Beyond the Horizon - Mareen Knoth - E-Book

Beyond the Horizon E-Book

Mareen Knoth

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Beschreibung

Band 2 der prickelnden Feelgood-Rockstar-Romance Charlene Hamilton bricht alle Brücken hinter sich ab, um in Vancouver einen Neustart zu wagen. Den Männern hat sie bis auf weiteres abgeschworen und sich fest vorgenommen, zuerst ihr Leben auf die Reihe zu kriegen, bevor sie sich ins nächste Abenteuer stürzt. Als ihr neuer Job als Masseurin sie ausgerechnet in die Villa der gefeierten Rockband Renard führt, wird ihr Plan gleich am ersten Tag auf die Probe gestellt. Denn der einfühlsame und extrem gutaussehende Gitarrist Rhys McLeod bringt eine Saite in ihr zum Schwingen, die Charlene seit längerem mit aller Macht unterdrückt ...

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Seitenzahl: 419

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© 2023 by Mareen Knoth Originalausgabe © 2023 by MIRA Taschenbuch in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Covergestaltung von zero Werbeagentur, München Coverabbildung von nednapa, koTRA, Budai Romi, TFYKub / Shutterstock E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783745703979www.harpercollins.de

HINWEIS

Die im Buch vorkommenden Personen sowie die Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden oder verstorbenen Menschen wären rein zufällig.

LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

Liebe Leserin, lieber Leser,

die Geschichte enthält Themen, die potenziell triggern können. Deshalb findest du am Ende des Buches eine Triggerwarnung.

Achtung: Die Auflistung der Themen enthält Spoiler für die Handlung.

Wir wünschen dir viel Spaß mit Beyond the Horizon, deine Mareen und dein MIRA Taschenbuchverlag

WIDMUNG

Für meine Schwester –

danke, dass du immer an mich glaubst!

ZITAT

Don’t you want to spread your wings and fly? Don’t you really wanna live your life? Don’t you wanna love before you die? What are you waiting for?

CHAD KROEGER, RYAN PEAKE, JACOB KASHER, GORDON SRAN

PLAYLIST

BRETT KISSEL – My Cowgirl

ADELE – Someone Like You

CARRIE UNDERWOOD – Before He Cheats

ROSA LINN – Snap

AMY MACDONALD – Let’s Start A Band

BON JOVI – Blood On Blood

ED SHEERAN – Castle On The Hill

FEARLESS SOUL – Find My Way

LANCE & LINTON, NC CARSON – Best Time’s Right Now

SYML – Where’s My Love

KALEO – Way Down We Go

ALEX CONDLIFFE, LAMB HANDS – You

TAYLOR SWIFT – Wildest Dreams

ED SHEERAN – Photograph

BON JOVI – We Don’t Run

SCORPIONS – Follow Your Heart

NICKELBACK – What Are You Waiting For

RACHEL PLATTEN – Fight Song

BRAINHEART, SIS – Explore The World

ZIGGY ALBERT – Heartbeat

ONEREPUBLIC – Good Life

LEONA LEWIS – A Moment Like This

JOHN LEGEND – All Of Me

THE PITCHER – Together As One

KAPITEL 1

Charlene

Die Tür des Diners öffnete sich mit einem Quietschen. Erschöpft setzte Charlene sich an einen freien Tisch in der Ecke des Raums und griff nach der Speisekarte. Ein verführerischer Duft von gebratenem Fleisch und Frittiertem stieg ihr in die Nase und ließ ihren Magen laut knurren. Sehnsüchtig blickte sie zum Nachbartisch, an dem sich eine Gruppe Jugendlicher über gigantisch große Burger hermachte. Vor ihnen stand eine Platte goldbrauner Fries, bei deren Anblick Charlene das Wasser im Mund zusammenlief. Am liebsten hätte sie sich ebenfalls einen saftigen Burger bestellt. Doch dann dachte sie an den kläglichen Inhalt ihres Geldbeutels und entschied sich schweren Herzens für eine Suppe.

Während sie auf ihr Essen wartete, scrollte sie erneut durch die Startseite der App, in der freie WG-Zimmer aufgelistet wurden, und stellte fest, dass sie alle infrage kommenden Angebote bereits abtelefoniert hatte. Seufzend legte sie ihr Handy zur Seite. Niemand wollte einer jungen Frau, die weder einen Job hatte noch die Miete im Voraus bezahlen konnte, ein Zimmer überlassen.

Entschlossen verdrängte sie die Worst-Case-Szenarien, die über sie hereinzubrechen und ihr jeglichen Optimismus zu rauben drohten, und fixierte den Eingang zur Küche, als könnte sie so das Eintreffen der heiß ersehnten Mahlzeit beschleunigen. Als die Kellnerin ihr endlich das Essen brachte, atmete Charlene erleichtert auf. Die Suppe schmeckte überraschend gut, fachte ihren Hunger jedoch eher an, als ihn zu stillen.

Um nicht in Versuchung zu geraten, sich doch noch einen Burger zu bestellen, suchte sie die Waschräume auf. Dabei blieb ihr Blick an einem Korkbrett hängen, an dem ein unübersichtliches Sammelsurium an bunten Flyern und losen Zetteln befestigt war. Eine handgeschriebene Anzeige auf sonnengelbem Papier, die beinahe vollständig verdeckt wurde, erweckte ihr Interesse. Jemand suchte eine Mitbewohnerin, allerdings gab es weder eine Angabe über die Größe des Raums noch über die monatliche Miete. Bestimmt hatte die Sache einen Haken oder das Zimmer war längst weg. Trotzdem machte sie ein Foto und beschloss, einen letzten Versuch zu wagen, bevor sie in den sauren Apfel beißen und sich für die Nacht in einem günstigen Motel einquartieren musste.

Charlene hatte Glück, denn bereits nach dem zweiten Läuten meldete sich eine sympathisch klingende Frauenstimme, die sie einlud, sich das Zimmer noch am selben Abend anzuschauen. Die Parkplatzsuche gestaltete sich als schwierig, aber so bekam Charlene einen ersten Eindruck von der Gegend. Die belebten Straßen des South Main District von Vancouver vermittelten ihr ein Gefühl von Sicherheit. Hier würde sie in der Menge untertauchen und ihre Vergangenheit hinter sich lassen können.

Als Charlene die richtige Hausnummer gefunden hatte und das moderne Design des Gebäudes mit den bodentiefen Fenstern und geräumigen Balkons betrachtete, schwand ihr Mut. Ein Zimmer in einer solchen Wohnung würde sie sich niemals leisten können. Dennoch drückte sie auf den Klingelknopf, ging am Aufzug vorbei und nahm aus Gewohnheit die Treppe in den fünften Stock.

In der Tür stand eine junge Frau Mitte zwanzig mit dunkler Haut und gelocktem Haar, die ihr freundlich die Hand reichte und sich als Suzanne vorstellte. Sie führte Charlene durch einen hellen Flur in das großzügig geschnittene Wohnzimmer, aus dem fröhliche Country-Musik ertönte.

»Du hörst Brett Kissel? Ich liebe seine älteren Songs, aber mit seiner neuen Single hat er sich selbst übertroffen! Findest du nicht?«, plapperte Charlene drauflos, die sich nur schwer bremsen konnte, wenn es um Musik ging. Suzannes Augen weiteten sich überrascht.

»Absolut! Die Harmonik ist zwar recht schlicht, aber durch die raffinierte Rhythmik und den mitreißenden Text wird man in einen Sog gezogen, dem man nicht entkommen kann.«

»Wusstest du, dass er bereits mit zwölf sein erstes Album veröffentlicht hat?«

»Nein, das wusste ich nicht, aber es freut mich, dass wir den gleichen Musikgeschmack haben.«

Während Suzanne weitere Bands aufzählte, die sie gern hörte, schaute Charlene sich neugierig um. Zu ihrer Linken befand sich eine offene Küche, deren Schränke ganz in Weiß gehalten waren. Auf der naturbelassenen Arbeitsplatte stapelten sich benutzte Teller, dazwischen standen unzählige bunt zusammengewürfelte Becher und leere Gläser. Da das Chaos ein nervöses Kribbeln in ihr auslöste, wandte sie sich dem Wohnbereich zu. Ein gemütliches Sofa in einem warmen Cremeton gruppierte sich mit zwei passenden Sesseln um einen niedrigen Holztisch, auf dem jede Menge Zeitschriften lagen. Von Mode übers Gärtnern bis hin zu trendigem Lifestyle war alles dabei. Vor den Fenstern stand ein massiver Esstisch mit vier Stühlen. An der hinteren Wand entdeckte Charlene ein vollgestopftes Bücherregal. Sie wollte sich gerade die Buchtitel genauer anschauen, als ihr die vielen bunten Schnittblumen auffielen, die überall im Raum verteilt waren.

»Ich arbeite bei Florence’s Flower Paradise um die Ecke«, erklärte Suzanne, der Charlenes erstaunter Blick nicht entgangen war. »Meine Chefin erlaubt mir, die Sträuße, die sich nicht mehr verkaufen lassen, abends mit nach Hause zu nehmen.« Sie durchquerte den Raum, öffnete die Tür zum Balkon und winkte Charlene mit einer Handbewegung zu sich. Von hier aus bot sich eine spektakuläre Aussicht auf einen Park, in dem zahlreiche Jogger und Spaziergänger unterwegs waren.

Das Badezimmer war mit wunderschönen meerblauen Kacheln gefliest und verfügte neben einer geräumigen Dusche auch über eine Badewanne. Vor dem gekippten Fenster bauschten sich weiße Vorhänge, und es duftete angenehm nach Zitrone.

Suzanne wirkte mit einem Mal nervös, als sie vor der letzten Tür stehen blieb.

»Das wäre dein Zimmer, falls du es haben möchtest. Es ist ziemlich klein, aber ich bin mir sicher, dass es gemütlicher wirkt, wenn du dich erst einmal eingerichtet hast«, druckste sie herum, bevor sie die Tür öffnete.

Charlene spürte Suzannes Anspannung, als sie den Raum betrat, in dem sich ein Bett, ein quadratischer Tisch mit einem Stuhl und ein schmaler Schrank aus schlichtem hellem Holz befanden. Das Fenster, das über die gesamte Schmalseite des Raums ging, zeigte zum Nachbarhaus hinüber. Charlene blickte in ein Wohnzimmer, in dem sich eine vierköpfige Familie vor dem Fernseher versammelt hatte und eine Zeichentrickserie ansah.

»Es sollte ursprünglich ein Hobbyraum werden, aber ich bin viel zu selten zu Hause, als dass es sich lohnen würde, ihn herzurichten. Außerdem habe ich schon bald nach meinem Einzug festgestellt, dass alleine wohnen nichts für mich ist. Deswegen habe ich überall Zettel aufgehängt, aber die bisherigen Bewerberinnen und Bewerber waren nicht so ganz mein Fall. Und da wir uns das Wohnzimmer, Küche und Bad teilen werden, ist es mir wichtig, jemanden zu finden, der mir sympathisch ist.« Charlene strich geistesabwesend über die Tischplatte.

»Was meinst du?« Suzanne, die aus Platzmangel im Türrahmen stehen geblieben war, trommelte unruhig mit den Fingern gegen das Holz.

Sonderlich geräumig war das Zimmer wirklich nicht, eher ein größerer Schuhkarton, aber das Einzige, was Charlene brauchte, war ein sicherer Rückzugsort, wo sie ihre Wunden lecken und sich in Ruhe überlegen konnte, was sie von nun an mit ihrem Leben anfangen wollte.

»Wenn es nicht zu teuer ist, würde ich das Zimmer gerne nehmen. Allerdings müsste ich mir erst einen Job suchen, bevor ich dir die Miete für den laufenden Monat geben kann. Kennst du zufällig jemanden, den ich um einen Job bitten könnte?«, fragte Charlene und folgte Suzanne zurück ins Wohnzimmer.

»Was machst du denn beruflich?« Suzanne deutete mit einer einladenden Geste auf die Couch und holte eine Flasche Wein, eine Karaffe mit Wasser und zwei Gläser aus der Küche. Charlene, die einen klaren Kopf behalten wollte, entschied sich für Wasser.

»Ich bin gelernte Physiotherapeutin und Masseurin, aber ich habe auch schon als Kellnerin, Nanny, Hundesitterin und Ticketkontrolleurin gearbeitet. Parkplatzwächterin war ich auch eine Zeit lang – eine Erfahrung, die ich nicht unbedingt wiederholen möchte.«

»Das musst du auch nicht, denn …« Suzanne legte eine Spannungspause ein und machte es sich ihr gegenüber in einem der Sessel gemütlich. »Mein Bruder hat einen Massagesalon und sucht gerade Verstärkung für sein Team.« Sie legte fragend ihren Kopf schief. »Bist du gut in deinem Job?«

Charlene nickte. Auch wenn ihr Selbstbewusstsein in den letzten Jahren extrem gelitten hatte, war ihr Glaube an ihre beruflichen Fähigkeiten davon verschont geblieben. Sie liebte ihren Job, was ihre Patienten zu spüren schienen, denn sie hatten ihr Tag für Tag versichert, wie wunderbar entspannt sie sich nach der Behandlung fühlten.

»Wie wäre es, wenn ich ihm von dir erzähle und ihn überrede, dich zu einem Kennenlerngespräch und einer Probemassage einzuladen?« Charlene traute ihren Ohren kaum.

»Das würdest du für mich tun?«

»Na klar! Schließlich mache ich damit gleich zwei Menschen glücklich, wenn du wirklich so gut bist, wie du sagst. Und sollte das wider Erwarten nicht klappen, finden wir eine andere Lösung.«

Charlene, der Suzannes offene und unkomplizierte Art auf Anhieb sympathisch gewesen war, fiel ein riesiger Stein vom Herzen.

»Wenn du das Zimmer haben willst, gehört es dir.« Lächelnd streckte Suzanne die Hand aus, die Charlene mit vor Freude klopfendem Herzen ergriff.

KAPITEL 2

Rhys

Das Klingeln seines Handys übertönte das Prasseln des Regens, der gegen die Fensterscheiben schlug. Rhys drehte sich im Bett um und versuchte, das nervige Geräusch zu ignorieren. Doch kaum war es verstummt, begann es kurz darauf von Neuem. Murrend wälzte er sich herum und griff nach seinem Smartphone, das auf dem Nachttisch lag.

»Komm aus den Federn!«, ertönte die Stimme von Henry Dubois aus dem Lautsprecher. »Pascal will um neun Uhr proben.« Ohne auf eine Reaktion zu warten, legte Henry auf, was Rhys zum Schmunzeln brachte. Er beneidete ihren Manager nicht um die Aufgabe, die vier Bandmitglieder pünktlich zusammenzutrommeln, oder dass er damit leben musste, sich den Zorn ihres Sängers und Bandleaders zuzuziehen.

Rhys rekelte sich ein letztes Mal, bevor er die Decke zurückschlug und aufstand. Ein kurzer Blick ins Bad verriet ihm, dass er alleine war. Seine Bekanntschaft musste im Laufe der Nacht gegangen sein. Neben der Kaffeemaschine entdeckte er einen Zettel:

»Vielen Dank für die tolle Nacht! Ruf mich an, wenn du mal wieder Spaß haben willst. Kuss, T.« Darunter stand eine Telefonnummer.

Erleichtert darüber, keine peinliche Frühstückskonversation betreiben zu müssen, knüllte Rhys den Zettel zusammen und warf ihn in den Papierkorb. Im Laufe der Jahre hatte er die Erfahrung gemacht, dass unkomplizierte One-Night-Stands am besten zu seinem unsteten Leben passten. Als Berufsmusiker probte er oft bis in die frühen Morgenstunden oder war monatelang auf Tour. Und bisher hatte er noch keine Frau kennengelernt, die sich auf Dauer damit zufriedengegeben hatte, ihn nur hin und wieder zu sehen und ihn darüber hinaus nicht nur mit seinen Bandkollegen, sondern auch noch mit Hunderttausenden Fans teilen zu müssen.

Ein Blick auf die Uhr trieb ihn zur Eile. Er sprang unter die Dusche und schlüpfte anschließend in Jeans, Shirt und locker geschnürte Lederboots. Dann schnappte er sich seine momentane Lieblingsgitarre, eine Ibanez, die er erst kürzlich auf einer Online-Auktion ersteigert hatte, und machte sich auf zur Tiefgarage.

Als Rhys in der Villa ankam, war noch keiner seiner Bandkollegen eingetroffen. Pascal befand sich laut Henry noch in seiner Suite und verabschiedete sich von seiner Freundin Natalie, die an diesem Tag zu einer dreiwöchigen Konzerttour aufbrechen sollte. Wenn er sie nicht bald gehen ließ, würde sie noch ihren ersten Auftritt verpassen. Rhys musste grinsen, als er an die turbulenten Wochen dachte, in denen Pascal und Natalie zusammengearbeitet hatten. Er hatte gleich bei der ersten Begegnung mit Natalie gewusst, dass sie das Potenzial hatte, seinem ältesten und besten Freund den Kopf zu verdrehen. Niemals würde er vergessen, mit welcher Vehemenz sie Pascal, der versucht hatte, seine Enttäuschung über seine zum Scheitern verurteilte Karriere in Alkohol zu ertränken, den Kopf zurechtgerückt hatte.

Es war schön, zu erleben, wie glücklich Pascal mit ihr war, auch wenn Rhys bedauerte, dass sie nun nicht mehr gemeinsam um die Häuser ziehen würden. Die Zeit der wilden Partys schien ein für alle Mal vorbei zu sein.

Mit einem leisen Seufzen nahm er seine Gitarre zur Hand und spielte den Song, den er am Vortag geschrieben hatte. Die Harmoniefolge hörte sich stimmig an, auch mit der Melodie war er zufrieden, nur der Text wollte ihm noch nicht flüssig über die Lippen kommen. Während er die Gesangslinie ein ums andere Mal wiederholte und dabei verschiedene Textvarianten ausprobierte, vergaß er die Welt um sich herum. Die Musik war sein Ein und Alles.

Schon in seiner Kindheit hatte das gemeinsame Musizieren mit Pascal ihn von familiären Schwierigkeiten oder der Frage, wie sie auf den Straßen von Montreal überleben sollten, ohne einer der rebellierenden Gangs in die Finger zu geraten, abgelenkt. Es war Pascal gewesen, der im Alter von zwölf Jahren beschlossen hatte, Rockmusiker zu werden, um der Armut und dem Elend zu entfliehen, in dem sie aufgewachsen waren. Wobei Pascal es mit seiner drogensüchtigen Mutter und seinem alkoholkranken Vater, der darüber hinaus noch zu Gewaltausbrüchen neigte, wesentlich schlimmer getroffen hatte als Rhys. Seine Familie war zwar arm gewesen, hatte sich aber immer nach Kräften bemüht, das Beste aus ihrem Leben zu machen.

Nachdem ihre Zukunft beschlossene Sache war, hatten sich die Jungs kleinere Aushilfsjobs gesucht und so lange gespart, bis sie sich ihre ersten eigenen Gitarren kaufen konnten. Sie hatten sich selbst das Spielen beigebracht, indem sie ihre Lieblingslieder in Dauerschleife angehört hatten, bis es ihnen gelungen war, die Akkorde zu enträtseln. Und während Pascal seine Liebe für den Gesang entdeckt hatte, war Rhys immer mehr mit seiner Gitarre verschmolzen, die er bald nur noch zum Schlafen weglegte. Solange er Musik machen und gemeinsam mit Pascal und den Jungs auf der Bühne stehen durfte, war seine Welt in Ordnung.

KAPITEL 3

Charlene

Charlene kaute nervös auf ihrer Unterlippe, als die lange Kolonne an Autos vor ihr erneut ins Stocken geriet. Wenn das so weiterging, würde sie es niemals rechtzeitig zur Arbeit schaffen. Ausgerechnet an ihrem ersten Tag musste Luis, Suzannes Bruder und ihr neuer Boss, mit einem Magen-Darm-Infekt flachliegen. Er hatte ihr angeboten, Pascal Girard, den Sänger und Frontman der Band Renard, der zu seinen wichtigsten Klienten zählte, darüber zu informieren, dass ein Teil der gebuchten Massagen wegen seiner Erkrankung ausfallen musste. Doch Charlene hatte darauf bestanden, Luis’ Sessions zu übernehmen. Sie war an lange und harte Tage gewöhnt. Auch in ihrem früheren Job in einem überbelegten Pflegeheim hatte es an Personal gemangelt, sodass Charlene häufiger Überstunden hatte machen müssen.

Sie wollte Luis von Anfang an beweisen, dass er sich auf sie verlassen konnte. Außerdem brauchte sie den Job dringend und war ihm unendlich dankbar, dass er ihr nach einem einstündigen Vorstellungsgespräch mit einer anschließenden Massagesession eine Chance gegeben und sie auf Probe eingestellt hatte, obwohl sie kein Empfehlungsschreiben vorweisen konnte. Im Kopf wiederholte sie die Regeln, die er ihr eingeschärft hatte: Mische dich niemals in die Angelegenheiten deiner Klienten ein! Vermeide private Beziehungen und wahre stets die angemessene Distanz! Das sollte zu schaffen sein.

Sie stellte die Scheibenwischer des Chevys eine Stufe höher und versuchte, durch die Regenwand das Schild für die Abzweigung auf den Highway 99 zu erkennen, der sie nach West Vancouver bringen würde. Die Ampel vor ihr schaltete auf Rot. Charlene trat stöhnend auf die Bremse. Der Motor gab ein ersticktes Geräusch von sich und erstarb.

»Oh, nein! Bitte nicht!« Hektisch versuchte sie, den Wagen wieder anzulassen, ohne dass sich etwas tat. Die Ampel sprang auf Grün, und sogleich fingen die hinter ihr wartenden Fahrer an zu hupen.

»Lass mich jetzt nicht im Stich!«, flehte sie und drehte erneut am Schlüssel. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sich einen derart in die Jahre gekommenen Wagen zuzulegen. Aber der Preis war unschlagbar gewesen, und da sie nur wenig Erspartes hatte, war sie das Risiko eingegangen, zumal sie es eilig gehabt hatte, ihrer Heimatstadt den Rücken zu kehren. Nach einem weiteren Stoßgebet sprang der Motor stotternd an. Charlene atmete erleichtert aus. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie schwitzte. Sie konnte nur hoffen, dass Pascal Girard, der für seine temperamentvolle und obendrein auch noch launische Art bekannt war, ihr wegen ihrer Verspätung nicht den Kopf abreißen würde.

Charlene schaltete das Radio an in der Hoffnung, dass die Musik sie ablenken würde. Als die elektrisierenden Gitarrenklänge des nächsten Songs das Innere des Wagens erfüllten und nach dem Intro eine rauchige Stimme erscholl, lachte sie laut auf. Es klang sogar in ihren Ohren leicht hysterisch. Natürlich musste der Sender ausgerechnet Phoenix From The Ashes, Renards aktuellen Hit, spielen, der seit Wochen die Charts anführte.

Suzanne war völlig aus dem Häuschen geraten, als sie erfahren hatte, wo Charlene arbeiten würde. Es war offensichtlich, wie sehr sie für die Band schwärmte und dass sie alles getan hätte, um einmal dem berühmt-berüchtigten Frauenschwarm Pascal Girard gegenüberzustehen. Charlene sah der Begegnung mit ihm und den Mitgliedern seiner Band gelassen entgegen. Nach ihrer letzten Erfahrung brauchte sie dringend Abstand von der Männerwelt und hatte nicht vor, sich ausgerechnet von einem Rockmusiker den Kopf verdrehen zu lassen, zumal sie damit gegen so ziemlich jede von Luis’ Regeln verstoßen würde.

Am Tor zur Villa kurbelte Charlene das Fenster herunter, um die Sprechanlage zu betätigen. Eine Windbö peitschte ihr eine Ladung Regen ins Gesicht. Entnervt wischte sie sich die nassen Strähnen von den Wangen. Nachdem sie dem freundlichen Mann von der Security erklärt hatte, wer sie war, und ihren Ausweis vor die Kamera gehalten hatte, rollte das Tor automatisch zur Seite und gab den Weg frei.

Charlene folgte der breiten Auffahrt. Das Grundstück musste riesig sein, denn obwohl sie bereits vor mehreren Minuten den Zugang passiert hatte, war noch immer kein Haus in Sichtweite. Sie war so vom Anblick der beeindruckend hohen Bäume zu beiden Seiten des Weges fasziniert, dass sie von der Zufahrtsstraße abkam und der Wagen auf den durchweichten Grasstreifen geriet. Der Chevy schlingerte leicht, als sie das Lenkrad reflexartig herumriss. Sie hielt an und schloss für einen Moment die Augen, um den Schrecken zu verarbeiten. Auch wenn die letzten Wochen zermürbend und von Stress und Schlafmangel geprägt gewesen waren, konnte sie sich derartige Aussetzer nicht erlauben. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie vor lauter Träumerei gegen einen Baum gefahren wäre oder eines der liebevoll angelegten Blumenbeete zerpflügt hätte! Sie schaltete in den ersten Gang und fuhr konzentriert weiter, den Blick fest auf den Weg gerichtet.

Als die Villa vor ihr auftauchte, klappte Charlene vor Staunen der Mund auf. Zwar hatte Suzanne ihr Fotos von Girards Anwesen gezeigt, doch die konnten nicht einmal annähernd mit der Realität mithalten. Charlene kam sich vor wie in einem Film, als die graue Wolkendecke, die den ganzen Morgen bedrohlich tief über Vancouver gehangen hatte, im perfekten Augenblick aufriss und zarte Sonnenstrahlen auf die gläserne Fassade der mehrstöckigen Villa fielen. Und obwohl sie sich nichts aus protzigen Häusern machte, entwich ihr ein verzücktes Seufzen.

Vor der doppelflügeligen Eingangstür erblickte sie eine Frau und zwei Männer. Einen der beiden erkannte Charlene beim Näherkommen als Pascal Girard. Er hielt eine schlanke Brünette im Arm und gab ihr einen leidenschaftlichen Kuss. Ein Mann im Anzug hielt den beiden einen Regenschirm über die Köpfe und blickte dabei diskret zur Seite, was der Szene eine gewisse Komik verlieh.

Charlene fuhr in einem weiten Halbkreis auf den Vorplatz und parkte ihren Wagen vor dem Ostflügel des Hauses. Obwohl sie sich bemüht hatte, so wenig Aufsehen wie möglich zu erregen, schauten dennoch alle zu ihr hinüber. Das Dröhnen ihres altersschwachen Motors war nur schwer zu überhören.

Dank Suzannes ausführlichen Erklärungen am Vorabend wusste Charlene, dass es sich bei der Frau um Natalie Winter handelte, die ein Großteil der Fans von Renard glühend beneidete. Ihr war es gelungen, sich den heiß begehrtesten Junggesellen Kanadas zu angeln, der dafür bekannt gewesen war, keine festen Beziehungen einzugehen. Natalie nickte Charlene freundlich zu. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Girard und strich ihm zärtlich über die Wange, ehe sie sich dem schwarzen SUV zuwandte, der soeben vorgefahren war. Für einen Moment sah es so aus, als weigerte Girard sich, sie gehen zu lassen. Sein Arm schoss vor, als wollte er nach ihr greifen. Doch dann fuhr er sich stattdessen mit den Fingern durchs Haar und zwang sich zu einem Lächeln, das reichlich verkrampft ausfiel. Der Schirmträger warf Girard einen mitfühlenden Blick zu, ehe er die Tür hinter Natalie schloss. Kurz darauf rollte der Wagen davon.

Charlene wartete noch einen Moment, ehe sie ausstieg und mit zittrigen Knien auf die beiden Männer zuging.

Während Girard weiter dem SUV hinterhersah, klappte der Regenschirmhalter nach einem prüfenden Blick zum Himmel den Schirm zusammen und musterte Charlene durch seine nassen Brillengläser.

Auch er war ihr dank der zahlreichen Interviews, die Suzanne sie zur Vorbereitung auf ihren neuen Job hatte anschauen lassen, bekannt. Es handelte sich um Henry Dubois, den neuernannten Manager von Renard und ehemaligen Assistenten Girards. Laut Suzanne hatte es wochenlang Spekulationen gegeben, ob ein Greenhorn wie Henry den Anforderungen eines solchen Jobs gewachsen war. Besonders laut sollte Norman Wilson, Renards ehemaliger Manager, die Gerüchteküche angefacht und mehrmals vor der Presse betont haben, dass er der Band maximal ein Jahr gebe, bevor sie in die Mittelmäßigkeit abrutschen würde und den Spitzenplatz als eine der weltweit beliebtesten Rockbands abgeben müsste. Charlene zweifelte diese Aussage an, denn bislang schien es für Renard mehr als gut zu laufen. Die neuen Songs Phoenix From The Ashes, Beyond The Stars und I’ll Be The One, die Pascal für Natalie geschrieben hatte, waren seit ihrem Erscheinen in den Top Ten der Charts und wurden im Radio rauf und runter gespielt. Die Fans hatten sich sofort in Girards romantische Seite verliebt, auch wenn der Großteil der weiblichen Anhänger noch damit beschäftigt war, den Schock zu verdauen, dass der gefeierte Bandleader sein Herz an seine Stimmtrainerin verloren hatte. Als er sich mit einem lauten Seufzen zu ihnen umdrehte, ergriff Dubois das Wort.

»Sie müssen Charlene Hamilton sein, Luis’ neue Mitarbeiterin.« Auf Pascals fragenden Blick hin fuhr er fort: »Miss Hamilton ist unsere neue Masseurin.«

»Sie kommen allein?«, wandte sich Girard an Charlene. Bevor sie etwas erwidern konnte, sprang Dubois für sie ein:

»Luis hat sich heute Morgen krankgemeldet und sich vielmals für die Unannehmlichkeiten entschuldigt. Trotz der bedauerlichen Umstände hat er mir versichert, dass wir bei Miss Hamilton in den besten Händen sind.«

»Bitte nennen Sie mich Charlene«, unterbrach sie ihn und versuchte sich an einem einnehmenden Lächeln, das nicht dazu beitragen konnte, Girards angespannte Miene zu besänftigen.

»Wenn Sie längerfristig für mich arbeiten wollen, sollten Sie in Zukunft darauf achten, pünktlich zu sein.« Er warf einen Blick auf ihren Pick-up, worauf sich sein Gesichtsausdruck weiter verfinsterte. »Und parken Sie Ihr Gefährt das nächste Mal bei den Garagen. Dort sticht es nicht gleich jedem ins Auge.« Ohne sie noch einmal anzuschauen, drehte er sich um und ging davon. Charlene war zu perplex, um etwas zu erwidern, und starrte ihm wortlos hinterher. Luis hatte anscheinend nicht übertrieben, als er sie vor Girards Launenhaftigkeit gewarnt hatte. Es jedoch am eigenen Leib zu erleben, war eine Erfahrung, auf die sie lieber verzichtet hätte. Dubois zuckte entschuldigend mit den Schultern, ehe er seinem Boss mit eiligen Schritten ins Innere der Villa folgte.

»Du darfst das nicht persönlich nehmen!«, hörte sie eine tiefe Stimme hinter sich, deren weicher Klang ihr Herz für eine Sekunde aus dem Takt brachte. Sie gehörte zu einem Mann, der die Szene von der Eingangshalle aus beobachtet hatte und nun mit einem freundlichen Lächeln auf Charlene zuging. Er hatte ein offenes, sympathisches Gesicht, das von ungebändigten braunen Locken umrahmt wurde. Wenn sie Suzannes Erklärungen richtig in Erinnerung hatte, stand sie Rhys McLeod, dem Gitarristen der Band, gegenüber.

»Willst du damit sagen, dass das sein normaler Umgangston ist?« Charlene hörte selbst, wie irritiert sie klang, und rief sich zur Ordnung. Schließlich war es nicht angebracht, das Verhalten von Luis’ wichtigstem Klienten in Gegenwart eines der Bandmitglieder infrage zu stellen.

»Pascal ist kein Freund von überraschenden Veränderungen in seiner Alltagsroutine. Außerdem hat er sich gerade für drei unendlich lange Wochen von Natalie verabschiedet. Ich schätze, das ist der Grund für seine miese Stimmung.« Er sah mit besorgtem Blick zum Westflügel des Hauses, aus dem wütende Gitarrenklänge drangen.

»Komm! Ich zeige dir, wo du arbeitest. Bis Pascal nachher mit seiner Massage dran ist, hat er sich wieder beruhigt.«

»Meinst du?« Charlene wurde bei dem Gedanken, einen wütenden Girard massieren zu müssen, flau im Magen.

»Ganz sicher. Und im Notfall setzt du ihn einfach mit einem gezielten Handgriff außer Gefecht.«

Wider Willen musste Charlene lachen. Rhys lockere Art übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus.

Charlene atmete tief durch, nachdem Rhys sie in einen lichtdurchfluteten Raum, in dem eine hochwertige Massageliege bereitstand, geführt und ihr viel Glück gewünscht hatte. Doch ihre Erleichterung hielt nur so lange an, bis sie die Liste mit den heutigen Massagesessions fand. Neben Pascal, den Bandmitgliedern sowie Henry Dubois stand noch ein weiterer Name darauf, der Charlene nichts sagte.

Noch bevor sie sich einen Plan zurechtlegen konnte, wie sie sich am besten für den Tag rüsten sollte, ging die Tür auf und Alex, der Bassist von Renard, betrat den Raum. Sein sympathisches Grinsen ließ Charlene aufatmen. Nach einer kurzen Begrüßung wandte sie ihm den Rücken zu, um ihrem ersten Klienten die Möglichkeit zu geben, sich in Ruhe auszuziehen und es sich auf der Liege bequem zu machen.

Um die Mittagszeit knurrte Charlenes Magen so laut, dass er die sphärische Musik, die für eine entspannte Atmosphäre sorgen sollte, übertönte. Doch an eine Pause war nicht zu denken, da sie dem Zeitplan noch immer hoffnungslos hinterherhinkte.

Als Nächster war Girard an der Reihe, und obwohl Charlene ihr Bestes gab, um sich mental auf die zweite Begegnung mit ihm vorzubereiten, zuckte sie zusammen, als die breitschultrige Gestalt des Rocksängers den Türrahmen ausfüllte. Sie rechnete mit einer weiteren Rüge, auch wenn ihr partout kein Grund dafür einfallen wollte, doch zu ihrer Überraschung schlug er einen beinahe freundlichen Tonfall an.

»Rhys besteht darauf, dass ich mich entschuldige, und bedauerlicherweise hatte er noch was gut bei mir.« Er funkelte Charlene an, als sei es ihre Schuld, dass er nun vor ihr zu Kreuze kriechen musste. »Damit eins klar ist: Ich hasse es, zuzugeben, dass ich im Unrecht war.« Er hielt inne und nahm einen tiefen Atemzug. »Allerdings bin ich bereit, einzuräumen, dass ich Ihnen gegenüber vielleicht etwas zu harsch aufgetreten bin.« Charlene, die keinerlei Lust verspürte, Girard von seinen Qualen zu erlösen, sah ihn abwartend an. »Es tut mir leid! Ich hätte Sie vorhin nicht so anfahren dürfen, aber heute ist kein guter Tag.« Sie sah den kurz aufflackernden Schmerz in seinem Blick und hätte beinahe Mitgefühl für ihn empfunden. Anstelle einer Erwiderung beschränkte sie sich auf ein Nicken und deutete mit einer einladenden Geste auf die Liege.

Sie war gerade dabei, sich mit Girards muskulärer Struktur vertraut zu machen und die schlimmsten Verspannungen aufzuspüren, als sie merkte, wie ein Teil seiner Anspannung aus seinem Körper wich. Kurz darauf erfüllte leises Schnarchen den Raum. Ein amüsiertes Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Vermutlich hatte er in der vergangenen Nacht kaum Schlaf bekommen und die Zeit lieber dafür genutzt, sich ausgiebig von seiner Freundin zu verabschieden. Erleichtert, in Frieden ihrer Arbeit nachgehen zu können, machte sie sich daran, die verhärteten Muskelstränge zu lockern.

Von Henry verlangte sie als Erstes, dass er sein Handy stummschaltete, da es ununterbrochen klingelte. Erst nachdem sie ihm überzeugend erklärt hatte, dass er nach einer kurzen Entspannungspause seiner Arbeit umso effektiver nachgehen könnte, kam er ihrer Forderung nach und legte es zur Seite.

Martha Fleming, der unbekannte Name auf der Liste, stellte sich als Girards Köchin heraus. Trotz ihrer resoluten Art hatte sie etwas Mütterliches an sich, was sie Charlene gleich sympathisch machte. Es erstaunte sie, dass Girard seinem Personal den Luxus einer Massage zubilligte und vermutlich auch die Kosten übernahm. Sie kümmerte sich zuerst um Marthas Oberarmmuskeln, die wie erwartet gut ausgebildet waren, bevor sie sich ihren Beinen zuwandte, die vom langen Stehen in der Küche ebenfalls eine feste Muskelstruktur aufwiesen. Als Charlene sich Marthas Füßen annahm, entwich der Köchin ein zufriedenes Stöhnen, was Charlene ein Lächeln entlockte. Es machte sie immer ein bisschen stolz, wenn der Stress von ihren Klienten abfiel, wenn Schmerzen nachließen und von Sorgen zerfurchte Stirnen sich im Laufe der Behandlung glätteten. Nicht selten führte die entspannte Atmosphäre zu persönlichen Eingeständnissen, die Charlene selbstverständlich für sich behielt. Luis hatte ihr im Fall von Pascal Girard sogar eine Verschwiegenheitserklärung vorgelegt, die sie ohne zu zögern unterschrieben hatte. Sie hatte die Faszination von Klatsch und Tratsch noch nie nachvollziehen können. Was sollte an Promigeschichten so spannend sein? Vermutlich war mindestens die Hälfte der Berichte frei erfunden. Das beste Beispiel war das fiese Gerücht im letzten Jahr, das bis an die Ostküste Kanadas vorgedrungen war: Renard stünde angeblich vor dem Aus. Suzanne hatte ihr das Video gezeigt, in dem Girard mit blutroten Schwingen über die Köpfe der Menge auf die Bühne geschwebt war, um ein Comeback zu feiern, das seinesgleichen suchte.

Nachdem Charlenes Magen zum dritten Mal ein lautes Knurren von sich gegeben hatte, schnalzte Martha missbilligend mit der Zunge.

»Kindchen, haben Sie etwa noch nichts gegessen?« Charlene wollte widersprechen, doch dann fiel ihr Blick auf den unberührten Smoothie, den sie am Morgen in letzter Minute durch den Mixer gejagt hatte, obwohl sie schon spät dran gewesen war.

Sie war einfach kein Morgenmensch. Vor acht aus dem Bett zu kommen, fiel ihr unendlich schwer. Ihr ehemaliger Chef im Pflegeheim hatte darauf Rücksicht genommen und ihr als Erstes Patienten zugeteilt, die in ihrer eigenen Welt lebten und nicht erwarteten, während der Behandlung von ihr unterhalten zu werden. Doch wenn sie nicht riskieren wollte, dass Luis sie direkt wieder feuerte, würde sie wohl an sich arbeiten müssen.

»Es war heute etwas hektisch«, gab Charlene zu und knetete mit ihren Daumen Marthas Waden.

»Ich werde Ihnen eine Kleinigkeit zubereiten«, erklärte die Köchin.

»Das ist doch nicht nötig«, versuchte Charlene zu widersprechen, doch Marthas strenger Blick brachte sie zum Schweigen.

KAPITEL 4

Rhys

Charlene stand mit beiden Händen auf die Massageliege gestützt da, als Rhys den Raum betrat. Obwohl sie ihn zur Begrüßung tapfer anlächelte, erkannte er an ihrer Haltung, dass sie erschöpft war. Wenn er sich richtig erinnerte, war er der Letzte auf der Liste. Beinahe war er versucht, ihr anzubieten, die Massage ausfallen zu lassen, wenn ihm seine Schulter nicht so wehtun würde. Er hatte es in den vergangenen Wochen, wenn nicht eher Jahren, mit dem Gitarrespielen etwas übertrieben.

»Mit den besten Grüßen von Martha!« Charlenes Augen leuchteten beim Anblick des Tellers mit den reich belegten Sandwiches auf. »Sie hat mir aufgetragen, dafür zu sorgen, dass du vor der Behandlung etwas isst, wenn ich nicht riskieren will, dass du während der Massage entkräftet zusammenbrichst.«

Das Aroma des würzigen Käses mischte sich mit dem Geruch von Lavendel, der von einer Duftlampe ausging und zusammen mit der sanften Beleuchtung für eine entspannte Atmosphäre sorgte.

»Was hältst du davon, wenn wir in den Garten gehen?«, schlug Rhys vor und warf einen Blick nach draußen, um sich davon zu überzeugen, dass die Regenpause noch anhielt.

»Du willst mich begleiten?« Charlene zog fragend eine Augenbraue hoch.

»Ich könnte dir Gesellschaft leisten – es sei denn, du willst lieber alleine sein.«

»Bist du sicher, dass deine Fürsorge nicht eher auf der Hoffnung beruht, dass ich diese köstlich belegten Brote mit dir teile?«, neckte sie ihn lächelnd.

Mit gespielter Entrüstung schüttelte er den Kopf. »Es ist erschreckend, wie leicht du mich durchschaust, obwohl wir uns gerade erst kennengelernt haben.«

Er machte eine galante Geste, um ihr den Vortritt zu lassen. Sie durchquerten den Wellnessbereich und liefen am Schwimmbecken vorbei, ehe sie durch eine breite Glastür in den Garten hinaustraten. Anstatt die Terrasse anzusteuern, schlug Rhys einem spontanen Impuls folgend den schmalen Weg ein, der zum Außenpool führte. Dort schnappte er sich zwei Kissen von den Liegestühlen, warf sie auf den Boden und nahm ihr den Teller ab, damit sie sich setzen konnte. Nachdem sie die Sandwiches zurückerobert hatte, ließ er sich ebenfalls auf der gemauerten Umrandung nieder.

Amüsiert beobachtete er, wie sie mit sichtlichem Genuss aß und dabei immer wieder zufriedene Laute ausstieß. Als sie ihm auffordernd den Teller hinhielt, schüttelte er den Kopf. Er wollte sie auf keinen Fall um ihre wohlverdiente Mahlzeit bringen. Sie zögerte kurz, bevor sie nach einem zweiten Sandwich griff und es in Rekordzeit verputzte, als fürchtete sie, jemand könnte es ihr wieder entreißen. Obwohl ihr Blick im Anschluss immer noch sehnsüchtig auf dem Essen ruhte, stellte sie den Teller mit bedauernder Miene neben sich ab.

Rhys beugte sich nach vorne und streckte den Arm aus, um ein Blatt aus dem Pool zu fischen. Dabei streifte er aus Versehen Charlenes Taille. Sie versuchte, seiner Berührung auszuweichen, und wäre beinahe ins Wasser gefallen, hätte Rhys sie nicht in letzter Sekunde festgehalten.

Ihre Blicke trafen sich, und für einen Moment schien die Welt um sie herum stillzustehen. Rhys spürte seinen beschleunigten Herzschlag und wunderte sich über die ungewohnt starke Reaktion, die Charlenes Nähe verursachte. Obwohl er sie gerne noch länger gehalten hätte, löste er seine Finger sanft von ihrem Arm und deutete auf die Sandwiches.

»Bist du sicher, dass du nichts mehr möchtest?«

Sie schüttelte wenig überzeugend den Kopf. Rhys wollte zuerst nachhaken, ließ es dann aber darauf beruhen. Vielleicht täuschte ihn sein Eindruck und sie war tatsächlich schon satt, oder sie gehörte zu den Menschen, die glaubten, permanent auf ihre Figur achten zu müssen. Seiner Meinung nach könnte Charlene ruhig ein paar Kilo mehr vertragen. Sie war ein gutes Stück kleiner als er und schien eine schmale Taille zu haben. Zu schade, dass die weite Kleidung ihre Konturen weitgehend verbarg. Er nahm an, dass sie regelmäßig Sport trieb und zudem auf ihre Gesundheit achtete. Wieso sonst brachte sie sich freiwillig einen Smoothie zur Arbeit mit? Allein der Anblick des grünen Gebräus, das er auf dem Fenstersims im Behandlungsraum erspäht hatte, hatte Rhys mit seiner Vorliebe für Fastfood erschaudern lassen.

»Du bist nicht von hier«, stellte er fest und betrachtete sie von der Seite. »Darf ich raten?« Sie nickte, wenn auch zögerlich. »Toronto?«

»Hört man das so deutlich?« Ihr betont fröhliches Lachen klang angespannt.

Rhys zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Wie lange lebst du schon in Vancouver?«

»Erst seit Kurzem.« Charlene nahm einen tiefen Atemzug und ließ dabei ihren Blick durch den gepflegten Garten schweifen.

»Und wie verbringst du deine Zeit, wenn du dich nicht gerade um eine Horde Rockmusiker kümmerst?« Er wollte zu gern mehr über diese zurückhaltende junge Frau wissen, deren rauchblaue Augen eine ungewohnte Faszination auf ihn ausübten. Eine Spur von Unbehagen schlich sich in Charlenes Miene, das sie jedoch gleich mit einem professionellen Lächeln überspielte.

»Wir sollten lieber weitermachen. Nicht dass Monsieur Girard mich dabei erwischt, wie ich mit dir plaudere, anstatt meiner Arbeit nachzugehen.« Anmutig stand sie auf und strebte mit eiligen Schritten auf die Villa zu.

Drinnen betrachtete sie mit sehnsüchtigem Blick das türkisfarben schimmernde Wasser des Indoorschwimmbads.

»Pascal hat sicher nichts dagegen, wenn du nach Feierabend eine Runde schwimmst.«

Ertappt zuckte sie zusammen. »Das kann ich nicht machen.«

»Was spricht dagegen?«

»Es wäre – nicht angemessen.«

Er musste sich bei ihrem erschrockenen Gesichtsausdruck ein Lachen verkneifen. »Pascal ist sehr großzügig, was das körperliche Wohlbefinden seiner Kollegen und Angestellten angeht. Wir dürfen nicht nur den Wellnessbereich nutzen, sondern haben auch einen Personal Trainer, Eric, dessen Sessions jedem offenstehen. Allerdings ist außer Pascal selten jemand verrückt genug, sich das freiwillig anzutun. Er ist ein wahrer Menschenschinder.«

Ihr eindringlicher Blick ging ihm unter die Haut. »Ein wenig Sport würde mir sicher guttun, aber wenn Eric so schlimm ist, wie du sagst, ziehe ich den Pool vor.«

»Wenn du jemanden brauchst, mit dem du dich messen kannst, stehe ich dir jederzeit zur Verfügung.«

»Nettes Angebot – aber ich komme gut alleine zurecht.«

Ihr bestimmter Tonfall ließ Rhys vermuten, dass Charlenes Äußerung sich nicht nur auf das Schwimmen bezog.

Obwohl Rhys sich vorgenommen hatte, die Zeit während der Massage zu nutzen, um noch mehr über Charlene zu erfahren, musste er bereits nach wenigen Minuten einsehen, dass ihm sein Körper einen Strich durch die Rechnung machte. Bei der kräftigen Berührung ihrer Hände schaltete sein Gehirn in den Standby-Modus. Sie spürte zielsicher jede noch so kleine Verspannung auf und kümmerte sich intensiv um seine chronisch verkrampfte Schultermuskulatur, wobei sie der rechten Seite besondere Aufmerksamkeit schenkte, die er beim Spielen immer besonders beanspruchte. Gegen seinen Willen driftete er in einen angenehmen Entspannungszustand ab, in dem er Zeit und Raum vergaß.

Als Charlene die Massage beendet hatte, erhob er sich nur widerwillig. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie noch stundenlang so weitermachen können.

Bei einem leisen Klopfen schauten sie beide zur Tür. Auf Charlenes »Herein« erschien Wesleys breitschultrige Gestalt im Türrahmen. Der Bodyguard schenkte Charlene sein schönstes Lächeln.

»Entschuldigt bitte die Störung. Mein Kollege Tyron und ich hatten uns gefragt, ob du vielleicht noch Zeit für uns erübrigen könntest. Wir haben es leider verpasst, Henry rechtzeitig Bescheid zu geben.«

Rhys sah Charlene an, dass sie am liebsten Nein gesagt hätte, aber sie nickte freundlich und wechselte mit routinierten Handgriffen das Laken.

»Selbstverständlich. Gib mir fünf Minuten, dann bin ich für dich da.«

Nachdem Wesley die Tür hinter sich geschlossen hatte, bedachte Rhys sie mit einem nachdenklichen Blick. »Du musst das nicht tun.«

Charlene sah müde zu ihm auf. »Es ist mein erster Arbeitstag, da kann ich nicht gleich zwei Klienten wegschicken, nur weil sie es versäumt haben, sich in die Liste einzutragen.«

Rhys sah sie ungläubig an. Ihr Boss hatte ihr gleich zu Beginn eine solche Mammutaufgabe aufgebürdet und ihr niemanden als Unterstützung zur Seite gestellt? Da er Luis immer als äußerst zuvorkommend und sehr freundlich erlebt hatte, war ihm vermutlich keine andere Wahl geblieben.

»Wenn du hier überleben willst, solltest du ganz schnell lernen, Nein zu sagen. Sonst kann es dir passieren, dass nicht nur Pascal zwei Sessions am Tag einfordert, sondern dass auch noch andere Lust auf eine zweite Runde bekommen.« Als er Charlenes schockierten Gesichtsausdruck sah, taten ihm seine Worte beinahe leid. Aber es war in ihrem eigenen Interesse, dass sie direkt zu Beginn die Regeln festlegte.

»Vermutlich hast du recht. Ab morgen massiere ich nach Plan«, versprach sie ihm und lächelte ihn dankbar an.

KAPITEL 5

Charlene

Charlene musste drei Mal um den Block fahren, bevor sie einen Parkplatz fand. Dabei sah sie immer wieder nervös in den Rückspiegel, um zu überprüfen, ob ihr jemand folgte. Auch wenn sie wusste, dass sie genug Abstand zwischen sich und ihre Vergangenheit gebracht hatte, war es wie ein Zwang, den sie nicht kontrollieren konnte. Wenigstens hatte ihr Wagen auf dem Rückweg keine Mucken gemacht. Als sie die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufschlich, konnte sie nur noch mit Mühe die Augen offen halten.

»Suzanne?«, rief sie, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen und die Schlüssel in die Schale im Flur geworfen hatte, bekam jedoch keine Antwort. Offensichtlich war ihre Mitbewohnerin noch unterwegs.

Sie schob die Tür zu ihrem Zimmer auf und unterdrückte beim Anblick des Chaos, das sich ihr bot, ein lautes Stöhnen. Jetzt bedauerte sie es, dass sie sich bisher noch nicht die Zeit genommen hatte, ihre Kleidung in den Schrank zu räumen, sondern stattdessen den Inhalt ihres Koffers wahllos im Zimmer verteilt hatte. Obwohl das Echo einer allzu vertrauten Stimme sie dazu ermahnte, augenblicklich Ordnung zu schaffen, ließ sie sich mit einem erleichterten Seufzen auf die Matratze fallen.

Als sie sich eine kleine Ewigkeit später auf die Seite rollte, fiel ihr der bunte Blumenstrauß auf, den Suzanne zwischen ihre Schminksachen auf den kleinen Tisch gestellt hatte. An der Vase lehnte eine Karte, auf der in geschwungenen Buchstaben Willkommenzu Hause stand.

Charlene spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen und gegen ihren Willen ihre Wangen hinabrannen. Sie vergrub das Gesicht im Kissen, bevor ihr Körper von einem heftigen Schluchzen erfasst wurde.

Am nächsten Morgen hätte Charlene den Wecker am liebsten an die Wand geworfen, als er sie nach einer viel zu kurzen Nacht aus dem Tiefschlaf riss. Ein Blick in den Spiegel verriet ihr, dass sie Unmengen an Make-up brauchen würde, um die dunklen Augenringe zu verdecken.

Das laute Röhren des Mixers weckte Suzanne, die verschlafen aus ihrem Zimmer in die Küche schlurfte und mit skeptischer Miene beobachtete, wie Charlene den Smoothie in ihren To-go-Becher umfüllte.

»Puh! Das sieht ekelhaft gesund aus! Was ist da alles drin?«

»Ein halber Apfel, etwas Weizengras, Zitrone, Ingwer, zwei Handvoll Spinat und eine Prise Kurkuma«, antwortete Charlene und band sich fahrig ihr langes Haar zu einem lockeren Dutt zusammen.

»Und das schmeckt?«

Charlene musste sich bei Suzannes misstrauischem Tonfall das Lachen verkneifen.

»Man gewöhnt sich dran. Ein grüner Smoothie auf nüchternen Magen regt nicht nur die Verdauung an, sondern bringt auch den Stoffwechsel auf Touren und stärkt das Immunsystem.«

»Mhm.« Suzanne sah immer noch nicht überzeugt aus. »Ich für meinen Teil halte mich lieber an einen großen Becher schwarzen Kaffee. Solltest du auch mal versuchen, so müde wie du aussiehst.«

Charlene, die nicht darüber reden wollte, dass sie die halbe Nacht wachgelegen und sich Sorgen gemacht hatte, während sie die restliche Zeit von Alpträumen gequält worden war, schüttelte den Kopf, bevor sie sich ein Lächeln abrang und im Laufschritt die Wohnung verließ.

Trotz der kurzen Nacht war es ihr dennoch irgendwie gelungen, halbwegs pünktlich in der Rockstarvilla einzutreffen.

Um die Mittagszeit blitzten einzelne Sonnenstrahlen zwischen den Wolken hindurch, sodass Charlene spontan beschloss, mit ihrem Smoothie nach draußen zu gehen.

Vor der Terrasse blieb sie unschlüssig stehen. Alex saß mit Zac, dem Schlagzeuger, und Jared, dem Keyboarder, am Tisch. Sie diskutierten den Ausgang eines Baseballspiels, während Henry und Pascal über die Termine der nächsten Tour sprachen. Rhys hatte es sich ein wenig abseits auf einem Sofa bequem gemacht. In der Hand hielt er eine Gitarre, bei deren Anblick Charlenes Herz schneller zu schlagen begann. Sie wollte gerade den Rückzug antreten, als er den Kopf hob und sie zu sich winkte.

Erleichtert stellte Charlene fest, dass ihre Anwesenheit niemanden zu stören schien. Rhys probierte eine Reihe von Akkorden aus, bevor er nach einem Bleistift griff und sie in ein Notizbuch schrieb, das aufgeklappt vor ihm lag. Der Einband war abgegriffen, und die Seiten sahen aus, als würden sie sich jeden Moment aus der Bindung lösen. Neugierig versuchte Charlene, die Textschnipsel zu entziffern, die teilweise bereits mit Akkordbezeichnungen versehen waren.

Als Rhys Anstalten machte, sein Instrument neben sich zu legen, schüttelte sie leicht den Kopf.

»Wegen mir musst du nicht aufhören.«

Er zögerte einen Moment, dann griff er erneut in die Saiten. Das Intro entwickelte direkt zu Beginn eine starke Dynamik und verströmte zugleich eine süße Melancholie. Noch bevor Rhys das erste Wort gesungen hatte, ahnte sie, dass es in dem Song um unerwiderte Liebe oder Verlust ging. Doch als er zu singen anfing, war sie derart von seiner warmen und vollen Stimme eingenommen, dass sie nur wenig vom Text mitbekam. Erst im Refrain gelang es ihr, sich von ihrer Faszination zu lösen und sich auf den Inhalt des Liedes zu konzentrieren. Wie erwartet handelte der Song von Sehnsucht und schmerzlichen Erlebnissen, aber es schien dabei weniger um eine Frau als vielmehr um kostbare Erinnerungen zu gehen, um alte Zeiten, die unwiederbringlich verloren waren. Trotz des tiefgründigen Themas gelang es Rhys, eine hoffnungsvolle Atmosphäre zu schaffen, die seine Dankbarkeit ausdrückte, dass er diese Momente erleben durfte und dass der Schmerz vielmehr zeigte, wie wertvoll sie für ihn waren.

Charlene, die schon immer eine besondere Vorliebe für ausdrucksstarke Lyrics gehabt hatte, blickte ihn bewegt an.

»Wow – das war beeindruckend! Ist das eine von euren neuen Nummern?«

»Nein, das ist nur eines von meinen Liedern.« Rhys fing ihren verständnislosen Blick auf und setzte zu einer Erklärung an: »Pascal schreibt unsere Songs. Sein einzigartiger Stil hat der Band schon viele Preise und Auszeichnungen eingebracht. Bei mir ist das Songwriting nur ein Hobby.«

»Mir gefällt deine Musik, der schwermütige Unterton und die zuversichtliche Grundstimmung, die trotzdem mitschwingt. Dazu der leichte Einschlag in die Countryrichtung, ohne dabei den rockigen Charakter zu verlieren.« Sie biss sich auf die Lippe, als sie seinen überraschten Gesichtsausdruck bemerkte.

»Du scheinst dich mit Musik gut auszukennen. Spielst du auch ein Instrument?«

»Ist schon eine Weile her.«

»Warum hast du aufgehört?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Der Job wurde immer anspruchsvoller und dadurch auch zeitintensiver. Ich habe oft Überstunden gemacht und manchmal auch an den Wochenenden gearbeitet. Da war es mir wichtiger, die wenige Zeit, die mir blieb, mit meinem Freund zu verbringen, als in einem muffigen Keller einem unrealistischen Traum hinterherzujagen.« Sie senkte die Stimme. »Abgesehen davon bin ich nicht besonders talentiert.«

Der intensive Blick, mit dem Rhys sie bedachte, brachte sie aus der Fassung.

»Fehlt es dir, Musik zu machen?« Charlene nickte nach kurzem Zögern und nahm überrascht wahr, wie inmitten der Leere, die sich auf einmal in ihrem Inneren ausgebreitet hatte, ein altbekannter Schmerz aufflammte. All das war ihr so vertraut, das Vibrieren der Saiten unter ihren Fingerkuppen, die Energie, die ihren Körper beim Singen durchströmte, das absolute Glücksgefühl, wenn sich die Töne, die ihr seit Tagen durch den Kopf geschwirrt waren, zu einer Melodie formten und ihr die passenden Worte dazu in den Sinn kamen. Verwirrt blickte sie zu ihrem Gegenüber. Wie konnte es sein, dass ihr Gespräch innerhalb weniger Minuten derart persönlich geworden war?

Rhys, der sie genau beobachtet hatte, wirkte mit einem Mal ungewöhnlich ernst.

»Das Leben ist zu kurz, um sich die Dinge zu versagen, die man liebt.« Als ihre Blicke sich trafen, schenkte er ihr ein Lächeln, bei dem seine Augen in einem warmen Goldbraun erstrahlten. »Und unabhängig davon, ob man mit Talent geboren wurde oder sich seine Fähigkeiten erarbeiten muss, verdient jeder Traum eine Chance! Meinst du nicht?«

Seine optimistische Einstellung brachte sie ebenfalls zum Lächeln. »Das klingt, als hättest du länger darüber nachgedacht.«

»Was meinst du, wie oft Pascal und ich uns in den ersten Jahren anhören mussten, dass aus uns nichts werden würde, dass wir aufgeben sollten, dass es hundert andere Bands gäbe, die besser wären als wir? Hätten wir uns damals entmutigen lassen, würden wir heute wahrscheinlich in irgendeinem Job feststecken, den wir nicht von ganzem Herzen lieben.«

Charlene nickte. Ihr war bewusst, dass die Musikbranche ein hartes Pflaster war. »Da hast du vermutlich recht. Was ist mit deinen Träumen?«, wagte sie sich weiter vor. Sie hatte Rhys als offenen und sympathischen Mann kennengelernt, dessen aufmerksame und unkomplizierte Art dafür sorgte, dass sie sich in seiner Nähe wohlfühlte. Diese neue Seite an ihm zu entdecken, die ihn zugleich stark und verletzlich wirken ließ, erregte ihr Interesse. »Wünschst du dir nicht, dass die Menschen deine Songs hören?«

Er stieß ein leises Lachen aus, bei dem ein bitterer Klang mitschwang. »Früher schon, aber dann hatten wir plötzlich diesen Megaerfolg. Es wurde ein riesiger Hype um die Band veranstaltet – allen voran um Pascal. Das Label und unser damaliger Manager waren sich einig, dass seine Musik etwas ganz Besonderes ist. Sie haben sich bewusst dazu entschieden, keine zusätzlichen Songwriter zu engagieren, um den unverwechselbaren Sound von Renard nicht zu verwässern.«

»Aber du bist niemand von außerhalb. Du bist Teil der Band und gehörst ebenso zu Renard wie Pascal. Ich glaube fest daran, dass eure Fans deine Songs genauso lieben würden – vielleicht sogar mehr.« Seiner Miene war anzusehen, dass ihre Worte ihn nicht überzeugt hatten. »Denk darüber nach!« Sie unterdrückte den Impuls, ihre Hand auf seine zu legen, und nahm stattdessen einen Schluck von ihrem Smoothie. Als der Strohhalm ein schlürfendes Geräusch verursachte, zuckte sie erschrocken zusammen und schielte unauffällig zu Rhys hinüber, aber er schien sich nicht daran zu stören. Die Erkenntnis, wie fest die Schatten der Vergangenheit sie immer noch umfangen hielten, ließ sie trotz der sommerlichen Temperaturen frösteln. Abrupt stand sie auf. Besser, sie machte sich wieder an die Arbeit, ehe sie sich weiter auf zwischenmenschliche Verstrickungen einließ oder noch mehr prekäre Details aus ihrem früheren Leben preisgab. Rhys hatte etwas an sich, das sie alle Vorsicht vergessen ließ, eine Eigenschaft, vor der sie sich hüten musste, wenn sie sich nicht erneut einer unkalkulierbaren Gefahr aussetzen wollte. »Ich geh dann mal wieder rein. Wir sehen uns später.«

Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen, als sie mit schnellen Schritten in der Villa verschwand.

KAPITEL 6

Rhys

Rhys legte mit einem lautlosen Stöhnen den Kopf in den Nacken, als Pascal zum sechsten Mal vor der Bridge abbrach.

»So geht das nicht! Wir brauchen im Vorlauf eine größere dynamische Steigerung. Zac, kannst du das Tempo allmählich erhöhen? Dann kommt das Crescendo besser. Jared, pass auf, dass du nicht vorausrennst, und Alex, Sound ist gut, aber übertreib es nicht! Vor dem letzten Refrain nehmen wir Lautstärke und Tempo raus und bauen die Spannung neu auf. Noch mal ab der gleichen Stelle!«