wie so oft, Mina wäre hier gewesen. Ihr wäre sicher etwas Kluges dazu eingefallen. Seit der Sache mit Nathalie und Nova im vergangenen Sommer hatten sie sich nicht oft gesehen. Zum einen hatten beide viel zu tun gehabt, er mit den Vorbereitungen für die Tournee und Mina mit neuen Fällen, zum anderen war die Hemmschwelle, sich abseits von Ermittlungsarbeit zu verabreden, immer noch hoch. Wenn sie sich doch trafen, war die Zeit immer zu kurz. In ihrer Gegenwart waren die Kopfschmerzen erträglicher. Und der Schatten tief in seinem Innern gab Ruhe.

Die Polizeigruppe, der sie angehörte, hatte sich das Vertrauen der Leitung zurückerobert, und daher arbeitete Mina meistens. Hatte sie ausnahmsweise frei, schien Umberto von ShowLife Productions mit sadistischer Treffsicherheit ausgerechnet dann einen von Vincents Auftritten gebucht zu haben. Es war, als hätten sich ihre Chefin und sein Management verschworen, um Vincent und Mina voneinander fernzuhalten.

Und dann war da noch diese andere Geschichte. Das Geheimnis zu Hause in seinem Arbeitszimmer, von dem er ihr nicht zu erzählen wagte. Wenn sie sich sahen, war es auch nicht einfacher. Es war nicht ausgeschlossen, dass seine Kopfschmerzen daher rührten, überlegte er. Im Herbst hatte er intensiv darüber nachgedacht, ohne das Rätsel lösen zu können. Er wusste nur, dass er die enthaltene Drohung nicht auf die leichte Schulter nehmen durfte.

Wer auch immer ihm die erste Nachricht vor einem halben Jahr geschickt hatte, war offenbar eine überaus geduldige Person. Vincent wollte Mina nicht belasten. Er musste das Problem allein lösen.

Trotzdem hoffte er nach jeder Vorstellung, sie wäre gekommen und würde ihn wie bei ihrer ersten Begegnung in Gävle hinter der Bühne erwarten. Was natürlich nie passierte. Sie hatte ihr Leben, er hatte seins. Doch eins stand fest: Sie sahen sich viel zu selten.

Mit seiner Familie hingegen hatte er seit dem Sommer viel mehr Zeit als früher verbracht. Wegen des gebrochenen Fußes war er an Krücken gelaufen und hatte nicht auf die Bühne gekonnt. Er war also, genau wie seine Frau es sich immer gewünscht hatte, zum ersten Mal jeden Abend zu Hause gewesen. Und tagsüber auch. Es stellte sich jedoch schon nach wenigen Tagen heraus, dass ihr das bei Weitem nicht so gut gefiel, wie sie geglaubt hatte. Selbst die Kinder beschwerten sich schon, weil er dauernd zu Hause war.

Und der Schatten in seinem Inneren machte sich wieder bemerkbar.

Als er wieder auf Tournee ging, war niemand so erleichtert wie seine Familie. Seitdem hatte er sein Pensum verdoppelt und gab oft sogar zwei Vorstellungen an einem Tag. Der Trick dabei war, auf Trab zu bleiben. Und nicht an Dinge zu denken, über die man besser nicht nachdachte.

Er sah an die Decke. Konnte man Hirnzellen überstrapazieren? Hatte er seinem Gehirn durch übermäßige Anstrengung Schaden zugefügt? Wahrscheinlich nicht. Er würde sich trotzdem mal erkundigen. In diesem Moment, auf dem Fußboden des Karlstader Scalateatern, hatte er zum ersten Mal das Gefühl, es könnte so sein. Seufzend schloss er die Augen und fügte die Kopfschmerzen der langen Liste von Dingen hinzu, über die er mit Mina reden wollte.

Akai ging mit energischen Schritten den U-Bahnsteig entlang. Er wusste aus Erfahrung, dass niemand Verdacht schöpfte, solange man den Eindruck vermittelte, man hätte etwas Wichtiges zu tun. Die leuchtend gelbe Weste tat das Ihrige dazu. In den Augen der müden Menschen, die um diese Zeit noch unterwegs waren, war er dank der Weste paradoxerweise unsichtbar. Er war nur irgendjemand, der im U-Bahn-Schacht arbeitete. Und zu tun hatte er ja tatsächlich. Nur anders, als die Leute sich das vorstellten.

Am Ende des Bahnsteigs öffnete er eine Gittertür und vermied es sorgfältig, sein Gesicht in die Überwachungskamera an der Decke zu halten. Er war ein ganz normaler Servicetechniker. Sonst nichts. Zum Glück nahmen die Kameras nicht das Scheppern der Sprühdosen in seiner Tasche auf.

Hinter dem Gitter lag die Treppe, die in den Tunnel hineinführte. Eigentlich hielt er sich nicht gern in den Tunneln auf, es war inzwischen zu gefährlich. Die neuen Züge waren viel leiser als die alten. Somit war das Unfallrisiko für die Sprayer höher, die sich trotzdem in die Tunnel hineinwagten.

Außerdem hatte er sich künstlerisch längst weiterentwickelt. Graffiti war etwas für Amateure. Er selbst war mittlerweile Plakat- und Schablonenkünstler im Stil der Neunziger. Streetart war zwar auch nicht mehr das, was sie einst gewesen war, seit die Identität seines Hausgotts Banksy angeblich enthüllt worden war, aber Akai war der Meinung, dass er sie auf ein neues, zeitgemäßes Niveau gehoben hatte. Seine bisherigen Ausstellungen in Gamla stan belegten diese These. Es war geradezu schockierend, wie viel Geld die Leute für seine Werke ausgaben, ohne zu wissen, wer er war. Akai war nur sein Künstlername. Genau wie Banksy hatte er nicht vor, seinen wirklichen Namen preiszugeben. In der Kunstwelt würde er ein Mysterium bleiben.

Als er einige Meter in den Tunnel vorgedrungen war, schaltete er seine Stirnlampe an. Der Tunnel war jetzt breiter, damit die Arbeiter sich in sicherem Abstand von den Gleisen bewegen konnten. Er wusste, dass der Technikraum nicht mehr weit entfernt war. Dort hielt sich die Freundin eines guten Freundes oft auf, weil sie Technikerin bei der MTR war. Akai hatte seinem Freund versprochen, als Geburtstagsüberraschung für dessen Liebste den ganzen Raum zu dekorieren. Am nächsten Morgen sollte sie nicht mehr von Betonmauern umgeben sein, sondern in einen Wald eintreten. Bäume und Sträucher würden die Wände bedecken, und dazwischen würden Trolle kauern, die von John Bauer gemalt hätten sein können. Es würde großartig werden.

Er ging an einem Bild vorbei, das er bei einem seiner früheren Besuche im Tunnel zurückgelassen hatte. Es stellte eine seiner Bekannten hier unten dar. Irgendjemand hatte das Gesicht dieser Freundin mit »Sussi war hier« überkritzelt. Banausen.

Unter seinen Füßen knirschte der Schotter. Die Tür zum Technikraum erschien im Lichtkegel. Er ging um einen großen Sandhaufen herum – und blieb stehen. Irgendetwas war seltsam. Er drehte sich zu dem Haufen um, der ihm fast bis zur Hüfte reichte. Dass im Tunnel Sand herumlag, war an und für sich nicht ungewöhnlich, hier lag alles Mögliche herum. Es ragte jedoch an mehreren Stellen etwas Weißes aus dem Haufen heraus. Das Weiße erinnerte ihn an etwas, das er in einem Film gesehen hatte, aber er konnte es nicht einordnen. Er fegte ein bisschen Sand zur Seite und wich erschrocken zurück.

Es waren Knochen.

Irgendjemand musste sich einen makabren Scherz erlaubt haben. Doch welches Tier hatte so große Knochen? Als er einen davon herauszog, kam der Sand ins Rutschen und entblößte die oberen Teile. Im Schein der Taschenlampe grinste ihn ein Schädel an.

Ein menschlicher Schädel.

Akai wusste nicht, ob er zuerst schrie oder losrannte. Aber er tat definitiv beides.

NOCH DREIZEHN TAGE

Fasziniert betrachtete Mina das Butterbrot. Sie hatte tatsächlich Fortschritte gemacht. Früher hatte sie außer einem luftdicht versiegelten Joghurt nichts zum Frühstück essen können. Jetzt nahm sie ein Butterbrot zu sich, das mit allem Möglichen in Berührung gekommen sein konnte. Und das Abendessen gestern bei Niklas hatte sie auch unbeschwert genossen. Obwohl es sie natürlich beunruhigt hatte, dass er plötzlich so durcheinander gewesen war. Aber Nathalie hatte ihr versichert, dass so etwas nicht oft vorkam. Außerdem hatte er sich schnell wieder gefangen. Hoffentlich nahm er sich ihren Rat zu Herzen und ging heute Morgen gleich zum Arzt.

Ein Abendessen mit Tochter und Ex-Mann also. Die Wege des Lebens waren doch wahrhaftig unergründlich. Sie hätte lügen müssen, wenn sie behauptet hätte, dass es bis jetzt ein gerader Weg gewesen war. Sie und Nathalie hatten eher Cha-Cha-Cha getanzt, zwei Schritte vor und einen zurück. Auf diese Weise waren sie allmählich an den Punkt gelangt, an dem sie sich jetzt befanden. Sie konnten zu dritt zu Abend essen.

Mina biss von dem Brot ab und ließ sich die Kombination aus Butter, Käse und Paprika auf süßem Weißbrot schmecken, obwohl ihr klar war, dass sie von den Nährstoffen her genauso gut ein Stück Kuchen hätte essen können. Aber es war schließlich Weihnachten.

Sie fragte sich, wie Vincent feiern würde. Mit seiner Familie, das stand fest, aber veranstalteten sie ein richtig großes Fest mit vielen Verwandten oder fand Weihnachten bei ihnen nur im kleinen Kreis statt? Sie fühlte einen Stich und schob den Gedanken beiseite, dass dieser Stich möglicherweise Eifersucht war. Sie vermisste ihn. Seit er Nathalie im vergangenen Sommer das Leben gerettet hatte, hatten sie nicht viel Kontakt gehabt. Zum einen war keiner von ihnen besonders begabt in Sachen Small Talk, zum anderen war Mina vollauf damit beschäftigt gewesen, langsam, aber sicher eine stabile Beziehung zu ihrer Tochter aufzubauen. Auch Peders Tod hatte eine Leerstelle hinterlassen, die betrauert werden wollte.

Bei dem Gedanken an den Kollegen kamen ihr die Tränen.

Und dann war da noch die nicht ganz unwesentliche Frage, was sie füreinander waren. Sie dachte öfter an Vincent, als ihr lieb war. Doch er hatte, wie gesagt, Familie. Und eine sehr eifersüchtige Ehefrau. Mina wollte nicht stören.

Daher hatte sie sich in ihre Arbeit vergraben und das als Vorwand genutzt, um keine Zeit für ein Treffen zu haben.

Sie mobilisierte all ihre Willenskraft, um sich auf das Frühstücksfernsehen zu konzentrieren, wo Niklas Strömstedt soeben das Studio betreten hatte und nun offenbar »Zünd eine Kerze an« singen sollte. War der Song nicht ursprünglich von der Band Triad? Sie versuchte krampfhaft, sich an die beiden anderen Männer zu erinnern, sah aber immer nur Orup und Anders Glenmark vor sich, die gemeinsam mit Niklas Strömstedt die Band GES bildeten. Die Musik setzte ein, im Hintergrund brannten Kerzen, und sie musste widerwillig zugeben, dass sie in eine Art von Weihnachtsstimmung kam. Eigentlich hasste sie Weihnachten. In ihrer Kindheit war Weihnachten alles andere als friedlich gewesen. Als sie zu ihrer Großmutter zog, wurden die Feiertage zwar ruhiger, aber festliche Stimmung kam auch dort nicht auf.

Mina stand auf und holte sich noch einen Kaffee. Während sie sich wieder hinsetzte, warf sie einen Blick auf ihr Handy. Vielleicht sollte sie Vincent wenigstens per SMS einen Weihnachtsgruß schicken. Die Frage war nur, was er da hineinlesen würde. Andererseits konnte man »Frohe Weihnachten« gar nicht missverstehen. Frohe Weihnachten war eindeutig. Gute Freunde wünschten sich frohe Weihnachten. Das war alles.

Sie griff nach ihrem Handy und begann zu tippen. Löschte die Nachricht. Schrieb sie noch einmal. Löschte. Schrieb. Fügte hinter Frohe Weihnachten ein Emoji hinzu, überlegte es sich aber sofort anders. Vincent war kein Typ für Smileys. Sie löschte das lächelnde Gesicht, ließ aber Frohe Weihnachten stehen. Dann drückte sie auf Senden.

Als Niklas Strömstedt mit dem Singen fertig war, bereute sie die SMS bereits.

Es schneite seit über einer Woche. Vincents Grundstück und die Bäume rings um das Haus in Tyresö sahen aus, als wären sie von einer dicken Schicht Watte bedeckt. Als Kind hatte er Schnee geliebt, aber mittlerweile war das anders. Möglicherweise hing es mit dem Schneeschieber in seinen Händen zusammen. Wenn man sich selbst damit herumschlagen musste, fand man Schnee nicht mal halb so erfreulich.

Außerdem war er wie gerädert von der Fahrt im Nightliner, der ihn vom Scalateatern in Karlstad zurück nach Stockholm gebracht hatte. Erst kurz bevor der Tourbus mit den vielen Schlafkojen auf der Stockholmer Barnhusbron gehalten hatte, war er eingeschlafen. Zum Glück hatte er noch drei Stunden weitergeschlafen, bevor er vom Busparkplatz ein Taxi nach Hause nahm.

Vincent warf einen Blick zum Küchenfenster, hinter dem er seine Familie frühstücken sah. Er hatte versprochen, den Weg frei zu schaufeln, bevor Aston und Rebecka zur Schule mussten. Er rammte die Schaufel in den Schnee und wuchtete so viel, wie er konnte, auf den Rasen, der sich irgendwo unter all dem Weiß befinden musste. Ein rechteckiges Stück des Sandwegs offenbarte sich. Immerhin ein Anfang. Andererseits wurde auch deutlich, wie viel er noch vor sich hatte.

Er richtete sich auf und hielt sich das Kreuz. Vor seinem Mund stand eine weiße Atemwolke. Die Kälte hatte kräftig zugeschlagen. Meistens schneite es erst im Januar, wenn überhaupt. Hier im südlichen Teil des Landes blieb der Schnee selten liegen. Doch dieser Winter schien allen Vorhersagen zufolge einer der schneereichsten und kältesten seit Langem zu werden. Auf seinem Grundstück lagen jetzt schon zwanzig Zentimeter. Dabei war es erst Mitte Dezember. Und er konnte zusehen, wie sein präzises Rechteck mit einer Lage Neuschnee bestäubt wurde.

Sisyphos.

Er war Sisyphos.

Seufzend ging er zurück zur Haustür und lehnte die Schneeschaufel an die Wand. Die Kinder würden eben durch den Schnee stapfen müssen. Bevor er die Tür öffnen konnte, kam ihm Aston in Schneehose und Anorak entgegengestürmt.

»Noch mehr Schnee!«, rief er. »Ich liebe Schnee!«

Aston warf sich rücklings in den Schnee und drückte mit rudernden Armen Schneeengel hinein. Die Kälte machte ihm offenbar gar nichts aus.

»Können wir heute Nachmittag eine Schneehöhle bauen, Papa? Oder ein Iglu? Bitte, Papa!«

Vincent sah die Schneehöhlen vor sich, in denen er als Kind gespielt hatte. Wobei er weniger in als vor ihnen gespielt hatte, weil es sich meist nur um enge Gänge durch die Schneehaufen auf ihrem Hof gehandelt hatte. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Er hatte sich nie getraut, in einen dieser Gänge hineinzukriechen. Aber dass es verlockend war, konnte er nachvollziehen. Sich seine eigene Welt zu bauen, war spannend. Natürlich errichteten sich in gewisser Weise alle ihre eigene Welt, zumindest mental, da jeder die Wirklichkeit anders wahrnahm, aber …

»Papa?« Aston stand vor ihm. »Schneit es in deinem Kopf?«

Vincent blinzelte. Er öffnete den Mund, um Aston zu erklären, dass für eine Schneehöhle noch nicht genug Schnee lag, als Maria plötzlich im Türrahmen stand.

»Hier werden keine Schneehöhlen gebaut.« Energisch verschränkte sie die Arme. »Schneehöhlen sind lebensgefährlich. Und warum um alles in der Welt schippst du Schnee in Lederhandschuhen und einem Mantel von Hugo Boss? Kannst du dir nicht mal praktische Wintersachen anziehen wie ein normaler Mensch?«

Sie hatte natürlich recht. Sowohl was die Höhlen als auch seine Kleidung anging. Allerdings besaß er keine Daunenjacke und keine dieser Pudelmützen, mit denen alle anderen herumzulaufen schienen, und Schneehöhlen konnte man auch so bauen, dass sie nicht einstürzten. Man musste nur in Sechsecken denken, wie Buckminster Fuller, oder Blöcke in einem Bogen anordnen, der den Druck gleichmäßig verteilte. Wenn doch nur mehr Schnee gelegen hätte … Er bemerkte Marias Blick und räusperte sich.

»Deine Mutter hat recht«, sagte er. »Und für ein Iglu bräuchten wir Eis.«

»Super.« Aston warf sich wieder in den Schnee. »Das können wir doch im Gefrierschrank machen.«

»Also, unser Gefrierschrank hat ein Fassungsvermögen von zweihundertachtundsiebzig Litern«, sagte Vincent. »Verteilt auf sieben Ebenen. Die Außenmaße eines Iglus müssten …«

Nun hörte Vincent, wie seine Frau sich hinter ihm räusperte.

»Unser Gefrierschrank ist zu klein«, sagte er. »Und wo hast du überhaupt deinen Rucksack?«

Seufzend ging Maria den Rucksack holen. Aston setzte sich auf und formte einen Schneeball. Vincent wusste, für wen er gedacht war.

»So, jetzt muss ich den Autoschlüssel holen.« Hastig drehte er sich um.

Der Ball traf ihn, bevor er es ins Haus geschafft hatte. Aston juchzte vor Begeisterung.

Maria stand im Flur und packte Astons Wechselwäsche ein.

»Übrigens«, sagte Vincent. »Ich habe versucht, deine Schwester zu erreichen, damit wir die Feiertage mit den Kindern aufeinander abstimmen können, aber ihr Handy scheint ausgeschaltet zu sein. Seit Tagen. Weißt du, ob sie verreist ist?«

Unsanft stopfte Maria eine lange Unterhose in den Rucksack.

»Ich habe schon ewig nicht mehr mit Ulrika gesprochen«, sagte sie schroff. »Um deine Ex-Frau musst du dich selber kümmern.«

»Das versuche ich ja«, sagte Vincent. »Irgendwie passt das gar nicht zu ihr.«

Er ging in die Küche, um den Autoschlüssel zu holen. Währenddessen rief er Ulrika an.

Wieder keine Antwort.

Er schrieb ihr eine SMS und bat sie, sich so bald wie möglich zu melden. Weihnachten war schließlich in wenigen Tagen.

Er selbst hatte eine SMS von Mina bekommen, sah er. Frohe Weihnachten, mehr stand da nicht. Er wusste nicht recht, wie er darauf reagieren sollte. Die Nachricht war eine Art Aufforderung an ihn, ihr Verhältnis zu definieren. Sie befanden sich an einem heiklen Punkt, und das Pendel konnte in beide Richtungen ausschlagen. Wenn er genauso knapp antwortete, bestätigte er, dass sie von nun an nur einen oberflächlichen und höflichen Kontakt halten würden. Wenn er etwas Persönlicheres zurückschrieb, stand ein für alle Mal fest, dass er nicht nur beruflich mit ihr zu tun haben wollte. Und damit wäre die Büchse der Pandora geöffnet, aus der all die Fragen nach dem, was er wirklich wollte, herausströmen würden.

Frohe Weihnachten.

Verdammt.

Nachdem er noch ein wenig hin- und herüberlegt hatte, steckte er das Handy in die Tasche. Er würde später antworten, wenn er mehr Zeit zum Nachdenken hatte.

»Beeil dich, Papa«, rief Aston von draußen. »Sonst komme ich zu spät!«

»Gleich!«, rief er zurück.

Eine halbe Sekunde lang zog er in Erwägung, Ulrikas Kollegen anzurufen und zu fragen, ob sie vielleicht krank war. Aber Maria würde es ganz und gar nicht gefallen, wenn er ihrer Schwester so viel Aufmerksamkeit schenkte. Ulrika würde sich schon melden, wenn sie Gelegenheit hatte.

Er schnappte sich den Autoschlüssel, ging noch einmal zum Arbeitszimmer und fasste auf die Klinke. Aus Rücksicht auf seine Familie schloss er die Tür seit etwa einem Monat ab. Falls die anderen zufällig sahen, was er da drinnen aufbewahrte, würden sie nicht nur Fragen stellen. Sie würden vermutlich auch Angst bekommen. Genau wie er.

Steht denn fest, dass es menschliche Knochen sind?«

Mina zwang sich, ruhig zu atmen. Es gab nicht viele Orte, an denen sie sich noch unwohler fühlte als in den schmutzigen Tunneln des Stockholmer U-Bahn-Netzes. Außerdem war es eiskalt hier. Normalerweise mochte sie es kühl. Aber es gab Grenzen. Ihr Atem verwandelte sich in weißen Dampf, und sie musste sich schlotternd die Arme um den Leib schlagen, um wieder ein wenig warm zu werden.

»Ja, die Kriminaltechniker sind sich ganz sicher. Eine von ihnen ist Osteologin.« Adam unterdrückte ein Gähnen. »Also Knochenexpertin. Sie kennt sich aus. Wenn es anders gewesen wäre, hätten wir auch nicht vor Tau und Tag hier sein müssen. Normalerweise bin ich um diese Zeit noch im Tiefschlaf.«

Seiner Stimme war anzumerken, dass auch ihm die klaustrophobische Enge zu schaffen machte.

»Und es sind wirklich alle Züge auf dieser Strecke gestoppt worden?« Im Lichtkegel der Taschenlampe setzte sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen.

Irgendetwas huschte an ihren Füßen vorüber. Unwillkürlich entfuhr ihr ein Schrei.

Sie biss die Zähne zusammen und zwang sich weiterzugehen, obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlug. In einer gewissen Entfernung sah sie Licht und mehrere Personen. Der Anblick half ihr, das Grauen auszublenden, das sich in der Dunkelheit verbarg. Nun konnte sie sich auf ihre Aufgabe konzentrieren.

»Guten Morgen, Mina. Hallo, Adam.« Der Chef des Technikerteams nickte ihnen zu. »Nicht, dass es ein besonders guter Morgen wäre.«

Er zeigte auf die Reste eines Sandhaufens, den die Techniker mittlerweile fast vollständig abgetragen hatten. Übrig geblieben war nur ein ordentlich gestapeltes Knochenpaket.

»Es sind definitiv Menschenknochen. Auf den ersten Blick scheinen sie alle vom selben Körper zu stammen, aber genau wissen wir das erst, wenn die Rechtsanthropologin sie auf ihrem Tisch ausgebreitet und sortiert hat.«

Mina betrachtete den Knochenhaufen und rieb sich zitternd die Arme. Die Anordnung der Knochen erinnerte an einen Altar. Sie waren feinsäuberlich gestapelt und symmetrisch ausgerichtet. Obendrauf thronte der Schädel. Das Ganze erinnerte an einen Ritus, aber sie wollte sich nicht auf diese Vermutung versteifen. Es war gefährlich, sich schon in einem frühen Ermittlungsstadium auf eine bestimmte Einschätzung festzulegen. Um ehrlich zu sein, war sie etwas verwundert gewesen, dass ausgerechnet ihre Gruppe mit der Sache betraut worden war. Alte Knochen waren eigentlich nicht ihre Kompetenz.

»Können wir die Person identifizieren?« Sie trat einen Schritt zur Seite, um Adam Platz zu machen.

Sie waren sorgsam darauf bedacht, den Tatort nicht zu kontaminieren. Obwohl sie wusste, dass sie den Impuls besser unterdrückt hätte, sah sie sich um. Die Scheinwerfer verströmten helles Licht. Wieder stieg Panik in ihr auf. Überall lag Müll, und in den dunklen Ecken bewegte sich so einiges. Sie nahm an, dass es Ratten waren, und erschauerte.

Sie war nicht zum ersten Mal hier unten. Als junge Polizistin hatte sie mehrmals Verdächtige in den Tunneln verfolgt. Sie wusste, dass es Menschen gab, die hier lebten. Fernab von der Wirklichkeit führten sie ein Schattendasein, das sie sich nicht einmal ausmalen konnte.

Der Techniker redete auf sie ein, aber sie konnte ihren Blick nur mit Mühe von den Bewegungen außerhalb des Scheinwerferlichts losreißen.

»Wir haben keinerlei Hinweise auf die Identität der Person gefunden. Keine Kleidungsstücke. Keinen Ausweis. Möglicherweise befinden sich irgendwo in dem ganzen Dreck hier DNA-Spuren, die sich mit einem möglichen Täter in Verbindung bringen lassen. Daher werden wir alle Gegenstände im Umkreis der Knochen einsammeln und ins Labor schicken. Allerdings glaube ich, dass alles, was wir hier finden werden, von dem Künstler stammt, der den Fund gemeldet hat. Immerhin ist das Gebiss noch vorhanden, was die Identifizierung um einiges erleichtert. Und ein Oberschenkelknochen weist eine traumatische Fraktur und mehrere verheilte Frakturen auf.«

»Ein Oberschenkelhalsbruch …«, sagte Mina nachdenklich. »Wie lange liegen die Knochen denn schon hier?«

»Schwer zu sagen. Das genaue Alter zu bestimmen, ist Mildas Job, aber ich würde auf einige Monate tippen. Ganz frisch sehen die Knochen nicht aus. Aber, wie gesagt, ich kann nur aus der Hüfte schießen. Für die Datierung ist Milda zuständig«, sagte der Techniker.

Mina sah Adam an, dass er den möglichen Zusammenhang ebenfalls erkannt hatte. Mit tiefen Furchen auf der Stirn starrte er den Knochenhaufen an. Dann hellte sich sein Blick auf, und er wandte sich Mina zu.

»Du denkst, das ist …«

»Ja, das tue ich«, sagte Mina. »Ich rufe Julia gleich an.«

Schweigend betrachteten sie den Knochenhaufen. Falls es sich tatsächlich um die sterblichen Überreste der vermuteten Person handelte, würde in den Medien bald die Hölle los sein.

Ruben erwachte fröstelnd und nass geschwitzt. Im Traum hatte er Peders Gesicht vor sich gesehen. Das passierte ihm in letzter Zeit öfter. Peders Haut war grau gewesen, und ein Großteil seines Hinterkopfs fehlte. Doch das war nicht das Unheimliche an dem Traum. Das Unheimliche war der Blick, die Augen, die Ruben vielsagend anstarrten und direkt in ihn hineinzublicken schienen. Davon war er aufgewacht. Peder brauchte gar nichts zu sagen, denn Ruben verstand die Botschaft auch so.

Es kann jederzeit vorbei sein.

Das hatte Peder ihn gelehrt. Das Leben bot zwei Möglichkeiten, und beide waren schrecklich. Entweder endete es, bevor Ruben bereit war. Oder er wurde alt. Jeden Tag ein bisschen älter. Er holte tief Luft und rieb sich das Gesicht. Alt werden war zum Kotzen. Fast noch schlimmer als die Alternative.

Im Dunkeln regte sich etwas, und neben ihm raschelte das Bettzeug. Verdammt. Sie war noch da. Das war das Problem, wenn man junge Leute mit nach Hause nahm. Die über Dreißigjährigen hatten zumindest kapiert, dass es für alle Beteiligten am besten war, im eigenen Bett aufzuwachen und sich nie wiederzusehen. Die Jungen hielten es noch für eine gute Idee, es sich am nächsten Morgen zusammen gemütlich zu machen. Sie glaubten an gemeinsames Frühstücken und solchen Unsinn. In Wahrheit war es immer ein Fehler, sich hinterher bei Tageslicht gegenüberzustehen.

Vor allem, wenn dieses Tageslicht sein Alter offenbarte.

Er warf einen Blick auf die Uhr und fluchte leise. Anscheinend hatte er am Vorabend versehentlich seinen Handywecker ausgestellt. Er würde zu spät zur Arbeit kommen. Außerdem hatte Julia schon versucht, ihn zu erreichen. Wegen eines Leichenfunds am späten Abend. Während Ruben vor dem Riche jemanden abgeschleppt hatte, war unten in der U-Bahn etwas passiert. Na ja. Darum sollten sich erst mal die anderen kümmern.

Plötzlich bekam er einen Wadenkrampf und musste sich auf die Lippe beißen, um nicht laut aufzuschreien. Er zog das Bein an, um es zu massieren, achtete aber sorgfältig darauf, die schlafende Frau neben ihm nicht zu wecken. Er klopfte auf den steinharten Muskel. Diese Krämpfe hatte er schon seit einer Weile. Wenn er abends nicht genug Wasser trank, hatte er am nächsten Morgen Krämpfe. Trank er genug, musste er nachts dreimal pinkeln.

Wie ein alter Mann.

Als Teenager würde seine Tochter Astrid Halbwaise sein.

Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Was war er doch für ein Idiot. Nicht nur, weil er nicht altern wollte, sondern auch, weil er wieder auf die Jagd nach dem anderen Geschlecht ging. Seine Psychologin Amanda schien ihn am liebsten ohrfeigen zu wollen, als er ihr davon erzählte. Aber was sollte er machen? Amanda war noch jung und konnte diese Dinge allein deswegen schon nicht verstehen.

Er streckte die Hand aus und nahm zwei Kapseln vom Nachttisch. Sie enthielten ein Nahrungsergänzungsmittel, das er im Internet entdeckt hatte. Angeblich half es seiner Potenz auf die Sprünge und kurbelte die Testosteronproduktion an. Vermutlich der reinste Bluff. Trotzdem hatte er ein Jahresabonnement abgeschlossen, um auf der sicheren Seite zu sein. Sechshundert Kronen pro Monat. Er schluckte die Kapseln und hob die Bettdecke, um die Person an seiner Seite zu betrachten. Sie lag auf der Seite, ihre nackte Hüfte war nur wenige Zentimeter von ihm entfernt. Er hatte sie in seinem alten Jagdrevier am Stureplan kennengelernt. Der Abend war ein Reinfall gewesen, und er hatte gerade nach Hause gehen wollen, als er sie draußen stehen und rauchen sah. Er ging zu ihr und fragte sie, ob sie auf Uniformen stehe, und ganz im Gegensatz zum bisherigen Abend funktionierte die Masche diesmal, so abgedroschen sie auch war.

Er legte die Hand auf die makellose Hüfte und spürte die Wärme ihrer Haut. Wenn ihn nicht alles täuschte, hieß sie Emmy. Oder Emily.

Schläfrig rückte sie näher. Julia konnte warten, und Amanda sollte sagen, was sie wollte. Das Leben war kurz. Und es konnte, wie Peder ihm Nacht für Nacht bewies, jeden Augenblick vorbei sein.

Vincent saß in seinem Arbeitszimmer. Das Bücherregal hinter ihm beherbergte mittlerweile eine Art Ausstellung. Seit vor zwei Jahren an die Öffentlichkeit gedrungen war, dass der Meistermentalist an der Lösung des Rätsels um Jane beteiligt gewesen war, schickten ihm begeisterte Fans ständig Denksportaufgaben. Sie schienen davon auszugehen, dass er nichts lieber tat, als Kopfnüsse zu knacken. Allerdings wusste auch kaum jemand, dass er selbst damals beinahe ums Leben gekommen wäre.

Und die Leute hatten ja auch recht. Er löste tatsächlich gerne Rätsel. Wenn er Zeit hatte. Viele waren gar nicht schwer. Oft musste er nur die Briefschnipsel zusammensetzen, aber manchmal war es auch anspruchsvoller. Ein anonymer Absender schickte ihm die obskursten Puzzles und Rätsel, die er je gesehen hatte. Sie waren nicht selbst gemacht, sondern stammten offenbar aus der ganzen Welt. Der Absender verstand eindeutig etwas von seinem Metier. Da jedem Rätsel eine handschriftliche Nachricht beilag, war Vincent sich ganz sicher, dass sie alle von derselben Person stammten.

Im Moment fesselte ihn jedoch eine andere Art von Puzzle. Genauer gesagt, das Puzzle, das er über seinem Schreibtisch an die Wand geheftet hatte. Es war eine ähnliche Mindmap wie die, die Mina bei ihrer ersten Zusammenarbeit in ihrer Wohnung erstellt hatte. Eine Kombination aller Hinweise und Fährten, die mit etwas Glück einen Zusammenhang sichtbar machen und ein bisher verborgenes Muster zum Vorschein bringen würden. An Vincents Wand hingen jedoch keine Bilder und Notizen, sondern Gegenstände. Er hatte sie in chronologischer Reihenfolge aufgehängt und mit beschrifteten Klebezetteln versehen.

Das war der Grund, weshalb kein Familienmitglied mehr sein Arbeitszimmer betreten durfte. Es wäre nicht gut gewesen, wenn sie den Eindruck gehabt hätten, dass er vollkommen den Verstand verloren hatte. Aber noch schlimmer wäre es gewesen, wenn ihnen klar geworden wäre, was der Zeitstrahl in Vincents Augen zu bedeuten hatte: Jemand wollte ihm Böses.

Er betrachtete diese Person jedoch nicht als Feind. Auch nicht als eine Art Rachegott, denn das wäre ja noch furchterregender gewesen. Vielleicht war der Absender sein Schatten, denn jedes Mal, wenn wieder ein Umschlag mit der Post kam, machte sich der Schatten in seinem Inneren bemerkbar. In gewisser Weise schien er sich in der wirklichen Welt manifestiert zu haben und ihn von dort aus zu terrorisieren.

Außerdem hatte ein Schatten die gleiche, wenn auch verzerrte Form wie derjenige, der ihn warf. Die Person, die ihm die Gegenstände an der Wand geschickt hatte, schien genau zu wissen, wie er dachte. Sie hätten seinen Albträumen entsprungen sein können. Der Begriff Schatten traf es ganz gut.

Ganz links hing der laminierte Zeitungsartikel aus Hallands Nyheter mit dem Foto von Vincent als Kind und der Zauberkiste im Hintergrund, in der seine Mutter umgekommen war.

MAGIE MIT TRAGISCHEM AUSGANG!

Er hatte die Überschrift unzählige Male gelesen. Irgendjemand hatte Ruben den Artikel vor zweieinhalb Jahren geschickt und Vincent damit in den engsten Kreis der Tatverdächtigen im Fall der Morde an Tuva, Agnes und Bobban gerückt. Taten, hinter denen seine Schwester gesteckt hatte, wie sich später herausstellte. Er hatte zunächst angenommen, dass Jane auch den Artikel versendet hatte, weil es Teil ihres Plans gewesen war, Vincent die Schuld an den Morden in die Schuhe zu schieben. Aber sie war es nicht gewesen. Der Artikel hatte Vincent jedoch mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Einer Vergangenheit, mit der er sich lange Zeit nicht zu beschäftigen gewagt hatte. Der Polizei war es nur mit Mühe und Not gelungen, das Ganze nicht publik werden zu lassen.

Unter dem Artikel hingen die tetrisförmigen, mit Tesafilm zusammengeklebten Puzzleteile, die ihm seit dem Tod seiner Schwester geschickt wurden. Sie bestanden alle aus Anagrammen der Artikelüberschrift und bildeten auf höchst komplizierte Weise das Wort SCHULD. Er hatte geglaubt, sie kämen von Nova, die ihn auf diese Weise von den Vorfällen bei Epicura ablenken wollte. Nova, die ihre Theorien auf den eigenen chronischen Schmerzen aufgebaut und um ein Haar Nathalies Tod verursacht hätte. Doch als er sie kurz vor ihrem eigenen Tod darauf angesprochen hatte, war ihm klar geworden, dass sie von derselben Person stammen mussten, die Ruben den Zeitungsartikel geschickt hatte.

Von seinem Schatten.

Neben den zusammengeklebten Puzzleteilen hingen die dazugehörigen Weihnachtskarten. Die beunruhigende Mitteilung darauf hatte er noch immer nicht entschlüsselt.

Du lernst es nie. Ich habe keine Lust mehr zu warten.

Vergiss nicht, Du bist selbst schuld.

Du hättest einen anderen Weg gehen können. Hast Du aber nicht. Und daher haben wir Dein Omega erreicht. Den Anfang von Deinem Ende.

 

PS: Falls Du Dich fragst, warum du das Puzzle jetzt schon erhältst, dann ist Omega, wie Du weißt, der 24. Buchstabe des griechischen Alphabets. Und 24 geteilt durch zwei – Du und ich – ergibt natürlich 12, was wiederum 24.12. ergibt. Heiligabend. Frohe Weihnachten im Voraus.

Als Vincent die Nachricht von seinem Omega erhielt, die Andeutung seines Endes, begann er sofort, nach seinem Alpha beziehungsweise seinem Anfang zu suchen. Wenn er herausfand, was angefangen hatte, würde er vielleicht auch besser verstehen, was enden sollte. Sodass er sich schützen könnte.

Er brauchte gar nicht lang zu suchen, um den Anfang zu finden – wieder in dem alten Zeitungsartikel. Auf dem dazugehörigen Foto. Sein Schatten hatte die Konturen der Kiste mit einem Stift nachgezeichnet, und die Linien bildeten ein A. A wie Alpha.

Das, was nun enden sollte, hatte also damals angefangen.

Auf dem Hof in Kvibille.

Mit seiner Mutter.

Als er aufhörte, Vincent Boman zu sein, und Vincent Walder wurde.

Doch anstelle des Endes, das ihm die Nachricht angedroht hatte, kamen mit der Post Geschenke. Weihnachtsgeschenke, obwohl gar nicht Weihnachten war. Das erste war letzten Sommer kurz nach Beendigung des Falls Epicura eingetroffen. Eine Vinyl-Single mit dem Rap »Alpha Omega« der ihm unbekannten Renegades.

Die Platte hing rechts vom Zeitungsartikel an der Wand. Auf einem Zettel darunter standen die wenigen Informationen, die er über die Veröffentlichung gefunden hatte. Der Song war 1987 bei Coolaid Records erschienen, und die Single hatte ein rotes Etikett. Weitere Songs schien die Gruppe nicht herausgebracht zu haben, und der gerappte Text sagte ihm auch nichts. Daher ließ er die Sache auf sich beruhen.

Einen Monat später, im September, erhielt er wieder eine Schallplatte. Diesmal handelte es sich um ein Album von Led Zeppelin, das den Titel Alpha & Omega trug.

Das Album stellte sich als Rarität heraus. Es handelte sich um ein aus vier Schallplatten bestehendes Bootleg, das eigentlich gar nicht zu bekommen war. Er hatte die Platten herausgenommen und die Hülle ebenfalls an die Wand geklebt.

Abgesehen vom Titel hatte das Album noch etwas mit dem vorherigen gemeinsam. Auch dieses war 1987 erschienen.

Vincent wusste genau, wofür die Zahlen standen. Seine Schwester Jane hatte es ihm ins Gedächtnis gerufen, indem sie ihn zu einer Buchseite mit der Nummer 873 geleitet hatte. Achter Juli um drei Uhr. Mamas letzter Sommer. Da war er sieben Jahre alt gewesen und hatte auf einer Wolldecke im Garten gezaubert.

87 stand für achter Juli.

Mamas Geburtstag.

Auf dem Hof in Kvibille.

Schon wieder.

Rechts von den Platten hing das Oktobergeschenk. Da hatte er ein Spielzeugauto bekommen, genauer gesagt einen Opel Omega der deutschen Militärpolizei. Kein Alpha also diesmal, aber der Opel Omega war Jahrgang 1987. Und das Spielzeugauto war natürlich im Maßstab 1:87 gebaut worden.

Mama.

Die Kiste.

Die Illusion.

SCHULD.

Im November hatte der Absender gänzlich auf den Alpha-Omega-Bezug verzichtet und ihm stattdessen ein geradezu überdeutliches Geschenk gemacht. Einen Zauberkasten. Genauer gesagt ein antiquarisches The Great Houdini Magic Starter Set. Diesmal brauchte Vincent nicht einmal zu googeln. Der Gegenstand sprach für sich.

Harry Houdini war der Ausbrecherkönig, der berühmt geworden war, indem er sich aus einem gefüllten Wassertank befreite, derselben Art von Tank, in dem Vincent und Mina bei Jane und Kenneth auf der Nerzfarm beinahe ums Leben gekommen wären. Natürlich spielte das Ganze auch auf seine Mutter und die Kiste an, aus der sie sich nicht hatte befreien können. Noch bevor er die alte Pappschachtel umdrehte, um die Beschreibung auf der Rückseite zu lesen, ahnte er, was draufstand. Es überraschte ihn nicht im Geringsten, dass der Zauberkasten im Jahr 1987 hergestellt worden war.

Seitdem hatte Vincent keine Geschenke mehr bekommen, und er wollte auch keine haben. Sein Schatten hatte sich nämlich schon vor einem halben Jahr zu den bevorstehenden Tagen geäußert.

Omega … der 24. Buchstabe im griechischen Alphabet … 24 geteilt durch zwei – du und ich – ergibt 12 … 24.12. … Heiligabend … Frohe Weihnachten im Voraus.

Du und ich.

Heiligabend.

Heute war der achtzehnte. Nur noch sechs Tage bis Weihnachten. Was immer diese Person im Sinn hatte, würde dann beginnen. Sein Omega. Und er wusste immer noch nicht, was das bedeutete.

Wieder sah Vincent die Geschenke an der Wand an.

Coolaid Records. Der Experte, den Mina und er besucht hatten, um sich über Sekten zu informieren, hatte ihnen erzählt, dass die Sektenmitglieder in Jonestown kollektiven Selbstmord begangen hatten, indem sie vergifteten Traubensaft der Marke Kool-Aid tranken. Ähnlich hatten es Novas Anhänger in der Östra Real gemacht.

Ein Bootleg, an das man so gut wie gar nicht herankam. Auch wenn die Musikrichtung nicht hundertprozentig sein Geschmack war, wusste irgendjemand, dass er Schallplatten sammelte.

Das Polizeifahrzeug. Vermutlich eine Anspielung auf Mina.

Ein Zauberkasten für Kinder. Der Schatten wusste also, dass er als Kind Zauberkunststücke geliebt und als Erwachsener beinahe mit Mina in Houdinis Wassertank ertrunken wäre.

Die Bezüge waren nicht zu übersehen. Wer auch immer dahintersteckte, kannte sich nicht nur mit Vincents Lebensgeschichte aus, sondern wusste auch über seine Zusammenarbeit mit der Polizei Bescheid.

Es war wirklich an der Zeit, mit Mina zu sprechen. Er hätte es längst tun sollen, doch irgendetwas hielt ihn davon ab, seit er vor einem halben Jahr die Nachricht und das Tetrispuzzle bekommen hatte. Eine leise Stimme in seinem Inneren flüsterte, er habe das, was kommen würde, eventuell verdient. Der Schatten sage die Wahrheit, und er sei in gewisser Weise tatsächlich selbst schuld.

Die Frage war nur, woran.

Wie war es denn für dich im Tunnel?«

Der mitfühlende Tonfall von Mildas Assistent Loke ging ihr im ersten Moment auf die Nerven, aber dann zuckte Mina mit den Schultern. Sie war es gewohnt, dass ihre etwas … spezielle Art Gesprächsthema war.

»Bei der Arbeit habe ich meine Ängste unter Kontrolle«, erwiderte sie trocken.

Loke schien zu verstehen, was sie meinte.

»Bei uns ist es so ähnlich«, sagte er. »Wir treten einen Schritt zurück, wenn wir arbeiten. Es ist nicht so, dass wir vergessen würden, dass wir einen Menschen vor uns haben. Aber wir bleiben auf Distanz, um nicht von unseren Gefühlen überwältigt zu werden.«

»Ganz genau.« Mina lächelte ihn an.

So ein langes Gespräch hatte sie mit dem schweigsamen Assistenten von Milda noch nie geführt.

»Sie kommt gleich. Ich glaube, sie telefoniert mit ihrem Ex-Mann«, sagte Loke entschuldigend, während er sorgfältig Sezierbesteck auf einem sterilen Tablett anordnete.

Da das Schweigen förmlich von den kahlen Wänden widerhallte, überlegte Mina fieberhaft, wie sie ihm ein Ende bereiten konnte.

»Wie sieht denn dein nächster Karriereschritt aus? Hast du schon eine Stelle als Rechtsmediziner in Aussicht?«

Sie hätte sich ohrfeigen können. Sie klang wie eine Lehrerin, die einen Teenager vor sich hatte. Ein Lächeln huschte über Lokes Gesicht, während er behutsam ein Skalpell auf dem Tablett platzierte.

»So läuft das wahrscheinlich normalerweise«, sagte er.

Fasziniert stellte Mina fest, dass er ein Instrument nach dem anderen ablegte, ohne dass das Metall auch nur im Geringsten klirrte.

»Meinen Ambitionen sind allerdings begrenzt. Ich bin nämlich zufrieden.«

Er zuckte mit den Schultern. Mina betrachtete ihn interessierter als zuvor. Dieses Wort hörte sie selten. Zufrieden.

»Es geht mir gut. Jegliche Veränderung würde nur ein gut funktionierendes Gleichgewicht ins Wanken bringen. Meine Arbeit gefällt mir, ich brauche weder einen höheren Status noch mehr Einkommen … da ich, wie dir möglicherweise zu Ohren gekommen ist, geerbt habe. Ich bin ein rechtsmedizinischer Assistent mit Vermögen. Eine Art Widerspruch in sich, daher auch die Gerüchte. Ich habe alles, was ich will. Und das können nicht viele von sich behaupten. Zufriedenheit ist ein seltenes Gut. Daher betrachte ich es als Geschenk, mein Glück auch zu schätzen zu wissen. Ehrgeiz würde alles durcheinanderbringen.«

Mina blieb stumm. Sie war vollauf damit beschäftigt, das Gesagte zu verdauen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er mehrere Sätze hintereinander von sich gegeben hatte. In einem seltsam hochtrabenden Tonfall. Andererseits hatte sie schon lange nicht mehr etwas so Kluges gehört. Unwillkürlich fragte sie sich, wie zufrieden sie eigentlich war. Mit dem Leben. Ihrem Leben.

»Die Knochen sehen erstaunlich gut aus.« Bewundernd sah Loke das Skelett an.

Mina durchforstete ihr Gehirn nach einer passenden Antwort, wurde aber nicht fündig. Loke zeigte auf die Knochen und fuhr fort.

»Sieh mal. Sie sind vollkommen sauber. Es finden sich keinerlei biologische Spuren daran. Das Fleisch ist restlos verschwunden. Das ist äußerst ungewöhnlich. Und auch etwas merkwürdig …«

»Hallo! Entschuldige die Verspätung! Es gab ein wenig … Ärger. Aber nun bin ich ja da! Wie ich hörte, hast du schon eine Vermutung, wer die Person aus dem Tunnel ist. Alle Achtung.«

Milda kam herein und übernahm Lokes Platz am Tablett mit dem Sezierbesteck. Loke selbst zog sich diskret zurück. Mina deutete auf die Knochen und nickte.

»Da, der Riss im Oberschenkel. Wir fahnden seit vier Monaten nach einer vermissten Person des öffentlichen Lebens. Jon Langseth. Er ist vor einigen Jahren bei einer Besteigung des Mount Everest gestürzt.«

»Ach ja, ich erinnere mich. Wurde die Sache nicht kontrovers diskutiert, weil bei seiner Bergung ein Sherpa zu Tode kam?«

»Genau. Und als er verschwand, wurde die Geschichte wieder aufgewärmt. Daher habe ich sofort geschaltet, als ich die verheilte Fraktur im Oberschenkelhals entdeckt habe. Ich kann mich natürlich auch täuschen. Viele Menschen brechen sich das Bein. Aber man könnte der Sache ja zumindest mal nachgehen.«

Milda nickte.

»Ich habe gehört, was du gesagt hast. Als Erstes kontaktiere ich den forensischen Zahnmediziner, damit er herkommt und das Gebiss fotografiert. Möglicherweise gibt es eine Übereinstimmung mit seiner Kartei. Und ich untersuche in der Zwischenzeit das Skelett.«

»Klingt gut. Du weißt ja, wo du mich findest.«

»Und wenn nicht, stehst du sowieso bald wieder auf der Matte.« Milda lachte, aber ihr Lachen reichte nicht bis zu den Augen.

Sie sah müde aus, und Mina war kurz davor, sie zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Doch dann ließ sie es bleiben. Private Dinge überforderten sie. Bevor sie die Tür hinter sich zumachte, sah sie, wie Milda sich für einen Moment erschöpft an den Untersuchungstisch lehnte. Dann gab sie sich einen Ruck und griff nach einem Paar Gummihandschuhen.

Sara Temeric sah von ihrem Computer auf. Teresa, mit der sie bei der Nationalen Operativen Abteilung am engsten zusammenarbeitete, stand vor ihr. Bevor Sara in die USA gegangen war, war sie Teresas Chefin gewesen. Seitdem hatte sich beruflich bei beiden einiges verändert, aber zu Teresa hatte sie immer noch am meisten Vertrauen.

»Was weißt du über Ammoniumnitrat?«, fragte Teresa ohne Umschweife.

Sara kniff verwundert die Augen zusammen.

»Äh, das ist eine Art Salz.« Sie streckte die Arme zur Seite, weil sie vom langen Tippen steif geworden waren. »Es wird als Dünger benutzt, weil es so viel Stickstoff enthält. Interessanterweise entsteht Lachgas daraus, wenn man es erhitzt. Allerdings wird das Ammoniumnitrat bei der Herstellung von Dünger meistens verdünnt, weil bei hoher Konzentration Explosionsgefahr besteht …«

Sara verstummte. Sie wusste genau, worauf Teresa hinauswollte. Sie hätte selbst darauf kommen müssen.

»Sorry«, seufzte sie. »Ich hatte mir gerade überlegt, dass Zachary und Leah diesen Sommer mal einen schwedischen Bauernhof zu Gesicht bekommen sollten, solange es sie noch gibt. Die Bauernhöfe, meine ich. Daher die Assoziation. Eigentlich interessieren wir uns hier bei der NOA nicht für Dünger.«

Sie klappte ihren Laptop zu, stützte die Ellbogen auf und legte das Kinn in die Hände. Ihr amerikanischer Ex-Mann bezeichnete diese Haltung als engaging pose. Er hatte für alles einen Begriff. Nur warum er sich entschieden hatte, in den USA zu bleiben, konnte er nicht erklären.