Kuckuckskinder - Camilla Läckberg - E-Book
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Kuckuckskinder E-Book

Camilla Läckberg

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Beschreibung

Tatort Fjällbacka - die Erfolgsserie geht weiter!  Fjällbacka wird kurz hintereinander von zwei Verbrechen erschüttert. Ein berühmter Fotograf wird brutal in einer Kunstgalerie ermordet und auf die Familie des erfolgreichen Schriftstellers Henning Bauer ein Anschlag verübt. Die Ermittlungen von Kommissar Patrik Hedström und seinem Team laufen ins Leere. Doch Erica Falck, die gerade einen Mordfall im Stockholm der Achtzigerjahre recherchiert, stellt plötzlich eine Verbindung zur Gegenwart her. Und zu Patriks Fall. Denn eiskalte Lügen hallen lange nach. Schriftstellerin Erica Falck und Kommissar Patrik Hedström sind zurück! Skandinavische Spannung vom Feinsten.

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Seitenzahl: 525

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Kuckuckskinder

Die Autorin

Camilla Läckberg, Jahrgang 1974, stammt aus Fjällbacka. Sie hat weltweit über 30 Millionen Krimis und Thriller verkauft und ist Schwedens erfolgreichste Autorin. Mit ihrem Unternehmen »Invest In Her« fördert sie Projekte junger Frauen. Camilla Läckberg lebt mit ihrer Patchworkfamilie in Stockholm.

Das Buch

Fjällbacka wird kurz hintereinander von zwei Verbrechen erschüttert. Ein berühmter Fotograf wird brutal in einer Kunstgalerie ermordet und auf die Familie des erfolgreichen Schriftstellers Henning Bauer ein Anschlag verübt. Die Ermittlungen von Kommissar Patrik Hedström und seinem Team laufen ins Leere. Doch Erica Falck, die gerade einen Mordfall im Stockholm der Achtzigerjahre recherchiert, stellt plötzlich eine Verbindung zur Gegenwart her. Und zu Patriks Fall. Denn eiskalte Lügen hallen lange nach.»Kuckuckskinder ist unglaublich spannend, einer von Camilla Läckbergs besten Krimis - und trotz aller Dunkelheit voller sarkastisch-liebenswertem Humor.« Skånskå Dagbladet

Camilla Läckberg

Kuckuckskinder

Erica Falck ermittelt

Aus dem Schwedischen von Katrin Frey

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Gökungen bei Forum, Stockholm.

List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH© 2022 by Camilla Läckberg© der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: bürosüd°, MünchenUmschlagabbildung: Getty Images / © SusanGaryPhotographyAutorinnenfoto: © Elisabeth TollE-Book powered by pepyrus

ISBN 978-3-8437-2880-5

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Mittwoch, eine Woche später

Donnerstag

Zwei Wochen später

Nachwort und Dank

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Samstag

Widmung

Für Simon

Samstag

Er betrachtete die Fotografien. Natürlich war Vivian verärgert, weil er entschieden hatte, dass sie nicht zu der Feier gehen würden, aber es ging nicht anders. Die Vergangenheit hatte ihn schließlich doch eingeholt, und nun musste er einfach nach der Wahrheit suchen. Vielleicht hätte er das längst tun sollen.

Was damals passiert war, hatte all die Jahre wie ein Mühlstein an seinem Hals gehangen. Er hatte sich vor den Fragen, den Antworten und allem dazwischen gefürchtet. Seine persönlichen Entscheidungen hatten ihn geprägt. Was er jetzt im Spiegel sah, war nicht besonders schmeichelhaft. Ein Leben mit verbundenen Augen war das bisher. Ihm blieb nichts anderes mehr übrig, als sich die Augenbinde vom Gesicht zu reißen. Und das, was er vor sich sah, nicht mehr untätig hinzunehmen.

Vorsichtig holte er die gerahmten Fotografien hervor, eine nach der anderen. Er lehnte sie an die Wand und zählte sie. Sechzehn Stück. Es waren alle dabei.

Er trat ein paar Schritte zurück und betrachtete sie. Dann drehte er sich zu den schlichteren Bilderrahmen um. Den Platzhaltern. Er schrieb den Titel jedes Fotos mit großen Buchstaben auf Zettel. Dann befestigte er die Zettel mit Klebeband an den Rahmen. Er brauchte die Fotos nicht vor sich zu haben, während er sie an den weißen Wänden der Galerie arrangierte. Jedes Bild der bevorstehenden Ausstellung hatte sich ihm in die Netzhaut gebrannt, er konnte jedes einzelne jederzeit aus seinem Gedächtnis hervorholen.

Die Ausstellung zu arrangieren, würde viele Stunden dauern, vermutlich bis spät in die Nacht, und morgen würde er die Quittung bekommen. Er war kein junger Mann mehr. Aber dafür würde er sich auf der Vernissage, die in zwei Tagen stattfand, so leicht und frei wie seit Jahren nicht fühlen.

Die Folgen seines Handelns würden dramatisch sein. Aber darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Er hatte immer viel zu viel Rücksicht genommen. Sie alle hatten im Schatten von Lügen gelebt. Doch damit war nun Schluss, auch wenn es für sie alle den Untergang bedeuten konnte. Er würde die Wahrheiten ans Licht bringen.

Er hatte sich noch nie so frei gefühlt wie jetzt. Sorgfältig befestigte er den Zettel mit der Aufschrift »Schuld« am Rahmen.

Nicht einmal der Tod machte ihm noch Angst.

Erica Falck rekelte sich in ihrem warmen Bett. Am liebsten wäre sie liegen geblieben, aber Louise Bauer erwartete sie in einer Stunde zum Powerwalk, sie hatte wegen der Feierlichkeiten so nervös gewirkt und wollte sich bestimmt einiges von der Seele reden.

»Müssen wir da heute Abend wirklich hin?«

Stöhnend bedeckte Patrik das Gesicht mit einem Kissen. Erica riss es ihm weg und schlug damit nach ihm.

»Das wird supernett! Leckeres Essen, guter Wein und deine Frau mal richtig aufgebrezelt …«

Patrik schloss die Augen.

»Eine goldene Hochzeit, Erica. Ganz toll. Lauter feine Pinkel und endlose Reden. Du weißt doch selbst, was da für Leute kommen.«

Er stöhnte erneut.

»Wir gehen auf jeden Fall hin, also beiß die Zähne zusammen und sieh die Sache positiv«, sagte Erica.

Sie merkte, dass sie es mit ihrer Munterkeit übertrieben hatte, schmiegte sich rasch an Patrik und strich ihm über den Brustkorb. Sein Herz schlug so ruhig und fest, dass die Herzprobleme, die er mal gehabt hatte, beinahe vergessen waren. Trotzdem hatte sie immer ein wenig Sorge um ihn.

»Louise rechnet fest mit uns. Und außerdem finde ich dich im Anzug hinreißend. Du siehst so elegant darin aus, vor allem in dem dunkelblauen.«

»Ach was, du schmeichelst mir.«

Patrik begann behutsam sie zu küssen und wurde immer leidenschaftlicher. Er zog sie eng an sich, und wie jedes Mal schmolz Erica dahin.

»Die Kinder können jeden Moment reinkommen«, murmelte sie.

Patrik zog die Decke über ihre Köpfe. Bald wurde es heiß darunter, wo es nur noch sie beide gab. Ihre Körper. Ihre Lippen. Ihre Atemzüge.

Dann bestätigte ein Rums Ericas Warnung.

»Verstecken!«

Kreischend vor Glück sprang Noel auf das Bett. Seinem Bruder Anton, der wie ein Wilder hinter ihm hergerast war, gelang eine Punktlandung auf Patriks Familienjuwelen.

»Autsch, verdammt …«, stöhnte er, verstummte aber nach einem eindringlichen Blick von Erica. »Okay, tausend Stecknadeln!«

Noel und Anton verschluckten sich vor Lachen. Erica seufzte, musste aber trotzdem lächeln. Sie und Patrik hatten wenigstens ein paar Sekunden für sich gehabt, das musste reichen. Sie beugte sich über die Jungs und kitzelte sie, bis sie jaulten wie junge Wölfe.

»Ich habe ihnen extra den Fernseher angemacht, aber als ich den Joghurt geholt habe, sind sie abgehauen.«

Maja stand in ihrem Einhorn-Nachthemd in der Tür und zuckte mit den Schultern.

»Liebling, du brauchst morgens nicht auf sie aufzupassen, sie können einfach hochkommen.« Patrik winkte sie zu sich.

Maja zögerte. Immer so verantwortungsvoll, das Mädchen. Dann breitete sich ein Strahlen auf ihrem Gesicht aus, und sie stürzte sich ins Getümmel. Erica sah Patrik über die Köpfe der Kinder hinweg an. Ihre Familie war perfekt.

»Glaubst du, sie rufen vorher an, oder müssen wir bis Donnerstag warten? Manchmal warnen sie die Preisträger doch vor.«

Henning Bauer trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Es war das erste Wochenende im Oktober. Draußen vor dem Fenster hatte der Herbst endgültig die Oberhand gewonnen, und graue Wellen mit weißen Schaumkronen schlugen gegen die glatten Felsen der kleinen Insel. Ihrer kleinen Insel.

Er sah Elisabeth an, die ihm mit einer Teetasse gegenübersaß.

»Wir wissen ja, dass ich unter den letzten fünf bin. Das muss natürlich nicht heißen, dass ich gewinne. Es gibt keine Garantie. Aber wenn es stimmt, habe ich eine zwanzigprozentige Chance.«

Seine Ehefrau nippte seelenruhig an ihrem Tee. Henning bewunderte sie für ihre Ruhe. Diese Rollenverteilung hatte ihn während seiner Schriftstellerlaufbahn begleitet. Er regte sich auf, sie beruhigte ihn. Er machte sich Sorgen, sie machte ihm Mut.

Während er auf ihre Antwort wartete, trommelten seine Fingerkuppen weiter auf den Tisch. Er brauchte ihre Zuversicht. Er musste von ihr hören, dass alles gut werden würde.

Nach ein paar Schlucken Tee stellte Elisabeth ihre Tasse behutsam auf der Untertasse ab. Aus diesen Tassen tranken sie, seit sie verheiratet waren. Das Service war eins der unzähligen Geschenke auf ihrem pompösen Hochzeitsfest gewesen, und ihm wäre im Leben nicht mehr eingefallen, wer es ihnen geschenkt hatte.

Draußen türmte sich eine Welle höher auf als die andere, und sie klatschten in einer Kaskade gegen das Panoramafenster, das eine ganze Längsseite des Hauses einnahm. Das Salzwasser hinterließ Spuren auf der Scheibe, und die Haushälterin Nancy hatte mit dem Fensterputzen alle Hände voll zu tun. Im Schärengarten zeigte sich das Wetter oft von seiner launischsten Seite, und die Natur schien die Zivilisation insgeheim zurückdrängen und sich das verlorene Gebiet zurückerobern zu wollen.

»Mach dir keine Sorgen, Liebling. Entweder rufen sie heute oder morgen an, oder wir warten eben bis Donnerstag. Vielleicht rufen sie auch gar nicht an. Aber wenn sie anrufen, wovon ich selbstverständlich ausgehe, musst du so tun, als wärst du überrascht. Lass dir nicht anmerken, dass wir von deiner Nominierung wissen.«

Henning nickte, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden.

Der Rhythmus, den er trommelte, während er die salzigen Wasserspuren auf der Scheibe beobachtete, wurde immer diffuser. Einer von fünfen auf der Liste. Schon allein damit hätte er zufrieden sein müssen, aber wenn er sich ausmalte, was in greifbarer Nähe lag und sich durch einen einzigen Anruf bewahrheiten konnte, bekam er kaum noch Luft.

»Iss lieber eine Kleinigkeit.« Elisabeth schob ihm einen Korb frisch gebackene Brötchen hinüber. »Wir haben einen langen Tag vor uns, von dem langen Abend ganz zu schweigen, und ich möchte auf keinen Fall mit ansehen müssen, wie du um zweiundzwanzig Uhr am Tisch einschläfst.«

Wie immer hörte Henning auf seine Ehefrau und nahm sich ein warmes Baguettebrötchen. Er bestrich es mit einer dicken Schicht Butter, die sofort schmolz.

»Heute Abend tanzen wir«, sagte er mit vollem Mund und blinzelte Elisabeth zu, die verhalten lächelte.

»Heute Abend tanzen wir.«

»Meine Güte, du musst ja vor Tau und Tag mit dem Boot rausgefahren sein. Und das bei diesem Wetter!«

Erica hielt sich die Hand vors Gesicht, um sich vor dem Wind zu schützen, und versuchte keuchend, mit Louise Bauer Schritt zu halten. Es war wie immer eine Herausforderung. Sie konnte so schnell gehen, wie sie wollte, Louise war schneller. Dass die Gischt der Wellen, die wenige Meter hinter ihnen ans Ufer schlugen, bis an ihre Beine spritzte, machte die Sache nicht besser. Die Holzhäuser boten zwar ein wenig Schutz, aber Erica hatte den Eindruck, auch sie duckten sich unter dem Sturm.

»Ach, ich wache sowieso jeden Morgen um sechs auf«, sagte Louise. »Außerdem wird es ein langer Tag. Ich bin ja für die Feier verantwortlich, und da hatte ich das Gefühl, ich bräuchte dringend einen Powerwalk, um Kraft zu tanken.«

Erica verdrehte die Augen. Andererseits konnte sie verstehen, dass Louise sich den Kopf freipusten lassen wollte. Die persönliche Assistentin von Henning Bauer zu sein, ihrem Schwiegervater und Schwedens angesehenstem Schriftsteller, war sicher nicht leicht.

»Ich glaube, ich hatte noch nie das Gefühl, einen Powerwalk zu brauchen«, brummte sie. »Wenn ich es mir genau überlege, könnte ich auf körperliche Betätigungen komplett verzichten.«

Louise lachte.

»Du bist lustig. Du genießt es doch auch, dich zu bewegen. Auf diese Weise tankt man Energie für den ganzen Tag!«

Erica hatte Mühe zu sprechen, während sie in viel zu hohem Tempo den Galärbacken hinaufstapften. Sie zog die blaue Helly-Hansen-Jacke enger um sich. Louise trug natürlich perfekt sitzende Sportkleidung, die sowohl winddicht als auch wasserabweisend war.

»Ich liebe das Gefühl hinterher, falls du das meinst. Aber währenddessen? Nope. Niente. Nada. Obwohl ich weiß, dass es mir guttut.«

Erica blieb stehen und schnappte nach Luft. Louise wurde ebenfalls langsamer und sah sie an.

»Ehrlich gesagt, habe ich mich in letzter Zeit etwas angeschlagen gefühlt«, fuhr Erica fort, »und das hängt, glaube ich, mit falscher Ernährung und zu viel Stillsitzen zusammen. Und jünger werde ich auch nicht. So langsam machen sich bei mir die ersten Anzeichen der Wechseljahre bemerkbar. Bei dir auch?«

Louise marschierte weiter.

»Ich bin ja ein paar Jahre älter als du, aber …«, sagte Louise etwas zögerlich und ging in noch schnellerem Tempo an der Apotheke vorbei, »aber mir ist die Gebärmutter herausoperiert worden, als ich noch jung war. Krebs. Und nun verwandelt sich etwas, das mich mein Leben lang traurig gemacht hat, allmählich in einen Segen.«

»Oh, entschuldige, das wusste ich nicht.«

Erica verzog das Gesicht. Es war typisch für sie, keinen Fettnapf auszulassen.

»Nicht schlimm. Es ist kein Geheimnis, es kommt nur selten zur Sprache. ›Hallo, ich heiße Louise und habe keinen Uterus.‹«

Erica lachte laut. Genau das liebte sie an Louise. Ihre direkte Art und ihren sarkastischen Humor.

Sie hatten sich über die Kinder kennengelernt. Auf dem Spielplatz am Ingrid-Bergmans-torg hatte Maja Louises Sohn William, der ein paar Jahre älter war als sie, sofort zu ihrem besten Freund erklärt. Und als die Kinder miteinander spielten, waren auch Erica und Louise ins Gespräch gekommen. Das war im letzten Sommer gewesen, und nun verabredeten sie sich jedes Mal, wenn Louise mit ihrer Familie in Fjällbacka zu Besuch war.

Erica musste jedoch zugeben, dass sie viel lieber bei einem Glas Wein mit Louise zusammensaß, als zu unchristlicher Zeit Gewaltmärsche mit ihr zu absolvieren.

»Freust du dich denn auf heute Abend?«

Erica winkte Dan zu, dem Mann ihrer Schwester, der soeben vom Parkplatz des Konsum-Supermarkts herunterfuhr. Er winkte fröhlich zurück. Sie hatte fast das Gefühl, ein spöttisches Grinsen über ihre sportlichen Ambitionen in seinem Gesicht wahrzunehmen.

»Was soll ich sagen? Ich werde es schon überleben. In einer Stunde kommen meine Eltern, und du weißt ja, wie das ist. Zum Glück hat ihnen jemand sein Haus am Badis überlassen, und daher sind sie zufrieden. Und die Feier? Henning sagt so, und Elisabeth sagt so. Wir wissen alle, dass Elisabeth am Ende ihren Willen durchsetzt, aber ich habe nun mal die Ehre, es ihm schmackhaft zu machen.«

»Es wird bestimmt supertoll heute Abend«, sagte Erica.

Louise drehte sich zu ihr um und lächelte sie an.

»Das sagst du doch nur aus Höflichkeit. ›Supertoll‹ ist kein Attribut, mit dem ich eine goldene Hochzeit beschreiben würde, aber das Essen ist gut, das habe ich selbst ausgewählt, und der Wein wird in Strömen fließen. Ich habe dafür gesorgt, dass Patrik und du nett sitzen. Patrik hat das außerordentliche Vergnügen, an meiner Seite zu speisen, und du bist die Tischdame meines unendlich charmanten Ehemanns.«

»Wundervoll.« Erica stemmte die Arme in die Taille. Sie hatte Seitenstechen.

Sie umrundeten nun den Hügel, um zurück in den Ort zu gelangen, und waren an einem Abhang vorbeigekommen, der in Ericas Kindheit Siebenhuckel genannt worden und ihr damals lebensgefährlich erschienen war. Erica rechnete sich insgeheim aus, wie lange sie für die restliche Runde noch brauchen würden. Definitiv zu lang.

Vor ihr schwang Louises Pferdeschwanz rhythmisch hin und her, während sie anscheinend mühelos weitermarschierte. Erica hob einen Stein vom Boden auf und umschloss ihn mit der Faust, in der Hoffnung, auf diese Weise ihr immer quälenderes Seitenstechen zu mildern. Eins stand fest: Sport war nicht ihr Ding.

»Hast du mit ihr gesprochen?«

Tilde riss ihre schönen blauen Augen auf und hielt sich ein tief ausgeschnittenes Kleid vor den Körper.

Rickard Bauer sah, dass auf dem Etikett D&G stand, und schätzte, dass das Kleid dreißig- bis vierzigtausend Kronen gekostet hatte. Tilde beunruhigte das nicht im Geringsten. Oder besser gesagt, es hatte sie bis jetzt nicht beunruhigt. Doch plötzlich gab ihre American Express Card nicht mehr endlose Mengen Geld her, die sie in Stockholm, Paris, Milano und Dubai ausgeben konnte.

»Mache ich noch.« Er konnte seine Gereiztheit nicht verbergen.

Ihre Stimme ging ihm zunehmend auf die Nerven. Hatte sie immer so kindisch geklungen? So quengelig?

»Ich will erst nach dem Fest mit ihr reden. Du weißt ja, wie meine Mutter ist, wenn sie sich Sorgen macht. Ich möchte ihr nicht den Abend kaputtmachen.«

»Okay, aber versprichst du mir auch wirklich, morgen mit Elisabeth zu sprechen?«

Tilde schürzte die Lippen und drückte die Brust raus. Sie hatte gerade geduscht und war bis auf ein weißes Handtuch, das sie sich um den Kopf gewickelt hatte, nackt. Rickard merkte, wie sein Körper reagierte. Es war faszinierend. Sein Kopf hatte einiges an ihr auszusetzen, aber sein Schwanz reagierte automatisch auf ihre Anwesenheit.

»Versprochen, Liebling.« Er warf sie auf das Bett, aus dem sie erst kurz zuvor aufgestanden waren.

Sie kreischte und kicherte.

»Komm her, Baby«, sagte sie mit Kleinkindstimme.

Rickard vergrub das Gesicht zwischen den großen Brüsten, die ihn vom Rest der Welt abschirmten.

Elisabeth Bauer hielt sich die roten Ohrringe ans Gesicht. Sie hatten ihrer Großmutter gehört. Sie passten perfekt zu dem Kleid, das sie während des Essens tragen würde. Das Schwarze, das sie anziehen wollte, wenn getanzt wurde, hing auf dem Bügel daneben. Es war schmaler geschnitten und auch leichter als das ein wenig überladene, in dem sie nur sitzen würde. YSL und Oscar de la Renta. Beide hatte sie im Frühjahr in Paris gekauft, als sie und Henning ein paar Wochen in ihrer Wohnung dort verbracht hatten. Wenn man für eine Gelegenheit wie eine goldene Hochzeit einkaufte, gab es keinen besseren Ort als Paris.

Vorsichtig legte sie die Ohrringe zurück in den dunkelblauen Schmuckkasten. Sie zuckte zusammen, als ein Schwall Wasser auf das Schlafzimmerfenster traf. Hier auf Skjälerö wohnten sie in einem Bungalow, und die Wellen reichten bis an die Fenster. Dieses einstöckige Haus war ihr bescheidenstes Domizil. Die Wohnung in Stockholm, die in Paris und das Haus in der Toskana waren sehr viel luxuriöser eingerichtet. Trotzdem liebte sie keinen Platz auf der Welt mehr als diesen. Seit ihrer Kindheit hatte sie jeden Sommer hier verbracht. Mit Seehunden hatte der Name der Insel nichts zu tun. Skjälerö kam von »skjäler«, dem bohusländischen Wort für Miesmuscheln. Überall auf der Insel türmten sich wunderschöne blaue Muschelschalen. Die Möwen ließen die Muscheln aus großer Höhe auf den rosa Granit fallen, damit sie zerbarsten und die Vögel an ihr fleischiges Innenleben gelangten.

Ihr Großvater hatte die Insel gekauft, und nun gehörte sie ihr. Dieses kleine Reich draußen vor Fjällbacka hatte eine geradezu magische Wirkung auf sie. Sobald sie hier ankamen, waren alle Sorgen wie weggeblasen. Hier kam niemand an sie heran. Sie waren unerreichbar und die Insel nahezu uneinnehmbar.

Jahrelang hatten sie nicht einmal ein Telefon gehabt, sondern nur ein Funkgerät. Doch das war Jahrzehnte her. Mittlerweile war das Haus mit allen modernen Annehmlichkeiten ausgestattet, Telefon, Strom, WLAN und viel zu vielen Fernsehsendern für die Enkelkinder. Louise und Peter waren in dieser Hinsicht wirklich nachlässig. Stundenlang saßen die Kinder vor dem Fernseher und sahen bunten Figuren dabei zu, wie sie sich stritten und lauter Unsinn trieben. Anstatt ein gutes Buch zu lesen. Bei Gelegenheit würde sie mit ihnen darüber sprechen. Aber gute Ratschläge, die die Erziehung der Kinder betrafen, waren ein heikles Thema. Vielleicht besonders heikel aufgrund des Schicksals von Cecily.

Elisabeth schüttelte den unangenehmen Gedanken ab und verstaute die beiden Kleider sorgfältig in den schützenden Kleidersäcken. Sie hätte natürlich Nancy bitten können, es für sie zu tun, aber sie hantierte so gerne mit teuren Textilien von herausragender Qualität. Niemand machte solche Kleider wie Oscar.

»Henning?«

Sie rechnete nicht damit, mehr als ein Brummen aus seinem Arbeitszimmer zu hören.

Und tatsächlich hörte sie hinter der geschlossenen Tür nur ein »Hm«.

»Ich habe mir gedacht, wir nehmen den Smoking von Savile Row. Der, den wir erst neulich haben schneidern lassen. Einverstanden?«

»Hm«, ertönte es noch einmal aus dem Arbeitszimmer. Elisabeth lächelte.

Der Smoking lag bereits bei den Sachen, die sie für die Fahrt zum Festland gepackt hatte. Wenn sie eins in dieser langjährigen Ehe gelernt hatte, dann, dass man dem Ehemann immer das Gefühl geben musste, gefragt zu werden. Auch wenn man die Entscheidung schon gefällt hatte. Louise würde sie diesen Rat bei Gelegenheit auch geben. Sie meinte es ja nur gut.

Stockholm 1980

Pytte liebte es, Lola zuzusehen, wenn sie sich für den Abend zurechtmachte. Es war pure Zauberei. Und es lief immer gleich ab. Pytte lag bäuchlings auf dem großen Samtkissen und stützte das Kinn auf die Hände, während Lola vor dem vollgestellten Schminktisch saß und sich hübsch machte.

»Was ziehst du heute Abend an?« Pytte sah mit leuchtenden Augen zum Kleiderschrank.

Sie liebte alles in Lolas Schrank.

»Was hältst du von der rosa Bluse, die im Nacken geknöpft wird? Dazu ein schlichter Chignon und meine Diamantohrringe.«

Lola drehte sich zu Pytte um, die eifrig nickte.

»Ja, die rosa Bluse finde ich wunderschön!«

»Ich weiß, mein Liebling.«

Lola wandte sich wieder dem Spiegel zu und schminkte sich. Für Partys legte sie manchmal ein aufwendigeres Make-up auf, was Pytte in Entzücken versetzte, aber heute ging sie nur zur Arbeit, und da cremte sie sich wie immer ein und trug dann Puder, Kajal und Mascara auf, füllte mit einem Bürstchen die Augenbrauen auf und wählte ganz zum Schluss einen der vielen Lippenstifte aus, die in den Kaffeebechern auf dem Schminktisch standen. An diesem Abend nahm sie einen pinken.

Sorgfältig malte Lola die Lippen aus, machte ein ploppendes Kussgeräusch, tupfte die Farbe mit einem Blatt Toilettenpapier ab und trug anschließend noch etwas mehr auf. Dann suchte sie eine Perücke aus. Lolas eigenes glänzendes Haar war lang und kupferrot, aber bei der Arbeit trug sie oft eine ihrer fünf Perücken. Nachdem sie sie eine Weile angesehen hatte, nahm sie eine halblange braune vom kopfförmigen Ständer und setzte sie auf. Ihr eigenes Haar hatte sie unter ein Haarnetz gesteckt. Zum Schluss band sie das braune Haar im Nacken zu einem Chignon zusammen.

Lola ging zum Kleiderschrank und griff mit spitzen Fingern nach der rosa Bluse und der pinken Hose, um mit den langen lackierten Nägeln nicht daran hängen zu bleiben. Als Letztes griff sie zu der zierlich verschnörkelten Flasche und tropfte sich einen Hauch Parfum hinter die Ohren und auf die Handgelenke. Dann stellte sie sich vor Pytte auf.

»Et voilà! Was sagst du? Kann ich so in die Schlacht?«

»So kannst du in die Schlacht!« Pytte lachte laut.

Wenn sie groß war, wollte sie genauso schön sein wie Lola.

Mit einer rosa Handtasche ging Lola in den Flur.

»Und du kommst jetzt allein zurecht, Liebling, oder? Im Kühlschrank steht was zu essen. Du kannst es dir im Backofen warm machen, du darfst nur nicht vergessen, ihn wieder auszuschalten. Und spätestens um zehn gehst du ins Bett, nicht aufbleiben und auf mich warten! Ich schließe hinter mir ab. Schließ nicht wieder auf und lass niemanden rein. Alles klar, mein Herz?«

Lola war schon halb draußen und hatte den Schlüssel bereits ins Schloss gesteckt.

»Ich liebe dich!«, rief sie Pytte zu.

»Ich liebe dich auch, Papa!«

Dann war die Tür zu, und im Flur blieb nur ein Hauch Parfum zurück.

»Ich finde es nur so merkwürdig. Wieso willst du denn nicht hingehen?«

»Weil ich es so sage.«

Rolf Stenklo warf seiner Frau Vivian einen verärgerten Blick zu. Für ihn war das Thema längst abgehakt.

Vivian stand im Eingang zu dem hellen Raum, den er mit all seinen Träumen füllen würde, mit allem, was ihm das Herz schwer machte oder es zum Jubeln brachte.

»Aber, Rolf, unsere besten Freunde feiern goldene Hochzeit. Ich verstehe das einfach nicht. Alle, die wir kennen, werden dort sein, und einige der Gäste könnten uns oder besser dir, ehrlich gesagt, auch ganz nützlich sein.«

Wie immer, wenn Vivian sich aufregte, kippte ihre Stimme. Sie waren seit zwanzig Jahren verheiratet, aber jedes Mal, wenn er diesen Ton hörte, hatte er das Gefühl, es wären zwanzig Jahre zu viel.

»Ich will eben nicht, was ist daran so schwer zu verstehen? Solche großen Feste sind nichts für mich, das dürfte dich doch eigentlich nicht überraschen.«

Mit der Nagelpistole versenkte Rolf einen Nagel in der Wand und fluchte, als dieser zu tief eindrang. Diese Nagelpistole hatte etwas zu viel Kraft. »Verdammt!«

Er griff nach einer Zange und zog den Nagel ein Stück heraus.

»Warum lässt du das nicht jemand anderen für dich machen?«, fragte Vivian.

Rolf sah, dass sie neugierig die gerahmten Fotografien betrachtete, die neben dem Eingang lehnten. Ausnahmsweise hatte er sie nicht in die Planung mit einbezogen. Er hatte gesagt, das Thema der Ausstellung wäre zu persönlich, und sie hatte das erstaunlicherweise hingenommen.

»Henning und Elisabeth zum Beispiel? Die sich selber nicht mal den Arsch abwischen können?«, brummte er.

»Mensch, was ist denn heute mit dir los? Du magst Henning und Elisabeth doch, das weiß ich. Und jetzt willst du nicht zu ihrem großen Fest gehen und ziehst auch noch in völlig unangemessener Weise über sie her. Du bist heute wirklich nicht nett!«

Vivian verschränkte die Arme. Rolf sah sie müde an.

»Nettigkeit geht dir über alles. Bloß niemandem auf die Füße treten. Und nie die heiklen Themen ansprechen.«

»Du bist unmöglich.«

Vivian rauschte hinaus und ließ ihn endlich allein. Er sah sich in der Galerie um und betrachtete die leeren weißen Wände, die er mit dem Schönsten füllen würde, was er je gemacht hatte.

Er griff zur Nagelpistole. Versenkte noch einen Nagel in der Wand. Dann hängte er einen der billigen Rahmen auf, die er mit den Titeln beschriftet hatte. Er trat einen Schritt zurück, und wie immer zerriss es ihm fast das Herz, den Namen zu lesen. Er fühlte sich schuldig. Er fühlte Liebe. Und er sehnte sich nach einer unwiderruflich vergangenen Zeit. Aber bald. Bald würde der hellste Stern von allen wieder erstrahlen.

»Liegen wir gut in der Zeit?«

Rastlos stiefelte Louise Bauer in dem großen Saal namens Mamsell auf und ab, der rechts vom Eingangsbereich des Stora Hotellet lag. Unter ihren Füßen knarrte das Parkett. Es hingen immer noch schwere Wolken über dem Ort, und die hohen Wellen schlugen bis an den Bootssteg.

Barbro, die Hausdame, lief nervös hinter ihr her.

»Es läuft alles nach Plan«, sagte sie. »In der Küche arbeiten sie auf Hochtouren, Tischdecken und Geschirr habe ich schon geholt, gleich nach dem Mittagessen werden die Tische aufgestellt, die Kellner sind alle vorbereitet, und es gibt genügend Getränke. Wir haben alles besorgt, worum Sie gebeten haben.«

»Gut.« Louise blieb stehen. »Was ist mit den Kindern? Gibt es für die ein Extraessen? Das Menü für die Erwachsenen essen Max und William bestimmt nicht.«

Barbro nickte.

»Für die Kinder haben wir Hamburger. Und zum Nachtisch Eis mit Schokoladensoße.«

»Wunderbar. Ja, sieht wirklich so aus, als hätten Sie alles im Griff. Haben Sie die Tischkärtchen bekommen? Und sie mit der Gästeliste verglichen, damit auch niemand vergessen wird? Bei der Tischordnung dürfen Sie sich keine Fehler erlauben, ich habe monatelang daran gearbeitet.«

Louise sah, dass Barbro Schweißperlen auf der Stirn hatte.

»Das haben wir selbstverständlich überprüft, aber ich werde den Oberkellner trotzdem bitten, sich die Gästeliste noch einmal anzusehen«, sagte die Hausdame, nachdem sie sich geräuspert hatte.

»Gut.«

Sie merkte selbst, dass sie kurz angebunden war. Aber mit den Fehlern und Schwächen anderer Menschen hatte Louise einfach keine Geduld. Schlampigkeit war ihr ein Gräuel.

Sie sah sich um. Momentan war es angenehm kühl im Saal, aber für den Fall, dass sich die Luft von den vielen Gästen aufheizte, hatte sie Ventilatoren organisiert, die gegebenenfalls aufgestellt werden konnten. Die Wände waren hellgrün gestrichen, und die Einrichtung des Saals war, wie das ganze Hotel, von einem leicht exotischen Stil geprägt. Louise sah vor sich, wie unzählige festlich gekleidete Menschen heute Abend hier tanzen würden, während auf dem kleinen Podest, das gerade auf der einen Seite des Raums aufgebaut wurde, eine Jazzband spielte.

Es würde eine glanzvolle Veranstaltung werden. Alles würde perfekt sein. Wie alles, was sie in die Hand nahm. Weil sie nichts dem Zufall überließ.

Henning Bauer schob die Teetasse von sich und starrte auf das leere Worddokument. Der Cursor blinkte höhnisch. Diese Leere war sein Verderben.

Vor der geschlossenen Zimmertür herrschte eifrige Betriebsamkeit. Elisabeth war aufgeregt, das wusste er. Genau wie er. Es würde ein großartiger Abend werden. Die Gästeliste war ebenso beeindruckend, wie er sie sich gewünscht hatte, und die Reden würden umwerfend sein.

Wenn er selbst bis dahin doch auch nur ein paar Worte zustande gebracht hätte. Jeden Tag saß er hier einige Stunden. Trank seinen Tee und starrte einen Cursor an. Die Wörter hätten ihm eigentlich zur Verfügung stehen müssen, denn schließlich hatte er sein ganzes Leben mit ihnen verbracht, und trotzdem hielten sie ihn zum Narren.

Henning stellte sich ans Fenster und betrachtete die wilde Landschaft. Im Sommer sah es hier aus wie in einer Reklame für das erfrischend herbe Bier Pripps Blå. Blauer Himmel, rosa Granit, der in der Sonne funkelte, und Segelboote überall. Jetzt im Oktober peitschte das Meer gegen die Klippen, als wollte es die Insel versenken. Es war ihm lieber, wenn die Natur ihre Kraft nicht verhehlte.

Henning verfluchte sein Schicksal.

Hier hätte er eigentlich in der Lage sein müssen zu schreiben. Die Umgebung war perfekt. Hinter dem großen Schreibtisch am Panoramafenster kam er sich vor wie ein Sonderling in einem Film von Ingmar Bergman. Doch anstatt, dass die Kreativität nur so aus ihm herausfloss, kam nichts. Rein gar nichts.

Er zuckte zusammen, als es leise an der Tür klopfte.

»Ja«, rief er barscher als beabsichtigt.

»Entschuldige, Papa, die Jungs brauchen mal deine Hilfe.«

Hennings Züge wurden weicher. Normalerweise wollte er in seinem Arbeitszimmer nicht gestört werden, aber seine Enkelkinder waren ihm immer willkommen.

»Nur hereinspaziert.«

Die Tür ging auf, und davor stand Peter mit seinen Söhnen.

Henning winkte sie herein. Von dem fröhlichen Lächeln, mit dem die Jungs auf seinen freundlichen Blick reagierten, wurde ihm ganz warm ums Herz. Als Peter und Rickard klein gewesen waren, hatte er sich nicht viel um sie gekümmert, aber es waren ja auch andere Zeiten gewesen. Doch bei Max und William war es anders. Ihnen konnte er die Liebe geben, die seine eigenen Kinder nie von ihm bekommen hatten.

»Kannst du uns helfen, die Schlipse auszusuchen, Großpapa?«

Max, der Ältere und ein ungewöhnlich vernünftiges und ernstes Kind, hielt ihm drei Krawatten hin. Sein kleiner Bruder William, der immer irgendetwas ausheckte und nie ordentlich gekämmt war, reichte ihm ebenfalls drei Krawatten.

Da William gerade drei Zähne verloren hatte, lispelte er, als er die Frage seines Bruders wiederholte:

»Ja, Großpapa, kannst du uns helfen, die Slipse auszusuchen?«

»Selbstverständlich werde ich euch helfen. Es ist mir eine Ehre. Ich fühle mich wirklich geehrt. Und weißt du, was wir morgen machen, William …?«

William kniff die Augen zusammen.

»Ja, Großpapa, morgen legen wir den Hummerkorb aus!«

Henning fuhr ihm durchs Haar.

»Ja, das machen wir.«

Peter lächelte ihn an. Er war ein guter Sohn. Einer, auf den man stolz sein konnte. Wenn man davon absah, dass er sich dem schnöden Mammon verschrieben hatte und nun Investmentfonds managte, gab es nichts an ihm auszusetzen. Henning ließ seinen Blick auf ihm ruhen. Manchmal sah er Peter an, dass er immer noch um Cecily trauerte, aber heute strahlte er.

»Dann wollen wir mal sehen.« Henning wandte sich den Krawatten zu. »Erst einmal müsst ihr mir verraten, was ihr überhaupt anzieht. Wozu sollen die Krawatten denn passen? Sie sind ja nur die i-Tüpfelchen eurer Garderobe.«

In diesem Moment klingelte das Handy, das auf dem Schreibtisch lag. Henning zuckte vor Schreck zusammen. Normalerweise stellte er den Ton ab, sobald er ins Arbeitszimmer ging, aber heute musste er es vergessen haben. Irritiert ging er zum Schreibtisch, um das Handy auszuschalten, doch als er sah, wer anrief, hielt er inne. Sie kannten sich zwar nicht persönlich, aber Henning hatte diese Nummer schon seit Jahren gespeichert. Nur für den Fall.

Mit zitternder Hand drückte er zuerst auf den grünen Hörer und dann auf die Lautsprechertaste. Er hielt sich den Zeigefinger an die Lippen, um Peter und den Jungs zu signalisieren, dass sie still sein sollten, und sagte:

»Hallo? Hier spricht Henning Bauer.«

»Hier ist Sten Sahlén. Der Ständige Sekretär der Schwedischen Akademie.«

»Oh, guten Tag …«

Sein Herz hämmerte so kräftig, dass Henning glaubte, er würde ohnmächtig werden. Sicherheitshalber legte er das Handy auf den Tisch, weil seine Hand so stark zitterte, dass er fürchtete, er könnte Sten Sahlén versehentlich wegdrücken.

Der heulende Sturm vor dem Fenster verstärkte das Rauschen in seinen Ohren. Auf diesen Augenblick war sein ganzes Leben ausgerichtet gewesen. Als Sten Sahlén weitersprach, sah Henning in Peters Augen. Sein Sohn wusste genau, wie wichtig dieser Moment war. Der Moment, in dem Henning Bauer für immer in die Geschichtsbücher nicht nur Schwedens, sondern der ganzen Welt eingehen würde.

»Henning, zu meiner großen Freude darf ich Ihnen mitteilen, dass die Schwedische Akademie beschlossen hat, Ihnen den diesjährigen Nobelpreis für Literatur zu verleihen. Die Formalitäten werden Ihnen noch mitgeteilt werden. Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, dass diese Nachricht bis zur offiziellen Verkündung vertraulich zu behandeln ist.« Sten lachte kurz. »Die meisten Leute glauben ja immer noch, wir würden die Preisträger erst, kurz bevor ich durch die berühmte Tür im Börshuset trete, informieren.«

Schweigen. Henning hörte nur den Wind, die Wellen und das Klopfen seines eigenen Herzens.

»Ich bedanke mich«, sagte er. »Richten Sie dem gesamten Komitee aus, dass ich mich sehr geehrt fühle.«

Nachdem er aufgelegt hatte, fiel sein Blick auf den blinkenden Cursor. Dann schaltete er den Computer aus.

»Ist Tante Ericas Liebling schon wach?«

Erica schaute durch die Tür, die einen Spalt offen stand.

»Sie ist wach! Komm rein!«, brüllte Anna aus ihrem Arbeitszimmer in dem Einfamilienhaus im Falkeliden.

Erica hängte ihre Jacke auf und stellte die Turnschuhe zu dem riesigen Schuhberg im Flur.

»Hier ist ja was los!«

Erica konnte sich das Lachen nicht verkneifen, als sie Anna an einem Tisch voller Skizzen, Stoffmuster, Schrankgriffe und Farbkarten vorfand. Und mindestens genauso viel Spielzeug.

»Ich muss in zwei Tagen einen Entwurf abgeben, aber diese junge Dame hier hat gerade laufen gelernt, und es war schon nichts vor ihr sicher, als sie nur gekrabbelt ist …«

»Ach, und daher die ganzen Spielsachen hier?«

Auf allen vieren machte sich Erica auf die Suche nach ihrer kleinen Nichte und fand sie schließlich hinter einem riesigen Teddy. Flisan, wie Felicia von der ganzen Familie liebevoll genannt wurde, juchzte vor Freude, als sie Erica erblickte. Das lebhafte Mädchen war zwar einen Monat zu früh zur Welt gekommen, aber kerngesund. Die Angst, in die Annas vorzeitige Blutungen damals alle versetzt hatten, war fast vergessen.

»Es ist, als müsste ich mitten in einem Tornado arbeiten«, seufzte Anna und warf einen sorgenvollen Blick auf das Chaos.

»Ich kann sie dir eine Weile abnehmen, damit du in Ruhe arbeiten kannst.« Erica schäkerte mit Flisan, die mit ganzer Kraft an Ericas Nase zog.

»Wirklich? Das wäre toll.« Anna stöhnte. »Der Kunde ist einer von der fordernden Sorte, und außerdem habe ich alle Hände voll zu tun, ihm die Leuchttürme auf den Gardinen und Kissen mit Muschelbezug auszureden.«

»Ich dachte, der Kunde hat immer recht.« Erica brachte Flisan zum Lachen, indem sie sie ebenfalls sanft in die Nase kniff.

»Nein, ganz im Gegenteil. Der Kunde hat fast nie recht.«

Anna kratzte sich am Kopf. Das blonde Haar reichte ihr nun bis über die Schultern und verdeckte die Narben des Unfalls. Erica fand, dass ihre Schwester blendend aussah, obwohl sie jammerte. Anna, die jahrelang gelitten hatte, war nun glücklich verheiratet mit Ericas Jugendliebe Dan, mit dem sie eine unzertrennliche Patchworkfamilie und diesen gemeinsamen kleinen Liebling hatte, den alle Geschwister vergötterten.

»Hast du etwa Sport getrieben?«, fragte Anna skeptisch, als sie Ericas Leggings bemerkte.

»Louise hat mich zu einem Powerwalk genötigt«, seufzte sie.

»Typisch. Powerwalk passt zu Louise«, sagte Anna. Erica streckte ihr die Zunge heraus, und Flisan ahmte sie begeistert nach.

»Was hast du eigentlich gegen Louise?« Erica setzte sich zu Flisan auf den Fußboden.

»Nichts eigentlich. Ich weiß ja auch, dass ihr euch mögt. Ich finde nur, dass die ganze Familie Bauer einen Stock im Arsch hat. Hast du Henning Bauer bei Babel gesehen? Das reinste Floskelbingo.«

»Nein, die Sendung muss ich verpasst haben.« Erica holte eine Tüte Maisstangen aus der Küche, um Flisan zu bestechen.

Dank Noel und Anton, die in dem Alter innerhalb von Minuten jeden möblierten Raum verwüstet hatten, war sie in der Übung. Inzwischen waren ihre Zwillinge zwar etwas ruhiger geworden, aber die Kindersicherungen an den Schranktüren konnte sie noch lange nicht abmontieren.

»Vielleicht bin ich da überempfindlich. Möglicherweise ein Überbleibsel aus meiner Stockholmer Zeit mit Lucas. All diese Abendessen mit Leuten, die sich für besonders vornehm hielten und einen immer so von oben herab behandelten, dass man sich … dumm vorkam.«

»Louise ist nicht so, das weißt du genau.« Erica wehrte Flisans Versuche ab, ihr eine angekaute Maisstange in den Mund zu stecken.

»Nein, wahrscheinlich nicht. Aber trotzdem. Feine Pinkel sind sie alle. Gib es zu.«

»Elisabeth und Henning kenne ich eigentlich nur vom Sehen. Und zu ihren Söhnen habe ich höchstens mal Guten Tag gesagt. Die Kinder sind jedenfalls süß. Max und William heißen sie. Maja und William lieben sich heiß und innig. Er bringt sie auf Trab, und sie hat eine beruhigende Wirkung auf ihn.«

»Na, das ist ja auch die traditionelle Aufgabenverteilung«, brummte Anna, die in den Stoffmustern auf ihrem Schreibtisch wühlte.

»Seit wann bist du Feministin?« Erica sah ihre Schwester mit geneigtem Kopf an.

»Man braucht keine Feministin zu sein, um zu merken, dass die Welt ungerecht ist. Ich sehe doch, wie es bei Emelie in der Schule ist. Die frechen Jungs bekommen die ganze Aufmerksamkeit, und um die braven Mädchen kümmert sich niemand.«

»Du hast ja recht.« Erica breitete die Arme aus, und Flisan schoss mit Volldampf auf sie zu. »Ach, mein Goldstück, du bist einfach wunderbar.«

»Wie kommst du denn eigentlich mit dem Schreiben voran?«

Anna nahm eine Dose Kekse von einem der oberen Regalbretter. Haferkekse natürlich. Die hatte es in ihrem Elternhaus immer gegeben.

»Oh Gott, frag nicht.« Erica nahm gerne einen Keks. »Mir fällt einfach nichts ein. Es gibt weit und breit keinen Fall, der mich interessiert. Auf der Suche nach Inspiration habe ich schon alle Bände der Nordischen Kriminalchronik durchforstet, aber vergeblich. Meine Verlegerin bringt mich um, wenn ich nicht bald eine Synopsis abgebe, aber ich kann ja keine Zusammenfassung von etwas schreiben, das ich nicht habe.«

Erica schüttelte sich, um das unangenehme Gefühl loszuwerden.

»Könnten wir das Thema wechseln? Mir wird angst und bange.«

»Selbstverständlich.« Anna grinste. »Was denkst du denn über die Feier heute Abend?«

Sie legte einen Türgriff auf eine Farbkarte und schüttelte missbilligend den Kopf.

»Komm, lass uns einen Kaffee trinken. Mein Gehirn braucht eine Pause. Also, was ist mit heute Abend?«

Erica setzte sich Flisan auf die Hüfte und folgte Anna in die Küche.

»Es wird … interessant. Patriks Begeisterung hält sich in Grenzen. Wir gehen hin, weil Louise uns darum gebeten hat. Ein bisschen seltsam ist es schon, wir kennen Elisabeth und Henning ja kaum.«

»Aber du bist doch Schriftstellerin und als solche bestimmt hoch angesehen in solchen Kreisen«, sagte Anna mit dem Rücken zu ihr, während sie Kaffeepulver in den Filter einer uralten Maschine schüttete.

»Ich glaube nicht, dass Elisabeth und Henning mich für eine Schriftstellerin halten. Dafür sind meine Bücher zu unterhaltsam und zu beliebt bei normalen Menschen.«

»Ach ja, ich vergaß. Gute Verkaufszahlen müssen der Albtraum aller Autoren sein, die was auf sich halten.«

Grinsend füllte Anna das Wasser ein.

»Könnte man meinen«, sagte Erica. »Aber Scherz beiseite, es wird bestimmt nett. Louise hat leckeres Essen und guten Wein versprochen.«

»Na dann. Ah, da kommt Dan. Er hat das Boot gesichert. Wenn du mit der kleinen Terroristin hier fertig bist, kannst du sie an Dan übergeben. Sie ist jetzt für ein paar Stunden seine Tochter.«

Erica schnupperte an Flisans Haar. Das Mädchen saß auf dem Schoß seiner Tante und spielte mit deren Schlüsselbund. Das funktionierte immer.

»Wenn Mama blöd zu dir ist, kannst du immer zu Tante Erica kommen, meine Süße. Auf die ist Verlass.«

In sicherem Abstand vom Baby stellte Anna ihrer großen Schwester eine Tasse Kaffee hin. Dann beugte sie sich vor und gab Erica einen Kuss auf die Wange.

»Hab dich lieb.«

Erica schluckte. Mit Liebesbekundungen war Anna nie besonders freigiebig gewesen.

»Ich hab dich auch lieb«, flüsterte sie.

Vivian Stenklo zögerte. Normalerweise überließ sie Rolf die meisten Entscheidungen, aber diese hier fand sie weder gut, noch konnte sie sie verstehen.

Warum sollte sie zu Hause bleiben, nur weil er nicht hingehen wollte? Das war doch absurd und geradezu lächerlich. Zwanzig Jahre lang hatte Rolf alles entschieden, und sie hatte sich nach seinen Terminen, Ausstellungen und Reiseplänen gerichtet. Schon als sie sich kennenlernten, wurde ihr bewusst, dass er es so haben wollte. Seine erste Frau Ester, die ein Jahr zuvor verstorben war, hatte ihm alles abgenommen. Bei Vivian war es genauso gewesen. Ihr erster Mann war Künstler, und daher hatte sich in ihrer ersten Ehe auch alles um ihn und seine Launen gedreht. In gewisser Weise war diese vertraute Rollenverteilung beruhigend.

Doch normalerweise konnte sie hinter Rolfs Launen einen Sinn erkennen. Das hier war einfach nur seltsam. Und außerdem hatten sich die Zeiten geändert. Die Gewohnheiten ihrer Generation waren dabei auszusterben. Sie musste sich dem Ehemann nicht mehr anpassen. Sie konnte selbst entscheiden.

Vivian nahm ihr Handy vom Wohnzimmertisch. Das Häuschen, das sie in Sälvik gemietet hatten, war schön, aber zugig. Jeder Windstoß drang durch die Ritzen. Sie zog die Strickjacke enger um sich.

»Louise? Hallo, hier ist Vivian. Entschuldige die Störung, du hast sicher viel zu tun heute, aber Rolf hat ja für uns beide abgesagt. Ja, furchtbar traurig, aber ich wollte mal fragen, ob ich, falls es nicht zu viele Umstände macht, vielleicht allein kommen könnte? Könntest du das organisieren? Ach, danke, Louise, das ist aber nett. Nein, wir waren zwar ein wenig angeschlagen, aber ich bin wieder auf den Beinen, und Rolf wird heute Abend schon allein zurechtkommen. Ganz herzlichen Dank.«

Nachdem Vivian aufgelegt hatte, fühlte sie sich, als ob sie einen großen Sieg errungen hätte. Es war ein erster Schritt hin zu mehr Unabhängigkeit. So vieles war zurzeit im Wandel. Rolf hatte sich auch verändert. Seine Lebensfreude, die es ihr immer leicht gemacht hatte, sich für ihn aufzuopfern, war verschwunden. In den vergangenen Monaten hatte er sich in einen griesgrämigen und lustlosen Mann verwandelt. Rolf wurde langsam alt. Aber so wollte sie nicht leben.

Vivian ging zum Kleiderschrank, um nachzuschauen, ob sie etwas Festliches zum Anziehen mitgebracht hatte. Falls nicht, würde sie schnell nach Uddevalla fahren.

Als Louise Bauer die Elisabeth II am kleinen Holzsteg der Insel vertäute, herrschte hoher Seegang. Das alte Holzboot war in gutem Zustand. Es war all die Jahre liebevoll gepflegt worden, aber nun knarrte es doch bedenklich. Ihr machte das keine Angst. Sie war Seglerin und hatte schon wildere Stürme überstanden. Allerdings war sie völlig durchnässt. Wenn sie am Abend von Skjälerö wieder nach Fjällbacka zurückfuhren, würden sie sich ein Taxiboot nehmen, um die Garderobe nicht zu ruinieren.

Louise marschierte zu den Häusern hinauf. Ihre Eltern, Lussan und Pierre, hatten sich beschwert, weil sie bei ihrer Ankunft in Fjällbacka nicht sofort begrüßt worden waren, aber wie hätte Louise das denn auch noch schaffen sollen? Bis zur letzten Minute wurden kleine Änderungen vorgenommen, und sie musste alles im Kopf behalten. Sie ärgerte sich über Vivians Anruf, hatte sich das am Telefon aber nicht anmerken lassen. Eine so kurzfristige Zusage brachte ihre minutiös ausgetüftelte Tischordnung durcheinander. Schnell hatte sie beschlossen, Vivian einfach zwischen Erica und Peter an einem Kopfende zu platzieren, um das Problem zu lösen. Trotzdem unverschämt. Und auch ein wenig merkwürdig, dass Rolf nicht kam. Dass er angeschlagen war, glaubte sie keine Sekunde. Er hatte die Einladung erhalten und sofort abgesagt, da hätte er schon Wahrsager sein müssen, um zu wissen, dass er an diesem Tag krank sein würde. Und dabei war Rolf einer der ältesten Freunde von Elisabeth und Henning.

Sie rutschte auf den nassen Klippen aus, verlor kurz das Gleichgewicht. Sowohl in ihrem und Peters Haus als auch im Haupthaus, das Elisabeth und Henning bewohnten, brannte Licht. Das Haus von Rickard und Tilde war dunkel. Wie immer schliefen sie lange. Manchmal schliefen sie bis zum Nachmittag, was Henning wahnsinnig machte.

Sie wollte zu ihrem und Peters Haus gehen, entschied sich aber im letzten Moment um und steuerte auf das Haupthaus zu. Wie üblich trat sie ein, ohne anzuklopfen, und rief laut ins Haus hinein. Das war hier auf der Insel so Usus.

»Hallo?«

»Louise? Louise! Komm rein! Wir sind im Arbeitszimmer!«

Elisabeth klang aufgeregt. Schnell zog sie die nassen Sachen und die Schuhe aus. Normalerweise war Elisabeth ruhig und gefasst. Sie verglichen sie scherzhaft mit einer Ente, die an der Oberfläche ungerührt wirkt, während sie unter Wasser fieberhaft paddelt. Nun war ihrem Tonfall anzumerken, dass etwas Bedeutendes passiert war.

Zwischen Elisabeth und Henning standen eine Flasche Champagner und zwei Gläser. Henning, dessen glühend rotes Gesicht einen scharfen Kontrast zu seinem weißen Haar bildete, stand schnell von seinem Sessel auf, holte Louise auch ein Champagnerglas und reichte es ihr mit zitternder Hand.

»Habt ihr schon mal angefangen zu feiern?«, fragte Louise, während ihr Champagner eingeschenkt wurde. Ein Blick auf das Etikett verriet ihr, dass dies ein Henri Giraud für fast dreißigtausend Kronen war.

»Nimm Platz. Es gibt großartige Neuigkeiten.«

Mit feuchten Augen zeigte Elisabeth auf den einzigen freien Platz, Hennings Schreibtischstuhl.

»Jetzt erzählt endlich, ich platze vor Neugier!«

Louise nippte am Champagner. Er schmeckte nicht schlecht, aber der Preis war trotzdem übertrieben.

Elisabeth sah zuerst Henning und dann Louise triumphierend an. Anschließend nickte sie Henning aufmunternd zu.

»Ich habe den Anruf bekommen.«

»Den Anruf?«, fragte Louise, obwohl sie ganz genau wusste, was er meinte. Sie umklammerte ihr Glas fester.

»Ja, den Anruf«, wiederholte Henning überglücklich. »Mir wird der diesjährige Nobelpreis für Literatur verliehen.«

In dem kleinen Arbeitszimmer herrschte Schweigen. Dann durchbrach das Klirren von Louises Glas die Stille.

»Wann können wir wieder gehen?«, zischte Patrik Erica vor dem Stora Hotellet zu.

Eine Zeit lang schien das stürmische Wetter zur Ruhe zu kommen, aber nun peitschten die Wellen wieder ans Ufer. Erica glaubte das Salz schmecken zu können. Sie brachte Patrik mit einem strengen Blick zum Schweigen und trieb ihn zur Eile an, damit ihre Frisur dem Wind nicht vollständig zum Opfer fiel. Während sie ihre Jacken aufhängten, brummte Patrik mürrisch vor sich hin. Sie nahm ihm die Krawatte aus der Hand, an der er sich festgehalten hatte, und betrachtete ihn. Wenn er wüsste, wie gut er aussieht, dachte sie.

»Ich glaube, Louise hat dir eine besonders charmante Tischdame ausgesucht«, sagte sie. »Und schau doch mal, wie einladend der Saal aussieht. Das wird ein herrlicher Abend.«

Mit seinem Jackett war Patrik offenbar auch nicht zufrieden, denn er wand sich unbehaglich darin und warf nur einen kurzen Blick auf die langen gedeckten Tische.

»Hast du Dan und Anna gesagt, dass sie jederzeit anrufen können, wenn es ihnen zu viel wird?«

Seine diesbezüglichen Hoffnungen waren nicht zu überhören.

»Sie werden nicht anrufen. Und wir haben heute Abend kinderfrei und morgen früh auch. Ich weiß gar nicht mehr, wie das ist.«

»Überzeugt.« Diskret kniff Patrik ihr in den Po. »Ich habe auch schon eine Idee, wie wir die Zeit nutzen …«

»Ausschlafen?« Erica zwinkerte Patrik zu. Oh, wie sie diesen Mann liebte!

Sie küsste ihn auf die Wange und zeigte auf die Tischordnung, die neben dem Saaleingang hing.

»Siehst du? Sie hat dir den besten Platz gegeben. Du sitzt nämlich neben Louise.«

Patrik wirkte erleichtert. Erica zeigte auf ihren eigenen Namen.

»Und ich sitze am Nachbartisch. Zwischen Louises Ehemann Peter und Ole Hovland.«

»Peter habe ich schon mal gesehen, aber wer ist Ole Hovland?« Patrik sah zu Ericas Platz hinüber, wo bereits ein Mann im dunklen Anzug mit zurückgegeltem dunklem Haar saß.

»Er ist mit Susanne Hovland verheiratet, und die wiederum ist Mitglied der Schwedischen Akademie. Die beiden sind eng mit Elisabeth und Henning befreundet. Gemeinsam mit Rolf Stenklo, du weißt schon, diesem bekannten Naturfotografen, betreiben sie eine Art … tja, wie soll ich sagen? … einen Kulturverein oder besser einen elitären Club in Stockholm. Der Club heißt Blanche. Alles, was in der Hochkultur Rang und Namen hat, tummelt sich dort. Mit anderen Worten, ich werde niemals eingeladen werden. Wird bestimmt unterhaltsam, neben ihm zu sitzen. Möglicherweise braucht er Riechsalz, wenn ihm klar wird, was seine Tischdame für einen Schund fabriziert.«

»Stört dich das?« Patrik reichte Erica den Arm, damit sie mit ihren hohen Absätzen nicht die Treppe hinunterfiel.

»Ach was.« Erica hielt sich an ihm fest. »Ich finde das vor allem amüsant.«

»Na dann viel Vergnügen.« Er ging zu seinem Tisch.

Louise klopfte an ihr Glas und bat alle Gäste, sich hinzusetzen.

»Hallo, Erica!«

Peter rückte ihr den Stuhl zurecht und strahlte, als er sie begrüßte. Wieder einmal wurde Erica bewusst, wie sehr sie Louises Mann mochte.

Ole drehte sich zu ihr um, musterte sie ungeniert von Kopf bis Fuß, griff nach ihrer Hand und drückte seine Lippen darauf.

»Enchanté.«

Erica verkniff sich ein Lachen. Es würde zweifelsohne ein hochinteressanter Abend werden.

Elisabeth Bauer sah sich im Saal um. Hier hatten sie vor fünfzig Jahren geheiratet. Auch an dem Abend hatte es gestürmt, und die Tische waren mit weißen Decken, flackernden Kerzen und hellrosa Rosen genauso schön gedeckt gewesen wie heute.

Sie sah zu Henning, auf dessen anderer Seite Lussan saß, die Mutter von Louise. Er war unfassbar glücklich. Er redete laut, gestikulierte wild und lachte sein dröhnendes Lachen. Lussan lag ihm wie immer zu Füßen. In diesem Moment begriff Elisabeth, dass es das wert gewesen war. Auch das Schwere, auch die Wunden und sogar das, was sie manchmal bleischwer in die Tiefe zog, hatte sich letztendlich gelohnt.

Sie griff unter dem Tisch nach Hennings Hand. Er erwiderte den Druck. Strich mit dem Daumen über ihren Handrücken, der inzwischen voller Altersflecken war. Wie jung sie an jenem Abend vor fünfzig Jahren gewesen waren. Wie naiv. Und wie unvorbereitet auf alles, was das Leben mit ihnen vorgehabt hatte.

Doch nun saßen sie hier, in einem Saal voller Familienmitglieder, Freunde und Kollegen. Inmitten des üppigen Geflechts, das ihr gemeinsames Leben bildete. Viele der Gesichter ringsherum waren gealtert. Da saßen Menschen, die sie in jungen Jahren kennengelernt hatten, und nun waren sie alt. Henning würde bald achtzig werden und sie siebzig. Doch heute Abend fühlte sie sich reich beschenkt. Und jede Sorgenfalte und auch der gekrümmte Rücken waren es wert gewesen.

Sie drückte Hennings Hand noch einmal und ließ sie los. Jemand wollte eine Rede halten. Oscar Bäring. Ein enger Freund, aber auch einer der Autoren, dessen Verlegerin sie seit Jahrzehnten war. Im Laufe der Jahre hatte er viele renommierte Preise bekommen. Im Prinzip alle – bis auf den einen, der ihrem Mann bald verliehen würde. Als Oscar sich räusperte, um zu seiner Rede anzuheben, die mit Sicherheit lang werden würde, explodierte ein Feuerwerk der Freude in ihrer Brust. Es war nicht nur Freude, nicht nur Glück, nein, es war auch ein Triumphgefühl. Denn genau das war dieser Abend in Wirklichkeit: ein Triumph.

Die Gäste murmelten noch immer, und Oscar räusperte sich ein zweites Mal, diesmal leicht gereizt. Als es schließlich mucksmäuschenstill war, nahm er seinen Zettel in die Hand:

»Henning! Wie Thomas Mann schon sagte: ›Bücher sind der Honig der Seele.‹ Niemand verkörpert diesen Satz besser als du. Seit fast vierzig Jahren nährst du unsere Seelen mit deinen Texten. Deine Huldigung der Frau ist auf der ganzen Welt gelesen, diskutiert und gewürdigt und in unzählige Sprachen übersetzt worden …«

Elisabeth trank einen großen Schluck Weißwein. Sie liebte Oscar von Herzen. Aber eine ganze Rede von ihm war ohne Wein nicht zu ertragen.

Sie näherten sich allmählich dem Hauptgericht, und Patrik Hedström zerrte immer öfter an Krawatte und Hemdkragen. Seine Tischdame Louise war nicht allzu lange neben ihm sitzen geblieben, aber dafür hatte sich ihm die Dame auf seiner anderen Seite zugewandt, weil sich ihr eigener Tischherr vor allem dem Wein widmete.

»Nimm das blöde Ding doch ab«, sagte sie lächelnd.

Sie hieß Patricia Smedh und schrieb offenbar Romane, die sich nicht nur gut verkauften, sondern auch gute Kritiken bekamen. »Aber die Verkaufszahlen deiner Ehefrau erreiche ich bei Weitem nicht«, hatte sie ihm anvertraut.

»Unter diesen Leuten hier werde ich kein einziges Kleidungsstück ablegen«, sagte Patrik, lockerte seine Krawatte aber zumindest ein wenig, bevor er einen Schluck von seinem vollmundigen Wein nahm. Er wagte nicht nachzuzählen, wie viele Gläser er schon getrunken hatte.

»Elisabeth hätte bestimmt nichts dagegen.« Als Patricias Grinsen breiter wurde, traten die Fältchen um ihre Augen deutlicher hervor. »Henning war da immer etwas … korrekter.«

»Sie ist seine Verlegerin, oder?«

Patrik versuchte sich zu erinnern, was Erica ihm im Laufe des Tages erzählt hatte. Er liebte seine Frau und bewunderte sie für ihren Beruf, aber wenn sie über Bücher und die Verlagsbranche redete, schaltete er oft ab.

»Ja, und sie ist eine legendäre Verlegerin. Elisabeths Familie hat den Bauer Verlag kurz nach Entstehung des Albert Bonniers Verlags gegründet. Sie ist von Anfang an Hennings Verlegerin gewesen, und er hat bei der Eheschließung ihren Nachnamen angenommen.«

Patricia nippte an ihrem Weinglas. Während der ersten beiden Gänge hatte sie es kaum angerührt und hauptsächlich Wasser getrunken.

»Ist das nicht anstrengend? So eng zusammenzuarbeiten?«, fragte Patrik neugierig.

»Bei den beiden hat es offensichtlich funktioniert.« Patricia zuckte mit den Schultern.

Plötzlich fühlte er eine zärtliche Hand im Rücken. Erica war auf der Toilette gewesen und kam an seinem Tisch vorbei. Ihrem Atem und dem leicht schwankenden Gang nach zu urteilen, hatte sie auch einiges getrunken. Zum Glück konnten sie morgen ausschlafen.

»Hast du dich gut um meinen Mann gekümmert?« Erica fuhr ihm durchs Haar.

»Er ist ein ganz Lieber«, sagte Patricia. »Schön, dich mal in deiner Heimat und nicht nur auf Buchmessen zu treffen. Wie ist es denn so mit Ole?«

Erica verdrehte die Augen.

»Er will mich animieren, besser zu schreiben und mein Potenzial auszuschöpfen. In seinen Augen ist alles, was ich bisher gemacht habe, Perlen vor die Säue.«

Patrik lachte leise.

»Und dabei legt er mir ständig die Hand auf den Oberschenkel«, fuhr Erica fort.

»Spinnt der?« Patrik wollte aufspringen.

Erica legte ihm beide Hände auf die Schultern und küsste ihn auf die Wange.

»Damit kann ich umgehen, Liebling, ich finde es fast ein bisschen unterhaltsam.«

Sie lächelten sich an, und dann ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen.

»Wer sind denn eigentlich die beiden neben Henning und Elisabeth, die aussehen, als wären sie der Landlust für den Landadel entsprungen?«

»Deine Beobachtungsgabe ehrt dich, auch wenn sie vor Vorurteilen strotzt«, murmelte Erica. »Das sind Lussan und Pierre, die Eltern von Louise. Er hat eins der größten Landgüter in Schonen geerbt und ist seit Ewigkeiten mit Lussan verheiratet.«

»Beim Friseur wieder in Svensk Damtidning geblättert?«

Erica rümpfte die Nase.

»Nein, das hat mir Louise erzählt. Wir reden nämlich miteinander, wenn wir spazieren gehen. Aber jetzt muss ich zurück zu meinem anhänglichen Tischherrn. Der jüngere Sohn will anscheinend eine Rede halten.«

Patrik sah Erica hinterher. Seine Frau war an diesem Abend die Schönste im Saal, da gab es nichts. Und morgen konnten sie lange liegen bleiben …

Ein Klirren markierte, dass Erica recht gehabt hatte. Noch eine Rede. Ungefähr bei der zwölften hatte Patrik aufgehört zu zählen. Und lang waren die meisten auch noch.

»Hallo, alle zusammen!«

Ein Mann um die vierzig war aufgestanden. Patrik konnte sich vage erinnern, von Erica gehört zu haben, dass er Rickard hieß. Auf den ersten Blick sah Rickard aus wie ein Snob. Zurückgegeltes Haar, Rolex am Handgelenk und allem Anschein nach zutiefst von sich selbst überzeugt. Und außerdem offenbar angetrunken. Schwankend hob er sein Weinglas und fixierte mit Mühe seine Eltern.

Er hielt einen Briefumschlag in die Höhe.

»Hier habe ich zwei verschiedene Reden. Du kannst dir eine aussuchen, Papa …«

Rickard lachte laut über den eigenen Scherz und warf den Umschlag zur Seite.

»Nein, so schlimm ist es nun auch wieder nicht. Ich weiß ja, das hier ist euer Abend. Mit dir werde ich anfangen, Papa. Ein besonders guter Vater bist du nicht gewesen …«

Patrik verschluckte sich. Was zum Teufel kam denn jetzt?

Henning ballte die Fäuste unter dem Tisch. Rickard. Immer Rickard. Schon von klein auf hatte er beharrlich alles kaputtgemacht, was ihm in die Quere kam. Ganz anders als Peter, der immer das Richtige tat.

Er warf seinem ältesten Sohn einen Blick zu. Peter sah genauso verärgert aus, wie er sich fühlte. Drüben am Kindertisch saßen Max und William mit ihren blau, grau und weiß gestreiften Krawatten, die sie vorhin gemeinsam ausgesucht hatten, und sahen ihren Onkel mit großen Augen an.

Elisabeth hatte Henning eine Hand auf den Oberschenkel gelegt. Ihre Schwäche für Rickard hatte er nie verstanden. Der Sohn war ihr blinder Fleck. Sie verzieh ihm alles und gab ihm immer wieder eine Chance.

»Er hat zu viel getrunken«, flüsterte sie. Henning beugte sich zu ihr.

»Er blamiert sich«, sagte er leise. »Er blamiert uns.«

Im Augenwinkel registrierte er Lussans empörten Blick und schämte sich. Er wusste, dass Louises Eltern großen Wert auf Etikette legten. In den Kreisen, in denen sie verkehrten, war ein derartiges Benehmen vollkommen inakzeptabel.

»Morgen wird er sich bestimmt bei dir entschuldigen.«

Elisabeth drückte seinen Oberschenkel ein wenig. Henning biss die Zähne zusammen. Am liebsten hätte er seinen Jüngsten am Schlafittchen gepackt und eigenhändig hinausgeworfen, aber alle Augen waren auf sie gerichtet. Und er war nicht mehr nur für sich selbst verantwortlich. Er war nicht nur Henning Bauer, der Autor. Nicht nur Henning Bauer, Ehemann und Vater. Bald war er Henning Bauer, Nobelpreisträger für Literatur. Einen Eklat konnte er sich nicht erlauben. Und daher lächelte Henning nur, während sich sein schwankender Sohn mit glasigem Blick um Kopf und Kragen redete. Und als die Rede endlich vorbei war, applaudierte er als Erster.

»Oh mein Gott!« Erica sah Ole an.

Das Dessert war aufgegessen, der Saal leerte sich allmählich. Da viele Gäste im Hotel übernachteten, gingen sie kurz auf ihre Zimmer, um sich für den Ball umzuziehen, sich die Nase zu pudern oder nach Rickards Rede einmal tief durchzuatmen. Die Stimmung war aufgewühlt, und Peter hatte sich gerade entschuldigt, weil er mit seinen Eltern sprechen wollte.

»So was kommt in den besten Familien vor.« Ole lallte bereits. Er winkte der Kellnerin und zeigte auf sein Whiskyglas.

Vivian Stenklo beugte sich zu Erica. Während des Essens hatte sie nicht viel gesagt, aber die Rede des jüngsten Sohns von Familie Bauer hatte auch sie offensichtlich aufgewühlt.

»Rickard war immer das Sorgenkind«, sagte sie. »Ständig bettelt er Elisabeth um Geld an. Lebt weit über seine Verhältnisse, arbeitet kurz in den Jobs, die sie ihm verschafft, und in der Zwischenzeit gründet er Firmen, in die sie jede Menge Geld steckt, bevor sie dann doch den Bach runtergehen. Wenn Rolf hier wäre, hätte er ihm die Ohren langgezogen.«

»Ja, schade, dass Rolf nicht kommen konnte«, sagte Erica.

Als Vivian den Blick senkte, fügte sie hinzu:

»Er hat bestimmt alle Hände voll zu tun. Ich habe gesehen, dass er demnächst in der Galerie gegenüber ausstellt, und freue mich schon darauf. Seine Fotos sind wirklich was Besonderes. Worum geht es denn diesmal? Borneo? Antarktis?«

»Das weiß ich auch nicht«, sagte Vivian. »Er hat nur gesagt, dass es ein Rückblick auf die Vergangenheit wird. Apropos Rolfs Vergangenheit. Es gibt da ein Mysterium, das Sie sich vielleicht mal ansehen sollten. Einen rätselhaften Mord …«

Mit einem geheimnisvollen Lächeln stand sie auf.

»So, jetzt gehe ich mich frisch machen. Ich habe mir heute Nacht ein Hotelzimmer gegönnt, damit ich Rolf nicht wecke, wenn ich spät nach Hause komme. Kommen Sie doch diese Woche mal in der Galerie vorbei. Rolf erzählt Ihnen sicher mehr darüber.«

»Das mache ich auf jeden Fall. Danke«, sagte Erica.

Was hatte Vivian gesagt? Ein rätselhafter Mord?

Sie wurde von Ole, der Vivian gar nicht zugehört zu haben schien, aus ihren Gedanken gerissen.

»Schon gehört?« Er kam ihr noch näher als schon während des Essens und griff grinsend nach seinem Whiskyglas.

»Schon gehört, dass Henning den Literaturnobelpreis bekommt?«

Er leckte sich die Lippen und sah sie schmachtend an. Zum wiederholten Mal stieß sie seine Hand von ihrem Oberschenkel.

»Und woher weißt du das?«

Erica nahm sein besoffenes Gebrabbel nicht besonders ernst. Die achtzehn Akademiemitglieder hielten streng geheim, wer den Preis bekommen würde, das wusste jeder. Angeblich war es zwar schon mal zu Indiskretionen gekommen, aber auf solche Gerüchte gab sie nichts. Die Kulturelite Schwedens liebte Klatsch und Tratsch.